Globetrotter von -Soul_Diver- (Wir brauchen keine Chemie, keinen Kompass, keinen Reiseführer, keine Landkarte... und kein Viagra!) ================================================================================ Kapitel 15: Reactio Insolitus - 4 --------------------------------- „Vampirgift?“, stieß ich hervor, nachdem wir die Tür des Eulenverschlags zugeknallt und uns dagegen gelehnt hatten. Sie erbebte unter den Eulen, die sich heulend und kreischend von der anderen Seite dagegen warfen. Wieso hatte diese Tür denn kein Schloss, verdammt? Zum Glück schienen sie nicht – noch nicht? – in der Lage zu sein, zu fliegen. Denn spätestens dann hätten wir ein Problem. „Heißt das, das sind jetzt….Vampireulen?!“ „Genau genommen sind es ganztierische Vampire, Lamiae Bestiae , oder auch Lamiae Bestiales, und ganz genau genommen Lamiae Bestiae Noctuales. Aber das tut nichts zur Sache.“ Er klang gehetzt, gepresst und vor allem entsetzt. Ich hatte erst einmal mit Vampiren zu tun gehabt – keine sehr angenehme Erfahrung. Allerdings waren es menschliche Vampire und dazu besondere Umstände gewesen. Aber Fye schien so, als wäre er schon öfter welchen begegnet. Zumindest kannte er sich anscheinend sehr gut damit aus – und das sicher nicht nur, weil er dauernd dieses Buch las. Aber ich hatte keine Zeit nachzufragen. Die Tür erzitterte schon in den Angeln. Die mutierten Eulen drehten anscheinend jetzt völlig durch. „Wir brauchen einen Riegel oder so was!“, sagte ich. Der Arzt zeigte keinerlei Reaktion sondern hielt sich bloß starr an die Tür gepresst, kalkweiß im Gesicht und mit einem Blick ins Nirgendwo. „Hey!“, fuhr ich ihn an. „Jetzt reißen Sie sich mal zusammen! Wir müssen diese Tür verriegeln, damit wir die Fenster da oben auch zu kriegen!!“ Drinnen steigerte sich das Heulen, Kreischen und Kratzen, als wüssten die ehemaligen Blaustreifeneulen was wir – oder zumindest momentan ich – vorhatte. Noctua starrte fassungslos auf die Tür, die mittlerweile knirschte, als wolle sie gleich in Splitter zerbersten. „Wos isses?!“, fragte – nein, eigentlich kreischte er ebenfalls und das etwas hysterisch, doch ich unterbrach ihn. „Holen Sie irgendwas! Einen Holzbalken, Ketten…irgendwas! Los!“ Er sah mich verständnislos an. Verdammt. Wieso verstand er mich denn nicht?! Ich drehte mich halb zu Fye herum. „Tun Sie was! Sagen Sie ihm, er soll irgendwas holen, damit wir die Tür verbarrikadieren können, verdammt! Hey, hören Sie mir zu… !“ Wenn das so weiterging, konnten wir genauso gut die Tür aufreißen und stehen bleiben. Allerdings fürchtete ich, dass uns die Eulen dann in Stücke reißen würden. Zumindest schloss ich das aus Fyes heftiger Reaktion beim Fund und an dem jetzigen Verhalten der Eulen. Ich würde selbst gehen, um irgendwas zu holen, damit wir die Tür verrammeln konnten – aber Fye konnte die Tür allein nicht zuhalten und ich konnte dem Besitzer der Eulen nicht verständlich machen, dass er helfen sollte. Vom Gewicht her traute ich ihm zu, die Tür zu blockieren, aber er war anscheinend zu geschockt, um sich auch nur irgendwie zu rühren. Drinnen wurde Flattern laut. Oh nicht doch…! Ich stieß Fye heftig an. „Jetzt sagen Sie was! Stehen Sie da nicht so rum! Was ist denn los mit Ihnen?!“ Schmerzhaft wie ein jäher elektrischer Schlag holte mich die Stimme meines Leibwächters aus der verworrenen Schwärze meiner Gedanken zurück, die sich wie drückend schwerer Nebel unerbittlich gegen die Innenwände meines Schädels pressten und mir keine Luft ließen. „Ich, es-…“, stammelte ich schwach, wobei der trommelfellzerfetzende Lärm der nun endgültig aufgestachelten Blaustreifeneulen hinter der Tür wie ein verschwommener Luftzug an meinem Ohr vorbei zu rauschen schien, „I-ich-… weiß nicht, was-… ich weiß nicht-…“ „WAS WISSEN SIE NICHT?!!