Schattenjagd von Carcajou (ehemals Kage no Kurayami) ================================================================================ Kapitel 2: Edo -------------- Freut mich sehr, dass euch das erste Kapitel gut gefallen hat. Ich hoffe, das zweite gefällt ebenso…^^° Hier noch einmal ein paar Begriffe: Hanyou -Neutral Halbdämon, aber auch negativ Halbblut oder Bastard Miko -Priesterin Shingon -esoterische Glaubensschule innerhalb des Buddhismus Daimyo -Fürst,Feudalherr Shuriken-Wurfsterne/- Klingen Tanuki -Marderhund -san -Anrede wie "Herr" oder "Frau" sowieso, höflich -sama -SEHR höfliche Anrede! Viel Spaß! 2. Kapitel: Edo Edo hatte sie empfangen wie eine zähe Masse aus Lärm und Gestank, in der sie langsam zu versinken schien. Nach der frischen Seeluft und dem kühlen, reinen Duft des Waldes war ihr der Unterschied besonders bewusst geworden. Selbst die schwülste Luft auf See oder freiem Land war eine Wohltat in Gegensatz zu dem konzentrierten Geruch unzähliger Menschen, Tiere und Fisch. Der Hafenbezirke rochen in beinahe jedem Teil der Welt gleich. Nur feinste Nuancen verkündeten, dass man sich in einem anderen Land befand. Sie schob sich zielstrebig durch die Menschenmengen. Warum musste dieser elende Gnom überhaupt inmitten des Hafengebietes sein Quartier aufschlagen? Der einzige Vorteil bestand darin, dass er so leichter wieder zu finden war. Der Hafen wechselte seine Lage nicht so schnell, egal, wie sehr eine Stadt anwuchs. Menschenzeit verging so schnell… und mit ihnen veränderte sich auch immer ihre Umgebung. Das war eine Sache, in denen sie sich deutlich von Youkai unterschieden! Einen Augenblick lang hielt sie inne und ließ ihren Blick über die Stadt schweifen. Es HATTE sich noch etwas geändert. Menschen und Land mochten im Grunde dieselben geblieben sein, doch etwas in der Luft war neu- fremd. Und es hatte nichts mit Menschendingen zu tun. Eine Schwingung, die nur für Ihresgleichen und magisch begabte Menschen spürbar war. Sie hatte es bereits überdeutlich auf ihrer kurzen Reise entlang der Küste wahrgenommen. Sie war mit Höchstgeschwindigkeit gerannt, um genügend Abstand zwischen sich und diesen Taijiya zu bringen, um ihn nicht gleich wieder an den Fersen kleben zu haben, und um sich die ortsansässigen Youkai vom Hals zu halten. Doch selbst in dieser kurzen Zeit waren ihr unzählige dämonische Auren aufgefallen, viel, viel mehr, als gewöhnlich. Und wenn ihre Sinne sie nicht täuschten, bedeutete das nichts Gutes! So dicht an der Stadt… Es lag eine schier zerreißende Spannung in der Luft. Und die Menschen hatten sich gewappnet. Die Bannkreise, die die Stadt von der Wildnis abschirmten, waren für Menschenwerk gewaltig. Es hatte sogar sie einige Mühe gekostet, unbemerkt durch die Abschirmungen und an den zahlreichen Priestern und Mönchen vorbei zu kommen. Und auch jetzt noch spürte sie nur zu deutlich die unangenehme Energie, die von unzähligen Bannzetteln ausging, die überall in der Stadt verteilt waren. Einem schwächeren Dämon wäre diese Atmosphäre unerträglich gewesen. Nicht, dass es ihr wirklich gefährlich werden konnte, aber es war… Wie stahlharte Krallen auf glattem Schiefer jagte es ihr eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken. Und sollte sie einem dieser Zettel zu nahe kommen, würde er auf ihr Youki reagieren. Und sie hätte alle Priester des gesamten Viertels am Hals. Auf einen Kampf inmitten einer Stadt voller alarmierten Soldaten und Geistlicher verspürte sie nicht die geringste Lust. Innerlich beglückwünschte sie sich zu ihrem Entschluss, das Schiff zu verlassen und so einige Stunden vorher die Stadt zu erreichen. Nicht aus zu denken, hätte der Taijiya sie identifizieren können! Wenigstens konnte sie ihre Energie so weit unterdrücken, dass sie einen solchen Zettel schon direkt berühren musste, um eine Reaktion aus zu lösen. Und dennoch, als sie ihren Fuß auf den Strand gesetzt hatte, schon, als sie in Nagasaki das portugiesische Schiff verlassen hatte, überrollte sie das Gefühl, heimgekehrt zu sein. All die einst so vertrauten Laute und Gerüche wieder wahrzunehmen, den Klang der Sprache wieder in den Ohren zu haben… Zu Hause. Eine merkwürdige Empfindung. Sie zog sich den Strohhut tiefer ins Gesicht, um den allzu neugierigen Blicken aus zu weichen. Menschengestalt hin oder her, ihre grünen Augen und dunkle Haut waren einfach zu auffällig, um sich unbemerkt unter den hiesigen Menschen zu bewegen. Allein die übliche Diskretion und Höflichkeit hielt die Leute davon ab, sie zu dreist anzugaffen oder gar anzusprechen. Als offensichtlich ausländische, alleinreisende Frau, die zudem noch so groß war wie die meisten Männer, fiel sie auf wie der sprichwörtliche bunte Hund. Bei dem Gedanken an diesen Vergleich musste sie unwillkürlich grinsen. Wie es ihm wohl ging…? . Trotzdem, wie lästig! Sie seufzte erleichtert auf, als sie hinter den Dächern der Hütten den Wipfel des uralten Ahornbaumes entdeckte. Irgendeine glückliche Fügung hatte die Menschen wohl davon abgehalten, einen Schrein oder gar Tempel um den Baum herum zu bauen. Der mächtige Stamm erhob sich aus dem Schatten einer dunklen Seitengasse, Reste von Holzbalken und dichtes Gebüsch schützten den schmalen Durchgang vor neugierigen Blicken. Die eigentümliche, für alle Wesen deutlich spürbare Aura des Baumes sorgte dafür, dass sich kein Mensch zu nahe an ihn heranwagte. Für die Dämonin war diese abweisende Witterung wie ein