Wenn Legenden wahr werden... von Noctifera ================================================================================ Kapitel 1: 1. Spaziergang mit Folgen ------------------------------------ °Wie kann er nur so etwas sagen!° Schnellen Schrittes bog ich wieder in eine andere Straße. Der Streit saß mir noch in allen Knochen. °Nur weil er mein Vater ist, gibt ihm das noch lange nicht das Recht, so mit mir umzuspringen! Ich bin doch kein kleines Kind mehr!° Auch wenn man meine nachfolgende Reaktion durchaus als kindisch bezeichnen könnte. Ohne lange zu überlegen bin in ich aus seiner Wohnung gestürmt, ohne darauf zu achten, das es bereits mehr als sehr spät war und es draußen nach einem aufkommenden Gewitter aussah. °Du kannst mich mal...° warf ich in Gedanken meinem imaginären Gegenüber an den Kopf. Die kalte Nachtluft schien auch meine Wut abzukühlen und mit der Zeit verlangsamten sich meine Schritte. Erst jetzt fiel mir auf, dass es wohl praktisch wäre sich umzuschauen, vor allem, wenn man merkt, dass es dich in eine ziemlich verlassene und unbekannte Gegend verschlagen hat. Ich war eindeutig nicht auf dem Weg zu mir nach Hause, auch wenn ich ursprünglich vor hatte, dahin zu gelangen °Verdammt....wo bin ich denn hier?° Ich versuchte mich zu orientieren, doch wie der Zufall es so will, war nirgendwo ein Straßenschild zu sehen. °So weit kann ich doch auch nicht gelaufen sein...° Ich lief weiter und hielt Ausschau nach irgendwelchen Geschäften oder Kiosken, wo ich mich eventuell als neu in der Stadt ausgeben (der Stolz hinderte mich daran, zuzugeben, dass ich mich in meiner eigenen Stadt verlaufen habe) und nach dem Weg fragen könnte. Das um die Uhrzeit kaum jemand geöffnet haben wird, darüber machte ich mir im Moment keine Gedanken. Plötzlich drehte ich mich um. °Da war doch was...° ich blickte auf eine völlig leere Straße hinter mir. Doch kaum setzte ich meinen Weg fort, hörte ich schon wieder Schritte. Ohne mich richtig umzudrehen erspähte ich aus einem Augenwinkel, dass ich verfolgt wurde. °Na toll, das hat mir gerade noch gefehlt!° In Gedanken verfluchte ich meinen Vater, wegen dem ich mich jetzt auf dieser gottvergessenen Straße befand. Eine mögliche Überreaktion meinerseits übersah ich großzügig. Ich legte einen Zahn zu, die Schritte hinter mir wurden auch schneller. Ich spürte, wie die Angst ihre eiskalte Hand auf meinen Rücken legte. °Dreh dich bloß nicht um° gab ich mir selbst Anweisungen, so als ob es irgendwie hilfreich wäre. Ich schätzte die Situation ab. Ich war zwar nicht gerade klein und von natur aus kräftig, aber gegen einen paar Zentner schweren Mann sahen meine Chancen nicht gerade goldig aus. Rennen würde nichts nützen, nach höchstens 5 min wäre ich k.o. wenn ich es bis dahin überhaupt schaffen würde. °Vielleicht hätte ich früher doch mehr Sport treiben sollen...° der Gedanke erschien mir angesichts meiner Lage dermaßen lächerlich. Bestimmt erste Anzeichen von Panik. Was soll’s. Ich versuchte mich krampfhaft an die paar Selbstverteidigungsstunden zu erinnern, die wir in der Schule hatten, doch anstatt der Tipps hörte ich nur noch mal, was die Lehrerin uns am Ende gesagt hatte: „Aber machen wir uns doch nichts vor. Wenn wir ganz alleine einem 2m großem Schrank gegenüber stehen, dann, seien wir ehrlich, haben wir nicht die geringste Chance.“ Nicht gerade hilfreich, oder? Ich versuchte abzuschätzen, inwieweit der Typ hinter mir Ähnlichkeit mit einem Schrank hatte, was ich allerdings bereits im nächsten Moment bereute. „Hey du!“ Die Stimme riss mich aus der krampfhaften Anspannung. Ich hörte, wie die Schritte hinter mir noch schneller wurden. Mein Verfolger hatte die stumme Jagd anscheinend satt. Ich erinnerte mich, dass man in einer solchen Situation eine möglichst menschenreiche Gegend aufsuchen und die Aufmerksamkeit auf sich lenken sollte. Das ich nicht lache. Aufmerksamkeit vom wem? In aller meiner Verzweiflung konnte ich mir dennoch nicht vorstellen, dass es ein paar Straßenlaternen kümmern würde, was mit mir passiert. Die Rufe hinter mir erklangen immer bedrohlicher. Na gut, scheiß auf die Kondition, ich fing an zu rennen. Die Person hinter mir anscheinend auch. Keuchend und die letzte Kraft sammelnd bog ich um die Ecke, in der Hoffnung, etwas zu sehen, was mir hilfreicher erscheinen würde. Ein Fehler. Und ein sehr großen dazu. Vor mir erstreckte sich eine Mauer, grau und erbarmungslos hoch, so eine, die nicht selten im Augenfeld eines Helden in einem Actionfilm erscheint. Nur das es sich hier um keinen Film handelte. Es war bittere Realität und ich saß in einer Sackgasse. „Na, sehr weit bist du aber nicht gekommen“ die spöttische Stimme hinter mir ließ außerdem darauf schließen, dass die Person sich nach unserem kleinen Laufmarsch eindeutig in einer besseren Verfassung befand, als ich. Ich drehte mich langsam um. Der Mann war deutlich größer als ich und er kam unerbittlich auf mich zu. „Weißt du nicht, dass es unhöfflich ist, Menschen zu ignorieren?“ Ich konnte seine Gesichtszüge in der Dunkelheit nicht genau erkennen, aber das spöttische Grinsen ließ sich auch so erraten. „Lassen Sie mich in Ruhe!“ Ich wunderte mich selber, wieso ich die Höfflichkeitsform verwendete. Aber ist es nicht egal, wie ich den Typ ansprach? „Na na na, wer wird denn hier gleich vorlaut?