“, brüllte der Schwarzhaarige mich an und packte mich mit einer Pranke hart am Kragen, sodass ich mit einem kläglichen Laut nach Luft schnappte, „Verdammt, tun Sie endlich was!! Sie sind hier der Arzt!! Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, kriegen uns diese Viecher noch!! HE!!“ Dass nun schon mein eigener Angestellter auf mich losging, schien Noctua noch konfuser zu machen, denn er sprang regelrecht von Kurogane weg, als hätte er soeben festgestellt, dass er ebenfalls zu mutieren begann. Kalter Schweiß glänzte auf seiner fettigen Haut. Hinter der Tür hackten die Blut witternden Vampireulen mit wütenden Schnäbeln auf die Tür ein. Das unruhige Flattern und Flügelschlagen wurde immer lauter. Nichts von alldem erreichte mich. Meine Hände und Füße fühlten sich mit einem Mal kälter als Eis an. Fast schien es, als hätten meine Sinne plötzlich die Bande gekappt. Ein Zittern durchlief meinen wehrlosen Körper. „Ich-… i-ich weiß nicht, was ich tun soll!“, hörte ich wie von weiter Ferne wieder diese klägliche Stimme hervorstoßen, die der Meinen so ähnelte, „Ich kann nichts tun!“ Ich konnte Kuroganes Gesicht nicht erkennen. Meine ganze Umwelt bestand nur noch aus einem wilden Karussell aus Farben und Schatten. Und dennoch konnte ich spüren, wie er mich in diesem Moment anstarrte. „Was soll das heißen, Sie können nichts tun?! Haben Sie etwa keine Ahnung, was man gegen diese Viecher unternehmen könnte?!!“ Meine Kehle wurde steintrocken. „I-ich meine, ich-… ich kann nichts für die Eulen tun!“ Es war hart, aber ein Gesetz der Natur ließ sich bekanntlich nicht ändern. Die Mutation war gleichbedeutend für den Tod. So und nicht anders war es schon immer gewesen. Meinen unfreiwilligen Reisebegleiter schien dieser Fakt jedoch herzlich wenig zu interessieren. „Also schön, bitte, wenn es nicht anders geht, müssen wir sie eben töten! Sie können doch sicher so eine Art Biobombe basteln, die werfen wir dann in die Stallung, und dann ist Ruhe im Karton!“ Ein unerträglicher Schmerz krampfte bei diesen ungerührten Worten meine Kehle zusammen. Ich spürte richtiggehend, wie meine Kiefermuskeln hervortraten, als ich hart die Zähne aufeinanderknirschte. „Aber-…“, hörte ich wieder diese Stimme stammeln, „Aber wir können sie nicht töten, es-… es sind doch Menschen, sie-…“ Kuroganes Gesichtsausdruck steigerte sich ins Fassungslose. „Was?!! Sagen Sie mal, sind Sie denn jetzt vollkommen ab vom Schuss? Seit wann sind Eulen denn Menschen? Unternehmen Sie lieber was! Wir müssen die Biester töten!“ „A-aber-…“ „Kein ‚aber‘!! Tun Sie’s einfach!!“ „Aber ich-…“ „LOS!!“ Das grobe Kommando versetzte meinem Denken einen jähen Schub nach vorne. Die Gedanken in meinem Kopf schlugen Purzelbäume. Die mutierenden Eulen töten. Aber wie? Ich hatte doch nur das Rezept mit der Medizin, einige Kräuterbündel, die Skalpelle und die Flasche mit destilliertem Wasser dabei, die Clow mir als Bonus draufgegeben hatte, wie sollte ich damit-… Destilliertes Wasser. Hastig setzte ich meinen Rucksack ab und wühlte die große, plastikene Flasche aus seinen Tiefen hervor, die bis zum Rand mit destilliertem Wasser gefüllt und mit einem schweren Schraubverschluss versiegelt war, während Kurogane sich mit aller Macht gegen die Tür stemmte, die unter den hysterischen Attacken der Eulen förmlich erbebte. Solange