Globetrotter von -Soul_Diver- (Wir brauchen keine Chemie, keinen Kompass, keinen Reiseführer, keine Landkarte... und kein Viagra!) ================================================================================ Kapitel 4: Ascariasis - 3 ------------------------- Landung. Nachdem wir wieder einigermaßen festen Boden unter unseren Füßen hatten, war ich wirklich sehr froh darüber. Die Viecher sollten echt mal einen Flugschein machen... Aber – zumindest hatte es Zeit und Anstrengung gespart. Und ich hatte schon von weitem gesehen, das wir das letzte Stück kaum hätten klettern können- viel zu steil. "Hiltun Sau sach bussur fust. Haur ebun ast us suhr wandag!", krächzte eine der Harpyien soeben. "Häh?" Ich hatte kein Wort verstanden und drehte mich fragend zu meinem Begleiter um. "Sie sollten sich festhalten, es ist hier sehr windig", übersetzte er mir. "Mich hat es vor zwei Jahren fast von den Hängebrücken geweht, das war ein Schreck, sag ich Ihnen! Zum Glück bin ich auf einer Hängebrücke weiter unten gelandet, aber das tat wirklich weh... Fast hätte ich mir das Genick gebrochen...", erzählte er, während er vor mir über eine der Brücken balancierte. Diese Dinger waren bis zu fünfhundert Meter lang, kaum zwei Meter breit und sahen nicht sehr vertrauenserweckend aus – was wohl auch an der Höhe lag. Ich schätzte, bis zum Boden waren es auch an die zweihundert Meter. Pures Gestein. Runterfallen war also auf jeden Fall tödlich. Diese Hängbrücken schienen nicht so, als würden sie oft genutzt, was natürlich irgendwo logisch waren, da Harpyien fliegen konnten und sich hier wohl selten Menschen hinverirrten. Höchstens Verrückte wie wir... Die Brücken verbanden die Bäume, beziehungsweise, die Plattformen, die daran und darum gebaut worden waren und auf bizarre Weise einer Stadt glichen. Sie war recht groß, dafür, dass sie auf Bäumen gebaut worden war. Das Holz sah schon sehr alt und wettergezeichnet aus und die meisten Häuser schienen geradezu mit dem Baum verwachsen, da sie von Schlingpflanzen, Moos und anderem Grünzeug bewachsen waren. Und überall flogen die Harpyien in geradezu halsbrecherischen Manövern zwischen den Bäumen samt den Brücken hin und her – außerdem starrten sie uns an, als wären wir vom Mond. Die, die uns begleiteten, gingen auch zu Fuß, was ihnen jedoch einige Mühe zu bereiten schien. Allerdings- momentan schwankten mein Partner und ich auch eher wie Besoffene, aber das lag daran, dass die Brücke wirklich schaukelte. „Ich hoffe, das Ding hält besser als es den Anschein hat...“, murmelte ich vor mich hin. Ich hatte keine Lust, hier herunterzustürzen. Doch wir kamen sicher herüber – auch wenn es länger dauerte. "War brangun Sau jutzt zo ensurum Bürgurmurstur Ghâlil. Ur wehnt gluach di vernu." "Ich freue mich schon, Ghâlil wiederzusehen", meinte Fye fröhlich. "Ghâlil tzsu k’il schtusch." Ich fragte mich wirklich, wie er diese Wörter zustande brachte...dabei musste man sich doch die Zunge verrenken. Aber immerhin hatte ich kapiert, worum es ging. Einigermaßen zumindest. Wir hielten auf ein dreistöckiges, merkwürdig schiefes Haus zu, das dennoch erstaunlich stabil und robust gebaut zu sein schien. Vor der Tür baten uns die drei Harpyien zu warten. Anscheinend wollten sie ihrem Bürgermeister bescheid geben, dass wir da waren. "Wie finden Sie die Stadt? Sie ist großartig, oder nicht? Ein Kunstwerk in der Architektur", schwärmte Fye, während wir warteten. "Gewöhnungsbedürftig", antwortete ich. Ganz und gar nicht mein Fall. Ich hatte keine Höhenangst, aber hier würde ich mir schon Sorgen machen, irgendwann mal herunterzufallen. Vor allem, weil es hier wirklich plötzlich heftige Windstöße gab, die einen fast umrissen. Den Harpyien passierte das öfter, aber