Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Kapitel 27 ---------- Ich fand eine Aufstiegsmöglichkeit am Nachbargebäude und beschloss, wieder einmal den Weg über’s Dach zu nehmen. Insgeheim hoffte ich, es wäre niemand zu Hause, war ich doch nie in Anwesenheit des Bewohners in ein fremdes Haus eingedrungen. Museen und dergleichen waren da was anderes. Große Räume, angestellte Wächter, geplante Patroulliengänge. Doch wie berechnete man das Verhalten eines einzelnen Menschen? Meine ohnehin schon geringe Hoffnung schwand, als ich das erleuchtete Fenster auf der Rückseite des Hauses erblickte. Dennoch musste ich hinein. Ich wählte ein anderes Fenster für den Einstieg. Es war nur müßig verschlossen und bereitete mir keine Schwierigkeiten. Vorsichtig spähte ich in einen Raum, der wohl als Arbeitszimmer genutzt wurde. Bis jetzt lief alles gut. Ein bisschen zu gut, abgesehen von der Anwesenheit des Hausherren. Ich ermahnte mich, die Augen offen zu halten. Es war wahrscheinlich, dass man mich erwartete. Doch warum war Ronga dieser Gedanke nicht gekommen? Oder hatte er es bedacht und lieferte mich dem anderen Alten ans Messer? Halb drinnen, halb draußen horchte ich, ob sich in dem erleuchteten Zimmer etwas bewegte. Nichts schien sich zu rühren. Vielleicht hat er mich schon gehört... Hatte ich denn überhaupt die Option, nicht hineinzugehen? Keine gute Idee, hier rumzusitzen und darüber nachzugrübeln. Du hast alles, nur keine Zeit. Lautlos schlüpfte ich ins Zimmer und begann, es systematisch zu durchsuchen. Glücklicherweise standen nicht viele Möbel hier herum. Doch wenn der Stein so kostbar war, wäre es dann wirklich naheliegend, ihn in einer der Schubladen und Fächer hier zu finden? Ich schauderte. Wenn ich das Teil so dringend bräuchte, würd ich’s gar nicht erst weglegen. Wenn er ähnlich denkt, trägt er den Stein mit sich rum. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Irgendwie würde ich diesen Fremden überlisten müssen. Selbst wenn er das Auge des Orion nicht griffbereit hatte, würde es viel zu lange dauern, das ganze Haus danach abzusuchen. Meine Beine - ein wenig schneller als mein Verstand – trugen mich auf das Zimmer zu, in dem ich das Licht hatte brennen sehen. Wohl darauf achtend, auch ja keine Geräusche zu verursachen, schlich ich den Flur entlang. Durch die offene Tür konnte ich den warmen Lichtschein erkennen. Erst jetzt bemerkte ich den seltsamen Geruch, der aus dem Raum kam und an Intensität zunahm als ich mich weiter näherte. Süß und faulig zugleich, wie verdorbenes Obst. Alte Menschen riechen manchmal so, schoss es mir durch den Kopf. Ich stellte mich mit dem Rücken an die Wand und sah vorsichtig um die Ecke des Türrahmens, wobei ich mir vorkam wie in einem dieser dämlichen Krimis, die sie Donnerstags abends immer zeigten. Millimeterweise schob ich meinen Kopf weiter ins Zimmer, bis ich freie Sicht hatte. Das ganze Affentheater war jedoch völlig umsonst. Der Mann konnte mich gar nicht bemerken. Ich betrat eine Art Privatlabor, in dessen Mitte ein größerer Experimentiertisch stand. Über dem darauf stehenden Gasbrenner blubberte etwas vor sich hin, das offensichtlich Quelle des üblen Geruchs war. Links und rechts von mir befanden sich Bücherregale, gefüllt mit allerlei Chemiebüchern und unzähligen alten Wälzern, deren Einbände in einer mir unbekannten Schrift beschrieben waren. Mit ziemlicher Sicherheit handelte es sich hierbei um Rongas „Alte Sprache“. Der Linoleumboden war bedeckt mit duzenden schwarzen