sich destilliertes Wasser außerhalb eines mutierenden Organismus befand, konnte es diesem nicht gefährlich werden. Sobald es aber in diesen Organismus hineingelangte… Sämtliches moralisches Wertgefühl, Gewissen oder einfaches rationales Denken schien mich mit wie mit einem Schlag verlassen zu haben, als ich mühsam die Flasche aufschraubte und mir einen neuerlichen Schnitt auf den Handrücken setzte, diesmal jedoch tiefer, um mehr Blut zu gewinnen. Tropfen für Tropfen siegellackrotes Leben sickerte aus meinen Venen und tropfte zielgenau in die Flasche. Hellrote Schlieren breiteten sich in der farblosen Flüssigkeit aus. Wie betäubt sah Noctua mir zu, während Kurogane genügend damit zu tun hatte, die Tür geschlossen zu halten. Zwanzig Tropfen später schraubte ich den Deckel wieder zu. „Werfen Sie mich aufs Dach.“ „WAS?!!“ „Werfen Sie mich aufs Dach“, hörte ich die Stimme tonlos wiederholen, „Ich lasse die Flasche durch die Flugklappe ins Innere der Stallung hinunter.“ Das schien als Erklärung zu genügen. Der Schwarzhaarige warf nur einen kurzen, prüfenden Blick zu dem niedrigen, schräg abfallenden Dach empor, ehe er sich mit dem Rücken gegen die Tür stemmte, mich an den Hüften packte und mit einem einzigen Ruck auf das Dach beförderte. Ich kam unsanft auf der Seite auf und blieb für einige Sekunden wie gelähmt liegen, ehe ich mich wieder berappeln konnte. Die Flugklappe, durch die die Vögel an sonnigen Tagen ein- und ausfliegen konnten wie sie wollten, lag nur wenige Meter entfernt. Benommen wie ein Schlafwandler stolperte ich zu der dunklen Teerbeschichtung der Klappe und stemmte diese ächzend hoch. Die Dunkelheit des Stallungsinneren empfing mich wie der gähnende Schlund einer Bestie. Inmitten all des Lärms, der Hysterie und der Gier nach meinem Blut starrten mich unzählige gelbe Augenpaare aus der Dunkelheit heraus an. Ich starrte wie hypnotisiert zurück. Und plötzlich spürte ich, dass meine Hände den Schraubverschluss öffneten und die Flasche durch eines der Gitterlücken in der Flugklappe ins Innere der Stallung fallen ließen. Die Geruchsaura meines mit dem destillierten Wasser vermischten Blutes sprach eine Sprache, die in ihrer Klarheit jede Form der Zurückhaltung erübrigte. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis die Tiere in einem einzigen kollektiven Manöver von der Tür abließen und sich Hals über Kopf auf die offene Flasche stürzten. Meine Kniee wurden weich. Ein bleischweres Gefühl erfüllte meine Magengegend, während ich mich starr wie ein Toter im Schneidersitz neben der Flugklappe niederließ – und wartete. Diese Eulen waren so gut wie tot. Diejenigen, die am schnellsten zu dem Wasser gelangten, würden darin lediglich das Blut riechen, das ich hineingeträufelt hatte, es somit ohne weiteres als Futterquelle anerkennen, und mit der Gier eines Wahnsinnigen trinken, bis ihr Magen keine Flüssigkeit mehr fassen konnte. Ich war gut genug mit der Wesensart von ganztierischen Vampiren vertraut, um zu wissen, dass diese Wesen in Notzeiten auch das Blut sowie den Mageninhalt der eigenen Artgenossen nicht verschmähten – die Eulen, die nicht schnell genug waren, um die Flasche zu erreichen, würden ihren trinkenden Artgenossinnen einfach Kropf oder Bauch aufreißen, um sich auf diese Weise ihren Anteil abzuzweigen. Das destillierte Wasser würde aufgrund durch die Mutationsvorgänge erhöhten Proteinaktivitäten innerhalb weniger Minuten in ihre Organismen eindringen. Die bereits genetisch veränderten roten Blutkörperchen würden die Destillatmoleküle wegen ihrer ähnlichen chemischen Struktur für ein mutationsstimulierendes Reagens halten – und sich solange damit vollsaugen, bis sie zerplatzten. Innerhalb kürzester Zeit würden sämtliche Arterien, Venen und Kapillargefäße des Körpers vollkommen kollabieren und aufreißen. Die Eulen würden von innen heraus verbluten. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in meinem Kopf aus, als das von Gier durchzitterte Kreischen, Fauchen und Flügelschlagen innerhalb zwanzig Minuten kontinuierlich leiser wurde, bis es schließlich ganz erstarb und Stille sich in der Stallung breitmachte. Totenstille. Mir wurde sterbenselend im Leibe. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass die Eulen nun tot waren. Doch alles, was ich in diesem Moment noch wusste, war die Tatsache, dass ich sie umgebracht hatte. Ich ließ mich schwer gegen die Tür sinken, als das Geheul und Gekreische erstarb und die Tür sich auch nicht mehr rührte. Endlich. Mann, diese Viecher hatten aber immense Kräfte gehabt. Noch ein wenig länger und ich hätte die Tür wohl nicht mehr zuhalten können. Manchmal fragte ich mich wirklich, was der Arzt für verrückte Ansichten hatte… Dabei waren es doch nur Eulen. Na ja – eigentlich war es wohl ebenso die Existenz des Eulenzüchters, der gerade dabei war in fassungsloses Stammeln und Stottern zu verfallen. Allerdings hätten diese Eulen ihn und uns ohne weiteres getötet. Trotzdem – was war in meinen Begleiter gefahren, dass er so langsam und widerwillig reagiert hatte? Und dann noch diese Behauptung. ‚Aber wir können sie nicht töten. Es sind doch Menschen’. Wie war er nur darauf gekommen…? Zu fragen war wohl sinnlos. Ich tat es trotzdem. „He… Was meinten Sie damit, ‚es sind doch Menschen’?“ Vom Dach kam keine Antwort. Wie erwartet. Dann eben nicht. Ich fragte mich, ob wirklich alle Eulen tot waren… Aber drinnen war alles still. Deshalb nahm ich es an und wagte er, mich wieder zu erheben und von der Tür wegzugehen. Ich legt den Kopf in den Nacken, um aufs Dach zu sehen. „Was treiben Sie denn da oben? Kommen Sie schon runter!“, rief ich. Immer noch keine Antwort. „Ich werde nicht raufkommen und Sie runterholen…“, murrte ich, als er nach fünf Minuten immer noch keine Antwort gegeben hatte. Zehn Minuten später war ich dabei, aufs Dach zu klettern. Er rührte sich nicht, sondern saß neben der Klappe, durch die die Eulen ein- und ausfliegen konnten. „Hey!! Der Typ da unten ist ganz verstört und geht mir tierisch auf die Nerven… beruhigen Sie ihn, mich versteht er ja nicht…“, fing ich an, brach aber ab. Er hörte mir anscheinend ohnehin nicht zu. „Ich habe sie umgebracht“, murmelte er plötzlich tonlos, ohne sich zu mir umzuwenden. „Ich habe sie alle umgebracht…“ „Hätten Sie’s nicht getan, hätten die uns getötet“, erwiderte ich. „Außerdem waren sie ohnehin verloren, oder nicht?“ Er wandte den Kopf und sah zu mir hoch. Sein leerer Blick jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. „Ich habe sie getötet. Mit Absicht“, sagte er, aber es schien, als würde er gar nicht mit mir, sondern mit sich selbst reden. „Dabei hätte ich ihnen doch helfen müssen… schließlich bin ich Arzt…“ Seine Hände krallten sich in den Stoff seiner Hose, als er die Arme um seine Beine schlang. „Sie haben ihnen doch geholfen…“ Dass er sich wegen ein paar Eulen so dermaßen schuldig fühlte… Vor allem, weil es anscheinend keine andere Möglichkeit gegeben hatte. „Und jetzt kommen Sie schon vom Dach runter, wir haben schließlich nicht ewig Zeit!