The waves of time von MorgainePendragon (Eine Geschichte von Liebe, Schmerz und Tod. Und von Wiedergeburt…) ================================================================================ Kapitel 1: And in your memory I will remain, I will forever be within the flame ------------------------------------------------------------------------------- Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Ich weiß auch nicht, woher ich die Worte nehmen soll. Warum bin ich hier? Hier, an einem Ort, so weit entfernt von dem, was ich mein Zuhause nannte? Warum schreibe ich von Dingen, die Wunden wieder aufreißen werden, die mir weh tun und die ich versuche zu verdrängen? Nur so wirst du stärker. Das hat er einmal zu mir gesagt. Wie es scheint auch dies in einer anderen, längst vergangenen Zeit. Lauf nicht davon. Stell dich deinen Erinnerungen, Dingen, die dich ängstigen, verfolgen und quälen. Er legt den Kopf auf die Seite. Jetzt lacht er. Jenes wundervolle, seltene Lachen, das auch seine Augen erreicht und sie erhellt, strahlen lässt. Es lässt ihn jünger wirken. Dieses Lachen tut mir so weh. Ich kann nicht atmen. Alles, alles zieht sich zusammen um mich. Es wird dunkel. Alles Schmerz. Alles Trauer. Und doch ist da seine Stimme. Noch immer. Beharrlich. Ich rede wie ein alter sensei, nicht wahr? Wieder dieses Lachen, das mich mitten ins Herz trifft. Aber glaube mir, ich weiß wovon ich rede. Er wird ernst. Schaut mich an. Blaue Augen, der Himmel, die Unendlichkeit. Der Schmerz nimmt ab. Ich bin froh, dass wir uns gefunden haben. Einfache Worte. Und doch bedeuten sie die Welt für mich. Ich atme. Ich liebe. Ich lebe. Warum, frage ich euch, warum ist dann dieses Gefühl in mir? Diese dunkle Wolke, die meine Freude überschattet, die mir die Kehle zuschnürt, die mich mit jedem Schlag meines Herzens Schmerz verspüren lässt – ein leichtes, aber andauerndes Stechen? Und warum will das nicht verschwinden? Wenn ich es mir recht überlege, so leben wir beide mit dieser… x-förmigen… unheilbaren… Narbe. Dies wird sich nie ändern. Niemals. Kapitel 2: With heart and soul ------------------------------ Es war ein grauer, verregneter Sommertag. Für einen Tag mitten im Hochsommer viel zu kühl und zu dunkel. Wir waren erstmals seit Wochen wieder dazu gezwungen in der Mensa der Universität zu Mittag zu essen, nicht im Freien, wie ich und meine Freundinnen es so oft und gern taten wenn es warm wurde. Mein Name ist Madoka. Madoka Sakurai. Obwohl ich in Japan aufwuchs, mit einem europäischen Vater, einer japanischen Mutter und einer jüngeren Schwester, hatte es mich vor zwei Jahren hierher, nach England, verschlagen um das studieren zu können, was mir schon immer ein Bedürfnis und ein Traum gewesen war: Kunst. Genauer gesagt: Design. Hierbei hatte ich keinen Schwerpunkt gewählt. Noch nicht. Foto- und Grafikdesign, Mode und Schmuck, sowie klassische Malerei - alles interessierte mich, alles konnte ich hier kennen lernen. Es war eine hoch angesehene, renommierte Kunstakademie und meine Eltern hörten nicht auf zu betonen, wie glücklich ich mich zu schätzen hatte, dass ich sie besuchen durfte. Ich war nicht traurig gewesen um die halbe Welt von zu Hause fort zu reisen. Damals. Ich hatte nie ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Eltern gehabt. Meine Schwester… Ja, sie vermisste ich von Zeit zu Zeit. Sie hätte gewusst, was zu tun ist. Sie hätte mir den Kopf schon zurechtgerückt. Aber ich lief wie ein Kaninchen in die Falle. Flog wie eine Motte in das Licht. Ich KONNTE gar nicht anders. Was geschah musste so kommen. Ich hätte es nicht verhindern können. Wenn es nicht hier und jetzt geschehen wäre, dann in einem anderen Leben. Es war Vorsehung. Der Wanderer ruht nicht. Ihm ist es nicht vergönnt zu rasten. Seine Seele sucht. Ruhelos. Und jedes Mal aufs Neue nimmt das Schicksal seinen Lauf. Ist dies seine Strafe? Warum empfinde ich es dann auch als die meine? Was habe ich verbrochen? Ich hatte nie an so etwas wie Vorsehung geglaubt. Doch es war an jenem grauen, kalten Augusttag, so weit fort von dem Ort, den ich mein Zuhause nannte, an dem ich meinem Schicksal begegnete. ~~~oOo~~~ Mir war gar nicht bewusst, dass Clarissa mich angesprochen hatte. Es fiel mir erst an dem langen Schweigen auf, das plötzlich an dem Tisch herrschte, den wir in der Mensa für uns beansprucht hatten. Clarissa, Gladys und Mei Lin hatten sich bis eben lebhaft unterhalten. Ich war ohnehin immer eher eine… „stille Person“ gewesen. Das war auch in meiner Kindheit schon nie anders gewesen. Auch den jungen Frauen an meinem Tisch war dies nicht neu. Daher hatten sie wohl nicht viel darauf gegeben, dass ich mich in ihre Unterhaltung nicht einmischte, die sich sowieso nur um Männer, Mode oder Make-up drehte. Es ist auch zuviel gesagt, dass diese Mädchen meine Freundinnen waren. "Kommilitonen, mit denen ich mich besser verstand, als mit manch anderen Kommilitonen." Ja, das trifft es wohl am besten. Perplex starrte ich also in Clarissas feixendes Gesicht, als sie mich nun, wohl nicht zum ersten Mal, ansprach. „Mahlzeit, Prinzessin! Wurde auch Zeit dass du uns mit einer Audienz beehrst! Gut geschlafen?“ Mei Lin lachte verhalten hinter vorgehaltener Hand, wie es bei Asiaten häufig zu beobachten war. Gladys’ mit Sommersprossen gesprenkelte Nase krause sich. „Wer weiß, von was sie gerade so geträumt hat….