warmes Willkommen. Ohne zu zögern tauchte sie in das Zwielicht von Baumkrone und Hütten ein. Sofort sank die Temperatur um einige Grade ab und der Krach reduzierte sich zu einem leisen Murmeln. Die Magie dieses Baumes und seines Bewohners war immer noch mächtig, vielleicht sogar noch mächtiger als bei ihrem letzten Treffen. Abwartend blieb sie direkt vor dem Stamm stehen und legte die Hand auf die warme Rinde. Einen Augenblick später spürte sie, wie sie ein unwiderstehlicher Sog ergriff, sie nach unten riss und der Boden sie verschlang. Sie landete einigermaßen elegant inmitten einer Staubwolke und einem Regen aus Sand und Steinen auf dem Grund der Höhle. Wütend schnaubte sie sich den Dreck aus der Nase. Das der Alte diese Spielchen immer noch nicht lassen konnte! Besagter Alte erwartete sie bereits. Auf dem runzeligen Gesicht des kleinen Youkais lag eine eigenartige Mischung aus Überraschung, Furcht- und vorsichtiger Freude! Unwillig schüttelte sie sich den Staub aus dem Kaftan. „Du hast dir immer noch keinen anderen Eingang zugelegt, Jiji?“ „Hättest du mir vorher gesagt, dass du kommst, hätte ich dir den anderen gezeigt, Shahi.“ Unbehaglich verharrte er auf seinem Wurzelsitz und sah zu ihr auf. „Du warst lange nicht hier.“ Sie sah sich um. Es hatte sich nicht viel verändert. Nur größer war es geworden, die kleinen Seitentunnel noch zahlreicher, wo er seine Flaschen, Krüge und Schriftrollen verwahrte. „Willst du mich hier stehen lassen?“ Er zuckte zusammen. „Nein, selbstverständlich nicht. Komm mit…“ er erhob sich und führte sie in einen schmalen Spalt zwischen zwei mächtigen Wurzeln. Dahinter befand sich eine weitere Kammer, im Gegensatz zu der ersten jedoch gemütlich mit Tatamis und Sitzkissen ausgestattet. Besonders kostbare Schriften und Krüge standen in Wandnischen, an einer Ecke lag ein Futon, um einiges dicker, als man es hier gewohnt war. Sie wartete höflich, bis er ihr ein Kissen zurechtrückte. „Kann ich dir etwas anbieten, Sake vielleicht?“ „Wasser. Und es riecht nach Fleisch… „ sie schnupperte genüsslich. „Was ist es?“ Der einem kleinen, verschrumpelten alten Mann ähnelnde Youkai lächelte erleichtert. Sie war offensichtlich in guter Stimmung. „Aaah, der Gestank draußen, nicht? Es ist Reh, ganz frisch und blutig, einen Augenblick…“ Schnell stellte er ihr einen kleinen Tisch auf und holte eine Platte mit einigen saftigen Flankenstücken hervor. Eigentlich hatte er das Fleisch bei einem Wiesel gegen ein paar Kräuter eintauschen wollen, aber die mussten nun eben warten. Man konnte nie wissen, wie SIE reagieren würde, wenn… Das Risiko war es nicht wert. Nachdem sie genüsslich ein paar Streifen verschlungen hatte, kam sie auch gleich zur Sache. „Was ist hier los, Jiji? Man könnte meinen, Edo wird von Youkai regelrecht belagert…“ Er seufzte. „Das trifft es vielleicht ganz gut- seit ein paar Monaten wandern immer mehr Dämonen aus ihren Revieren in den Gebieten von Musashi ab. Irgendetwas scheint ihnen fürchterliche Angst zu machen. Zwar ist dort schon seit etwa fünfzig Jahren scheinbar die Hölle los, aber in letzter Zeit wird es immer schlimmer! Seit etwa vier Wochen ist das ganze Gebiet in Bewegung… Seitdem das Shikon no Tama wieder aufgetaucht ist, herrscht dort Krieg. Wie übrigens im ganzen Land. Die Menschen scheinen seit einiger Zeit nichts anderes mehr zu können, als sich gegenseitig die Köpfe abzuschlagen. Unruhige Zeiten sind das…“ Er sah sie lauernd an. „Einige der mächtigeren Youkai werden vielleicht ganz glücklich sein, dass du wieder da bist.“ Shahi’s Blick verfinsterte sich, aber sie ging nicht darauf ein. „Das Shikon no Tama?“ Davon hatte sie gehört, früher einmal. „Wie…?“ „Oh, ich habe einige Informationen dazu, aber die sind so verrückt…“ er wedelte angewidert mit den Händen. „ Wenn du nicht viel Zeit hast, frag nicht!“ „Habe ich nicht. Weiter!“ „Es heißt, dass es durch irgendeinen Unfall zerbrochen ist und seitdem besonders zwei Gruppen auf der Jagd nach den Splittern sind. Die eine besteht aus Menschen UND Youkai, sogar einem Hanyou und der andere ist ebenfalls ein Hanyou- aber so mächtig, das selbst starke Youkai nicht gegen ihn ankommen. Am Anfang war er dafür verantwortlich, das viele Dämonen flüchteten, da er scheinbar die Fähigkeit besitzt, sie zu absorbieren- vollständig, mitsamt ihren Kräften! „ „Ein Hanyou? So mächtig?“ „Und klug und hinterlistig. Er kämpft nicht ehrlich, sondern mit List und Heimtücke. Er soll sogar Abkömmlinge erschaffen können, die er vorschickt. Und er beherrscht eine machtvolle Puppentechnik!“ „Also kein Kämpfer?“ Das behaupten manche auch noch von dir, dachte der Alte, hütete sich aber es auszusprechen. „Nur, wenn er alle Vorteile auf seiner Seite hat. Diese andere Gruppe ist aber auch nicht schwach. Und seitdem der Inu no Taisho ebenfalls auf der Jagd nach ihm ist, scheint er nach einer heftigen Auseinandersetzung verschwunden zu sein. Kurioserweise wurde es danach noch schlimmer, weil niemand mehr die niederen Dämonen unterdrückte. Das ganze Gewürm kam aus seinen Löchern hervor. Aber jetzt… Sie können nicht nach Norden, da sind die Hyoneko, der Süden ist ebenfalls geschützt und der Westen- nun, auch der Taisho weiß seine Länder zu schützen, nicht war? Also ist der einzige Ausweg der Osten. Und deswegen sind sie hier!“ „Und auch alle Priester und Taijiya im ganzen Land.