die konnten ja auch fliegen. Für die kleineren von diesen Wesen schien es sogar ein Spiel zu sein. Zumindest denen schien es Spaß zumachen, fast zu Tode zu stürzen... "Wie lange dauert das denn noch?!", murrte ich. "Jetzt haben Sie doch ein bisschen Geduld", meinte Fye, der anscheinend kein Problem damit hatte, hier rumzustehen und vom Wind fast zerrissen zu werden. "Genießen Sie doch die Aussicht." "Ich sehe nur Bäume", brummte ich – was momentan stimmte, wenn man die Harpyien ignorierte. "Stimmt. Aber wir sind hier ja auch in der Mitte der Stadt. Sie müssten mal die Aussicht sehen, wenn man ganz oben und am Rand steht." Er deutete durch das Blätterdach, wohl in besagte Richtung, auf den Platz, den er meinte. Den ich aber nicht sehen konnte, weil Blätter, Häuser und Brücken dazwischen waren. "Wie hoch geht das denn noch?", fragte ich. "Oh, noch ungefähr einen halben Kilometer. Und die Bäume sind noch größer, wissen Sie? Es sind die höchsten der Welt – zumindest habe ich noch keine gesehen, die höher waren." "Aha", machte ich. Schweigen. "Wissen Sie, wie Sie auf Harpyisch heißen würden?" "Nein. Ist auch nicht wichtig, oder?" "Koregunu Kuamahira", fuhr er unbeirrt fort. "Lustig, oder?" "Ja... Hören Sie mich lachen?", meinte ich todernst zurück. "Ich würde Fia Du Fleoratu heißen... ganz schön kompliziert..." Er kicherte. "Eigentlich ist das gar nicht so schwer, man muss nur wissen, welcher Vokal gegen welchen ausgetauscht wird. Harpyisch ist da schon schwieriger." "Sao könnun non uantrutun." Eine der drei Harpyien war unter raschelndem Gefieder herausgetreten. "Ah! Sehr schön!", rief mein Begleiter und fuhr sich durch die Haare, im vergeblichen Versuch, sie etwas in Ordnung zu bringen, bevor er mich am Arm packte und in Richtung Haus zog. "Kommen Sie, jetzt lernen sie Ghâlil kennen!" "Ich kann’s kaum erwarten..." Ghâlils Haus bestand aus einem einzigen langgezogenen Raum. Lediglich die Nordwand wirkte von Hand gezimmert; sie bestand aus harzduftendem Holz. Die restlichen 'Wände' wurden schlicht durch Baumstamm und meterweise rauschenden Blätterwald ersetzt. Warmer Sonnenschein fiel auf den Boden und warf tanzende Lichtflecke auf die Zweige. "Aahhhh...", seufzte ich zufrieden und sog mit geweiteter Brust den schweren Harzduft ein, "Hier ließe es sich leben." "Schon mal bei Ikea gewesen?", fragte mein Leibwächter nur trocken zurück. Ich wollte mich gerade erkundigen, was einem denn um alles in der Welt an diesem Haus nicht gefallen könnte, als über unseren Köpfen auf einmal ein mannigfaltiges Rascheln und Klicken laut wurde. Wir warfen beide den Kopf in den Nacken und blickten zu den zahllosen, gewundenen Ästen empor, wo das Geräusch am deutlichsten zu vernehmen war- und schließlich sahen wir ihn. Ghâlil löste sich aus dem tanzenden Schatten der Blätterwände, stieß sich vom Boden ab und landete mit wenigen Flügelschlägen vor uns auf dem Bretterboden. Er war eine männliche Harpyie mit beeindruckend silbergrauem Gefieder, von sehr hohem Wuchs, und wahrscheinlich der Älteste in der ganzen Stadt. Er wirkte gebeugt wie ein alter Baum, Haare und Federhaube waren schlohweiß, sein faltiger Hals hatte etwas von einem missgelaunten Geier, und an seinen Armen konnte man sämtliche Knochen erkennen- seine wachen, schwarzen Augen jedoch glänzten immer noch so klar und messerscharf wie vor zwei Jahren. Er schien mich schnell wieder zu erkennen, denn er klickte erwartungsvoll mit den grau verhornten, schnabelartigen Lippen und kam mit weit gespreizten Schwingen auf uns zugestakst. Ich lächelte, als er vor mich trat und mich auf Harpyienmanier begrüßte. "Chhhteek", schnarrte er vertrauensvoll und berührte mit den Spitzen seiner Federhaube leicht meine