“ Clarissa blickte vielsagend zur Theke hinüber, an der eine lange Schlange Menschen mit Tabletts in der Hand stand, um sich eine Portion vom heutigen Essen zu holen. „Nun ja, wie ich schon sagte: Vielleicht hat auch SIE der Blitz getroffen, als sie den neuen Referendar gesehen hat. Gib’s doch zu, Madoka, du träumst gerade von fliegenden Haaren, geschmeidigen Bewegungen unter satinbezogenen Decken…“ Sie konnte nicht mehr an sich halten und lachte schallend über ihre eigene, unglaubliche Witzigkeit. Ich wurde müde. Das Gemurmel dutzender Unterhaltungen in diesem Saal begann mich einzulullen. Ich verspürte ein dringendes Bedürfnis zu Gähnen. Wie so oft in letzter Zeit. Alles um mich herum… berührte mich nicht wirklich. Wie lange war das schon so? Ich wusste es nicht. „Perfekt, um deine Zeichen-Blockade endlich hinter dir zu lassen, was meinst du?“ Clarissa kicherte. Nach wie vor war ihr Blick auf den jungen Mann gerichtet, der als letzter in der Reihe stand. „Mal ehrlich, Mado. Sieh ihn dir mal genau an. Er ist in aller Munde!“ Auch Gladys deutete grinsend in seine Richtung. Hatten sie denn alle den Verstand verloren so ungeniert eine fremde Person anzustarren? Was war nur los mit ihnen? Strahlte der Typ irgendeine bizarre Art von… Pheromonen aus, oder wie? Die Neugier siegte auch bei mir. Natürlich. Im Nachhinein glaube ich, dass alles vielleicht anders gekommen wäre, wenn ich in diesem einen, schwachen Moment eben NICHT nachgegeben hätte… Ich sah ihn an. Und war im ersten Moment nicht einmal… Nein, ich fühlte… Gar nichts. Und DAS war seltsam. Es war, als würde sich mein Innerstes in Erwartung von Etwas, das kam, mit einem Vakuum füllen, einer Leere, einem völligen Fehlen von… ALLEM. Er war etwas kleiner als der männliche, europäische Durchschnitt, das sah man gleich, doch ich schätzte, dass er wohl dennoch ungefähr meine Größe haben mochte. Seine Gesichtszüge, obwohl nur im Profil zu erkennen, waren eindeutig asiatisch, sein Haar allerdings, völlig untypisch für diesen Menschenschlag, schimmerte in einem dunklen, tiefroten Kupferton und fiel ihm lang, zu einem Zopf gebunden, den Rücken hinab. Er stand ganz ruhig da und wartete. Dennoch hatte ich vom ersten Moment an den Eindruck von… Wachsamkeit. Er trat mit der Schlange ein wenig vor. Selbst die kleinste Bewegung schien geschmeidig, fließend, beinahe vorsichtig und lauernd. Wartend. Ich starrte. Ich merkte es nicht einmal wirklich. Der Moment, in dem ich zurück gekonnt hätte, war vergangen. Vorbei. Ich sah nur noch ihn. Und wo zuvor eine Leere gewesen war, da begann nun eine Wärme, eine heiße Flamme, in meinem Inneren zu wüten. Eine Flamme, die mich nie wieder verlassen würde – und die mich verbrennen konnte, wenn ich nicht vorsichtig war… Seltsam. Woher dieser Vergleich? Aber den anderen schien es nicht viel anders zu ergehen. „Japaner. Jedenfalls sagt das Prof. Gregory. Er ist vor zwei Tagen angereist. Niemand weiß genau, welche Fachrichtung er unterrichten wird. Aufregend, nicht wahr? Er wirkt so...“ „Fremdländisch?“, schlug Gladys vor und nickte Clarissa dann zustimmend zu. „Du hast Recht und er wirkt hier irgendwie… fehl am Platz.“ Wir schwiegen und schauten weiter. Es MUSSTE ihm aufgefallen sein. Ich spürte Scham in mir aufsteigen. Jetzt. Viel zu spät. Wir benahmen uns wie pubertäre Teenager. Aber ich konnte auch nicht wegsehen. Und dann… drehte er den Kopf und sah zu unserem Tisch herüber. Ich fühlte mein Herz einen Schlag komplett aussetzen – und dann, wie es doppelt so schnell weiterjagte. Es war nicht nur ein subjektiver Eindruck. Ich war plötzlich ganz sicher, dass er nicht einfach zu uns hinsah, sondern MICH ansah. Lange. Warum? ‚Wer bist du? Wo kommst du her und was willst du von mir? ` Schwer dröhnten die Schläge meines Herzens in meinem Kopf. Mein Puls raste. Er hatte ein schönes, ebenmäßiges Gesicht. Die Augen waren mandelförmig und ihr Ausdruck… Mein Herz zog sich zusammen. Schmerz. Trauer. Einsamkeit… Woher kamen diese Gefühle, so plötzlich, so unwillkommen, so unvermittelt? Die Flamme in mir flackerte. Warum sah er mich an? Ich wollte, dass er wegsah, gleichzeitig spürte ich das Verlangen, weiterhin in dem Blick seiner dunklen Augen versinken zu wollen, den Schmerz mit ihm zu teilen… 'Warte. Bald…' Wessen Stimme war das? „Hallo? Bist du noch anwesend?“ Clarissa blickte mich missbilligend an. „Herrje, ich hätte meine Klappe halten sollen.“ Ich blinzelte, als wäre ich aus einem Traum erwacht und schüttelte dann den Kopf, mehr um meine Gedanken zu klären, als Clarissas Aussage zu verneinen. „Ich… Es geht schon. Mir geht es nur nicht so gut heute…“ „Genau wie gestern… Und vorgestern… Mann, komm mal wieder runter! Eine Malblockade bedeutet nicht das Ende aller Dinge, Mado.