“ Ich trat einen Schritt zurück und konnte die Kälte des Steines bereits auf meiner Haut spüren. Ich ließ meinen Blick um mich herum gleiten, auf der Suche nach irgendetwas, was sich vielleicht als eine Waffe erweisen könnte. „Ich glaube, ich sollte dir für deine Unhöfflichkeit eine Lektion erteilen“ Ohne weitere Vorwarnung ging er auf mich los, bevor ich noch irgendetwas unternehmen konnte. Auch wenn ich sowieso nicht in der Lage war, irgendetwas zu unternehmen. „NEIN!“ schrie ich und versuchte mich mit Leibeskräften zu befreien. Das ist der richtige Zeitpunkt, in dem man den Verstand ausschalten und nur auf die Panik in deinem Inneren hören sollte, die sich auch so ihren Weg nach draußen bann. „Sei still!“ zischte der Mann, während er mich mit seiner ganzen Gewichtskraft auf den Boden drückte. Natürlich dachte ich nicht mal daran, seinem Befehl zu folgen. „Still, hab ich gesagt!“ Er schlug mir ins Gesicht. Ohne dem Schmerz Beachtung zu schenken, versuchte ich ihn selbst zu treffen. Plötzlich hörte ich, wie Stoff riss und spürte die unangenehm kalte Luft auf meinem Oberkörper. „Du Schwein!“ Nicht dass die Bemerkung irgendwas gebracht hätte. Meine Gedanken schienen sich langsam zu verknoten. Ein erneuter Schlag traf mich am Kopf und für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Wenn es bis dahin noch einen winzigen Bereich meines Gehirns gab, der frei war, so ergriff die Angst jetzt die vollständige Kontrolle. Ich spürte sein Gesicht dicht über meinen und mir wurde übel von seinem widerlichen Atem, aus dem man deutlich alkoholische Ausdunstungen vernahm. Endlich gelang es mir einen wundersamen Augenblick auszunutzen und ich trat meinen Peiniger mit gesamter Wucht, die ich nur aufbringen konnte. Was leider bei Weitem nicht die gewünschte Wirkung erzielte. „Du Miststück!“ und noch ein Schlag traf mich mit voller Kraft. Ich weiß nicht, was er in diesem Moment in der Hand hielt, aber es war eindeutig härter als eine Faust und Sekunden später spürte ich, wie etwas Warmes entlang meiner Schläfe rinn. Erneut sah ich Funken vor Augen und für einen Moment schien alles im Nebel zu versinken. Was mich aber mehr entsetzte war die Tatsache, dass auch meine restlichen Muskeln langsam erschlafften und ich auch noch verschwommen wahrnahm, dass der Kerl sich jetzt an meine Hose ranmachte. Auch wenn ich nichts mehr ausrichten konnte, das Letzte was ich wollte war mich kampflos dem Schicksal zu ergeben... Plötzlich vernahm ich eine Bewegung, der ein dumpfes Schlaggeräusch folgte. Der Mann über mir war im nächsten Moment nicht einfach nicht mehr da. Als ich mich mühevoll aufrichtete und mich auf die Ellenbogen stützte, sah ich, dass er ein paar Meter von mir auf dem Boden kauerte, so als ab er plötzlich von einem Windstoß weggetragen wurde. Von einem sehr gewaltigen Windstoß wohlgemerkt. Doch dann sah ich die schattenhafte Gestalt, die sich dem Typ näherte. Wie gebannt beobachtete ich diese Erscheinung. Die Person war beeindruckend groß, die Lichtverhältnisse erlaubten mir nur den langen schwarzen Mantel zu erkennen, der sich jeder Regung seines Besitzers anzupassen schien und doch erfolgte jede Bewegung des Unbekannten völlig lautlos. Mein Verfolger schien sich vom offensichtlichen Schock erholt zu haben und machte Anstalten, sich zu erheben. Da vorführte der Fremde eine schnelle Bewegung, ich konnte nichts erkennen, als ein ersticktes Keuchen und dann erschlaffte der Körper des Mannes und er sank bewegungslos zu Boden. Es geschah alles viel zu schnell, als wenn ich es hätte besser realisieren können. Mein vermeidlicher Retter kniete neben dem Körper so dass dieser von meiner Sicht verdeckt war und verharrte einige Minuten in dieser Stellung. Das Pochen in meinem Kopf wurde immer schlimmer und ich stellte entsetzlich fest, dass meine Glieder sich wie gelähmt anfühlten. Ich unternahm einen verzweifelten Versuch, mich zu erheben, der aber nur dazu führte, dass alle Umrisse um mich herum immer unschärfer wurden. Der Fremde erhob sich langsam und drehte sich zu mir um. Genau in diesem Moment kam der Mond endlich hinter einer Wolke hervor und ich sah in das unglaublich bleiche aber makellose Gesicht, das vom pechschwarzen Haar umrahmt wurde. Woran mein Blick sich aber heftete, war der dünne rote Rinnsal, der von den Lippen des jungen Mannes kam und sogar bei diesem Licht im starken Kontrast zu seiner Hautfarbe stand. Genauso lautlos kam er auf mich zu, eine Tatsache, die in meinem Gehirn wieder den Schalter der Panik auslöste, mein Körper aber definitiv nicht willig war, diesem Signal zu folgen. Dann konnte ich nur noch das schmerzhafte Pochen in meinem Kopf vernehmen und dann war alles schwarz. Ich wurde ohnmächtig. Kapitel 2: 2. Das Erwachen -------------------------- Als ich zu mir kam, dauerte es eine geräumige Zeit, bis ich eine Antwort auf die Frage gefunden habe, was denn überhaupt passiert sei. Als die Erinnerung zwar langsam aber dafür umso deutlicher meinen Kopf wieder mit Bildern versorgte, machte ich die Augen in blitzschnelle auf, bereit alles zu sehen......nur nicht das, was sich meinem Blick bot. Ich war bei mir zu Hause. Wie unrealistisch mir diese Tatsache auch erschien, es ließ sich nicht leugnen. Ich war eindeutig bei mir zu Hause, in meiner eigenen Wohnung, so wie ich sie auch zuletzt in Erinnerung hatte (was nicht länger als 24 Stunden zurücklag). Ich lag auf der Couch im Wohnzimmer, das in ein angenehmes Halbdunkel getaucht war. Jemand muss die Jalousie runter gelassen haben. Moment mal...Jemand? Abrupt setzte ich mich auf, wogegen mindestens 2/3 meines