Brief eines Verlorenen von abgemeldet (Die Zeit, die vorher war) ================================================================================ Der Brief --------- Geliebter Freund, ich schreibe dir heute einen letzten Brief. Darin möchte ich dir eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von der du noch nie gehört hast, die völlig neu für dich ist. Die so nicht einmal in einem Buch zu finden wäre, wenn man die Fantasie der gesamten Menschheit nieder schreibt. Ich erzähle dir heute die Geschichte über uns. Über dich, Joshua, und mich. Warum du sie nicht kennst? Weil du nie in ihrem Buch gelesen hast. Du kennst viele solcher Geschichten, traurige und auch glückliche, aber nicht jene, die ich dir nun erzählen werde. Nun, zumindest kennst du sie nicht aus dieser Perspektive. Darum, geliebter Freund, werde ich sie dir aufschreiben. Sicherlich erinnerst du dich daran, als wir uns das erste Mal trafen. Wir gingen in dieselbe Grundschulklasse und saßen gleich nebeneinander. Wir hatten nicht viele Worte füreinander übrig. Oft sah ich dir zu, wenn du versuchtest, das Alphabet richtig aufzusagen. Ich mochte dich damals schon. Es kam die Zeit, in der wir anfingen, miteinander zu reden. Wie freute ich mich doch über jedes Wort aus deinem Mund! Jedoch blieb unsere Freundschaft rein schulischer Basis. Sobald wir nach dem Läuten, das das Unterrichtsende ankündigte, den Schulhof verließen, warst du mir ein Fremder. Du hast dich nicht ein einziges Mal nach mir umgesehen. So ging es – wie mir scheint – ewige Jahre weiter, bis zur Einschulung in eine höhere Schule. Was hatte ich doch damals Angst, dich aus den Augen zu verlieren, würden wir auf getrennte Schulen gehen. Für mich war es damals der schlimmste Gedanke. Du warst schon früh ein Freund für mich. Auch, wenn du das erst viel später so gesehen hast. In der Mittelschule freundeten wir uns endgültig an. Schließlich kannten wir nur einander und waren den anderen femd. Zum ersten Mal waren wir auch noch Freunde, als es schellte. Du hast mich zu Hause besucht und ich war ganz aufgeregt, als du zum ersten Mal zur Tür hinein kamst. Noch aufgeregter war ich, als ich das erste Mal dein Zimmer betrat. Aber die größte Nervosität zauberte mir dein Lächeln ins Herz. Für mich gab es keinen schöneren Anblick, als dein lächelndes Gesicht. Früher, da hast du nie gelächelt. Aber es wurde immer mehr und das freute mich. Es freut mich bis heute, wenn ich an dein Lächeln denke. Noch heute zaubert mir dein Glück einen Moment des Friedens in mein Herz. Damals, in der sechsten Klasse, als wir unzertrennlich wurden, hätte ich nie gedacht, dass du mich einmal verlassen würdest, geliebter Freund. Niemand sah mehr den einen ohne den anderen. War ich krank, so warst du bei mir. Warst du krank, so tat ich es dir gleich. Unsere Freundschaft wuchs mir jedem Wort, das wir sprachen. Und wir sprachen viel miteinander! Ich glaubte, dich mich jedem Wort besser verstehen zu können. Besser, als jeder andere. Nie hätte ich zu zweifeln gewagt, dass ich mich irrte. Deine erste Freundin - wie war ihr Name gleich - machte mich rasend. Wenn ich sie bei dir sah, sprang mein Herz in tausend Teile. Ich selbst hingegen blieb immer alleine, weil ich niemanden fand, an dem ich Interesse hatte. Ich dachte, es sei Eifersucht, aber ich hatte mich geirrt. So, wie ich mich in vielen Dingen geirrt hatte. Eine Täuschung ist bis heute tief in meinen Erinnerungen verankert: Damals waren wir in der neunten Klasse und du warst bereits seit längerer Zeit mit