“ Das war es nicht. Nicht allein. Irgendetwas… fehlte. Und nicht erst jetzt. Ich hatte es gemerkt, als ich hier anfing Kurse zu besuchen. Ich hatte es gemerkt, als ich in das Flugzeug hierher gestiegen war. Ich hatte es schon zu Hause, in Japan gefühlt. Nein. Eigentlich schon die ganze Zeit über, während ich zur Schule ging, während ich aufwuchs. Seit ich auf die Welt gekommen war. Ich war unvollständig. Eine bessere Umschreibung fiel mir nicht ein. Etwas fehlte in meinem Leben. Ich wusste nicht was. Es war mir nur jetzt erst bewusst geworden. Aber wodurch? Unmöglich, dass es an jenem einen, seltsamen… Augenblick gelegen haben mochte, der mir Gefühle von mir selbst offenbart hatte, die ich zuvor nie gekannt hatte und von denen ich geglaubt hatte, sie niemals empfinden zu können! Oder doch? Er? Wegen ihm? Flüchtig sah ich erneut zu dem jungen Mann hinüber. Er war weiter vorgetreten und sah auch nicht mehr herüber. Aber mein Herz schlug noch immer wie wild. Feine Schweißperlen hatten sich auf meiner Stirn gebildet. Und erneut fragte ich mich: Wer war er? Wieso war er hier? Sein Blick… So seltsam… vertraut. Und doch auch fremd und beängstigend. Warum? Warum wurde mir erst jetzt, hier und heute, in diesem zeitlosen Augenblick, klar, dass ich unvollständig war? Es war Narretei sich einzubilden, dass ich nun in ihm gefunden haben sollte, was mich vervollständigte. Ich war einfach nicht der Typ Mensch, der so schnell einem anderen verfiel. Doch mein Körper sprach eine andere Sprache. Und ich staunte und horchte in mich hinein. Konnte nicht fassen, was da in mir vorging. Meine Finger zitterten. Das war doch nicht ich… „Ich… werde besser nach oben gehen. Ich habe heute keine Kurse mehr. Ich denke… ich lege mich kurz hin.“ Mit einer beinahe fahrigen Bewegung stand ich auf. Das Glas, in dem noch Orangensaft war, kippte um, setzte mein Tablett unter Wasser. Ich achtete nicht darauf. Mit einem Mal hatte ich es einfach nur eilig hier wegzukommen. Mei Lin sog erschrocken die Luft ein. „Pass doch auf!“, sagte Gladys mit wohlwollendem, vielsagendem Spott in der Stimme. „Traumtänzerin…“ Ich fuhr auf dem Absatz herum und lief aus der Mensa, die Blicke dutzender Studenten auf mich ziehend. Und mit einer Stimme in meinem Kopf, in meinem Inneren, in meiner Seele. 'Warte. Bald…' Kapitel 3: Clumsiness --------------------- Der neue Referendar war äußerst beliebt. Ich beziehe mich hier nicht nur auf die weiblichen Mitglieder der Akademie, sondern durchaus auf ALLE meine Kommilitonen, männlich und weiblich. Auch das Kollegium schien sehr angetan von ihm. Er unterrichtete nicht wirklich. Er war Gast-Referendar und würde für ein paar Monate hier sein, um die Ästhetik und Kunstfertigkeit japanischer Kalligrafie vorzuführen – und um diverse Kampftechniken zu zeigen und gegebenenfalls auch zu lehren. Das reichte vom klassischen Kendo, das mit Bambusschwertern trainiert wurde, bis hin zu Thai-Chi, dem so genannten „Schattenkampf“. Ich selbst bekam nur wenig von ihm zu sehen. Ich war… weder erfreut noch traurig über diesen Umstand. Zu jener Zeit war ich mir meiner Gefühle einfach nicht sicher. Meine eigene Reaktion in der Mensa vor einigen Tagen hatte mich selbst wohl am meisten überrascht. Ich versuchte, die Ursprünge hiervon zu ergründen – und fand einfach keine. Dazu kam, dass ich tatsächlich in einer Art von „Schaffenskrise“ steckte und meine Verwirrung sicher nicht dazu beitrug, hieraus einen Ausweg zu finden. Was also sollte ich tun? Tage, Wochen vergingen. Ich lieferte ständig nur noch befriedigende Leistungen ab. Das machte mich wütend – und schien nur noch mehr dazu zu führen, dass ich meine Inspiration verlor und nirgends wiederfand. Frustrierend. So nennt man diesen Zustand wohl. Ich telefonierte dieser Tage oft mit meiner Schwester – was meine Telefonrechnung unglaublich in die Höhe schnellen ließ. Aber ich brauchte das einfach. Sie war… so erfrischend direkt. „Sprich ihn halt mal an.“, sagte sie eines Abends lakonisch. „Wenn dir der Kerl so sehr im Kopf rumspukt, dann musst du einfach mal selbst rangehen. Die Initiative ergreifen.“ „Ich bin nicht der Typ, der…“ „Ja, ich weiß, das sagst DU.“, fiel sie mir ins Wort – schon mehr als brüsk. „Hast du’s denn je versucht?“ „Und was soll ich ihm sagen?“, fragte ich. „Naja, dir wird schon was einfallen. Sag doch, dass du dich für… Kendo oder so was interessierst und gern mal beim Training zusehen würdest – wenn du schon nicht mitmachst. Dafür ist er doch an die Uni gekommen, oder?“ Nun ja, da war was dran. Es sagte sich jedoch so einfach. Dazu kam… Nun… Es GAB natürlich auch Mädchen, die sich BESONDERS für ihn zu interessieren schienen. Sie umlagerten den hübschen, androgynen jungen Mann wie ein Schwarm Motten das Licht. Klar. Er war schon eine „Attraktion“, etwas Besonderes, in dieser steifen, englischen Atmosphäre. Er war… so ANDERS. Es war nur natürlich, dass man sich angezogen fühlte. Frau. Dass vor ALLEM frau sich angezogen fühlte. Ich seufzte. Und verschob die Entscheidung, was ich tun sollte – wieder einmal – auf später. Der Zufall sollte mir eines Tagen zuhilfe kommen. Oder vielmehr, meine eigene, vielbesagte Ungeschicklichkeit… Meine Schwester könnte davon ein Lied singen… Das Wetter hatte sich in den letzten zwei Wochen dann doch noch entschieden sich zu verhalten, wie es das im Hochsommer auch gewöhnlich zu tun hatte, und es war deutlich wärmer geworden. Es regnete auch weniger. Das war eine erhebliche Steigerung für englisches Wetter. Ich wollte eine Staffelei zurück ins Lager bringen und ging auf der Galerie in Richtung Haupthalle. Von der Galerie, die offen hin zu Hof war, hatte man einen guten Blick hinunter in den Garten – wenn man dies so nennen konnte. Es gab ein paar Grünflächen, einen Springbrunnen und ein paar steinerne Bänke, auf denen ein paar Studenten in der Sonne saßen und schwatzten. Der eigentliche Park der Akademie war riesig und erstreckte sich weit hinter dem verzweigten Gebäude, beinhaltete sogar kleine Wälder und einen – wie gemunkelt wurde – verwunschenen, alten Friedhof. Flüchtig warf ich nun einen Blick in den Hof – und mein Schritt verlangsamte sich beinahe ohne mein Zutun. Der neue Referendar stand am Fuße der großen, aus hellem Sandstein gefertigten Treppe, und unterhielt sich mit einer jungen, hübschen Studentin, die durchaus nett wirkte – wenn sie nicht andauernd so breit grinsen und ihr Haar von einer Seite zur anderen werfen würde… Nun... Was zum Teufel ging es mich an? Mit einer solchen Situation sah ich mich nicht zum ersten Mal konfrontiert. Ich musste wieder hinschauen. Verdammt. „Also, ich werde da sein. Um neunzehn Uhr am Waldrand. Ich freu mich schon auf das Training im Freien.