“ Er nickte. „Es wundert mich selbst bei dir, dass du es geschafft hast, in die Stadt einzudringen. Sie haben die mächtigste Mikos und Mönche kommen lassen, dazu die stärksten Taijiya und es kommen immer noch mehr.“ Das hatte der Jäger also gewollt. „Gibt es keinen Daiyoukai in Musashi?“ „Nicht mehr seit Ryuukotsusei.“ Unwillkürlich fuhr sie ihre Krallen aus, beherrschte sich aber wieder. Der Alte nickte verständnisvoll. Niemand hatte gute Erinnerungen an diese Bestie, und Shahi bestimmt nicht. „Er ist übrigens tot!“ Sie starrte ihn an. „Wie…“ „Jemand hat den Bann gelöst und ihn getötet. Gerüchte sagen etwas von dem Geruch eines Hundes, aber nichts Genaues.“ Er hatte da schon so seine Vermutungen, sprach sie aber nicht aus. Einige Dinge sollte sie einfach selbst herausfinden. Sie wirkte jetzt schon gerade zu fassungslos. „Ist nicht schade um ihn… aber schon seit dem Bann gehören seine Länder den Menschen- da ja irgendjemand alle anderen potentiellen Nachfolger getötet hat, nicht wahr? Nun treibt sich dort all das Gesindel herum, das die anderen Daiyoukai nicht bei sich dulden. Bis vor kurzem zumindest. Jetzt sind sie ja hier.“ schloss er grimmig. „Die westlichen Länder?“ Er schmunzelte. „Dort ist alles recht friedlich. Vor ein paar Jahrzehnten haben es die Hyoneko unter Touran noch mal versucht, den Taisho zu besiegen, wurden aber in die Flucht geschlagen. Vor kurzem versuchten sie es noch mal und erweckten sogar ihren alten Herrn wieder zum Leben. Ist aber wieder schief gegangen.“ In seiner Stimme klang eindeutig Schadenfreude mit. Der Taisho, dachte Shahi. Sesshoumaru. Sie würde sich nie daran gewöhnen ihn so zu nennen. Inu Taisho… „Touran! Dumme, dumme Katze. Sie wird es wohl nie begreifen.“ Shahi schnaubte verächtlich. „Sie wird ebenfalls eine derjenigen sein, die sich SEHR über ein Wiedersehen freuen wird- Und sie nennen sich Pantherdämonen.“ erinnerte er sie vorsichtig. Der Blick, den er als Antwort erhielt, brachte sein Blut zum Gefrieren. Darin ähnelten sich die beiden sehr, die wilde Raubkatze und der weiße Hund… „Dafür ist mir jedes weitere Wort zu schade, Jiji.“ schnurrte Shahi, worauf hin der Alte einen großen Kloß im Hals verspürte. „Was hat Sesshoumaru überhaupt mit einem Hanyou zu schaffen? Diese Sache mit seinem Halbbruder muss ihm doch schon schwer genug im Magen liegen.“ „Gewiss. Es heißt, dass die beiden sich hassen und sich aufs Blut bekämpft haben, aber im Augenblick scheinen sie Waffenstillstand zu halten. Und dieser andere Hanyou, keine Ahnung, was der gemacht hat- Sesshoumaru wird wohl seine Gründe haben. Umsonst verschwendet er seine Energie nicht an Halbblüter.“ Shahi seufzte. „Sesshoumaru lässt Dinge nicht einfach unerledigt liegen.“ „Nein. Und deswegen, der andere Hanyou- wenn selbst Sesshoumaru es bisher nicht geschafft hat, diesen Abschaum zu töten- du solltest vorsichtig sein, wenn du in Musashi bist. Die Zeiten haben sich geändert. Und nicht nur in Edo sind die Menschen gegenüber den Dämonen dreister und stärker geworden.“ „Ich habe mit solchem Abschaum nichts zu schaffen.“ Dabei ließ sie offen, wen genau sie nun damit meinte. „Aber vielleicht er mit dir- er absorbiert Youkai!“ Er sah sie ernsthaft an, ohne seine aufrichtige Sorge verstecken zu können. „Du bist nicht gerade schwach. Dazu deine Fähigkeiten, er könnte dich als eine lohnende Beute…“ er verstummte, als er weiße Fangzähne aufblitzen sah. „Darum kümmere ich mich, wenn es soweit ist.“ sagte sie samtweich, was dem Alten endgültig alle Haare zu Berge stehen ließ. „Kongen- San…ich benötige noch einmal euer Wissen.“ Da war es wieder. All die Jahrhunderte, die er sie kannte, und noch immer wusste er nie, wie sie im nächsten Moment reagieren würde. Er kannte sie allerdings gut genug, um zu wissen, wann die Zeit für Plaudereien vorbei war. Und das es nicht ratsam war, ihre Geduld auf die Probe zu stellen, wenn sie sich dazu entschlossen hatte, keine mehr zu haben. „Stell mir die Frage!“ Sie griff in ihren Kaftan und zog eine Schriftrolle hervor. „Was weißt du darüber?“ Erst verdutzt, dann ungläubig betrachtete er die Zeichnung auf dem Pergament. Mit äußerst sorgfältigen Tusche- Strichen war dort das genaue Abbild eines Gegenstandes, wohl eines Medaillons dargestellt. Zwischen zwei geschwungenen Linien, die den alten Youkai entfernt an ein Kuhgehörn erinnerten, schien eine Scheibe eingelassen, auf der sich wiederum mehrere geometrische Formen befanden. Ein Rechteck, aus dem man zwei Teile entfernt zu haben schien, so das nun eher an eine sehr steile Treppe zu erinnerte, ein Halbkreis und darunter ein schräg gelegtes Oval. Oberhalb der Scheibe, zwischen den lang gezogenen Hörnern, lauerte eine geöffnete Vogelklaue. Die langen Krallen ließen keinen Zweifel an der Ernährungsweise des dazu gehörigen Tieres. Er erkannte die Herkunft dieses Stücks. Und es lief ihm kalt den Rücken herunter. „Suchst du den Gegenstand oder die Person, die ihn bei sich trägt?“ Die grünen Augen schienen plötzlich an Farbe zu verlieren, die Pupillen von einer weißen Linie umrandet. „Beides!