Federn. Dazwischen diese länglichen Zettel, genau wie jener, den ich dem Raben im U-Bahntunnel abgenommen hatte, alle beschriftet mit ein und derselben Kalligraphie. Tote Raben waren nicht zu sehen. Dafür ruhte hier der Mann, von dem ich vermutete, dass er der war, den ich suchte. Oder vielmehr lag hier das, was diese Tiere von ihm übrig gelassen hatten in einer großen, roten Pfütze. Das Gesicht des Mannes war erstaunlich alt. Ich hatte gedacht, er wäre wie Ronga auch körperlich nicht gealtert, doch er hatte tiefe Falten auf der Stirn und um die Mundwinkel. Vielleicht hatte er auch welche um die Augen herum gehabt, an deren Stelle zwei große Löcher klafften. Zusammen mit der blassen Haut und den schneeweißen Haaren, deren Spitzen sich von dem Blut rot gefärbt hatten, wirkte der Kopf bereits jetzt wie ein knöcherner Schädel, der sechs Fuß unter der Erde lag. Angewidert drehte ich mich weg, betrachtete stattdessen den Experimentiertisch. Das Feuer des Gasbrenners kam mir seltsam fehl am Platze vor. Irgendwie unecht. Ich trat an den Tisch, plötzlich von dem Gedanken ganz gefangen, das Feuer auszumachen. Es gehörte hier nicht her. Ich entsann mich der Teelichte in meinem Wohnzimmer. Dieses Feuer hatte sich angenehm vertraut angefühlt. Die züngelnde Flamme auf dem Brenner hingegen machte mich beinahe wütend. Er passt nicht zum Feuer und das Feuer nicht zu ihm, fuhr es mir durch den Kopf. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, diesen Gedanken zu verstehen. Er kam aus einem zusammenhanglosen Nichts und verschwand auch sofort wieder darin. In seiner Sinnlosigkeit ähnelte er dem plötzlichen Drang, mit den Streichhölzern zu kokeln, den ich damals verspürt hatte. Er war sinnlos und doch, zusammen mit meinem wiederentdeckten Dasein als Halbdrache absolut naheliegend. Bei jedem Schritt knackten die schwarzen Federn unter meinen Schuhen. Das Geräusch war unangenehm. Trotzdem wurde ich nicht einmal langsamer, als ich das Zimmer durchschritt. In diesem Moment war das unechte Feuer für mich unangenehmer. Ich drehte den Gashahn zu. Dann erst hatte ich die nötige Ruhe, die restlichen Utensilien zu begutachten. Neben dem Brenner lag einer der dicken Wälzer aus den Regalen. Die Schrift konnte ich nicht lesen, doch die Kalligrafie auf der rechten Buchseite und der Rabe auf der gegenüberliegenden sagten mir auch so, mit was hier experimentiert worden war. Das Alter hatte dem Mann anscheinend nichts anhaben können. Seine eigene Magie im Gegensatz dazu schon. Er hatte sich selbst umgebracht, als er die Raben nach uns ausschickte. Unwillkürlich musste ich lächeln, zwang meine Mundwinkel jedoch sofort wieder in die Wagerechte, als ich bemerkte, wie hämisch, wie berechnend diese Regung war. Die Flüssigkeit in dem bauchigen, über dem Brenner angebrachten Glas begann sich angesichts der nicht mehr vorhandenen Hitze zu verändern. Nach und nach verlor sie ihre zuvor grüne Farbe, wurde transparent. Neugierig betrachtete ich den Prozess und meine Neugierde wuchs, als sich in der zunehmend klareren Flüssigkeit ein runder, grüner Gegenstand abzeichnete. Das Auge des Orion. Zufrieden suchte ich mir eine Holzzange aus einer der unter dem Tisch angebrachten Schubladen und nahm den Stein behende aus dem Glas. Ein altes Bild schob sich vor mein geistiges Auge bei diesem Anblick. Rom. Chemieunterricht. Unser Lehrer, die Schutzbrille auf der Nase, zeigte vorne irgendeinen, seiner Aussage nach gefährlichen Versuch. Ich hatte wie immer keine Ahnung, worum es ging, bewahrte