“, sagte die Blondine gerade und ließ strahlendweiße, makellose Zähne blitzen. Ich schaute weg. Ich hatte gute Zähne. Ich war zufrieden mit meinen Zähnen. Herrgott, noch mal! Blöde Kuh. Wieso fühlte ich mich neben ihr wie ein grob gezimmerter Holzklotz? Jetzt sah er die Treppe hinauf, hatte schon einen Fuß auf die unterste Stufe gesetzt, während er einige Abschiedsworte an das Mädchen richtete. Wer war sie überhaupt? Kannte ich sie? Hatte ich sie überhaupt schon mal hier gesehen? Oh, mein Gott! Er sieht zu mir hoch! Er hat mich angesehen! Und ein Lächeln huschte über seine Züge. Klar, dachte ich. Er lächelt ihr zum Abschied zu. Wieso sieht er dabei mich an? Mir wurde plötzlich… seltsam. Meine Knie… Waren die immer schon so wacklig gewesen? Himmel noch eins, ich war eine erwachsene Frau! Und benahm mich wie ein verknallter Teenie… Mir war nicht zu helfen. Das Mädchen beugte sich nun vor und flüsterte etwas in sein Ohr. Wieso? Warum machte sie so etwas? Waren sie so vertraut miteinander? Sie lachte – und es war wie ein Pfeil, der durch mich hindurchging. Hastig – und viel zu fahrig – setzte ich mich in Bewegung, wollte schnell an dem oberen Treppenabsatz vorbeigehen, nur weg von hier, bevor ich mich vollends blamieren würde. Die Staffelei entglitt meinen zitternden Händen... Laut polternd klapperte das hölzerne Gestell die Treppe hinunter, ein paar Stifte kullerten hinterdrein. Alles sah zu mir herüber. Jeder. Ich wurde puterrot. Wie benommen stakste ich die paar Stufen hinunter, erleichtert darüber, dass ich mich bücken musste, um die Sachen hastig wieder aufzusammeln. Keiner sagte etwas. Alle starrten nur. Außer… Ich hörte Schritte. Nicht hinschauen, Mado. Gott, bloß jetzt nicht hinsehen. Dein Gesicht hat im Augenblick so ungefähr die Farbe eines Hydranten. Bloß nicht nervös werden. Das kommt alles Mal vor. Das erste was ich sah als ich in die Hocke ging waren seine Hände. Schmal und feingliedrig. Sie hielten mir die Staffelei entgegen, während ich weiterhin krampfhaft nach verlorenen Stiften suchte, die es nicht mehr gab. Ich hatte bereits alle wieder in der Hand… Jetzt musste ich wohl doch hinsehen. Strähnen seines dunkelrot schimmernden Ponys fielen lang über dunkelblaue, mandelförmige Augen. Ein warmer Ausdruck war darin zu sehen. Ich hatte… nicht damit gerechnet. Ich war perplex – und einige Sekunden lang unfähig mich zu rühren. Mit was HATTE ich denn gerechnet? Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr. „Die Staffelei ist leider nicht mehr zu gebrauchen…“, sagte er nun in gebrochenem Englisch. Es klang… exotisch. Ein leichtes Kribbeln entstand in meinem Nacken. Seine Stimme war angenehm, tief und von einer leichten Rauheit, die ich ebenfalls nicht erwartet hatte. Meine Gedanken rasten: ‚Hallo. Ich bin Madoka. Aber wer bist DU nur?’ Wir erhoben uns. Ich nahm die Staffelei entgegen. Sie war zerbrochen. „Das… das tut mir leid…“, meinte ich stumpfsinnig. „Das ist doch nicht weiter tragisch.“, sagte er nun. Er lächelte aufmunternd. „So etwas kann man heutzutage doch überall günstig nachkaufen.“ Ein Schauer nach dem anderen jagte meinen Rücken hinunter. Ich benahm mich wie ein kompletter Idiot. Meine Schwester würde sich totlachen wenn sie das hier sehen könnte, dachte ich bitter. „Ich… Ich bringe sie ins Archiv und melde den Verlust an. Danke für… die Hilfe.“ Ich wollte mich herumdrehen und die paar Stufen zurücklaufen. Doch seine Stimme ließ mich noch einmal innehalten. „Du heißt Sakurai, oder? Sakurai Madoka?“ Er sprach mich auf japanische Weise mit Namen an. Wieder war es, als… wäre mir das so vertraut. Als würde in mir ein entferntes Echo nachklingen. Seltsam… Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden, wurde mir dann jedoch bewusst, dass er dies als Verneinung auffassen musste und nickte gleich darauf hastig. Na schön, JETZT hält er mich wirklich für bescheuert… Doch er lächelte nur leicht. „Himura. Himura Kenshin.“ Er neigte leicht (wie formvollendet und höflich!), den Kopf. „Hast du nicht Lust heute Abend auch beim Training zuzusehen?“ Wieso? Warum? Ich staunte. Entweder war ich sehr leicht zu durchschauen – oder aber er konnte Gedanken lesen. Ich vermutete eher, dass es das erste war… Verlegen lächelnd schüttelte ich wieder den Kopf. 'Ja bin ich denn blöd? Was MACHE ich denn hier? Er lädt mich ein und ich?' „Es werden nicht so viele Leute kommen. Ich bin froh, wenn ich ein paar Interessierte zusammenbekomme. Also, was ist? Ich brauche eine Daseinsberechtigung an dieser Akademie – sonst kann ich nämlich bald wieder abreisen. Dabei habe ich mich gerade eingelebt. Würden sie mir helfen, hier bleiben zu können?“ Auch wenn in dem, was er sagte, permanent ein leises Lächeln mitzuschwingen schien, so erkannte ich doch auch, dass er mich soeben ein zweites Mal, und sehr viel eindringlicher, gebeten hatte, zum Training zu kommen. „Also schön. Ich werde da sein.