“ erwiderte sie völlig ausdruckslos. Der Alte beeilte sich zu antworten. „Einige der Youkai, mit denen ich reden konnte, sprachen davon, dass sie eine fremde Aura im Landesinneren gespürt hatten. Keiner konnte sie identifizieren. Von einem solchen Gegenstand weiß ich nichts. Aber die neue Aura tauchte nur kurz vor dem Exodus der Youkai auf. Meinst du, da könnte ein Zusammenhang…“ Eine Antwort war überflüssig. Das passte einfach zu gut. Zusammen mit den Informationen, die sie im Laufe ihrer Reise gesammelt hatte und zu guter Letzt das, was der alte Baumgeist wusste… „Danke für die Informationen. War das alles? Dann…“ „Warte, ich habe da noch etwas für dich…“Er klatschte in die Hände. Er wusste nicht genau, was sie nach all der Zeit wieder nach Japan zurückgeführt hatte, aber er hatte da einen Verdacht. Und wenn er richtig lag, war es Schicksal, das er diesen Gegenstand aufgehoben hatte. Und es war an der Zeit, dass sie ihn wieder an sich nahm. Und ihn richtig einsetzen würde! Nach einigen Augenblicken kam ein Tanuki gähnend und sich streckend aus einem der Seitengänge herausgewankt. „Hai, was…“ Er erstarrte inmitten der Bewegung. Kongen schloss die Augen. DAS hatte er völlig vergessen! Shahi bleckte ihre Fangzähne zu einem breiten Grinsen. Die Zeit für ein wenig Spaß musste einfach noch sein. „Du hast diesen Trottel immer noch in deinen Diensten?“ Shahi taxierte den Marderhund gelangweilt von Kopf bis Pfote. „Scheint noch fetter geworden zu sein… Hast du ihn extra für mich gemästet?“ Dem Tanuki trat der Schweiß auf die Stirn, während ihm die Augen schier aus dem Schädel quollen. Er rührte immer noch keinen Finger. Kongen wedelte frustriert mit der Hand. „Nun steh da nicht so, sie hat schon gegessen. Und jetzt hol schon das Paket, du weißt, welches ich meine, Husch, Husch!“ Der Tanuki zuckte zusammen, als würde er aus einem Albtraum erwachen, taumelte zurück und stürzte dann Hals über Kopf davon, allerdings nicht ohne einmal den Tunnel zu verfehlen und mit solcher Wucht gegen die Höhlenwand zu prallen, das es nur so krachte. Ohne auf seine blutende Nase zu achten jagte er davon. Kongen sah Shahi strafend an. „Musst du ihn immer so erschrecken? Er ist mir mein treuster Diener.“ „Dein einziger.“ korrigierte sie nüchtern, während der Tanuki mit panischem Blick aus einem Tunnel herausgeschossen kam und im nächsten verschwand. „Ich frag mich nur, warum…?“ „Ich ihn noch nicht rausgeworfen habe?“ „… an den nächst besten Youkai verfüttert hast.“ Im Vorbeisausen gab der Tanuki ein hysterisches Wimmern von sich, bevor er sich in einen anderen Eingang stürzte. „Du solltest ihn nicht so rennen lassen, das macht das Fleisch zäh…“ Aus dem Hintergrund ertönte ein Schluchzen. „Ich bat dich darum, es zu lassen. Er ist sehr zuverlässig.“ „Im Schlafen und Fressen, da stimme ich dir zu. Er ist recht wählerisch, oder? Dann müsste er mit ein wenig Salz und deiner Gewürzmischung ganz vorzüglich…“ Ein dumpfer Aufschlag und ein ersterbendes Röcheln ließ Kongen mit den Augen rollen. „Großartig! Jetzt hast du es geschafft!“ Ungerührt schob sie sich noch ein Stück Fleisch in den Mund. „Er war schon immer ein Jammerlappen… ich kann ihn gerne für dich aufwecken gehen.“ „Bloß nicht!“ Wenn ein Youkai schon mal Sinn für Humor hatte und kein Kitsune war… „Gib ihm einen Moment…“ Für eine Minute herrschte Stille, nur unterbrochen von leisen Kaugeräuschen. „Kozo…?!?“ Keine Reaktion. „Na, großartig…“ Der Alte erhob sich ächzend und verschwand in einem der Tunnel. Ihr unberechenbares Temperament hatte sich wirklich nicht ein bisschen geändert! Als er wieder in die Kammer kam, wischte Shahi sich gerade genüsslich die letzten Spuren des Rehs aus dem Gesicht. „Und?“ „Er ist immer noch ohnmächtig. Musst du immer so auf ihm herum hacken?“ „Ja!“ Das klang verdächtig vergnügt! Er unterdrückte ein erneutes seufzen und legte das Paket vor ihr auf den Boden. „Bitte, das gehört dir.“ Ein schmaler, länglicher, von schwarzer Seide umwickelter Gegenstand. Sie erstarrte. Dann nahm sie es scheinbar gleichgültig auf und schob es unter ihren Kaftan. Er sah, wie sich ihr Blick verfinsterte, verspürte aber keine Furcht. Er wusste, dass ihr Zorn nicht ihm galt, sondern diesem Gegenstand. „Das muss fürs erste reichen Ji- san.“ Irritiert sah er, wie sie sich plötzlich erhob. „Willst du gehen? Ich meine…“ Shahi sah in das verrunzelte Gesicht. Ehrliche Enttäuschung stand in den feuchten schwarzen Augen. Er hatte sich trotz seiner Vorsicht aufrichtig gefreut, sie wieder zu sehen. Sie fühlte eine angenehme Wärme. Einen Moment lang erinnerte sie sich, wie sie zu dritt in dieser Höhle gesessen hatten und sie glücklich und wissbegierig gelauscht hatte, während sich die beiden bei einer Partie Go über die unterschiedlichsten Dinge unterhalten und gelacht hatten. Und für eine kleine Ewigkeit fühlte sie sich von der behagliche Atmosphäre dieser Höhle und den darin wohnenden Erinnerungen umhüllt und geborgen wie von einer warmen Decke. Dieses … es passte nicht hierher. Es verdarb den Frieden dieser Höhle. Warum hatte Kongen es nicht vernichtet? Was dachte er sich dabei? Es stellte die dunkelste Seite ihrer Seele, ihrer Vergangenheit dar… und es bereitete ihr fast Körperliches Unbehagen, welches die guten Erinnerungen an diesen Ort entweihte. Energisch schob sie dieses Gefühl bei Seite. „Bitte, Ji- San. Ich bin nicht zum Vergnügen zurückgekehrt und die Zeit drängt. Ihr habt meine Frage beantwortet, und nun muss ich gehen.“ Nachdenklich musterte er sie, versuchte, in ihren Augen zu lesen. Eine Sekunde lang war die undurchdringliche grüne Kälte echter Wärme gewichen, doch jetzt waren die Augen wieder hart und gaben nichts mehr preis. In Wirklichkeit wusste wohl nur eine Person, was in dieser Youkai wirklich vorging, und diese war seit 200 Jahren tot. Alter Freund, du bist wahrhaftig zu früh gestorben… Sie zog einen kleinen Krug aus dem Kaftan. „Betrachtet es als einen Tausch gegen eure Auskünfte. Es sind ausgewählte Erinnerungen aus verschiedenen Ländern. Ich denke, sie sind eure Mühen wert.