Körpers sogleich lautstark protestierten. Der höllische Schmerz, der mich daran erinnerte, dass ich einen Kopf besaß, ließ mich an der Glaubwürdigkeit meiner Erinnerung keinen Zweifel mehr hegen. Zögernd erhob ich mich und torkelte ins Badezimmer, um mir zumindest einen Eindruck von meinem Zustand zu machen. Wie kam ich denn bitte schön hierher? Das einzige, woran ich mich noch halbwegs deutlich erinnerte, war als dieser Unbekannte auf mich zukam. Dann muss ich wohl das Bewusstsein verloren haben. Die Tatsache, dass ich bewusstlos einem merkwürdigen Fremden, der, soweit mein Gedächtnis mich nicht trog, kurz davor einen Menschen ermordet hat (dass der Mann tot war, daran hatte ich keine Zweifel), ausgeliefert war, war mir alles andere als behaglich. Und trotzdem befand ich mich gerade hier, müde – ja, angeschlagen – und wie, mit dem Gefühl, dass auf mir mindestens ein Dutzend Elefanten rumgetrampelt hat – ja, aber immer noch am Leben und soweit ich das beurteilen konnte, nicht ernsthaft verletzt. Skeptisch betrachtete ich mein Spiegelbild und erwog die Notwendigkeit, ein Krankenhaus aufzusuchen. Es handelte sich wohl um eine Platzwunde, die aber nicht unbedingt lebensgefährlich aussah. So ließ ich meine natürliche Abneigung gegen aller Art von Ärzten und Medizin überwiegen und entschied mich für Selbstversorgung. Außer noch ein Paar blauen Flecken schien ich soweit in einem Stück unverletzt zu sein......sowohl körperlich als auch seelisch. Was ich nicht zuletzt meinem geheimnisvollen Retter zu verdanken hatte. Jetzt, in meiner gemütlichen hellen Wohnung kamen mir die Geschehnisse der letzten Nacht schemenhaft und halb unwirklich vor und nur die Schmerzen erinnerten mich daran, dass es sich nicht nur um eine Einbildung handelt. Immer noch in Gedanken ging ich wieder ins Wohnzimmer und holte dann aus meinem Schlafzimmer frische Sachen (mein T-Shirt war eindeutig im Eimer und ich versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass mich jemand SO nach Hause gebracht hat). Eine schöne warme Dusche, das ist es, was ich jetzt gebrauchen kann. Ein dunkler Schauer überfiel mich, als ich an den Typen von Gestern dachte. Ich versuchte das aufsteigende Ekelgefühl zu unterdrücken...ich hatte dem Fremden mehr zu verdanken, als nur mein Leben... Während das angenehme Wasser sanft meinen Körper umfloss, beschäftigte der Unbekannte mich immer mehr. Wer war er? Wieso hat er den Typen umgebracht? Nicht dass ich nach meiner Bekanntschaft mit dem Mann zur Mitleid fähig war, aber trotzdem......Die Tatsache, WIE er das getan hat, gab mir zu denken. Und dann schließlich, wie zum Teufel kam ich zu mir nach Hause? Immer noch in Gedanken aber wenigstens erfrischt und sauber (was psychisch vielleicht sogar eine bessere Wirkung hatte) ging ich wieder ins Wohnzimmer und schaltete automatisch den Fernseher an. Ohne auf die Ansagen des Nachrichtensprechers zu achten, brachte ich meine Sachen weg, öffnete die Fenster. Etwas im Nachrichtenbericht ließ mich plötzlich aufhorchen. Ich wendete mich dem Fernseher zu, wo gerade eine aktuelle Meldung berichtet wurde: „......wurde heute Morgen eine Leiche gefunden. Bei dem Toten handelt es sich um den 41jährigen Richter Morgenstedt, der im städtischen Landgericht tätig war...“ Ich zuckte zusammen. Es war eindeutig die Straßenecke, in die ich gestern zum eigenen Übel einbog, da bestand kein Zweifel. Und der Tote...... „Es konnten keine Spuren von Gewalt gefunden werden. Auch die genaue Todesursache konnte bis jetzt noch nicht festgestellt werden. Auffallend war jedoch der physische Zustand des Opfers. Nach den bisherigen Meldungen der Polizei befand sich „Zitat: nicht ein Tropfen Blut“ im Körper des Toten. Man......“ Ich ließ mich auf das Sofa fallen (wieder eine viel zu hektische Bewegung, für die mir mein Körper alles andere als dankbar war). Das bekannte Gefühl des Ekels stieg in mir wieder hoch. Ein Richter! Und ausgerechnet ich hatte vor, Jura zu studieren! So was nennt sich wohl Ironie des Schicksals. Aber zurück zur Gegenwart. Was haben sie gesagt, es konnte keine Todesursache festgestellt werden? Aber.....Die ganze Situation wurde mir immer unbehaglicher. Immer deutlicher wurde vor meinem geistigen Auge das Gesicht des jungen Fremden, wie ich es noch kurz vor der Ohnmacht gesehen habe. Was habe ich da gesehen? Was ist dieser Nacht wirklich passiert? So langsam fing ich an mich zu fragen, was von den ganzen Bildern in meinem Kopf vielleicht einem Traum entsprang. Auf jedem Fall war ich jetzt fest entschlossen, nicht zur Polizei zu gehen. Ich glaube, die Geschichte mit dem sich-an-nichts-mehr-erinnern-und-plötzlich-bei-sich-zu-hause-aufwach würden sie mir nicht so einfach abkaufen. Gedankenverloren hob ich meine Jacke vom Boden, die ich beim aufstehen wohl runter geworfen habe. Da erblickte ich einen kleinen Gegenstand auf dem Teppich, den ich bis jetzt übersehen habe. Wahrscheinlich war er auch unter dem Kleidungsstück verborgen. Ich hob ihn auf und trat ans Fenster, um ihn besser zu betrachten. Es handelte sich um einen Anhänger an einer Kette, die offensichtlich gerissen ist. Er war sehr kunstvoll angefertigt, das Material erinnerte stark an antikes Silber. In bizarren Verflechtungen bildete sich ein unbekanntes Muster, dessen Anblick mich jedoch faszinierte. An drei Stellen war der Anhänger mit Rubinen besetzt (soweit mich meine Kenntnisse auf dem Bereich Edelsteine nicht trügen), die wie lebendiges