Stirn. "Chhhteek", antwortete ich beherzt und ließ die Begrüßung zu, "Ich bin froh, dich wieder zu sehen, Ghâlil. Nel' ekke hehakah' a-oblyae t' anka a-makoce ke." "Mach gouniese", erwiderte Ghâlil, während sich die Fältchen um seine alten Augen zu einem Lächeln kräuselten, "Meun Froend, do woaßt gir nacht, wao orloachtert ach ban, dach zo sohon. Ach wosste gir nacht mohr, wis ach ten sullto." "Kann ich mir vorstellen. Aber jetzt bin ich ja da! Und ich hab sogar Verstärkung mitgebacht! Ghâlil, darf ich dir meinen neuen Leibwächter Kurogane Koimihari vorstellen? Ni-ank- 'na kesh-e enah! N-'men Kurogane Koimihari e an?" Mein Begleiter runzelte ein wenig skeptisch die Stirn, als Ghâlil ihn ebenso kritisch ins Auge fasste wie zuvor mich. "Us fruot mach sohr, Kurogane Koimihari. Sao müssun oan sohr tipforor Minn soan." "Oh ja, in der Tat, das ist er", fiel ich rasch ein, um etwaige peinliche Missverständnisse zu vermeiden, "Ghâlil- darf ich dich bitten, uns nun zu den Betroffenen zu bringen? Dürfen wir sie sehen? Schhchnieê mikl-ts' a-noi?" Ghâlil nickte und bedeutete uns, dass ich die Tür öffnen solle. Kurogane folgte mir kopfschüttelnd, während die Harpyie und ich uns auf unserem Weg über die wackeligen Hängebrücken und verwilderten Baumplattformen einige Zeit lang auf Harpyisch unterhielten. Auf unserem Weg wurden uns teils neugierige, teils misstrauische Blicke nachgeschickt, manche Harpyien folgten uns sogar. "Also, was zum Teu-... ähh-- was hat er denn jetzt gesagt?!", erkundigte sich Kurogane nach einer Weile, anscheinend völlig am Ende seiner Nerven. "Er hat gesagt, dass es, seit er das Telegramm abgeschickt hat, noch schlimmer geworden ist", übersetzte ich ihm, "Mittlerweile sind es etwa zwanzig bis dreißig Erkrankte, und immer mehr Harpyien zeigen ähnliche Symptome. Er bringt uns gerade zu dem Haus, in dem sie sich aufhalten." "Aha. Und was genau haben Sie dann vor? Was wollen Sie tun? Ich bin nur Ihr Leibwächter, ich werde die Zeit wohl damit verbringen, blöd im Hintergrund rumzustehen und allen meinen Bizeps zu zeigen..." "Ach wooooo denn, Sie werden mir natürlich helfen!", trällerte ich und fing mir einen mörderischen Blick ein, "Ich werde anhand der Erkrankten einige Untersuchungen anstellen, Puls, Atemfrequenz, Beschwerden, Reaktionen, und Sie gehen mir dabei zur Hand! Hatte ich Ihnen nicht versprochen, Sie ein wenig anzulernen?" "Versprochen oder angedroht?", fragte der Schwarzhaarige nur stirnrunzelnd, während ich emsig in meinem Rucksack herumwühlte und das Behandlungs-Set von Crow herausholte. "Di vernu", sagte Ghâlil soeben und zeigte auf ein windschiefes, stark von blühenden Schlingpflanzen überwuchertes Häuschen am Nordende der Stadt, "Dert sand dao Krinkon entorgibricht. Ach haolt us für vornünftagor, sao ontor Quirintäno zo stollon." "Das ist in der Tat eine gute Entscheidung. Hör zu, Ghâlil, eine Frage hätte ich noch-... eine Diagnose lässt sich am besten an einem Patienten stellen, der besonders starke Symptome aufweist. Könntest du mir sagen, wer schon länger krank ist?" Der Bürgermeister hob die flaumigen Augenbrauen und verfiel in stummes Nachdenken. "Ach gliebe, us ast oane onsoror Nustflächtlango. Sao ast orst suchs Jihre ilt", begann er schließlich zögerlich, "Un- w'n a-nagi ak- el' puak' l ts' nel' pen. Gwri." "Was sagt er?" Ich schluckte. "Er glaubt zu wissen, wer bis jetzt am schwersten von dieser Krankheit befallen ist. Es ist ein sechs Jahre alter, weiblicher Nestflüchter, und sie heißt Gwri." "Gw-... was?!! Da bricht man sich ja die Zunge dran!" "Typisch harpyisch eben. Wir kümmern uns darum, Ghâlil", wandte ich mich wieder an die Harpyie, "Wenn was ist, rufen wir dich." Ghâlil nickte und verharrte mit den Harpyien, die uns