“ Dann ging sie. Er betrachtete nachdenklich den Krug in seinen Händen. Sie hätte ihm nichts geben müssen… er sammelte Wissen, Erinnerungen und Erfahrungen, sie waren seine Freude, sein Lebenssinn. Wenn man so alt war wie er, was sollte man sonst mit seiner Zeit anfangen? Und Bilder aus fernen, noch nie zuvor gesehenen Ländern waren die Wertvollsten von allen. Ein Tausch? Das war ein Geschenk, die kostbarste Gabe, die er sich hätte vorstellen können. Ja, ER war zu früh gestorben. Aber der Abdruck seiner Hand auf dieser Seele würde nie mehr weichen. Es war richtig gewesen, ihr diesen Gegenstand wieder zu geben. Sie war bereit dafür. Die Frage lautete eher, war Japan bereit für die Konsequenzen? Gedankenverloren sank er mit dem Krug im Arm auf sein Kissen zurück. Er hatte die dumme Ahnung, dass ihm in naher Zukunft diese unruhigen Zeiten noch gerade zu paradiesisch friedlich vorkommen würden… Der hallende, tiefe Gongschlag der Burg von Edo verkündete die Mittagsstunde. Shahi blinzelte in die Sonne, registrierte ihre brennende Hitze. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Flimmernde Luftschichten schienen sich zusammen mit der Macht der Bannkreise wie eine erstickende Decke über die Stadt zu legen, unter der sich alles sammelte, Gerüche, Furcht, Zorn, Magie, Spannung so stark, das die Atmosphäre unter ihr zu bersten schien. Shahi spürte auf einmal deutlich den Druck nahenden Unheils, gewaltig und umfassend. Hätte sie je Zweifel gehabt, so wären sie jetzt endgültig weggewischt. Sie spürte es mit jedem Atemzug, immer deutlicher. Die Suche war beendet. Sie hatte ihr Jagd- Gebiet erreicht und ihr Blut begann in ihr zu kochen. Unwillkürlich spannte sie die Hand an, so dass ihre Krallen hervortraten und sich die Sonne in ihnen fing, sie aufleuchten ließ. Bald, dachte sie, bald. Shahi atmete den Zorn und die Erregung ein und ließ sie wie einen Strom durch ihren Körper fließen, bis ihre Adern und Muskeln unter ihrer wachsenden Energie zu vibrieren begannen. Die wirkliche Jagd konnte beginnen! Vorsichtig mischte sie sich wieder unter die Leute. Edo schien trotz der Wärme keine Ruhe zu kennen, immer noch waren Gassen und Straßen voller Menschen, deren Ausdünstungen in der Hitze nicht unbedingt erträglicher wurden. Shahi lechzte danach, endlich wieder in die schattigen Wälder eintauchen zu können, weitab von Gestank und Lärm. Doch zuerst musste sie noch einen Freund abholen- der sie mit allergrößter Sicherheit schon ungeduldig erwartete. Noch einmal mitten durch dieses Getümmel- in ihr vibrierte es noch immer, die Aussicht, bald endlich wieder Jagen zu können, durch die dichten Wälder zu streifen und der Beute immer näher zu kommen machte sie regelrecht trunken. Der Aufenthalt in China, die ewig lange Überfahrt auf diesem stinkenden, verdreckten Schiff voller sexuell frustrierter Seeleute, die eine selbstbewusste, allein reisende Frau anscheinend nicht in Ruhe lassen konnten, ständig von Menschen und ihren Ausdünstungen umgeben… Sie war schon lange nicht mehr über einen solchen Zeitraum gezwungen gewesen, in dieser menschlichen Gestalt zu bleiben, und sie hatte es gründlich satt. Der Überschuss an Energie und Erregung, der sich in ihr angestaut hatte, begann ihr ernsthaft Unbehagen zu bereiten. Daran hatte auch der kleine Zwischenfall in Nagasaki nichts ändern können. Dieser schwache christliche Priester mitsamt seinem Anhang von nach Angst stinkenden Matrosen war nicht unbedingt ein nennenswerter Gegner gewesen und dadurch gänzlich ungeeignet für einen entspannenden Kampf. Ein kurzes Töten ohne Befriedigung. Langweilig, mit einem faden Beigeschmack nach verdrängten Erinnerungen. Sie spürte das Gewicht des Pakets an ihrer Hüfte. Es fühlte sich noch vertraut an- ZU vertraut für ihren Geschmack. Nur noch ein paar Stunden… Shahi seufzte und wich einem Trupp Samurai aus, die unter dem Wappen des hiesigen Daimyos die Straßen durchstreiften. Dass der Anführer sie scharf musterte, wunderte sie nicht. Schon eher, das er plötzlich mit der Hand am Schwert vor ihr stehen blieb und ihr den Weg versperrte, während die restlichen Männer sie umzingelten. Sie blieb betont ruhig, um eine Eskalation zu vermeiden und senkte unterwürfig den Kopf, doch als der Hauptmann plötzlich blank zog, reagierte ihr Instinkt. Für den Bruchteil einer Sekunde färbten sich ihre Augen hell, dann brachte sie sich mühsam wieder unter Kontrolle. Verflucht, ihre Selbstbeherrschung ließ mittlerweile ernsthaft zu wünschen übrig! Innerlich fletschte sie die Zähne. Allerdings war ihr nicht klar, auf wen sie eigentlich wütender war: auf sich oder diesen aufdringlichen Samurai! Sie verharrte unterwürfig mit gesenktem Kopf, während der Hauptmann ein paar verächtliche Worte über Ausländer im Allgemeinen und insbesondere über Barbarenfrauen zum Besten gab. Da Shahi nicht reagierte, sondern devot blieb und damit bessere Manieren bewies als er, verlor er schließlich das Interesse und marschierte weiter. Shahi blickte ihm zusammen mit einigen anderen Leuten kopfschüttelnd hinterher. Arrogant durfte ein Samurai sein- doch schlechtes Benehmen wurde niemandem verziehen- noch nicht einmal dem Tennô höchstpersönlich. Menschen…! Ihre erwachte Jagdlust und die aufpeitschende Atmosphäre brachten ihr Blut