“ Nichts zu machen. Er starrte mich bloß weiter teilnahmslos an. Na großartig. Aber wenigstens stürzte er sich nicht in einem Anfall von Selbstmitleid und Schuldgefühlen vom Dach. Ich seufzte. Wie bekam ich ihn nur unbeschadet wieder runter? Tragen kam nicht in Frage, da ich mich sonst selbst nicht festhalten konnte… Na schön. Dann musste ich eben warten, bis er von selbst bereit war, zu klettern. Noctua stand immer noch unten und schien nun vollends verwirrt und zweifelte wohl an unser beider Verstand. Aber er unternahm nichts. Naja – außer sich anscheinend darüber aufzuregen, dass wir seine Eulen umgebracht hatten. Sofern er das schon gemerkt hatte. Vielleicht fragte er ja auch, was wir getan hatten… Ich blendete den Wortschwall, von dem ich sowieso nichts verstand aus und ließ mich neben den Arzt sinken. Okay. Vielleicht sollte ich mich darauf einrichten, einige Stunden hier oben zu verbringen. Hoffentlich hielt das Wetter. Der Blonde schien nämlich nicht gewillt zu sein, irgendetwas zu tun – zumindest nicht in geraumer Zeit. Und solange er nicht gleich Suizid beging, sollte mir das auch egal sein. Die Sonne ging unter. Stück für Stück wie langsam in der Pfanne zergehende Butter verschmolz sie mit dem Horizont und verwandelte mit ihrem letzten warmen Schein den gesamten Himmel in ein fließendes Farbspiel aus weichen Gold-, Violett- und Purpurtönen. Eine Schar flockiger, fliederfarbener Wolken zog langsam an der sich stetig tiefer senkenden Scheibe der Sonne vorbei wie eine Herde fetter, zufriedener Schafe. Der Wind hatte sich gelegt und war zu einer milden Abendbrise verebbt. Schweigend beobachtete ich diesen herrlichen Ausblick. Kurogane tat es mir gleich. Mich wunderte ein wenig, dass er noch immer keinen Versuch gestartet hatte, mich kurzerhand gewaltsam von dem Dach herunter zu bugsieren – ein Mann, der fünf erfolglose Räuber mit einem Schwert wie eine Handvoll Ziegen quer durch ein Gebirge treiben konnte, war sicher auch zu mehr fähig. Doch gleichzeitig spürte ich deutlich, wie dankbar ich ihm war, dass er einfach nur dasaß und nichts sagte. Wartete, ohne mir ein Gefühl des Drucks zu vermitteln. Seine Gegenwart hatte in ihrer schlichten, unaufdringlichen Art eine seltsam beruhigende Wirkung auf mich. Mein Rücken und mein Nacken schmerzten schon seit geraumer Zeit vom stundenlangen Herumkauern auf dem Dach, dennoch blieb ich still sitzen, um das kleine Unikum dieses Augenblicks noch ein wenig länger festzuhalten. Und es funktionierte. „… Kurogane?“, hörte ich mich plötzlich leise fragen. Mit einem undefinierbaren Brummen gab mir mein Leibwächter zu verstehen, dass er mir zuhörte. Offenbar befanden sich die Transmitterrezeptoren seiner Synapsen-Abschlussmembranen gerade in einem etwas kritischen Zustand. „… Wollen Sie nicht wissen, warum ich mich so benehme?“ Die Frage schien ihn zu überraschen. In den flammend roten Augen spiegelte sich sichtbare Skepsis, als er sich zu mir umdrehte und mich ansah. „I-ich meine-…“, stammelte ich unbeholfen, um die doch etwas peinliche Stille zu überbrücken, „Wieso fragen Sie mich das nicht? Jeder würde das doch wissen wollen! Sie-… sie können ruhig fragen ‚Was sollte das, Doktor? Sind Sie eigentlich noch bei Trost? Können Sie mir bitte erklären, was diese stumpfsinnige, der Situation völlig unangemessene Reaktion zu bedeuten hatte?‘ Ich… wäre Ihnen deswegen nicht böse, falls Sie das glauben.“ In Kuroganes Gesicht war während meines Gestotters nicht die geringste Veränderung zu lesen. „Wollen Sie, dass ich Sie das frage?