auf unserem Weg gefolgt waren, angespannt auf der Plattform, die das 'Krankenhaus' vom Rest der Stadt abgrenzte. Schaukelnd und schwankend machten mein Leibwächter und ich uns auf den Weg. "Und was wollen Sie an dieser-... dieser so-und-so untersuchen? Ist die überhaupt schon erwachsen?" "In Menschenjahren gerechnet wäre sie jetzt elf Jahre alt", erläuterte ich, "Aber wie gesagt, welche Krankheit genau es sein könnte, weiß ich noch nicht. Ich muss sie untersuchen, aber falls sie starke Schmerzen hat, kann es sein, dass sie sich wehrt." "Und was ist, wenn diese Krankheit nun--... wenn sie ansteckend ist?" Ich sah ihn an und spürte seinen Widerwillen, diese uralte menschliche Angst vor Krankheiten jeglicher Sorte. "Für so feige hielt ich Sie wirklich nicht, Kuro-ron. Ich dachte, Sie hätten wenigstens den Schneid, mir bei meinen U--" "Ist ja gut!! Ich mach's ja!", keifte Kurogane und starrte mich giftig an, "Aber wehe, Sie übertreiben es!" "Keine Sorge! Bei solchen Dingen übertreibe ich nie!", versicherte ich noch, bevor ich nach dem Türknauf griff. Als wir eintraten, schlug uns ein schwerer, dumpfer Dunst entgegen wie die unsichtbaren Ausdünsten einer Seuche. Es war eine bedrückende Mischung aus Federntalg, ausgespieenem Blut, Schweiß, Fieber, und-... und Angst. Ich fühlte mein Herz für einige Takte aussetzen, als ich den Kopf hob, um die zwanzig bis dreißig kranken Harpyien zu beobachten, die in den höheren Arealen des Hauses auf hölzernen Sitzstangen kauerten und meistens teilnahmslos ins Leere starrten. Einige wenige merkten auf, als Kurogane und ich nähertraten. Stumpfe, glanzlose Augen musterten uns apathisch. Müde reckten sich ihre blassen Hälse aus dem aufgeplusterten Gefieder. Verhornte Schnäbel klickten misstrauisch. Ich bekam einen Kloß in den Hals. Erst, als mich Kurogane mit dem Ellenbogen anstieß, fand ich wieder einigermaßen auf den Teppich. "Es sind-... es sind so viele", bemühte ich mich rasch zu sagen, da er offenbar eine Erklärung erwartete, "Ich hätte nicht gedacht, dass es-... so viele sind." "Tja, dann unternehmen Sie mal was. Sie sind der Arzt." Ich versuchte ein zuversichtliches Nicken, bevor ich mich an die wenigen Harpyien wandte, die uns bemerkt hatten. "Guten Tag! Äh-... ich bin Fye de Flourite! Der Arzt, um den Ghâlil gebeten hat!" Diese wenigen Worte wirkten bereits. Eine der Harpyien kam unbeholfen von ihrer Stange herabgeflattert und richtete sich wackelig vor uns auf. "Sao schackt dur Hammul, Fye de Flourite. Wurdun Sao ons hulfun könnun?" "Ich verspreche euch, dass ich alles versuchen werde. Mikl' a-naahichi en enah. Bevor ich euch aber helfen kann, muss ich einige von euch untersuchen. Dürfte ich dich bitten, mir zu sagen, wo ich Gwri finden kann?" Die männliche, tintenschwarz gefiederte Harpyie sah mich aus ihren matten, glanzlosen Augen lange an. "Gwri ist sehr krank", sagte sie schließlich auf fehlerfreier Menschensprache- bei Harpyien immer ein Zeichen, dass sie es sehr ernst meinten. "Dabei ist sie noch so jung. So jung, dass sie noch nicht richtig fliegen kann. Sie müssen uns versprechen, sie zu heilen." "Ich schwöre es", erwiderte ich. Der Vogelmensch musterte mich noch für einige Augenblicke, bevor er mit einer Vorderklaue in den hinteren Teil des Raumes deutete. "Sie liegt dort." Ich schluckte schwer. Wenn eine Harpyie nicht mehr aufrecht sitzen konnte, war das nie ein gutes Zeichen. Ich bedankte mich und packte Kurogane am Handgelenk, um ihn hinter mir her Richtung der Bettstätte zu zerren. Es war ein simples, aus feinen Zweigen und Schilfgräsern verfertigtes Nest. Und in seiner Vertiefung in der Mitte lag eine junge Harpyie. Mein Herz machte einen kleinen, pochenden Aussetzer. "Gwri-... ?", fragte ich