immer noch zum Kochen. Der Mensch würde nie ahnen, wie nah er dem Tod gewesen war. Shahi hätte ihn dreimal töten können, bevor er das Schwert auch nur einmal richtig geschwungen hätte. Lächerlich! Sie beschleunigte ihren Schritt. Noch ein Grund mehr, hier nur so viel Zeit wie nur unbedingt nötig zu verschwenden. Wenn sie sich nicht bald beruhigen konnte, dann… Sie unterdrückte nur mühsam ein verärgertes Knurren, als ihr der direkte Weg zu ihrem Ziel durch eine geballte Menge an spiritueller Energie versperrt wurde. Auch dass noch. Das musste ein ganzer verdammter Trupp sein, der sich dort versammelte. Frustriert schlug sie einen anderen Weg ein, der sie hoffentlich weitläufig um diese Aura herumführen würde. Langsam steigerten sich ihr Unwohlsein und ihre Anspannung zu merklichen Kopfschmerzen. Ihre Sinne begannen, unter dem Ansturm von Eindrücken und Alarmsignalen zu kapitulieren. Ihre Augen und Nase juckten, während es ihr immer schwerer fiel, ihr Youki unter Kontrolle zu halten. Die Menge an Spiritueller Kraft um sie herum zerrte zunehmend an ihrer Selbstbeherrschung. Und es wurde noch schlimmer. Die riesige helle Aura schien sich beinahe parallel zu ihr zu bewegen. Diese Bastarde marschierten vermutlich auf einer nur ein paar Häuser weiter verlaufende Straße entlang und ahnten nicht einmal, dass sie einen zunehmend entnervten Dämon langsam aber sicher um den Verstand brachten. Alles in ihr schrie danach, entweder zu fliehen oder die Ursache dieser unerträglichen Ausstrahlung zu vernichten. Sie konnte weder noch, und es zerriss sie förmlich. Ein beißender Gestank brachte sie wieder zur Besinnung. Shahi jaulte unwillkürlich gequält auf. Eine Eta- Siedlung. Sie befand sich genau vor einer Abdeckerei, wo anscheinend auch gleich Häute und Knochen weiterverarbeitet wurden. Der Aasgeruch und der Stechende Dunst der Gerbemittel mischten sich mit dem fauligen Gestank von altem Fisch und unzähligen Abfällen. Pfützen mit faulig-schlierigem Wasser standen auf dem schlammigen, aufgewühlten Boden. Ihr Magen drehte sich um, und eine Augenblick lang befürchtete sie wirklich, dass Bewusstsein zu verlieren. Das Wasser schoss ihr in die Augen und ihre Nase begann, wie Feuer zu brennen. Die Menschen beachteten sie kaum, als sie würgend vorwärts taumelte, um dieser Hölle zu entkommen. Nur weg von hier… Die Attacke traf sie mit voller Wucht, ohne das sie auch nur den Hauch einer Warnung verspürte. Unsägliche Schmerzen wüteten in jeder Faser ihres Körpers, als eine gewaltige Kraft an ihrem Youki zerrte und sie schüttelte wie einen Zweig im Wind. Shahi keuchte, als sich glühende Blitze reiner Pein durch ihren gesamten Leib zogen. Ihre Muskeln begannen, unkontrolliert zu zucken, sie erbebte am ganzen Körper. Sie brach in die Knie. Ein lang gezogener, tierischer Schrei trieb die entsetzten Menschen um sie herum in die Flucht. Ihr Brustkorb krampfte sich zusammen und sie rang verzweifelt nach Luft, schlug die Krallen in die schleimige Erde, um nicht einfach um zu fallen, während sich nun deutlich sichtbare Fesseln aus reiner Energie um sie schlangen, ihr die Kehle zuschnürten und sie von innen heraus zu verbrennen schienen. Ihre Sicht verschwamm unter einem weißen Schleier. Wieder schrie sie, ohne es verhindern zu können, das hass- und schmerzerfüllte Kreischen eines wilden Tieres. Der Stallmeister hob überrascht den Kopf, als die Pferde in den Ställen zu schreien begannen. Die Boxen erzitterten unter den Tritten der in Panik geratenden Tiere. „Was zum…“ Er sprang auf und rannte zu den Ställen. Eine Schlange, ein Feuer? Oh, Kami, alles, nur kein Feuer… Als er die Gasse zu den Ställen entlang rannte, musste er einigen in blinder Furcht fliehenden Pferden ausweichen, die sich die Halfter mit Gewalt von den Köpfen gerissen und sich den Weg frei geschlagen hatten, deren Gesichter, Brust und Beine blutüberströmt waren und nun verzweifelt nach einem Ausweg suchten. Die Stallknechte begannen nun ebenfalls zu schreien, ihre Stimmen überschlugen sich hysterisch. Das klang nicht nach Feuer! Der Stallmeister verspürte kalte Angst. Was ging da vor…? Er beschleunigte, bis ihm die Lungen zu platzen drohten. Er war ein alter Mann, gebückt und verkrümmt, aber die Furcht um seine Tiere trieb ihn voran wie einen jungen Spund. Er ignorierte die ihm entgegen rennenden Knechte, deren Gesichter nur noch von Furcht verzerrte Masken waren, rannte unbeirrt weiter- bis er vor den Stallungen wie erstarrt stehen blieb. Zwei tote Knechte lagen in einer rasch größer werdenden Blutlache vor einer leeren Box. Einer hielt noch die Reste der Schaufel in der Hand, mit der sie trotz seines Verbotes manchmal aufsässige Pferde einzuschüchtern pflegten. Ein Pferd stand inmitten der wirbelnden Panik bewegungslos auf dem Hof. Das Tier, das gestern mit dem Schiff aus Nagasaki gekommen war, dachte der Alte merkwürdig ruhig. Er erinnerte sich, beim Anblick dieses Geschöpfes regelecht in Verzückung geraten zu sein. Schlank, feingliedrig und muskulös, mit einem edlen, feinen Kopf. Er hatte an Nebel denken müssen, als es da so in der Sonne stand, das Fell hellgrau schimmernd, während der leichte Wind mit den durchscheinend weißen Strähnen von Mähne und Schweif spielte, eine flüchtige Erscheinung, unwirklich und unnahbar. Ein Tier das dem Herrn von Edo, wenn nicht sogar dem Tennô würdig war. Die Papiere sagten, dass es heute abgeholt werden sollte, und er hatte sich fest