Die Anhalterin von Terrormopf ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Der Abend brach gerade herein, als Ferdinand Gräber mit seinem Auto auf der einsamen Landstraße nach Hause fuhr. Er kam von seiner Vorlesung, die er gehalten hatte. Er freute sich auf ein warmes Feuerchen im Kamin zu Hause und auf seine Frau Ilse, die ihm, wie jeden Abend, ein Glas Milch erwärmen und genau einen halben Teelöffel Honig hineinrühren würde. Er schaltete die Lichter des Wagens an. Noch einmal überflog er in Gedanken seine Vorlesung. Es war gut gelaufen, die Studenten hatten zugehört, wie gewöhnlich, und sich ihre üblichen Notizen gemacht. Gräber trug wie jeden Donnerstag das weiße Hemd unter dem braunen Pullover und der ebenfalls braunen Krawatte zu seiner beigen Hose. Und wie immer um diese Uhrzeit am Donnerstag, war die Landstraße gänzlich unbefahren. Doch da sah er plötzlich ein Mädchen am Straßenrand stehen. Ihre Kleidung war ungewöhnlich: sie trug einen rot-schwarz karierten Rock, einem Kilt ähnlich, dazu einen schwarzen und einen rot-schwarz geringelten Kniestrumpf, einen weiten, ebenfalls schwarzen Pulli und um den Hals baumelten mehrere Ketten, unter ihnen ein Rosenkranz. Ihre schwarzen Haare waren verstrubbelt und der Versuch sie zu einem Zopf zu binden gänzlich misslungen. Im Gesicht hatte sie drei Piercings, eines an der rechten Augenbraue, eines an der Nase und eines durch die Lippe, womöglich hatte sie auch noch eines durch die Zunge. Ihre Augen waren schwarz umrandet und ihre Lippen blutrot angemalt. Gräber hatte ein solches Mädchen noch nie gesehen. Eigentlich wollte er schnell weiterfahren, doch sie streckte ihren Daumen raus und seine Moral gebot es ihm anzuhalten und das Mädchen nicht in der Kälte stehen zu lassen. Als sie sah, dass er anhielt, kam sie zu seinem Auto gelaufen, lächelte ihn freundlich an und setzte sich neben ihn. Er trat die Kupplung, legte den ersten Gang ein und fuhr los. Sie schwiegen, bis Gräber sich ein Herz fasste: „Wo müssen Sie denn hin?“ „Weit weg.“, entgegnete sie und lächelte erneut. „Gut, dann nehme ich Sie mit bis in die Innenstadt.“, erwiderte Gräber etwas verwirrt. Wusste dieses Mädchen denn nicht, was es wollte? In ihrem Alter sollte man doch wissen, wohin man will. „Gut.“, entgegnete sie nur. Dann schwiegen sie wieder, bis Gräber erneut die Stille durchbrach: „Und wie heißen Sie, wenn mir die Frage gestattet ist? Ich bin Ferdinand Gräber.“ „Ich bin ich.“, sagte sie schlicht. „Und du kannst du zu mir sagen.“ „Woher kommst du?“, fuhr Gräber fort sie zu löchern. „Von weit weg.“, antwortete sie. Was war das nur für ein Mädchen? „Hast du denn eine Ausbildung gemacht? Auf welche Schule bist du gegangen?“, fragte er weiter. Ihr warmes lächeln nicht ablegend erklärte sie: „Das ist nicht wichtig, ich will nur weit weg.“ Nun doch sehr verwirrt fragte Gräber: „Du redest wohl nicht so gerne?“ „Und du redest wohl sehr gerne.“, entgegnete sie. „Redest du viel in deinem Beruf?“ „Oh ja, ich bin Lektor an einer Universität.“, erzählte er fröhlich. Gräber warf einen kurzen Blick zu ihr hinüber und sah, dass sie ihn beständig ansah und –lächelte. Verunsichert fragte er: „Was willst du denn mal studieren?“ „Oh, ich kann nicht studieren.“, erwiderte sie. „Warum nicht?“ Er fuhr die scharfe Linkskurve und sie sah hinaus in die kalte, trostlose landschaft. „Ich kann nicht an einem Ort bleiben.“, antwortete sie. „Es geht nicht, ich muss etwas Neues sehen, etwas Neues erleben und entdecken.“ In ihren Augen schienen lodernde Flammen zu stehen. „Würde ich am selben Ort bleiben, würde ich verkümmern und eingehen wie eine Pflanze, die ständig in der Sonne steht. Ich kann mich nicht gewöhnen, es ist unmöglich. Die Gewohnheit ist für mich unerreichbar.“ Gräber schwieg. Bei ihm war alles Gewohnheit. Es gab nichts Neues mehr zu sehen, nichts Neues mehr zu erleben und zu entdecken, alles verlief in seinem gewohnten Trott. Er beineidete sie. Sie konnte gehen wohin immer ihre Füße sie trugen. Er war gebunden an seine Frau, die Universität. Er war schon fast wütend auf sie. Warum hatte sie etwas, das er nicht hatte? Sein Leben war langweilig, ihres aufregend. Er wollte ein Leben haben wie sie: voll von Abenteuern, in dem man nie weiß, was der nächste Tag bringt. Für den Rest der Fahrt schwiegen beide. Als sie gerade die Tür schließen wollte, sagte sie: „Ich beneide dich. Ich würde gerne sesshaft sein, ich will nichts neues mehr sehen und erleben und entdecken, ich sehne mich nach der Langeweile eines Abends vor dem Kamin. Ich wünschte, ich könnte so leben wie du.“ Dann schloss sie die Tür. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)