jedoch einen konzentrierten Gesichtsausdruck in der Hoffnung, meine mündliche Note zu retten. Zumindest solange bis ich auf Marcos Blatt schielte. Über die von der Tafel in seiner sauberen Handschrift abgeschriebenen Formeln, zeichnete er in aller Seelenruhe eine Karikatur des Mannes, der dort mit feierlichem Ernst vor uns herumhantierte. Für den Lachanfall, den ich daraufhin bekommen hatte, waren wir beide aus dem Raum geflogen. Ein Jahr später hing das Blatt im Büro des Lehrers. Er hatte Marco sogar Geld dafür gegeben, so gut war die Zeichnung gewesen. Die Erinnerung schmerzte. Luv hatte dieses Talent auf dem Gewissen. Wut kochte in mir hoch wie zuvor das Gebräu über dem Brenner. Wie zur Antwort begann der Stein, den ich in der Zange hielt in seinem Inneren leicht aufzuglühen. Ein eigenartiges Kribbeln breitete sich in meiner dominierenden Linken aus. Ich legte die Zange beiseite und nahm das Auge des Orion in meine bloßen Hände. Sofort wurde das Kribbeln um ein Vielfaches stärker. Ebenso das Leuchten im Inneren des Steins. „...aber wenn er wütend genug ist, versenkt er wahrscheinlich alles im Umkreis von 1000 Kilometern im Meer und schwimmt selbst fröhlich oben auf.“ Was zum Teufel tat ich hier? Ich warf den leuchtenden Stein auf den Tisch, als hätte ich mich daran verbrannt. Augenblicklich erlosch das Licht darin wieder. Ein leichtes Zittern kam wie ein Schauer über mich, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Ich schaute an mir hinunter und stellte fest, dass nicht nur der Stein begonnen hatte, zu leuchten. Durch den Stoff meiner schwarzen Jeans konnte ich ein stark gedämpftes, goldbraunes Schimmern erkennen. In dieser Tasche befand ich Rongas Zettel. Ich zog ihn heraus, faltete ihn auseinander. Es stand kein Name darauf. Nur ein altvertrauter Halbsatz. Kontrollierte Wut – und unkontrollierte. „Klugscheißer“, murmelte ich, während die mich erfüllende Erleichterung fast greifbar war. „Okay, du hattest deine Gründe, mir Nick mitzugeben. Seh ich ein. Aber musst du denn wirklich bei jeder Gelegenheit schulmeistern?“ Kaum hatte ich mich zuende geärgert, veränderte sich die Schrift auf dem Zettel. Darey Vanya. Tôkyô-to, Chiyoda-ku, Hitotsubashi 2-13-231 Darey. Rongas Nachname. Und eine typisch japanische Adresse hier in der Region. Darunter ein äußerst westliches „Auf dem Dach... Auf schnellstem Wege. Sie hat ihr Versprechen nicht gehalten.“ Die eben noch empfundene Erleichterung von panischer Angst so restlos beiseite gefegt als wäre sie nie da gewesen. So schnell ich konnte trug ich das Auge des Orion in der Zange nach draußen, wo ich es einem äußerst irritierten Nick zusammen mit dem Zettel in die Hand drückte. „Wir müssen da hin und zwar sofort. Und wag es ja nicht, mir den verdammten Stein wiederzugeben!“ Angesichts der Furcht in meiner Stimme verkniff sich Nick dieses Mal eine dumme Bemerkung. „War er in dem Haus?“ Erneut riss er das Papier in zwei Hälften und gab mir eine davon. „Der Kerl ist tot. Der Stein hat ihn umgebracht, denk ich.“ Der Stein, den er unbedingt behalten wollte, um seine beiden Unsterblichen zu erhalten. Der Gedanke hatte fast schon etwas Komisches. Nick sah mich prüfend an. „Was ist?“, fragte ich gereizt. „Beeil dich!“ „Ich will nur, dass du weißt, dass meine Kraft nicht reichen wird, um das ein drittes Mal zu tun. Wenn da wo wir gleich rauskommen als die Hölle los ist, kann ich uns nicht mehr dort wegbringen.“ Ich nickte schweigend. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)