zögernd und berührte das Geschöpf ein wenig an der Schulter. Sie hatte ein totenblasses, herzförmiges Gesicht, aus dem die verhornten Schnabellippen hervorsprossen wie eine junge Blume, ihre schulterlangen, honigfarbenen Haare lagen struppig auf dem Nestrand ausgebreitet. Sie besaß flaumiges, hell butterfarbenes Gefieder und lange, sehr zerbrechliche Gliedmaßen. Ghâlil hatte Recht gehabt- diese Harpyie war noch jung. Viel zu jung. Als ich sie jedoch ein wenig rüttelte, schlug sie ihre blassen Augen auf. Ihre Pupillen zogen sich in jäher Überraschung zusammen, als Kurogane und mich erblickte. Ihr Schnabel klickte leise. "B-... bist du-...." "Ich bin Arzt", sagte ich schnell und fasste eine ihrer Vorderklauen, "Ich bin hier, um dir zu helfen. Mikl' a-naahichi en enah." Gwri lächelte ein wenig und wisperte etwas auf Harpyisch. "Was hat sie gesagt?" Ich schluckte. "Sie sagt, dass sie Schmerzen hat. Wo hast du Schmerzen, Gwri? Amh' ekte Gwri en- tsi?" "Mokh." "Im Bauch?" Ohne weiter zu zögern, führte ich eine Hand vorsichtig an den Leib der Harpyie und tastete ihn ab. Ihr Herzschlag ging schwach und unstet. Ich teilte ihre flaumigen, butterhellen Federn in der Magengegend auseinander und drückte zwei Fingerspitzen auf ihre Bauchdecke. Sie zuckte fiebrig zusammen. Kein gutes Zeichen. Ich tastete mich weiter nach unten. Ich spürte deutlich, wie irgendetwas unter ihrer Haut herumrumorte. Es zitterte und bebte, zuckte nervös mal hierhin, mal dorthin und gab meinen Fingern einen ständigen, an- und abfallenden Druck wie ein Gewühl, ein einziges Gewühl von--... "Das gefällt mir ganz und gar nicht", sagte ich mit gedämpfter Stimme zu Kurogane, worauf dieser skeptisch die Augenbrauen hob. "Ich muss sie untersuchen, gleich jetzt." "Tun Sie sich keinen Zwang an...", meinte ich. Dafür war er ja wohl hier. Allerdings schien es wirklich ernst zu sein. Er nickte nachdenklich und ließ die Harpyie nicht aus den Augen. "Dann halten Sie sich bereit, notfalls eingreifen und zupacken zu können." "Wenn's denn sein muss", gab ich zurück und er fing an, in der Tasche zu kramen, um ein Stethoskop zu Tage zu fördern. Er sagte etwas auf Harpyisch und das Vogelwesen nickte schwach und bewegte leicht die Flügel, um sich mühsam umzudrehen. Anscheinend schien es sich ganz und gar nicht wohl zu fühlen... Fye trat wieder an Gwri heran und hörte sie mit dem Stethoskop ab, während er anscheinend beruhigend auf sie einsprach – natürlich in ihrer Sprache. Ich behielt die ihre unruhig zuckenden Bewegungen im Auge, doch bisher deutete nichts darauf hin, dass sie gleich durchdrehen und Amok laufen würde. Fye verzog nachdenklich das Gesicht und es schien ihm überhaupt nicht zu gefallen, was er da hörte – ich wollte gar nicht wissen was es war. "Hmmh", machte er und richtete sich wieder auf, nachdem er anscheinend fertig war. Dieses 'hmmh' klang ziemlich pessimistisch – vor allem für seine Verhältnisse. Er kam wieder zu mir herüber, drückte mir das Stethoskop in die Hand und sagte: "Es ist noch schlimmer, als ich gedacht habe. Sieht nicht gut aus." So ernst hatte er wirklich noch nie geklungen – und selbst ich konnte sehen, dass der Harpyie sicher nicht nach Feiern zumute war. Ehrlich gesagt wirkte sie eher tot als lebendig. "Und ich weiß immer noch nicht recht, was sie hat", fuhr der Blonde fort, "Können Sie mir die Lampe geben?" Ich brauchte nicht lange, um die kleine Stablampe ausfindig zu machen und sie ihm zu reichen. Das Stethoskop packte ich in die Tasche zurück ,während Fye sich wieder der Patientin zuwandte und etwas zu ihr sagte. Die Harpyie klickte unruhig mit dem Schnabel, antwortete aber etwas, das ich für ein Ja hielt. Was wohl auch eines gewesen war, denn Fye trat wieder näher. Er