“ Und bevor ich es verhindern konnte entschlüpfte mir: „Neunzehn Uhr, richtig?“ Er blinzelte. „Ja, richtig. Woher… Ich hatte es noch nicht ausgehängt.“ Doch noch bevor ich etwas antworten konnte, und mich womöglich noch tiefer reinritt, fuhr er fort: „Nun ja, wir haben ja auch laut genug gesprochen. Ist ja kein Geheimnis. Also, ich freu mich, Madoka. Ich darf Sie doch so nennen?“ Tja, was Madoka anging… Meine Gesichtsfarbe wechselte soeben von karmesinrot zu sandfarben bis weiß… Meine Lippen zitterten, mein ganzer Mund war plötzlich sehr trocken. Ich konnte kaum schlucken. „Am Waldrand.“, flüsterte ich. „Ich werde dort sein…“ Und endlich, endlich konnte ich mich herumdrehen und mit dem letzten, kümmerlichen Rest von Würde, der mir noch verblieben war, den Schauplatz meiner Tollpatschigkeit verlassen. Was, so fragte ich mich fieberhaft und zum hundertsten Mal, WAS zum Teufel hatte dieser Mann an sich, das mich selbst wie ein Kleinkind verhalten ließ, das mich so durcheinander brachte und verwirrte? Und wieso wurde ich das Gefühl nicht los, diese Empfindungen zu KENNEN? Kapitel 4: The man who caused the rain to bleed ----------------------------------------------- Ich hatte mich benommen wie ein vollkommener Idiot. Herrgott noch mal, was war denn nur los mit mir? Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Noch nie hatte es irgendein Mensch auf Erden fertig gebracht mich derartig und so nachhaltig aus der Fassung zu bringen, wie es Himura-sensei tat. Es war mir noch im Nachhinein unendlich peinlich: Zum einen was mir ob meiner Ungeschicklichkeit passiert war, zum anderen, dass ich mich dann auch noch so dämlich benommen hatte. Ich hatte nicht wirklich geistreiche Dinge gesagt, das war mir vollkommen klar. Verdammt! Wenn ich schon nicht mit blendender Schönheit aufwarten konnte, wie vielleicht manch andere junge Frau an dieser Akademie, so hatte ich doch wenigstens von mir gedacht (Gehofft? Erwartet?), dass es mir möglich sein sollte ein wenig von diesem Mangel mit Humor, Freundlichkeit und geistreichen Kommentaren ausgleichen zu können. Tja, was hatte ich denn noch zu bieten, wenn das nun auch noch flöten ging? Verd… Und wieso sollte mich das kümmern? Herrje, wie tief waren meine Gefühle schon verstrickt und gefesselt, wie sehr mein ureigenstes Verlangen geschürt, diesen Mann kennenzulernen. Es war… seltsam. Denn es war teilweise wirklich so, dass ich das Gefühl hatte, ich WÜRDE ihn schon irgendwoher kennen. Zumindest einen Teil von ihm. Selbstverständlich war das unmöglich. Aber immer wieder, jedes Mal wenn ich ihn sah oder ich über ihn nachdachte stellte sich dieses beinahe… vertraute Gefühl in mir ein. Ein Gefühl, dass dieses Verlangen, mein unbewusstes Wollen und Drängen, auf etwas Gutes oder doch zumindest Richtiges hinauslaufen würde. Musste. Verrückt, oder? Wieso ausgerechnet ich? Was brachte mich dazu in derart hochtrabenden Maßstäben von mir selbst zu denken? Wieso sollte es ausgerechnet ich sein, die „richtig“ für Himura wäre? Was bildete ich mir denn da ein? Und überhaupt! An was DACHTE ich denn hier schon wieder… Unwillkürlich errötete ich… Und verpasste das Ende der Lesung von Mr. Walsh, der uns soeben auftrug das Gehörte in einer Art kleinen Zusammenfassung in Eigenarbeit niederzuschreiben. Die Ergebnisse wolle er kommende Woche einsehen... Mei Lin sah etwas mitleidig zu mir hinüber. Aber in ihrem Blick spiegelte sich pure Schadenfreude. „Sag mal, musst du selbst in den Lesungen mit offenen Augen träumen?“ „Wieso? Hab ich zu laut geschnarcht?“, nuschelte ich verlegen. Mei Lin grinste. „Nein. Du warst recht anständig und ganz leise. Bis auf das irgendwie… gequält wirkende Stöhnen am Schluss. Du wirst doch nicht etwa krank?“ Etwas von der Schadenfreude schwang nun auch unüberhörbar in ihrer Stimme mit. Schnell und nun eindeutig mit einer Farbe im Gesicht, die einmal mehr verdächtig nah an karmesinrot heranreichte, machte ich mich daran meine Tasche zu packen – und hielt inne, starrte auf den Karo-Schreibblock, der aufgeschlagen vor mir auf dem Tisch lag. Um uns herum erhoben sich die Studenten und verließen den Hörsaal. Mei Lin sagte wieder etwas, aber ich hörte es nicht einmal. Ich starrte auf das Papier. Besser gesagt auf das, was ich wohl völlig unbewusst während der Lesung gezeichnet haben musste. Naja, gekritzelt traf es wohl eher… Es war nichts weiter als ein Auge. Ein ausdruckstarkes, klares Auge mit einer entschlossen gesenkten Augenbraue und langen Wimpern. Und der Ausdruck… Ich vermochte ihn nicht zu deuten. Traurig vielleicht, trotz der unübersehbaren Entschlossenheit. Das Auge selbst war leicht mandelförmig… Mei Lins Blick war meinem gefolgt. „Was…? Ich raffte den Block an mich und begann mit Riesensätzen die Stufen des Auditoriums hinunterzulaufen. Mei Lin ließ ich einfach stehen. Ich hatte keine ZEIT mich mit ihr auseinanderzusetzen oder (was wahrscheinlich eher der Fall sein würde) mir wieder einmal dumme, schadenfrohe Sprüche anzuhören. (Auch wenn ich ihr zugute halten musste, dass SIE sich immer SEHR damit zurückhielt.) Das würde meinem ohnehin ziemlich… merkwürdigen Ruf nur mehr Nahrung geben. Dass ich als Träumerin verschrien war, war eine mir nicht unbekannte Tatsache. Glaubten sie wirklich, das würde ich nicht mitbekommen? All die Mädchen, mit denen ich mich oberflächlich