“, erwiderte er ruhig. Ich wusste nicht wieso, aber in diesem einen Augenblick jagte mir der Klang seiner Stimme ein Prickeln wie von tausend krabbelnden Spinnen über den Rücken. „… Ja, das… ich denke, das will ich“, gab ich halblaut zurück. Der Schwarzhaarige sah mich beobachtend von der Seite an „Ich bin aber nicht wie jeder“, erklärte er gelassen und zuckte die Achseln, „Wenn ich es wirklich wissen soll, erfahre ich es eines Tages von selbst. Wenn etwas dafür vorgesehen ist zu geschehen, dann geschieht es auch.“ Ich konnte nicht verhehlen, dass mich solche Worte aus seinem Mund gehörig überraschten. „Sie glauben an höhere Vorsehung?“ „Nein.“ Von einer plötzlichen, beinahe schulmädchenhaften Scheu befallen, die ich von mir kaum mehr kannte, drehte ich mich nun meinerseits zu ihm um. „Woran glauben Sie dann?“ Der Schwarzhaarige antwortete nicht gleich, sondern hob den Blick und starrte in die weite Ebene hinaus, an deren Horizont noch immer die Sonne zerschmolz. „An den Menschen“, hörte ich ihn schließlich sagen, seine Stimme leise und ruhig, und dennoch von einem gewissen Ernst begleitet, „Weil durch sein Handeln und Denken genau das entsteht, was andere ‚Schicksal‘ oder ‚Vorsehung‘ nennen. Jeder Mensch glaubt, er wäre allein auf diesem Planeten, aber das ist Blödsinn. Er ist durch nichts von seinen Mitmenschen getrennt. Nichts von dem, was sie sagen oder tun, bleibt ohne Wirkung, sondern läuft zusammen wie viele einzelne Fäden zu einem Netz, und eine Tat trifft am Ende alle.“ Er drehte sich um und sah mich an. „Und wenn es soweit ist, werde ich es wissen.“ Schweigen. Hatte er das jetzt nur gesagt, um mir eine lange, schmerzhafte Erklärung zu ersparen? Oder, um mir wirklich seine Überzeugung darzulegen? Ich wollte bereits den Mund aufmachen, um etwas zu erwidern, doch dann wurde mir plötzlich klar, dass mir darauf nichts einfiel. Beim besten Willen nicht. Vermutlich wäre mir in diesem Moment sogar ein Eingriff an den Hirnventrikeln einer Blattlaus leichter gefallen. „… Hey, Doc.“ „Ja?“, fragte ich mechanisch zurück. „Hatten Sie schon oft mit Vampiren zu tun?“ Eine jähe, fiebrige Röte stieg mir in die Wangen. Wahrscheinlich glotzte ich ihn gerade an wie ein halb erblindeter Ochsenfrosch, doch im Moment wusste ich eben einfach nichts Intelligenteres zu tun. „Wie-… wie meinen Sie das?“ „Ob Sie schon oft mit Vampiren zusammengekommen sind“, wiederholte mein Leibwächter geduldig. Oh nein. Bitte nicht jetzt. „Wie kommen Sie denn darauf? Können Sie neuerdings auch schon Gedanken lesen?“, versuchte ich es mit einer Gegenfrage, doch er ließ sich nicht von seinem Faden abbringen. „Mit der Situation der Harpyien und diesem singenden Pelzklops sind Sie vollkommen anders umgegangen. Sie lesen ständig dieses Buch über Vampire. Und mal ganz unter uns, vorhin haben Sie sich benommen wie ein rohes Ei.“ Gegen meinen Willen musste ich schmunzeln. „… So offensichtlich ist das also schon geworden?“ „Ja.“ „Hatten Sie denn bereits mit Vampiren zu tun?“ Auf einmal schien der Schwarzhaarige seinen Daumen in einem nahezu exorbitanten Maß interessant zu finden. „Ja. Und es war nicht gerade eine der angenehmsten Erfahrungen, die ich gemacht habe. Ich denke, manche medizinische Kreise haben zumindest ansatzweise Recht, wenn sie behaupten, Vampire seien eine Gewalt, der man bis heute nicht beikommen kann. Diese Bestien sind das fleischgewordene Chaos.“ Ein kleiner, widerspenstig bohrender Schmerz setzte sich bei diesen ungerührten Worten in meiner Magengrube fest. „Wie können Sie so etwas nur sagen“, hörte ich jene kleine Stimme tonlos fragen. „Haben Sie denn eine andere Meinung über Vampire?