vorgenommen, nach der Möglichkeit eines Kaufes zu fragen… Er starrte es an, ohne sich rühren zu können. Es hielt den Kopf leicht gesenkt, die Augen halb geschlossen, in einer Haltung, die an ein lauerndes Raubtier erinnerte und schien zu lauschen, zu wittern, sog die Luft in kurzen, heftigen Zügen ein. Die Pferde, die noch in den Ställen gefangen waren, versuchten brüllend vor Furcht die Wände ihrer Boxen zu zertrümmern, Splitter und Fellfetzen flogen, der Geruch von Blut und Angst verbreitete sich wie eine dunkle, erstickende Wolke. Um das Tier auf dem Hof herrschte eine unwirkliche Ruhe, nur das feine Sausen eines leichten, auffrischenden Windes wirbelte Staub und Blätter auf. Sie begannen, sich in einer Art Wirbel um das Graue Pferd zu drehen. Eisige Kälte schien sich über den Hof und die Gebäude zu legen, als das Tier den Schädel hob und nochmals mit vibrierenden Nüstern witterte. Der Stallmeister verspürte einen Schauer reiner Todesangst, als er in die nun weit geöffneten Augen sah. Reine Blicklose Schwärze, leer und tief wie die Abgründe der Hölle selbst. Der Priester näherte sich vorsichtig, die Hände ineinander verschlungen, den Bann mit aller Macht aufrecht haltend. Rund um ihn herum tauchten Samurai und Taijiya aus ihrer Deckung auf, Schwerter, Ketten und Lanzen angriffsbereit erhoben. Hinter ihnen standen die Mikos und anderen Priester, den Bann mit ihren Kräften unterstützend, allen voran die Mikos aus Ise, einige mit gespannten Bögen auf den Dämon zielend, der sich in dem um ihn gezogenen Kreis in schierer Agonie wand. Vorsichtig kamen sie näher, die Waffen fest umklammert, bereit zu töten. Der Priester spürte die Wachsamkeit der obersten Abgesandten aus Ise, die gegenüber von ihm stand und deren Magie sich mit seiner einte, um den unbekannten Dämon zwischen ihnen immer weiter zu schwächen, seine Kraft zu unterdrücken, um jegliche Gefahr für die anderen Kämpfer aus zu schließen. Mit Unbehagen spürte er die immense Kraft, die sich ihm entgegen stemmte. Noch immer schien dort eine dunkelhäutige Frau vor ihm zu knien, doch blitzten bereits überlange Fangzähne in ihrem Mund auf, als sie wieder ein brüllendes Fauchen ausstieß. „Noch nicht!“ warnte ein Novize die Samurai, die sich bereits auf wenige Meter angenähert hatten. Die erfahrenen Jäger hielten sich noch vorsichtig im Hintergrund, einige griffen bereits nach Rauchbomben, vergifteten Shuriken und anderen Waffen. Ihre Instinkte warnten sie davor, sich dem Dämon zu nähern. Denn der hatte noch nicht aufgegeben. Blitze aus dunkler Energie schienen die kniende Gestalt zu umzucken, als sie versuchte, sich gegen die Macht der Angreifer zu wehren und ihre letzten Reserven an Youki aufrief. Shahi sah nichts, hörte nichts, witterte nichts mehr. Der ungeheure Schmerz betäubte ihre Sinne, unterdrückte ihr bewusstes Denken. Sie war völlig hilflos, ihre Kraftreserven schwanden rapide, während sie sich immer noch gegen den Fesselbann auflehnte. Nicht sterben. Nicht so. Nicht jetzt. Töten… Die anderen…töten… Aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins hervor begann es zu brodeln. In ihrem Geist betrachtete sie unbeteiligt, wie sich die ungezügelte Energie gegen die Grenzen zu ihrem Bewusstsein drückte. Der letzte Rest ihres umnebelten Verstandes wog kühl die Möglichkeiten ab und traf dann die Entscheidung. Sie ergab sich dem Drängen ihres Überlebensinstinktes. Wie Magma aus dem Schacht eines Vulkans kochte Hitze, weiß- grünes Feuer in ihrem Bewusstsein empor, verschlang es und ließ die Bestie frei. Der Abt riss erschrocken die Augen auf, als er spürte, wie sich die Aura vor ihm zu verändern begann und zu wachsen schien. Sie begann sich zu verwandeln, das konnte doch nicht… Dieser Bann, noch dazu von so vielen anderen Energien unterstützt, sollte unzerstörbar sein, kein Youkai durfte in der Lage sein, sich unter seinen Fesseln zu … Sein Blick begegnete dem der Miko und er las in ihm die gleiche aufkeimende Furcht, die er auch in seinem Herzen spürte. Die Samurai wichen zurück, als die Frau den Kopf senkte und ein heiseres Grollen aus ihrer Kehle rollte. Die Energien um ihren Körper blitzen grell auf, so dass die Menschen geblendet die Augen schließen mussten. Gellende Schmerzensschreie rissen sie wieder aus ihrer Erstarrung. Statt einer Frau tobte nun die Gestalt einer Zweibeinigen, halbmenschlichen Raubkatze mit der Gewalt eines rasenden Sturmes unter den entsetzten Samurai, weiße, rasierklingenscharfe Krallen zerrissen Kehlen, durchtrennten Hälse und Gliedmaßen, zerschlugen Brustkörbe und Schädel wie überreife Früchte. Blutiger Regen verteilte sich in der Luft. Die wohlüberlegte Falle verwandelte sich in ein Schlachthaus. Der Oberste der Taijiya wechselte hastig einen Blick mit einer anderen Gruppe von Jägern, die sich bereits aufteilte, um den rasenden Dämon einzukreisen. Auf seinen Ruf hin zogen sich einige Jäger zurück, um die Geistlichen zu schützen, während sich die übrigen mit den Samurai zusammen Todesverachtend nach vorne warfen, um beinahe augenblicklich unter den Krallen des Youkai zu sterben. Der Dämon kämpfte nun völlig lautlos, das Gebiss mit den gewaltigen Fängen zu einem wilden Grinsen gefletscht, das schwarze Fell bereits stumpf vom Blut, die Kleidung zerrissen. Die zahlreichen Wunden von Schwertern, Dolchen und Wurfsternen schien er nicht mal zu spüren. Mit beiläufiger Präzision und Brutalität zerriss sie einen Mann nach dem anderen, ohne das diesen trainierten Kämpfern auch nur der Hauch einer Gegenwehr gelang. Und trotzdem warfen sich die Überlebenden immer wieder mit wütenden Kampfschreien nach vorne, die Männer des Daimyos allen voran. Dem Anführer wurde mit erschrecken bewusst, das die Samurai sich gezielt opferten, um ihm und seinen Leuten eine Chance zu geben. Verflucht sollst du sein, du Monster, sie werden nicht umsonst gestorben sein… „Die Bögen bereithalten!