gut verstand und die vorgaben meine Freundinnen zu sein, lächelten in Wahrheit auf mich herab. Das war mir schon klar. Jedoch... Ich war vielleicht tatsächlich jemand, der sich weigerte seine Träume aufzugeben und ihnen wirklich noch nachging – aber ich war nicht blöd. (Jedenfalls hatte ich das bis heute angenommen…) Auf alle Fälle bekam ich durchaus mit, wie man über mich sprach. Doch auch wenn es mich bislang vielleicht sogar gestört haben mochte: Seit einigen Tagen, genauer gesagt, seit ER in mein Leben getreten war, war das anders. Nichts war mehr wirklich wichtig. Konnte denn ein Mensch, den man gar nicht weiter kannte, wirklich so sehr und umfassend von den Gefühlen und Gedanken eines anderen Besitz ergreifen? War das möglich? Ich beschloss den freien Spätnachmittag fernab von vermeintlich freundlichen Kommilitonen und wirklich verdammt attraktiven Referendaren in meinem Zimmer zu verbringen. Ich teilte mir ein Zimmer mit Gladys – was nicht meine erste Wahl gewesen war. Aber das wäre eine zu lange Geschichte, um sie jetzt zu erzählen. Das Studentenwohnheim lag auch auf dem Campus, allerdings ein Stück versetzt vom Haupthaus, in welchem die Hörsäle untergebracht waren. Wenn ich das Fenster unseres kleinen, jedoch irgendwie gemütlichen Zimmers öffnete konnte ich direkt in den Park hinunter sehen. Und zum Waldrand. Dort, wo das Gras kurz gemäht war würden heute Abend die Übungskämpfe stattfinden. Es war ja nicht das erste Mal. Ein oder zwei Mal hatte Himura bereits solche Abende schon organisiert. Allerdings… hatte ich mich nie getraut hinzugehen, obwohl ich sah, dass nicht viele Interessierte gekommen waren. Himura schien Recht gehabt zu haben. Ich hatte es von unserem Fenster aus sehen können. Er brauchte mehr Teilnehmer, sonst würden seine Kurse wahrscheinlich bald gestrichen. Naja, zumindest in etwa hatte ich etwas sehen können, denn die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als ich das letzte Mal zusah. Und heute? Heute würde ich also dorthin gehen. Ganz offiziell eingeladen. Ich würde ihn wiedersehen. Ich fühlte, wie sich die ganz feinen Härchen in meinem Nacken aufstellten und ein wohliger Schauer meinen Körper und scheinbar auch meine Seele oder meinen Geist durchlief. Denn mein Frust über die eigene Ungeschicklichkeit am Nachmittag verflüchtigte sich. Aber meine Gedanken hörten einfach nicht auf um ihn zu kreisen. Nun, vielleicht konnte ich mich etwas ablenken, indem ich meiner Lieblingsbeschäftigung nachging, die ich ohnehin in letzter Zeit sträflich vernachlässigt hatte. Schön, mir fehlten noch immer die Ideen, die Inspirationen zum Zeichnen. Aber ich würde die Blockade wohl kaum überwinden, indem ich mir selbst Leid tat und es nicht probierte. Also nahm ich meinen Skizzenblock, hockte mich auf den einzigen, kleinen Sessel im Zimmer, der ebenso wie unsere Betten mit orientalisch angehauchten und mit bunten Ornamenten geschmückten Tüchern behangen war (Gladys hatte eine Vorliebe für Asien im Allgemeinen und bunten Schnickschnack im Besonderen, was wohl auch ihre Zuneigung zu Mei Lin erklärte – beides traf auf Mei Lin zu: Sie war Asiatin und sie kleidete sich ausschließlich bunt), kramte meine Kohlestifte hervor und starrte in den Raum. Das erste, auf was mein Blick fiel, war die Schale mit Äpfeln, die auf dem kleinen Holztisch neben dem Sessel stand. Nichts Originelles. Klar. Aber irgendwie MUSSTE ich ja schließlich anfangen. Völlig unbewusst fing ich zunächst zu summen, dann leise zu singen an. Worte, eine Melodie, irgendwo aus meiner Kindheit. Lange vergessen. Und doch als Erinnerung bewahrt. „Schweben in das Licht, kein Atemzug und kein Gefühl ich fliege ohne mich. Hoch, tief, Raum und Zeit. Kein Anfang und kein Ende und auch keine Wirklichkeit. Reinkarnation, in Lichtgeschwindigkeit, doch noch so lang, Morgen schon. Irgendwann." Meine Hand glitt über das Papier, meine Gedanken fort, in eine andere Zeit, an einen anderen Ort. Ich sah… Eine mondlose Nacht. Regen. Wo waren die Sterne? Es roch nach… dem Duft von Pflaumenblüten. Ich versuchte tief zu atmen – doch ich konnte nicht, denn Entsetzen hatte mir die Kehle zugeschnürt. Blut. Da war… überall Blut! So viel… Blut. An mir, auf der Kleidung, auf dem Schirm, den ich in meinen verkrampften, kalten Händen hielt. Und auf dem schlammigen Weg in der Dunkelheit auf welchem ich stand. Nur ein Paar Schritte entfernt von… IHM. Er hatte sich erhoben. In seinem Blick las ich das tiefe Entsetzen, das ich selbst empfand. Seine Hand hielt ein Schwert, lang und gebogen, scharf und blutbesudelt. Neben ihm… Eine Leiche. Er hatte getötet. Der Mann vor mir, fast noch ein Kind, so jung, so verstört, war ein Mörder. „Du…“, flüsterte ich – mit einer Stimme, die nicht die meine war. „Deinetwegen… blutet der Regen…“ Er antwortete nicht. Der Schirm entglitt meinen Fingern. Das letzte was ich wahrnahm, bevor meine Sinne schwanden und ich in Ohnmacht fiel (ICH?) waren seine Haare. Sein dunkelrotes, nasses Haar. Und der Regen, unaufhörlich wie eine leichte, ständige jedoch sanfte Berührung auf Gesicht und Händen, als er mich in seinen Armen auffing… Mit einem Ruck wurde ich wach. Ich musste wohl eingeschlafen sein – obwohl mir das beim Zeichnen wahrhaftig noch nie passiert und ich auch nicht übermüdet gewesen war. Seltsam. All das… Was hatte ich da gesehen? War es ein bedeutungsloser Traum? Wer war sie, in deren Körper ich da