“ „Allerdings. Für Sie sind Vampire also fleischgewordenes Chaos? Für mich bedeutet ihre Existenz eine Schönheit, die ich in keinem anderen Lebewesen wiederfinde. Es ist grausam, dass man sie zu dem Leben als ‚Bestien‘ und ‚Ungeheuer‘ verdammt hat, das sie heute auf dieser Welt führen.“ Schweigen. Obwohl ich ihn nicht ansah, als ich dies sagte, konnte ich seinen ungläubigen Blick in meinem Nacken spüren. Zeit für eine Erwiderung ließ ich ihm jedoch nicht, sondern erhob mich und kletterte vom Dach, sodass ihm gar nichts anderes übrigblieb, als mir zu folgen. Noctua hatte offenbar die ganze Zeit damit verbracht, wie eine Salzsäule vor der Tür der Stallung stehen zu bleiben. Auch schien er bereits begriffen zu haben, dass diese plötzliche Erkrankung das Todesurteil für seine Eulen bedeutete. Seine markanten Gesichtszüge wirkten schlaff und willenlos, als er langsam auf mich zukam und mich mit einem fast bittenden Blick ansah, als könnte ich seine Schützlinge wie durch ein Wunder wiederbeleben. „Dokter, send meene Uilen-…?“ Ich nickte nur und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Me hapt en gelik. Se send em Tod drenn. Doa ward keene Hopnung meh.“ „Aver-… aver waarom send se-…?“, stammelte der beleibte Mann hilflos. “Es ward des Feever von de Vampir. Doa isch bis hoid keen Mittel von de Medezin zom des hoilen. Es… es doed mer Leed“, fügte ich leise hinzu. Hinter mir öffnete Kurogane die Tür und warf einen Blick auf die unzähligen Eulen, die in sich bereits wieder lösender Totenstarre um die Überreste der Wasserflasche verstreut lagen. Ohne auf eine Antwort vonseiten des Eulenzüchters zu warten, betrat ich schweigend die Stallung und kam mit einem einzelnen Eulennest zwischen den Armen wieder heraus. Fünf weiße, mit winzigen bläulichen Sprenkeln übersäte Eier lagen in seiner Mitte eingebettet. Innerhalb der Atmosphäre überlebte der Erreger des Vampirfiebers nur etwa fünf Sekunden, sodass die Eier nicht von seinen Auswirkungen betroffen sein würden. „Wos nun ward, könnad mer nemmr ändran“, erklärte ich und erwiderte ruhig Noctuas fragenden Blick, „Aver mer könnad kucken, wos de Zuakonft brenga werd. Se havet de onsere Hulp, Herr Noctua. Der is emmer een nove Begenn. Es gibt immer einen Neuanfang“, übersetzte ich, sodass auch Kurogane verstand, was ich sagte. Der Gesichtsausdruck des Eulenzüchters war nicht zu entschlüsseln, während er die halb im Stroh verborgenen Eier musterte – die letzte Hinterlassenschaft seiner Schützlinge. Doch dann nickte er und nahm mir das Nest ab. „Havetse veelen Dank. Se-… se send een goeder Mensch, Dokter.“ Nun konnte ich nicht mehr anders, ich musste lächeln. Während meiner Zeit als Doktorand hatte ich vor allem eins gelernt – egal, wie schwer eine Krankheit oder Seuche auch wütete, es gab immer jemanden, der überlebte und damit nicht nur sein Leben, sondern auch das Leben seiner verstorbenen Mitgeschöpfe mit sich in eine neue Zukunft trug. Und was versprach diese Zukunft deutlicher als das Heranwachsen eines neuen Lebens in einem Ei? Wir verbrannten die toten Eulen – nachdem Fye sie obduziert hatte -, damit sich die Erreger nicht vielleicht doch noch ausbreiteten und der Züchter das so wollte. Außerdem ging es schneller, als sie alle einzeln zu begraben. Fye schien sich wieder eingekriegt zu haben. Er sah zwar noch ein wenig bedrückt drein, aber zumindest war er vernünftig ansprechbar und redete nicht mehr ganz so wirr. Noctua schien auch wieder gefasster zu sein. Nachdem wir die Stallung komplett desinfiziert hatten, schob der Züchter das Nest behutsam auf einen Balken unter eine der Brutlampen in den hinteren Bereichen der Stallung. Eine Weile betrachtete er es noch, bevor er sich zu uns umwandte. „Komen Se graag“, meinte er und ging in Richtung Wohnhaus. Fye bedeutete mir, ihm zu folgen, was wir dann auch taten. „Hadden Se gretig aine thee?”, fragte er, nachdem wir uns ein wenig frisch gemacht hatten und wieder im Wohnzimmer saßen. „Zielsgraag!