Feuer aufloderten, als ein Sonnenstrahl darauf fiel. Mit steigender Bewunderung betrachtete ich das Schmuckstück. Doch wo kam er denn plötzlich her? Ein Verdacht rührte sich in meinem Inneren wie ein Stück Eis im Magen. Der Anhänger muss dem Unbekannten gehören. Die langsam immer fester werdende Gewissheit, dass eine mir völlig fremde und ziemlich unheimliche Person sich direkt hier in meiner Wohnung befand (und das ohne mein Wissen) ließ einen kalten Schauer über meinen Rücken laufen. Auch wenn ich dieser Person zu verdanken hatte, dass ich heute in der besagten Wohnung aufwachte und nicht irgendwo in einer Gasse die letzten Sekunden meiner Existenz zählte. Tatsache war, dass dieser Wer-auch-immer mich gerettet hat und dafür gesorgt hatte, dass ich die Nacht auch weiterhin überstanden habe. Anders konnte ich mir meine geheimnisvolle Teleportation hierher nicht erklären. Die Frage, woher er wusste, wohin er mich „teleportieren“ sollte, schob ich erstmal beiseite. Ich warf noch mal einen Blick auf den Anhänger. Auch ohne besondere Kenntnisse war zu sehen, dass er ziemlich wertvoll sein musste. Was mich wiederum vermuten ließ, dass mein Retter ihn wohl wiederhaben wollen wird. Na ja, vielleicht könnte ich mich dann bei Gelegenheit bedanken. Höfflichkeit muss sein, auch wenn es bei deinem Gegenüber um einen unheimlichen nächtlichen Herumtreiber handelt. Ich ging auf den Balkon und schaute nach draußen. Das Wetter schien sich erheblich verbessert zu haben. In Gedanken überlegte ich mir, dass ich wohl über die Hälfte des Tages geschlafen habe, oder wie auch immer ich meinen ohnmächtigen Zustand sonst bezeichnen soll. Der Nachmittag war angenehm warm ohne jedoch die erdrückende Hitze, die mir meistens so zu schaffen machte. Die Straße unten schien mich zu einem Spaziergang buchstäblich einzuladen, aber schon der Gedanke daran alarmierte meinen Körper und erinnerte mich freundlich daran, dass ich nicht mal daran denken sollte, ausgiebige Anstrengungen zu unternehmen. Seufzend begab ich mich wieder in das Innere der Wohnung und beschloss den Rest des Tages mit einem schönen Essen, einem Film oder auch einem Buch zu verbringen. Auf jedem Fall alles, wobei ich mich so wenig wie möglich bewegen muss. Kapitel 3: 3. Ein Gast wider Willen ----------------------------------- Ein Blick auf die Uhr ließ mich wieder in die Wirklichkeit zurückkehren. 22:30 Uhr. Ich lächelte, als ich daran dachte, wie fesselnd ein Buch doch sein kann. Ich legte es beiseite und streckte mich wohlig. Auch wenn es für meine gewöhnlichen Verhältnisse noch nicht spät war, konnte ich die sich in mir ausbreitende Angeschlagenheit nicht ignorieren. In den Augen zeichnete sich bereits ein leichtes Brennen und auch das lästige Pochen im Kopf meldete sich zurück. Wer weiß, vielleicht hätte ich doch auf ärztliche Untersuchung zurückgreifen sollen...Mein Blick fiel auf den Anhänger, der immer noch auf dem Couchtisch lag. Hmm...wieso wunderte es mich nicht, dass heute niemand vorbei gekommen, um ihn abzuholen? Vielleicht wollte die Person mir Zeit zum Erholen lassen? Oder sie hat den Verlust noch nicht bemerkt? Letzteres erschien mir ziemlich unwahrscheinlich, denn der Kette nach zu urteilen, wurde der Anhänger getragen und man müsste schon mehr als unaufmerksam sein, um sein Fehlen nicht zu bemerken. Na was soll’s, ich konnte dem Besitzer wohl kaum eine Nachricht schicken, da wird er ich schon selbst drum kümmern müssen. Da die Müdigkeit langsam aber sicher die Oberhand zu gewinnen schien, sah ich keinen Grund, dem natürlichsten aller Menschenbedürfnisse nicht nachzugeben und machte mich bereit für’s Bett. Als ich schließlich zufrieden die Decke über mich zog und mir erlaubte, auch den letzten Muskel zu entspannen, wanderten meine Gedanken noch mal zu meinem Unbekannten. Irgendwas an ihm störte mich (und damit meine ich nicht, dass ich sonst an unheimliche nächtliche Zusammenstöße gewohnt war), doch dieses Gefühl war zu undefinierbar, um es genau beschreiben zu können. Immer noch grübelnd versank ich langsam im sanften Nebel des Schlafs. Nacht. Dunkel. Ich laufe. Eine Bedrohung. Hinter mir. Ich will schneller rennen. Werde langsamer. Immer langsamer. Angst. Nichts als nackte Angst. Beine fühlen sich wie Zement an. Komme nicht weiter. Komme nicht von der Stelle. Muss stehen bleiben. Kriege keine Luft. Es kommt näher. Immer näher. Immer näher. NEEEEIIIIN! Schweißgebadet und mit Herzrasen riss ich mich aus dem Schlaf. Genau rechtzeitig, um zu sehen, wie eine große respekteinflößende schwarze Gestalt direkt neben meinem Bett stand. Immer noch unter den Einwirkungen des Traums entglitt mir ein lauter Schrei und ich sprang mit ungewöhnlicher Geschicklichkeit aus dem Bett. Alles in mir verkrampfte sich vor Panik und ich stellte mich bereits auf jeden möglichen Angriff ein. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen verharrte die Gestalt und gab mir somit die wenigen wertvollen Sekunden, die ich brauchte um mir klarzumachen, dass ich immer noch in meinem Zimmer und am Leben bin. Endlich war ich in der Lage, den Störenfried genauer anzusehen. Oh Wunder, es handelte sich doch tatsächlich um meinen großen Unbekannten, der wohl eine Vorliebe für ein kunstvolles Auftreten hatte. Im hellen Schein, der aus dem Fenster kam, habe ich ihn sofort wiedererkannt. Das blasse unverkennbare Gesicht, das tiefschwarze Haar, das jetzt im schwachen Schein von einem bläulichen Schimmer überzogen wurde. Der lange schwarze Mantel und die zugleich graziöse Statur – er schien eher einem mystischen Porträt entsprungen zu sein als dass er lebendig wäre. Einige Minuten schauten wir uns gegenseitig an (zumindest hatte es den Anschein, dass er mich ebenfalls musterte). „Ähhm....Guten Abend“ brachte ich schließlich das Schweigen und kam mir mit der Begrüßung sogleich unermesslich blöd vor. Mein Gegenüber schaute mich noch einen Moment an, bückte sich dann aber ohne ein Wort zu verlieren zu meiner Bettkommode und öffnete die oberste Schublade. Natürlich, was denn sonst, dort lag auch der besagte Anhänger, der ja wohl auch der Grund für sein Erscheinen war. Nachdem er’s rausgenommen hat, drehte sich der Fremde immer noch schweigend um und machte den Anstand zu gehen. „Warte!“ brachte ich schließlich aus mir heraus. So einfach konnte ich ihn nicht wieder verschwinden lassen. In meinem Kopf tummelten sich Tausende von Fragen, die zwar angesichts der momentanen Lage auch in den Hintergrund meines Verstandes gerückt sind, nicht aber an ihrer Wichtigkeit für mich verloren haben. Er blieb stehen. „Ich wollte nur das holen, was mir gehört. Entschuldige, wenn ich dich geweckt haben sollte.“ Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Seine Stimme klang so befremdet in diesem Zimmer. Sie war von einer unglaublichen aber nicht unangenehmen Tiefe erfüllt und schien auch tief in mich hinein zu dringen. „Ich...ich wollte mich noch bei dir bedanken. Du...“ „Du bist mir zu keinem Dank verpflichtet.“ Er machte sich nicht mal die Mühe, sich umzudrehen. Was faszinierte mich so an seiner Person? Doch auf eine gewisse Weise fühle ich mich angegriffen. Der Typ hat mich vor einem wirklich bitteren Schicksal bewahrt und ich hab nicht mal die Möglichkeit, mich erkenntlich zu zeigen! Konnte es nicht ein normaler Menschlicher gewesen sein, der meinen Dank wenigstens zu schätzen wüsste? Apropos normal... „Wer bist du?“ platzte es aus mir buchstäblich heraus. Das wollte, nein, das musste ich einfach wissen. Irgendeine plausible Erklärung für das ganze Geschehen hier finden. Zumindest das war er mir schuldig. Er drehte den Kopf ein Stückchen zu mir um, so dass ich ¼ seines Profils sehen konnte. „Glaub mir, das willst du lieben nicht wissen. Und es ist auch besser für dich, du erfährst es nicht.“ Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen. Wie konnte der Typ sich anmaßen, wirklich zu wissen, was gut für mich ist! Na gut, abgesehen davon, dass er schon ein Mal etwas getan hatte, was wirklich gut für mich war, muss das noch nichts heißen. Außerdem, wer ist denn hier mitten in der Nacht aufgetaucht und hat mir einen Mordsschreck eingejagt! „Ich sagte doch, ich wollte nur holen, was mir gehört. Und außerdem hab gar nicht ich dich aus dem Schlaf gerissen.“ Ich zuckte vor Schreck. Das kann doch nicht sein. Der kann doch nicht.... „Ich brauch mich gar nicht zu bemühen. Deine Gedanken kann man bis hierher hören. Nennst du das dankbar sein?“ Die Ironie war unverhörbar. Ich schüttelte mit dem Kopf. Das ging definitiv zu weit. Ich fragte mich langsam, was ich über Folgewirkungen bei schwachen Kopfverletzungen wissen sollte. Es... „Ich sagte doch, du willst es nicht wissen. Vergiss am besten die ganze Geschichte. Vergiss, dass du mich gesehen hast und dass ich hier war. Und wenn es dir so wichtig ist, dann nehme ich deinen Dank eben an.“ Im gleichen Ton hätte er sagen können, dass er eine neue Zahnbürste gekauft hat. Und ich soll das Ganze vergessen? Doch jetzt meldete sich plötzlich mein Körper mit entschiedenem Protest gegen die gegenwärtige Anspannung. Ohne etwas dagegen unternehmen zu können, schwankte ich plötzlich und sank (ohne selbst darauf vorbereitet zu sein) zu Boden. Ich glaube, es hat ein paar Sekunden gedauert, bis ich schließlich realisiert habe, dass mich zwei Hände hoch hoben und auf das Bett setzten. „Ich habe dich nach Hause gebracht, sich um deine Verletzung zu kümmern, war deine Sache.“ Seine Stimme klang immer noch sachlich und kalt. „Hab ich mich auch“ gab ich leicht verbissen zurück. Dankbarkeit hin oder her, auch wenn ich jetzt in seiner Schuld stand, könnte er sich wenigstens um etwas Höfflichkeit bemühen. Immer noch etwas benommen schaute ich zu ihm hoch. Er stand direkt vor mir und sein Anblick (auch wenn ich es nicht gerne zugegeben hätte) raubte mir unfreiwillig den Atem. Nicht das es nur am Äußeren lag, seine ganze Ausstrahlung hatte etwas Mystisches und geheimnisvolles an sich. Ein komisches Kribbeln ging durch meinen Körper, eine Welle von angenehmer Bewunderung. Wer war der Typ, dass er so ein Gefühl in mir auslöste? Mein Blick wanderte unwillkürlich über seine ganze Gestalt. Da ich immer noch auf dem Bett saß fiel mein Blick auf seine Hand und ich sah, wie ein paar flüssige rote Fäden aus dem Ärmel kamen und die Finger entlang rinnen. „Du blutest ja!“ entfuhr es mir. Eine Spur zu hastig zog er seinen Arm weg. „Da ist nichts.“ An seiner Stimme hat sich nichts geändert doch ich war mir sicher, eine Veränderung in seinen Augen gesehen zu haben (und fragt mich jetzt nicht, wie ich es in der Dunkelheit hingekriegt habe). „Vielleicht solltest du dir um deinen Kopf doch ein bisschen mehr Gedanken machen“ meinte er spöttisch. „Von wegen!“ Von mir selbst überrascht stand ich mit einem Satz auf, schritt auf ihn zu und nahm seine Hand. „Und was ist das bitte schön?