diesem Mädchen zusammen. Wir saßen an diesem Abend in meinem Zimmer auf dem Boden vor dem Fenster. Es war Winter und die Sonne lange untergegangen. Es war Vollmond in dieser Nacht. Du hast den Vollmond immer sehr geliebt. Oft hast du ihn dir angesehen und dabei vor dich hin geträumt. Du gabst mir zu der Zeit Nachhilfe in Englisch. Ich konnte diese Sprache nie sonderlich gut. Damals. Heute spreche ich sie fast fließend. Ich lernte sie, damit du stolz auf mich sein kannst. Ich weiss doch, wie sehr du diese Sprache immer geliebt hast! Jedenfalls gabst du mir einen Text, den ich übersetzen sollte. Dort, wo du saßt, erreichte dich das Licht meiner kleinen Lampe nicht. Nur der Mond zeigte mir dein Gesicht. Wie hübsch es aussah ... Ich übersetzte den Text und sah nur ab und an zu dir auf. Du starrtest unentwegt aus dem Fenster zum Mond und dein Gesicht war wie das Ebenbild der Sehnsucht, so sanft und traurig und doch anmutig und schön. Als ich dir meine Übersetzung vorlas, hattest du die Augen geschlossen und mir dein trauriges Gesicht zugewandt. Du dachtest sicher, ich würde es nicht sehen, wenn du deine blauen Augen ab und an öffnest und gedankenverloren auf mein Blatt stierst. Ich fragte dich damals, ob du an deine Freundin denken würdest, aber du beneintest diese Frage. Ich war mir sicher, du lügst. Heute bin ich das nicht mehr. Joshua, woran hast du damals gedacht? Ich wünschte, du würdest es mir verraten. Aber sicherlich wirst du das irgendwann, nicht wahr? Wenn ich heute an dich denke, fällt mir auf, dass du nie böse warst, wenn ich dir Unrecht tat oder einen dummen Fehler begang. Kurz nach diesem Abend beendetest du diese Beziehung zu dem Mädchen und ich warf dir Ungerechtigkeit vor, obwohl ich eigentlich hätte glücklich sein müssen. Immerhin hatte sie mich immer gestört, war mir ein Dorn im Auge gewesen. Dennoch war ich nicht erleichtert, hatte gar ein schlechtes Gewissen. Aber du sagtest damals nur, es wäre unfairer gewesen, sie weiter zu belügen, wenn nicht ihr dein Herz gehöre. Ich verstand dich damals nicht. Heute verstehe ich dich besser. Aber leider noch nicht völlig. So erkläre mir doch, was in dir vorging! Zu gerne wüsste ich das. Aber ich glaube nicht, dass du das noch erklären kannst. Sicher hast du es längst vergessen. Was in mir vorging willst du sicherlich auch wissen. Ich kann es dir erklären. Mir wurde es bewusst, kurz bevor wir unseren Abschluss der Mittelschule hatten. Die letzte Prüfung war abgelegt: Englisch. Dank dir hatte ich nicht versagt, das wusste ich. Auch du warst wohl wie immer einer der besten. Du warst immer der Beste. Egal, worin. Wir waren so unglaublich glücklich auf unserem Heimweg, dass wir glatt zu rennen anfingen. Der Sommer war schon lange da und die Sonne strahlte, als wollte sie uns ihre Glückwünsche mitteilen. Du warst schneller als ich im Rennen. Lachend und mich ab und zu angrinsend ranntest du vor mir her. Unser Weg führte wie immer durch den Park, der neben der Straße lag, an der wir uns in verschiedene Richtungen verabschieden mussten. Im Rennen hattest du dich umgedreht und mir etwas zugerufen. Ich verstand dich nicht. Du ranntest nun noch schneller und mir ging die Puste aus, also wurde ich langsamer. Ich frage mich, ob ich es hätte verhindern können. Wir beide konnten nicht sehen, was dort auf uns zukam. Auf dich. Dein Weg führte wie immer über die Straße auf die andere Seite, die du diesmal nicht erreichen solltest. Als du die Mitte der Straße passiert hattest, hörte ich einen Knall, ein Splittern