knipste die Lampe an und leuchtete ihr damit in die Augen – wohl um die Pupillenreaktion zu prüfen. Danach schien er wohl auch den Rachenraum überprüfen zu wollen- doch als er in den Schnabel hineinleuchtete, schien das der Harpyie dann doch zu viel zu sein. Sie riss den Kopf zurück und warf sich zur Seite, wobei sie Fye fast umriss. Dann schlug sie wie wild mit den Flügeln und fing an zu kreischen, dass es in den Ohren wehtat. Ein paar der anderen Harpyien, die es anscheinend noch nicht so schwer erwischt hatten, schauten zu uns herüber und schien wohl zu überlegen, ob wir Gwri wirklich halfen oder dabei waren, sie umzubringen. Letzteres ließ dieser Krach wohl eher vermuten. "Kuro-ne! Halten Sie sie fest!", rief Fye mir unter einer leicht verzweifelt wirkenden Geste zu, "Sie darf sich nicht bewegen! Das könnte sonst ganz schlimm ausgehen! Schnell!!" Ich war mit einigen Schritten dort und versuchte, die aufgebrachte Harpyie, die immer noch wild um sich schlug, zu fassen zu kriegen. Es war nicht einfach, aber schließlich hatte ich sie zumindest so weit im Griff, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Das Vieh war noch erstaunlich stark. Wütend klapperte sie mit dem Schnabel und hackte nach mir. Zum Glück erwischte sie mich nicht – ihre Krallen hatten vorhin schon genug wehgetan. Meine Arme waren mit Kratzern übersät, aber das störte mich gerade nicht. Fye nickte, anscheinend zufrieden. "Ganz ruhig, Gwri... wir wollen dir doch nur helfen...", summte er in dem standardmäßigen Arzt-Tonfall. Trotzdem schien ihr das ganze nicht wirklich zu behagen, weil sie immer noch versuchte, sich wieder loszureißen. Doch plötzlich verkrampfte sie sich und fing an zu röcheln. Ich hatte hoffentlich nicht zu fest zugepackt. Sie ruckte unruhig mit dem Kopf und würgte. Ich beschloss, sie lieber loszulassen – jetzt machte sie auch keine Anstalten mehr, hier herumzutoben. Fye stand etwas hilflos da und schien nicht zu wissen was er tun sollte – anscheinend überlegte er gerade fieberhaft, was los war. Ich konnte ihm das leider auch nicht sagen, weil ich das noch weniger wusste als er. "Sie hat einen Anfall!" "Ach ja?! Das sehe ich auch!!", war die gereizte Antwort meines schwarzhaarigen Begleiters, während Gwri verzweifelt versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. Es schien ihm größte Mühe bereiten, sie festzuhalten, da sie von einer Sekunde auf die nächste wieder anfing, wie wild mit den Flügeln zu schlagen und um sich zu treten, wobei sie ein Gekreisch von sich gab, das einem schier das Trommelfell zerriss. Unter den anderen Harpyien wurde misstrauisches Schnabelklicken und Murmeln laut. "Verdammt, die haut mir noch ab!!", fauchte mein Leibwächter und schlang den rechten Arm um ihren Leib. "Nein, nicht am Bauch!", rief ich alarmiert dazwischen, als ich sah, dass der jungen Harpyie vor Schmerz die Augen regelrecht aus den Höhlen traten. "Ja wo denn bitteschön sonst?!!", war die gezischte Antwort. "Packen Sie sie an der Brust! Ihre Bauchdecke ist viel zu empfindlich!" "WAS?!!", brüllte Kurogane entgeistert, "Sagen Sie mal, für wie pervers halten Sie mich eigentlich?!! Sie ist ein verdammtes Weib! Eher sterbe ich, als dass ich sie an der Brust antatsche!" "Bitte, Kurogane!", versuchte ich vergeblich, sein Geschrei zu übertönen, "Tun Sie's einfach! Bitte, okay?" Mit einem Fluch rammte Kurogane seine Arme unter Gwris Achseln, bevor ich sie am Schnabel fasste. "Gwri-...", versuchte ich, die Aufmerksamkeit der jungen Harpyie zu gewinnen und hielt ihren Kopf zwischen meinen Händen, "Gwri, hör mir jetzt zu. Dir wird nichts passieren, okay? Dir wird nichts passieren! Sieh mich an. N'kaa-a na." Bebend vor unterdrücktem Schmerz fixierte mich Gwri aus weit aufgerissenen Augen. Ihr Schrei wurde zu einem Schluchzen. Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln und kullerten ihre fiebrig erhitzten Wangen hinab. Sie musste wahre Höllenqualen leiden. "Gut so", sagte ich leise und streichelte mit beiden Händen über ihre gesträubte Federhaube, "Gut. Sieh mich an. Sieh mir ganz fest in die Augen. Ich muss jetzt etwas an deinem Hals machen. Es wird kurz weh tun, aber es geht ganz schnell. Halt deinen Kopf solange still. Neeme en e. Okay?" Gwri nickte nur und sperrte mit tränenüberströmten Wangen ihren Schnabel auf. Ihr Rachen war rot und geschwollen. Wenn mein Verdacht stimmte, musste ich nur noch eins tun, um ihn zu bestätigen. Ohne weiter zu zögern drückte ich ihre Zunge nach unten und stieß meinen Mittelfinger tief in ihren Hals. Unwillkürlich bäumte Gwri sich auf und spie mir mit einem heiseren Kehllaut einen ganzen Mund voll gelblich-roten Blutes vor die Füße. "Verdammte Sauerei!", stieß Kurogane zornig hervor. Mir jedoch blieb schier die Spucke weg, als ich beobachtete, wie sich inmitten all des schaumigen, gelb-rötlichen Schleims etwas zu winden begann. Das durfte doch einfach nicht wahr sein. "Jesus Maria", flüsterte ich fassungslos und ging sofort in die Hocke, um nach dem sich windenden Etwas zu greifen. "Bah, pfui Teufel!! Sagen Sie mal, geht's Ihnen noch gut?!!" Ich gab keine Antwort, während ich konzentriert weiterwühlte. Das musste doch--... ja, es war tatsächlich-... Erneut wollte Kurogane seinem Ekel lauthals Luft machen, allerdings blieb ihm letztere weg, als ich endlich zu greifen bekam, was ich gesucht hatte und es hinauf ans Tageslicht fischte. Es war ein hautfarbener, etwa dreißig Zentimeter langer Wurm. Er schien immer noch am Leben zu sein, denn er wand und krümmte sich wie verrückt. Mein Verdacht bestätigte sich endgültig. "Was in Dreiteufelsnamen ist denn das?!" "Das, mein Guter", sagte ich mit belegter Stimme und hielt den Wurm in die Höhe, sodass auch Gwri ihn erkennen konnte, "Ist ein sogenannter Ascaris lumbricoidis . Ein Spulwurm. Ein Askarid." Die junge Harpyie starrte entgeistert den fingerdicken, zuckenden Spulwurm an, den sie ausgespieen hatte und vergaß vor lauter Schreck sogar das Zappeln. Die anderen Harpyien reckten ihre Hälse. "Moment mal--... da kann doch was nicht stimmen", sagte Kurogane skeptisch, "Was hat dieses Vieh in ihrem Magen zu suchen?" Ich schloss die Augen und ließ meine Rädchen rattern. Akademie. Denk an die Akademie. "Der Spulwurm oder auch Askarid ist hauptverantwortlicher Erreger für eine der häufigsten Vogel- und Tiererkrankungen: der darmorientierte Askaridenbefall", rasselte ich mechanisch herunter, "Sie tritt häufig in sanitär ungenügend abgesicherten Verhältnissen auf. Die Ansteckung erfolgt über orale Aufnahme von embryonierten Eiern über enge Körperbindungen oder kontaminierte Lebensmittel. Die Embryonen dringen über die Mundschleimhaut in den Blutkreislauf ein und wandern in den Dünndarm, wo sie sich zu adulten Würmern entwickeln, einnisten und ihrerseits Eier legen. Die Folge ist ein chronischer Askaridenbefall." Ich schlug die Augen auf. Kurogane und Gwri starrten mich entgeistert an. "Und was heißt das in einer für mein Hirn verständlichen Sprache?" "Das heißt, dass sich in Gwris gesamtem Darm und vermutlich auch schon in ihrem Magen diese Würmer eingenistet haben", erklärte ich atemlos, "Es müssen unglaublich viele und vor allem unglaublich kräftige Exemplare sein. Ich konnte sie sogar durch ihre Bauchdecke hören. Sie ist von oben bis unten vollgestopft mit diesen Askariden." "Und das bedeutet?", zwang mich Kurogane zu einer Schlussfolgerung. "Das bedeutet, dass Gwris Darmhaut kollabieren und aufreißen wird, wenn wir nichts