“ Der Arzt sah mich an. „Sie auch Tee, Kuro-nyan?“ „Ja, warum nicht.“ „Hij neemt ook eenen, dank u wel.“ „Wonderbaar. Poten u se toch. Ik zette de thee en kome flugs weer achterop.“ „Haast ja maar niet”, meinte Fye, bevor der Eulenzüchter anscheinend in die Küche verschwand. „Wie sind die Eulen denn an Vampirgift geraten?“, fragte ich, sobald der Züchter anfing, in der Küche zu hantieren. Soweit ich wusste gab es in Balkebeekje eigentlich keine Vampire. Der Arzt sah mich ein wenig erstaunt an, wahrscheinlich hatte er die Frage zwar erwartet, aber nicht zu diesem Zeitpunkt. „Wenn ich das nur wüsste…“, meinte er. „Aber das muss jemand mit Absicht getan haben.“ „Wer sollte denn so was tun?“ Schließlich war das sehr gefährlich, nicht nur für die Eulen. Fye seufzte. „Ich habe keine Ahnung. Aber irgendwas wollte er damit sicher bezwecken – auch wenn ich nicht weiß, was.“ „Vielleicht waren es ja diese Möchtegern-Gangster vom Hinweg?“, vermutete ich, doch er sah etwas zweifelnd drein. „Ich glaube nicht, dass so etwas zu ihrem Repertoire gehört. Das war schon viel zu ausgefeilt… Nein, ich glaube die hätten sich eher persönlich an uns gerächt… Wenn sie es sich denn getraut hätten… Außerdem ist konzentriertes Vampirgift schwer zu beschaffen…“ „Hmn…“, machte ich. Weiter konnten wir aber nicht überlegen, da Noctua mit einem Tablett und dem Tee kam, welchen er auf den Tisch stellte und sich ebenfalls setzte. „Zo, gaat u voor.“ „Das…dat kaan ik niet anneem!“, stammelte Fye. „Und ob Sie das können!“, widersprach ich, als er Noctua die Hälfte des Geldes wieder in die Hand drücken wollte. Dieser schien auch irritiert darüber, dass der Arzt diese großzügige Summe ablehnte. Fünfhundert Transkos. Ohne, dass wir irgendetwas gesagt hatten. „Na maar, ik sta erop!“, beharrte Noctua. Er schien beleidigt. „Dat had veel voiten in de aarde voor u. Se heben alles gemaakt, wos se maaken könne. Dus behaltns.“ „Ja aver…“ „Stecken Sie’s einfach ein und bedanken Sie sich, verdammt…“ Schließlich konnten wir das Geld gut gebrauchen. Und es war ja nicht so, dass wir den Züchter unter Druck gesetzt hatten. Und ich wollte endlich mein Gehalt „Ja, aber… das kann ich doch nicht tun! Das sind fünfhundert Transkos! Fünfhundert!!“ „Soll ich es nehmen? Na los, jetzt seien Sie nicht so!“ Noctua sah Fye erwartungsvoll an. „Det is zoveel…“, fing dieser an, “Aver veelen Dank.“ Er steckte das Geld ein. Na also. „Und wehe, sie lassen es irgendwo liegen“, meinte ich. Bildete ich mir das ein, oder zuckte er tatsächlich etwas ertappt zusammen? Noctua schien auch zufrieden zu sein. „Ik hoop vaan wel dat u goed naar huis kompt.“ Er schüttelte uns die Hand. „Dat hoop ik och. Tot ziens!“ Noctua geleitete uns noch zu Tür und sah uns nach, während wir uns auf den Rückweg machten. „Dann wollen wir doch mal sehen, ob es Kermit wieder besser geht, was?“ „Hmnhmn.“ „Meine Güte, nicht so euphorisch, sonst platzen Sie noch!“ Er lachte. Anscheinend war er wieder der Alte. „Werde ich nicht, keine Sorge…“ Hosted by Animexx e.V. 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