und ein metallisches Knacken. Ich erinnere mich kaum an diesen Moment. Ich habe ihn verbannt, damit dein verstört erschrecktes Gesicht, welches in gnadenloser Überraschnung zu mir hinsah, nicht die Erinnerung an dein wunderschönes Lächeln vertreibt. Der Fahrer, dessen Wagen dich erfasst hatte, war zu schnell gefahren und hatte nicht auf seine Umgebung geachtet. Er war jung; jünger, als ich es heute bin. Jedoch älter, als du jemals hattest werden sollen. Wie kurz so ein Moment doch sein kann, in dem etwas endet, das so lange gewachsen ist. Ich weinte von diesem Tage an so viel, dass ich an deiner Beerdigung nicht eine Träne mehr hatte. Ich war der letzte, der dein Grab verließ. An diesem Tag schien die Sonne, als ob nichts auf Erden schlecht sein könnte oder als ob sie versuchen wollte, mich zu trösten. Es war warm, aber ich fror. Innerlich, wie auch äußerlich. Als ich damals auf deinen Sarg hinab sah, der mit Blumen bedeckt unter mir lag, wurde mir klar, was jene Eifersucht und jene Missgunst in mir hervorgerufen hatte. Du warst immer mein Freund gewesen, aber eigentlich hatte ich ein anderes Gefühl und das hege ich bis heute. Du warst der Erste, der mein Herz so berührt hatte und du bist bis heute der Einzige. Noch heute bereue ich, dir nie gesagt zu haben, was ich eigentlich für dich empfand, warum mich dein Lächeln in jeder Situation glücklich machen konnte. Nie habe ich dir gesagt, wie wertvoll du bist. Vor allem für mich. Wieso musste mir das einfallen, als es zu spät war, es zu sagen? Wieso fiel es mir ein, als das einzige Lächeln von dir eine Erinnerung in mir war? Aber diesen Fehler werde ich nie wieder machen. Die Zeit hat mich gelehrt zu sagen, was wichtig ist, bevor man keine Gelegenheit mehr dazu hat. Es ist heute genau zehn Jahre her, dass ich das erste Mal an deinem Grab stand. Du weißt, ich kam oft. Aber heute kann ich endlich wieder für dich weinen. Jahrelang hegte ich Zorn gegen mich und auch gegen dich, weil ich es nicht konnte. Ich machte dir einen Vorwurf, dass du mich verlassen hattest, ohne dich zu verabschieden. Aber ich weiss nun, dass das nicht möglich war. Jetzt weiss ich so vieles mehr. Ich vermisse dich nun so lange, wie du bei mir warst und ich will nicht, dass die Zeit stärker wird. Dennoch ist es wie Scham, zu wissen, dass ich noch heute in die Erinnerung an einen 17-Jährigen Freund verliebt bin. Nein, dass ich in dich, diesen 17-Jährigen Freund, in dich, Joshua, noch heute verliebt bin. Aber bald werde ich wieder mir dir reden können. Wenn du willst, dann auch auf Englisch. Ich bin sicher, dass es nicht lange dauert, bis ich bei dir bin. Ich habe 10 Jahre darauf gewartet und ich hoffe, dass auch du auf mich gewartet hast, wo auch immer du sein magst. Ich habe nie daran geglaubt, in den Himmel zu kommen, aber ich bin mir sicher, wenn ich bei dir bin, ist auch der Himmel nicht mehr das, woran wir glauben. Es tut mir so unendlich Leid, dass ich dich so traurig machen muss. Es tut mir so unendlich Leid, dass ich nie ehrlich zu dir war. Aber am meisten tut mir Leid, dass ich dich nie verstanden habe.Aber bald wirst du mir sicher alle Fragen beantworten können und ich werde dich kennen lernen. Es dauert nicht mehr lange. Bitte, warte auf mich ... Joshua. In Liebe und Erinnerung, in vollem Vermächtnis Dein Kira P.S.: Ich weiss heute, was du damals gerufen hast. Du hast mir zugerufen: „Ich bin so glücklich Kira! Bitte verlass mich niemals!“ Aber warum bist du weggerannt? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)