“ Erst nach einem kurzen Moment fiel mir auf, wie kalt seine Haut doch war. Als ob er kurzärmlig bei Minusgraden stundenlang auf der Straße gestanden hätte (obwohl ich mir nicht sicher bin, ob die Kälte auch dann dieses Ausmaß erreicht hätte). Von der Spontaneität meiner Bewegung überrumpelt verharrte er für eine Sekunde, zog dann seine Hand ruckartig weg. Erst jetzt, da ich ihm so nah stand und sein Mantel bei der Bewegung leicht zur Seite gerutscht ist, bemerkte ich auf der linken Seite einen großen dunklen Fleck auf seinem Hemd. Ob Instinkt oder nicht, aber ich zweifelte nicht, was das war. „Du bist verletzt.“ stellte ich trocken fest und bemühte mich, meine Stimme möglichst kühl klingen zu lassen. „Kein Wunder, dass du so blass bist.“ Wieso grinst der Kerl denn plötzlich? „Lass mich mal sehen...“ „Was bildest du dir eigentlich ein?!“ Jetzt mischten sich seinem Ausdruck eindeutig härtere Töne bei. Abrupt drehte er sich um und schritt in Richtung Tür „Ich habe bereits mehr als genug Zeit verschwendet!“ „Du kannst jetzt nicht einfach so verschwinden!“ Ich wunderte mich gleich über die Bestimmtheit meiner Stimme. „Ach, kann ich nicht?“ „Denkst du ich lass dich hier jetzt blutend und eindeutig verletzt rausspazieren?“ Offenbar amüsiert hob er eine Augenbraue. „Bist du dir wirklich sicher, dass du mich daran hindern kannst?“ Tja, darauf ließ sich erstmal nichts erwidern. Plötzlich kehrte er um und stürmte auf mich zu, so dass ich unwillkürlich zurückwich und, gestützt auf die Ellenbogen auf dem Bett landete. „Und bist du dir sicher, dass du mich auch aufhalten willst?“ Dicht über mir gebeugt, schaute er mir direkt in die Augen. Sein Blick war so unglaublich durchdringend und ich konnte nicht verhindern, dass mich ein kalter Schauer erfasste. „Du wolltest wissen wer ich bin? Von mir aus, dann sollst du es eben erfahren. Ich bin ein Vampir! Und ich hoffe du weißt, was dieses Wort bedeutet.“ Klar, natürlich. So musste ich unbedingt an einen Irren geraten. Als nächstes erzählt er mir noch, dass er irgendwo in einem alten verlassenen Schloss hauste und einen kleinen süßen Werwolf als Schoßhündchen hielt. „Woher willst du wissen, dass ich mit dir nicht das gleiche mache, wie mit dem Kerl letzte Nacht?“ Er rückte noch näher heran, seine Stimme wurde eine Tonlage tiefer und ähnelte jetzt mehr einem Flüstern. In seinen Augen funkelte es gefährlich. Ich muss zugeben, ich fühlte mich gerade ziemlich eingeengt, auch wenn seine unmittelbare Nähe wieder eine ungewöhnliche Regung in mir verursachte. „Weil du bereits die Möglichkeit dazu hattest. Und trotzdem bin ich unbeschadet in meiner Wohnung aufgewacht“ Also für mich war das ein überzeugendes Argument. „Hast du mich gerade nicht einen Irren bezeichnet? Brauchen Verrückte eine logische Erklärung für ihr Handeln?“ Tja, das war ein Treffer. Vor allem da ich mir sicher war, meine Gedanken vorhin nicht laut ausgesprochen zu haben. „Ich dachte du hast bereits gemerkt, dass du nicht alles zu sagen brauchst.“ Ich spürte wie mir erneut mulmig wurde. Entweder war er ein sehr guter Schauspieler und es war gerade einfach nur ein Zufall oder... „Oder ich bin ein echter Vampir, dem es nicht die geringste Mühe macht, in deinen Gedanken herumzustöbern.“ Aber das war doch krank! In welcher Zeit befanden wir uns hier eigentlich? Ich war doch kein kleines Kind, das auf irgendwelche Ammenmärchen reinfallen würde! Doch um aus meiner Lage herauszukommen entschied ich mich für einen Gegenangriff (vielleicht wurde durch den Schlag wirklich etwas in meinem Kopf beschädigt, wenn das wirklich ich war, die hier so handelte). „Vampir oder nicht, du scheinst zumindest aus Fleisch und Blut zu bestehen“ und ich nutzte seine Nähe aus, um den Mantel beiseite zu schieben und mir den Blutfleck genauer anzusehen. Viel weiter kam ich nicht, denn er richtete sich auf und machte einen Schritt zurück. Einem Moment lang musterte er mich und......lachte dann plötzlich auf. „Sag mal, wie verrückt bist DU eigentlich? Da sagt dir einer, dass du einen Vampir vor dir hast und du verhältst dich, provozierender geht’s nicht mehr!“ Ich beobachtete überrascht und zugleich fasziniert, wie sich seine Züge beim Lachen aufhellten und stellte fest, wie sympathisch und anziehend er plötzlich wirkte. Da ich auch nicht wusste, was ich jetzt erwidern sollte, grinste ich ihn einfach nur an. „Oder brauchst du noch einen eindeutigeren Beweis?“ Seine Stimme klang jetzt zwar wieder kühler, doch in den Augen blieb immer noch der amüsierte Ausdruck. Ohne weitere Erklärungen ging er zu meiner Zimmerpflanze, die (wie es mir im nächsten Moment schien, nichts ahnend und unschuldig) vor sich hin blühte und berührte sie zart. Nach einem kurzen Augenblick glaubte ich tatsächlich zu sehen, wie die Farbe des Pflänzchens verblasste. Die Blätter und der Stängel zogen sich immer mehr zusammen, die Blüte verlor an ihrer Fülle bis schließlich nur ein schlaffes vertrocknetes Überbleibsel zu sehen war. „Ein Vampir, ein Untoter, der die Macht besitzt, den Lebenden ihre Lebensenergie zu rauben“ sagte er still und drehte sich zu mir um. „Und jetzt?