unternehmen", sagte ich tonlos, "Wenn das passiert, kommt es zu irreparablen inneren Blutungen. Die Würmer werden in ihren Körper gespült. In die Lunge, in die Leber und ins Herz. Nach wenigen Tagen werden ihre-... ihre sämtlichen inneren Organe von Askariden befallen sein." "Das bedeutet, dass sie sterben wird, wenn wir nichts unternehmen." "Wir müssen diese Askariden unbedingt aus ihrem Darm wegschaffen", erwiderte ich statt einer Antwort. "Und wie soll das funktionieren?" In meinem Kopf zischten alle Düsen. Ich merkte, wie mich Gwri aus tränennassen, flehenden Augen anstarrte. "Wir müssen sie operieren. Noch heute nacht." "Wis wallst do ton?!" "Es geht nicht mehr anders, Ghâlil!", erwiderte ich ernst und bemühte mich, dem Bürgermeister von Shuryotori Aitoki gerade in die Augen zu sehen, "Bei Gwri ist dieser Befall schon so stark, dass ich um eine Operation nicht mehr herum komme, wenn sie nicht sterben soll! Ich habe mir die anderen Erkrankten angesehen, den meisten von ihnen kann schon mit einfachen Medikamenten geholfen werden, aber Gwri und einige andere müssen operiert werden!" Ich wiederholte den Satz noch einmal auf Harpyisch. Ghâlil, den Kurogane auf meine Bitte hin auch in das 'Krankenhaus' geholt hatte, stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr mit einer Klaue über Gwris zerzaustes Haar. Ich hatte es geschafft, die junge Harpyie zu beruhigen und in ihr Nest zurück zu bringen, wo sie in einen bleischweren Schlaf gefallen war. Es sah übel für sie aus. "Hiben Sao üburhiopt illus, wis Sao für oane Epuritoen briochen?", erkundigte sich eine der kranken Harpyien, die sich in der Zwischenzeit zu uns gesellt hatten, damit ich sie über den Stand der Dinge aufklären konnte. "Ich denke schon", erwiderte ich, "Alles, was ich noch bräuchte, wäre ein Betäubungsmittel. M'jeek-itsi siksi." Alle fuhren herum, als sich Kurogane mit einem unterschwelligen Räuspern zu Wort meldete. "Ich weiß ja nicht, ob die Theorie des hirnlosen Muskelprotzes auch stimmt", meinte er, "Aber vorhin beim Flug habe ich roten Mohn auf den Felskämmen wachsen sehen, gar nicht weit vom Dorf." Ich spürte augenblicklich, wie es bei mir Klick machte. "Mohn?", stieß ich eifrig hervor, "Sie meinen doch wohl nicht, dass-..." "Doch, meine ich", erwiderte mein Leibwächter achselzuckend, "Es könnte ja Schlafmohn gewesen sein." "Aber natürlich!", rief ich begeistert aus und wandte mich an die Harpyien, die sich in einem Halbkreis vor Kurogane und mir versammelt hatten, "Das ist die Lösung! Schlafmohn- Papaver somniferum! Die Bezeichnung 'somniferum' bedeutet im Lateinischen nicht umsonst 'schlafbringend' ! Eine gewisse Menge an frischem Schlafmohn dürfte sicher reichen, um Gwri lange genug zu betäuben, damit sie bei der Operation keine Schmerzen spürt! Heute nacht geht einfach jemand Schlafmohn pflücken, und einige von euch helfen mir in der Zwischenzeit, einen Raum für die Operation zu finden und ihn zu desinfizieren!" Ich übersetzte diesen Vorschlag hastig auf die Sprache der Harpyien. Ghâlil grübelte lange mit gerunzelter Stirn darüber nach. Schließlich erwiderte er etwas, ebenfalls auf Harpyisch. Stille breitete sich aus. "Was hat der gesagt?", erkundigte sich Kurogane argwöhnisch, "Und wieso starren die mich alle auf einmal so an?" Ich sah zu meinem Reisegefährten hoch und konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. "Er hat gesagt, dass wir für das Beschaffen des Mohns einen tüchtigen Bergsteiger brauchen werden." Kurogane starrte mich irritiert an. Dann fiel der Groschen und er stieß ein entnervtes Ächzen aus. "Also schön, von mir aus! Aber wenn ich bei dieser Bergtour draufgehe, dann bring ich Sie um!" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)