gewesen war, die meine Gefühle gefühlt hatte – oder deren Gefühle ICH gefühlt hatte. Und… Vor allem… Wieso tauchte Himura in diesem Traum auf? Er war es, ganz ohne jeden Zweifel. Er war noch sehr viel jünger gewesen und merkwürdig altmodisch gekleidet, so wie man manchmal japanische Männer und Frauen auf alten Fotos und Bildern von traditionellen japanischen Festen oder ähnlichen Anlässen sehen konnte. Aber… Himura und ein Mörder? Entschlossen schob ich den Gedanken weit von mir. Das war unmöglich. Jemand mit so sanften, blauen Augen konnte kein brutaler Killer sein. Was auch immer mich da heimgesucht hatte – es hatte eindeutig mit meinen überreizten Nerven momentan in Bezug auf den jungen Referendar zu tun – der im Übrigen wahrscheinlich schon darauf wartete mit seiner abendlichen Trainingsvorführung beginnen zu können! Ich Depp! Jetzt aber schnell! Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon 18.53 Uhr war. Und ich wollte diesem denkwürdigen Tag nicht noch die Krone aufsetzen, indem ich mit Pauken und Trompeten zu spät kam. Denn wer zu spät kam wurde begafft. Immer. Das war nun mal so. Und ich HASSTE es Blicke auf mich zu ziehen. Ich sprang auf und griff nach meiner Strickjacke. Als DIESES Mal mein Blick auf den Skizzenblock fiel war der Schock NOCH tiefer und noch sehr viel heftiger, als er das vorhin beim Anblick meiner Kritzelei nach der Vorlesung gewesen war… Eine eiskalte Hand schien nach meinem Herzen zu greifen. Mit weit geöffneten Augen starrte ich auf das Gesicht, das ich gezeichnet hatte. Der DIN A3 Block war beinahe gänzlich ausgefüllt von diesem Gesicht. Es war SEIN Gesicht. Ganz eindeutig der junge Himura. Wie ich ihn soeben im Traum gesehen hatte – nur ungleich… schrecklicher. Denn was ich in traumhafter Abbildung, beinahe wie einem realen Film der Vergangenheit vor mir gesehen hatte, hatte ich in skizzenhaften, beinahe schon karikaturistischen Strichen und Zügen umgesetzt. „Der Schrei“ von Munch war nichts dagegen! Himuras Lippen waren aufgerissen zu einem lautlosen, stummen, hilflosen Schrei! Auch wenn ich nur schwarze Kreide verwendet hatte: Ich konnte das Blut förmlich SEHEN, das sein ganzes Gesicht bedeckte – und seine Seele. Ja, ich sah es. Ganz deutlich. Mein Herzschlag verlangsamte sich. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Sein Haar fiel in langen, vom Regen verklebten Strähnen in sein schönes, markantes und doch so verzerrtes Gesicht. Seine Augen! Es war wie ein Hieb in die Magengrube und ich taumelte beinahe zurück. Gott, nie im Leben hatte ich solch ein Leid in den Augen eines so jungen Menschen gesehen! Er schien zu flehen! Pure Angst war in seinem Blick, nacktes, abgrundtiefes Entsetzen und Abscheu sich selbst gegenüber, die mich bis ins Mark erschütterte. Dieses Bild, das ich gezeichnet hatte, wirkte mit einem Male wie ein Tor, eine Tür in eine andere Zeit, in meinen Traum, aus dem der junge Mann verzweifelt zu entrinnen versuchte, obwohl er dennoch wissen musste, dass das nicht möglich war. Denn diese Tür, nur sekundenlang geöffnet, war nun wieder geschlossen. Vielleicht für immer. Diese Qual und dieses Leid… Ich konnte kaum atmen. Nie zuvor hatte ich ein solch ausdrucksstarkes Bild gezeichnet. Es LEBTE! Und es sprach zu mir! ER sprach zu mir! Doch er tat es eindeutig mit Gladys Stimme, und das holte mich Gott sei Dank auf den Boden der Tatsachen zurück… „Wolltest du nicht längst beim Kendo-Training sein?“ Mit einer schnellen, Bewegung griff ich nach dem Block und drehte ihn herum. Dann wandte ich mich zu Gladys um. Sie kam jetzt in den Raum hinein, warf ihre Tasche mit gekonntem Schwung auf ihr Bett und hob eine Augenbraue. „Sag bloß, du hast deine Blockade überwunden?“, fragte sie jetzt und machte Anstalten, den Skizzenblock an sich zu nehmen und umzudrehen. Ich legte rasch die Hand darauf. „Du, Gladys, ich probiere noch rum. Das ist nur ne Skizze. Nichts Originelles. Kein weibliches Aktmodel. Also nichts, was dich interessiert.“ Gladys zog mit einem verächtlichen Geräusch die Hand zurück. „Autsch! So bissig heute? Was ist denn passiert? Du siehst ohnehin irgendwie… ungesund aus, Herzchen.“ „Ich hab jetzt keine Zeit…“, begann ich. „Mal wieder…“, fügte Gladys ironisch hinzu und warf ihre rote Lockenpracht zurück über ihre Schultern. Sie trollte sich zu ihrem Bett und warf sich darauf. „Soll mir doch egal sein…“, sagte sie dann. „Hau schon ab!“ Ich machte mich umgehend daran, ihren Worten Taten folgen zu lassen, drehte mich dann aber noch mal herum und klaubte den Block vom Tisch. Ich würde ihn lieber mitnehmen. „Wie lange bleibst du weg?“ Gladys Frage kam so beiläufig, dass sie wirklich alles andere als das sein konnte. „Warum? Hast du Mei Lin heute Abend zu dir eingeladen? Keine Sorge, ich habe nicht vor unverhofft in irgendetwas hineinzuplatzen. Ich werde vorher anklopfen, wenn ich zurückkomme.