“ Ich muss zugeben, spätestens jetzt saß ich einfach nur sprachlos da und überlegte, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich, aus welchen Gründen auch immer, halluziniere. Aber so langsam schien mir keine andere Wahl zu bleiben, als diese Tatsache zu akzeptieren, egal wie makaber sie mir gerade erscheint. Ich schaute meinen “Gast“ an. Und warum eigentlich nicht? Muss ich mich etwa wundern, dass ausgerechnet ich auf einen Vampir traf? Hatte nicht ich bereits seit meiner Kindheit immer einen Hang zum Mysteriösen und Geheimnisumwobenen? Und hab nicht ich es immer geschafft, mein Leben alles andere als normal zu gestalten? Irgendwas in meinem Verstand schien diese Theorie merkwürdigerweise zu akzeptieren, so als ob es eine lang erwartete Bestätigung für irgendwas wäre. Als Antwort lächelte ich. „Ich brauch keinen Beweis. Es scheint, als hätte ich keine andere Wahl, als dir zu glauben. Aber könntest du ausnahmsweise so freundlich sein und mich endlich deine Verletzung ansehen lassen?“ Ich weiß nicht, mit welchen Menschen er sonst Umgang pflegte, aber es sah so aus, als ob er durch mein Benehmen überrascht aber auch belustigt wäre. Einen Moment an musterte er mich aufmerksam, lachte dann wieder und zuckte schließlich mit den Schultern. „Von mir aus. Mir scheint, als würdest du vorher sowieso keine Ruhe geben.“ „Erraten“ grinste ich ihn an. Ich erhob mich und ging in Richtung Tür. „Komm mit.“ Kapitel 4: 4. Traum oder Wirklichkeit? -------------------------------------- Als ich im Wohnzimmer das Licht anmachte, zuckte mein Begleiter unmerklich zusammen. Ach ja stimmt, wie war das? Vampire mögen kein Licht? Was soll’s, ich brauchte die Beleuchtung, ob sie ihn nun störte oder nicht. „Setz dich“ zeigte ich ihm auf das Sofa. „Du musst vorher aber deinen Mantel ausziehen“ Mit sichtlichen Widerwillen entledigte er sich des Kleidungsstückes und ließ sich auf die Couch nieder. Er hatte ein schwarzes Hemd an, in einem Stil, der mich in etwa an das Mittelalter erinnerte. Ich trat vor ihn und knöpfte es vorsichtig auf. Die Wunde müsste im oberen Bereich seiner Brust in der Nähe seiner rechten Schulter liegen. Als ich schließlich das Hemd aufmachen und zur Seite ziehen konnte, musste ich erstmal scharf nach Luft schnappen. Es handelte sich tatsächlich um eine ziemlich übel aussehende Wunde, die aber meine Vorstellung bei Weitem überschritt. „Du musst ja sofort ins Krankenhaus!“ war das erste, was ich aus mir brachte. „Wenn das alles ist, was du mir sagen kannst, sind wir auch schon fertig“ gab er spöttisch zurück. Doch ich muss wohl ziemlich schlimm ausgesehen haben, denn dann milderten sich seine Züge und die Stimme wurde freundlicher. „Keine Sorge, es sieht schlimmer aus, als es ist. Bei uns haben Verletzungen eine andere Bedeutung. Nur die wenigsten können wirklich gefährlich werden und außerdem heilen sie um vieles schneller, als ihr Menschen es kennt.“ „Ich dachte, Vampire sind unsterblich“ ich versuchte die Wunde vorsichtig zu untersuchen, obwohl die Aussicht, dass ich da was ausrichten könnte, ziemlich schlecht war. Es war eine blutrote Masse, die Tiefe schien zwar nicht bis zum Knochen zu reichen, aber es war nicht schwer zu erkennen, dass die Muskeln beschädigt wurden. °Das muss ihm doch höllische Schmerzen bereiten° dachte ich nicht ohne Mitleid. An der Wunde konnte man allerdings eine Art Muster erkennen, eine Spur, die Stark an Kratzer von einer Klaue erinnerte. Von einer überdimensionalen Klaue. „Unsterblich – ja, aber nicht unverwundbar. Zumindest könnte man uns bei dem, was ihr als Lebensmaß habt, wirklich als unsterblich bezeichnen. Auch wenn es natürlich Methoden gibt, einen Vampir zu töten.“ „Wer (oder eher was) hat dir das zugetragen?“ Ich stand auf und überlegte, was ich am besten für Verbandsmaterial verwenden soll. Sein Grinsen ließ mich nichts Gutes ahnen. „Tja, du lagst mit deiner Vermutung vorhin gar nicht so falsch. Es gibt tatsächlich Werwölfe, nur dass wir sie nicht als Haustiere halten.....zumindest nicht immer.......sondern sie bekämpfen. Und zwar mit allen Mitteln.“ „Dann willst du also sagen, dass das hier„ ich nickte auf die Wunde „von einem...einem Werwolf stammt?“ Die Sache wurde ja immer schöner. „Und von einem hinterhältigen noch dazu.“ Für eine Sekunde konnte ich einen Funken des Zorns in seinem Gesicht erkennen, dann aber wich es schon wieder seinem gewohnten sachlichen Ausdruck. „Ich werde die Wunde verbinden, damit du nicht mehr so viel Blut verlierst. Etwas anderes kann ich nicht machen. Ich würde dir aber trotzdem empfehlen, dich ärztlich versorgen zu lassen.“ „Bist du denn zu einem Arzt gegangen?“ Seine Augen ruhten forschend auf mir. „Ähm...nein. Aber ich wurde auch nicht von einem überdimensionalen Hund...entschuldige, Wolf, angegriffen“ ich blickte etwas unsicher „Die sehen doch wie Wölfe aus, oder?“ „Na ja, so kann man sie in etwa beschreiben“ lachte er. Ich ging ins Bad, um mein erste Hilfe-Kästchen zu holen. Beim Vorbeigehen warf ich einen Blick in den Spiegel und wurde mir plötzlich der Verrücktheit der ganzen Situation bewusst. Da sitze ich um etwa 2 Uhr morgens mit einem völlig fremden Mann im Wohnzimmer, der mir erzählt dass er ein Vampir ist, und versuche eine Verletzung zu versorgen, an der jeder anderer Mensch schon längst verblutet wäre und die angeblich von einem Werwolf zugeführt wurde. Ich lächelte. Jetzt fehlt nur noch, dass hier ein paar Engel auftauchen, dann wäre das Bild perfekt. Erst jetzt fiel mir ebenfalls auf, dass ich mit meinem Pyjama doch relativ spärlich bekleidet bin und außerdem noch ein recht amüsantes Bild abgebe. Hastig warf ich mir einen Morgenmantel (ein Glück, dass ich beim Ausverkauf damals doch zugegriffen habe) über und kehrte zurück ins Wohnzimmer. „Und du bist dir sicher, dass eine Wunde dieser Art ohne Nachfolgen verheilen wird?