“ Der Abt stand immer noch wie erstarrt auf seinem Platz. Die Miko hatte sich bereits hinter die Linien ihrer Bogenschützinnen zurückgezogen, doch er konnte sich einfach nicht rühren. Gewiss, er hatte schon häufig Youkai gebannt, schwächere auch geläutert, aber noch nie hatte sich einer aus seiner geistigen Macht befreien können. Der Jäger aus Nagasaki hatte sie in seiner Nachricht vor der wahrscheinlichen Stärke und fremdartigen Eigenschaften dieses Exemplars gewarnt, nur deswegen hatte er überhaupt diese halbe Armee UND die Mikos aus Ise zugelassen. Keine ihm bekannte Dämonenart hätte sich gegen diese Übermacht wehren können, behaupten dürfen. Und doch starben die erfahrensten Jäger und die Samurai des Shoguns, zerfetzt wie Kirschblüten im Sturm, während er und die anderen machtlos waren. Das konnte, das DURFTE nicht sein… Einer der Samurai wurde genau vor seine Füße geschleudert. Mit schaudern sah er, dass dessen gesamter Leib vom Unterbauch bis zum Hals aufgerissen und zerfleischt war. Die Augen starrten leer und gebrochen zu ihm empor, eine Grimasse aus Schmerz und Todesangst. Als er den Blick hob, sah er für eine Sekunde genau in die Augen der Youkai. Jegliche Farbe schien aus ihnen gewichen zu sein, das leuchtende Grün bis auf einen schmalen Rand von weißglühendem Feuer verdrängt. Die Pupillen waren geweitet und völlig ausdruckslos. Keine Wut mehr, kein Zorn, nur … „O-bou- Sama, ihr müsst hier weg!“ Er zuckte erschrocken zusammen. Vor ihm stand der Taijiya- Führer mit gezücktem Schwert. „Die Bögen, ehrwürdiger Abt, wir müssen aus der Schusslinie…“ Der Abt sah sich verstört um. Tatsächlich hatten sich die Priesterinnen wieder in Schussposition gebracht, vor jeder kniete ein Jäger mit gezogenen Waffen. Inmitten dieses Kreises starben noch immer die Samurai, doch es waren nur noch eine Handvoll übrig. „Die Samurai, eure Männer, wir müssen…“ Der Taijiya verspürte einen kurzen, heftigen Stich in der Brust, als er den Geistlichen einfach bei Seite zerrte. „O- bou- Sama, weichen sie zurück, wird der Dämon ihnen folgen!“ Der alte Mann keuchte, als ihm der Sinn bewusst wurde. Das konnte der Mann vor ihm doch unmöglich ernst meinen… doch dessen Miene war hart und entschlossen! Er würde schießen lassen- und die Mikos? Wer würde ihnen diese Schuld abnehmen können? „Das werde ich nicht zulassen!“ Der Abt riss sich los und trat in den Kreis zurück, faltete die Hände und begann, laut zu beten. Sein Gesicht nahm dabei einen völlig abwesenden Ausdruck an- er würde den Jäger bereits nicht einmal mehr hören. Der Taijiya fluchte, wollte ihn wieder zurückreißen, wurde aber von einer Bewegung hinter ihm abgelenkt. Die anderen Mönche und Novizen hatten ihre Erstarrung abgeschüttelt und begannen nun ebenfalls, Bannsprüche aufzusagen. Ihre Stimmen wurden lauter, verwoben sich zu einem Chor, der in die nun monotonen, immer schneller vorgetragenen Formeln des Abtes mit einfiel. Auch einige der Mikos hatten ihre Bögen fallen lassen und die Hände gefaltet. Die Nackenhaare des Taijiya richteten sich auf, als er die zunehmende Energie in der Luft wie ein feines Knistern spürte. Konnten diese Shingon- Mönche tatsächlich eine solche Macht entfalten? Unwillkürlich blickte er zu der Youkai. Diese war inmitten ihrer Bewegung eingefroren. Etwas wie Verblüffung zeichnete sich auf ihren Gesicht ab, als sie versuchte, den Arm zu heben und nur ein ohnmächtiges Zucken der Muskeln zustande brachte. Ihre Augen flackerten irritiert, als sich die letzten überlebenden Männer auf einen Ruf des Taijiya hin mühsam zurückzogen. Sie fletschte wieder die Fänge und stieß ein heiseres Fauchen aus, während sich wieder eine helle Aura um sie herum aufbaute und sie erneut an jeder Regung hinderte. Der Abt spürte, wie ihm Schweißperlen über die Stirn rannen. Er hatte das Gefühl, dass ihm unter dem Druck gleich der Schädel bersten müsste. Soviel Kraft hatte er noch nie aufgebracht, nicht mal mit der Unterstützung seines gesamten Klosters. Ohne seine Schüler und die Mikos hätte er diese Anstrengung nicht für zwei Sekunden durchhalten können! Es war seine wilde Entschlossenheit, diese Menschen zu retten, die ihn vorantrieb und zu einer Macht befähigte, von deren Existenz er zuvor nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Und sein Wille sprang auf die anderen Geistlichen über, riss sie mit sich und vereinigte ihre Kraft mit der seinen. Weiter, weiter… Sein ganzer Körper begann, unter der Beanspruchung zu zittern. Mit grimmiger Befriedigung sah er, wie der Dämon unter der Macht der Formeln erstarrte und sich die verletzten Kämpfer in Sicherheit brachten. Die oberste Miko trat zwischen den anderen hervor, einen Langbogen in der Hand. Der angelegte Pfeil leuchtete in blendender, läuternder Energie. Sie übertraf die ihrer acht noch kampfbereiten Mitstreiterinnen bei weitem. „Jetzt!“ brüllte der Taijiya. Mit einem Zischen flogen die Pfeile von der Sehne. ~°~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)