“ fragte ich immer noch skeptisch. „Na ja, vielleicht wird eine kleine Schramme bleiben, vielleicht auch nicht, aber es wird nicht weiter stören“ Während ich meinen „Patienten“ verband (ich fand, dass ich mir angesichts meiner nicht gerade reichhaltigen medizinischen Kenntnisse ziemliche Mühe gab) kamen wieder all die Fragen zurück, die mein Gehirn noch vor einiger Zeit überfluteten. „Wie heiß du eigentlich?“ Wie reizend mir die Bezeichnung „geheimnisvoller Fremder“ auch erschien, würde ich seiner Gestalt doch gerne eine persönlichere Note geben. „Mein Name würde dir in deiner menschlichen Sprache nicht viel sagen“ er lächelte mich von der Seite schief an „Aber du kannst mich Raphael nennen.“ Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Ausgerechnet ein Name, bei dem mir gleich ein Erzengel einfiel. Noch verschiedener könnten die beiden ja kaum sein. „Sag mal...woher wusstest du, wo ich wohne?“ Diese Tatsache machte mir seit gestern am meisten zu schaffen. Er hob eine Augenbraue und sah mich leicht verwundert an. „Ich bin zwar ein Vampir, aber schließlich lebe ich hier und bin mit eueren menschlichen Bräuchen nicht ganz unvertraut. In der Innentasche deiner Jacke war ein Ausweis, dem Foto nach zu urteilen deiner. Und in der anderen Tasche fand ich Schlüssel. Mehr braucht man, um in eine Wohnung zu kommen, nicht, oder?“ Wären meine Hände nicht mit dem Verbandszeug beschäftigt, würde ich mir kräftig vor die Stirn schlagen. Natürlich! Mein Ausweis. Klar. Aber... „Wie bist denn heute rein gekommen? Soweit ich weiß, liegt mein Schlüssel an seiner Stelle.“ „Durch den Balkon“ „Aber...“ mein Blick fiel auf die fest verschlossene Balkontür „die Tür ist doch zu!“ Er grinste mich verschwörerisch an. „Wer sagt denn, dass sie offen sein muss?“ Ich starrte ihn ein paar Sekunden an, entschied mich dann aber, dass ich langsam aufhören sollte, mich zu wundern. „Und du heißt Selin, oder?“ „Wenn man nicht gleich annimmt, dass mein Ausweis gefälscht ist, ja“ ich grinste. „Ein ungewöhnlicher Name für diese Gegend...und Zeit“ „Ich weiß. Manchmal frage ich mich, was meine Eltern sich dabei gedacht haben und wessen Idee das war. Als Kind habe ich sie das mal gefragt und bekam irgendeine verwirrte Ausrede als Antwort. Aber an sich ist es mir auch egal.“ Der Gedanke an meine Eltern erinnerte mich an das letzte Gespräch mit meinem Vater und an meinen einsamen „Spaziergang“ durch die Straßen. „Sag mal......nicht dass es mich stören würde, aber...wieso hast du mich gerettet?“ Ob er das wirklich nur aus Ehrgefühl getan hat... „Tja...Ich habe den Kerl schön längere Zeit beobachtet.“ Ich blickte ihn verwundern an. „Es ist etwas komplizierter...Auf jedem Fall hatte ich ihn bereits im Visier und in der besagten Nacht war ich hinter ihm her. Es ist nur ein Zufall, dass du dazu gekommen bist, der Typ gehörte mir und ich habe nur meine Aufgabe erledigt. Es hat nichts mir dir persönlich zu tun, wenn du das meinst“ Sein Grinsen gewann immer mehr an spöttischem Ausdruck. Ich widerstand der Versuchung, meine Unerfahrenheit beim Verbandanlegen tatkräftig unter beweis zu stellen. „Du willst aber nicht sagen, dass wenn es jemand anders gewesen wäre, du nichts unternommen hättest?“ „Warum sollte ich mich einmischen? Ihr Menschen geht mich nichts an. Der Typ war das Einzige, was mich beschäftigte. Und außerdem...“ Er sah mich schelmisch an „...hatte ich Hunger“ Bei dem Gedanken, wie die gestrige Nacht hätte ausgehen können, lief es mir kalt den Rücken runter. „Und dennoch hast du mich nach Hause gebracht. Du hättest mich auch liegen lassen können“ „Es wäre unfair zu sagen, dass ich es nicht in Erwägung gezogen habe. Aber deine Anwesenheit beim Fund der Leiche hätte vielleicht Missverständnisse nach sich ziehen können. So wird der Fall ziemlich schnell in Vergessenheit geraten.“ Endlich fertig mit meiner Arbeit, richtete ich mich auf und betrachtete skeptisch den Verband. „So. Das sollte für eine Weile halten. Und wenn die Wunde wirklich schnell verheilt, wird es schon ausreichen.“ Er bewegte probeweise die Schulter und den Arm. „Das war zwar wirklich nicht nötig gewesen, aber...danke.“ Mit einer bestimmten Bewegung griff er nach seinem Mantel. „Na dann, ich schätze mal, wir sehen uns nicht wieder“ war das eine Spur von Erleichterung, die ich aus seiner Stimme raushörte? Ohne noch etwas zu sagen (oder vielleicht um mir keine weitere Möglichkeit zu geben, noch etwas zu fragen) machte er sich in Richtung Eingangstür auf. „Ich schätze mal, für dich waren es genug Überraschungen für eine Nacht, so nehme ich lieber den etwas herkömmlicheren Weg zu verschwinden“ grinste er mich zum Abschied noch mal an. „Und such dir in der Zukunft besser aus, wo dich rumtreibst.“ Tja, wo er Recht hat... „Danke noch mal“ war wohl alles, was ich noch sagen konnte. Die Tür fiel ins Schloss. Eine Weile stand ich noch im Flur, versunken in die verschiedensten Gedanken, die immer noch wie ein Haufen Fliegen in meinem Kopf herum schwirrten. Langsamen Schrittes ging ich dann wieder ins Zimmer zurück. °War das alles gerade wirklich passiert?° Die Stille, in die die Wohnung wieder getaucht war, legte ihren Schleier um alles Geschehene. Nur mein Erste-Hilfe-Kasten lag immer noch offen auf dem Sofa als stummer Zeuge dafür, dass nichts von dem Ganzen eine Einbildung war. °Was soll’s...° machte ich das Kofferchen gedankenverloren zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)