“ Ich war schon aus der Tür und hatte diese Gott sei Dank auch schon fast geschlossen, als ein Kissen von drinnen gegen sie geschleudert wurde und sie mit Nachdruck ins Schloss geworfen wurde. Kapitel 5: Intimate enemy ------------------------- Ich hatte bereits aufgehört über Gladys nachzudenken, als ich den nächsten Treppenabsatz auf meinem Weg hinunter erreicht hatte. Ich hatte nichts gegen ihr Techtelmechtel mit Mei Lin. Wirklich nicht. Mei Lin war noch die netteste von allen Mädchen hier. Zumindest was mich betraf. Aber Gladys selbst war… Manchmal schwer zu ertragen. Anstrengend. Sie glaubte einfach, sie könne alles. Und Fehler würden ohnehin immer nur von anderen gemacht. Nie von ihr. Natürlich nicht. Es war sehr warm draußen. Dafür, dass es schon Abend war und außerdem die zweite Woche des Septembers, war es doch noch eine erstaunliche Hitze, die hierzulande herrschte. Britische Meteorologen sprachen schon von einem sogenannten „Jahrhundert-Sommer“. Aber wo auf der Welt taten sie das zur Zeit nicht? Ich erreichte den Trainingsplatz am Waldrand auf Umwegen, denn ich wollte nicht, dass man mich sofort sah. Als ich über einen kleinen Waldpfad (ich hatte den Wald an anderer Stelle betreten, dass es so aussehen musste als wenn ich mit Zeichenblock und Stiften unter’m Arm von einer kleinen, künstlerischen Sitzung in der Natur zurückkehrte) nun auf den Trainingsplatz hinaustrat, hatten die Übungen auch schon begonnen. Schweigend trat ich hinzu und setzte mich ins Gras zwischen die Studenten (vielleicht ein Dutzend an der Zahl) die zu Himura aufsahen. Ich konnte die blonde junge Frau vom Vormittag nicht unter den Zuschauern entdecken und flüchtig fragte ich mich, was sie wohl zurückgehalten haben mochte, dem Objekt ihrer augenscheinlichen Begierde zuzusehen. Aber wirklich nur flüchtig. Umso besser, wenn sie nicht da war. Warum kümmerte mich das überhaupt? Ich ärgerte mich schon wieder ein bisschen über mich selbst. Vergaß das aber beinahe sofort wieder. Aufschauen zu Himura. Ja, das taten wir dann auch alle. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Als ich es selbst endlich fertig brachte meinen Kopf zu heben um ihn direkt anzusehen verstand ich plötzlich die unverhohlene Bewunderung und das Staunen in den Blicken der anderen. Himura sah… verändert aus. Dies war noch eine Untertreibung. Natürlich. Meine Gedanken hatten gerast – und jetzt schienen sie sich in klebrigen Sirup verwandelt zu haben. Er sah original so aus wie in meiner Vision – oder in meinem Traum. Im Moment war mir diese Bezeichnung einfach lieber. Natürlich wirkte er älter und auf schwer in Worte zu fassende Weise auch… reifer, weiser… Verrückte Gedanken, aber ich konnte sie nicht verhindern. Er trug einen dunkelblauen Yukata und eine traditionelle Hakama aus heller, anschmiegsamer Baumwolle. Sein Haar, diesmal zu einem hohen Zopf gebunden, glänzte in warmem, flüssigem Kupfer im Schein der Abendsonne. Zwei junge Stundenten, Erstsemestler, wie ich annahm, standen bei ihm, blickten ihn vollkommen fasziniert an und ich befürchtete, ihnen war nicht ganz klar, von was er da redete – denn sie hörten einfach nicht zu. Sie waren abgelenkt. Und zwar von dem stattlichen und durchaus echten Schwert an Himuras Seite, von dem sie einfach nicht den Blick lassen konnten. „Himura-sensei,…“, platzte der eine nun auch frei heraus, „..werden wir auch einmal mit echten Schwertern trainieren? So wie mit ihrem?“ Himura unterbrach seine Erklärungen kurz und lächelte leicht, ließ eine Hand auf das Heft seines Katana sinken. „Ich fürchte im Moment würdet ihr damit nur Schaden anrichten oder euch sogar selbst verletzen. Es ist sehr wichtig, dass ihr zunächst völlige Körperbeherrschung und Selbstkontrolle erlernt. Habt Geduld. Der Weg des Schwertes ist nicht leicht zu beschreiten und gewiss kein kurzer, aber an seinem Ende werdet ihr, wenn ihr es denn wollt, begnadete Kämpfer sein.“ Ich hing an seinen Lippen, genau wie die anderen Studenten auch. Zurückversetzt in eine andere Zeit schienen wir alle vergessen zu haben, wer und wo wir wirklich waren. Es war faszinierend. Himura drehte sich herum, sah nun zu uns herüber. Ich hatte wirklich den Eindruck, er würde mir kurz zulächeln. Hätte ich gestanden, hätten garantiert meine Knie nachgegeben – weich wie Pudding. „Und nun steht auf. Beherzigt, was ich euch gerade gesagt habe. Übt mit den Bambus-Schwertern, die ich euch gegeben habe und wiederholt noch einmal, was ich euch letztes Mal gezeigt habe. Ich werde zu jedem einzelnen kommen und mir ansehen, was für Fortschritte ihr gemacht habt.“ Sieben oder acht der bislang vermeintlichen Zuschauer um mich herum erhoben sich daraufhin und ich erkannte, dass jeder von ihnen tatsächlich ein Bambus-Schwert bei sich hatte. Alle stellten sich in einer Reihe auf. Sie hoben die Arme, die Hände fest um das Schwert geschlossen, traten einen Schritt vor und in einer einzig fließenden Bewegung ließen sie das Schwert niedersausen, entluden die Kraft, die mit dieser Bewegung einherging, in einem einzigen Ausruf aus eineinhalb Dutzend Kehlen. Es war beeindruckend. Ich erschauerte. Genauso musste es damals ausgesehen haben, wenn die jungen Schüler von ihrem Meister in den sogenannten Dojos trainiert wurden. Himura schritt von einem zum anderen, während seine Studenten die Bewegung unablässig wiederholten und dabei auf Japanisch zählten. Jedes Mal, wenn die Schwerter niedersausten schrieen sie die nächste Zahl heraus. Auch wenn das nicht wirklich bedrohlich war – ich konnte sehr gut erkennen, dass es eines fernen Tages einmal durchaus bedrohlich wirken KONNTE. Die jungen Männer (es waren tatsächlich ausschließlich Männer, wie ich mit leichter Verwunderung erkannte) wirkten allesamt motiviert und entschlossen. Es war einfach herrlich ihnen zuzusehen. Einige von ihnen trugen ebenso traditionell japanische Kleidung wie Himura. Andere jedoch nicht, was dem ganzen beeindruckenden Schauspiel natürlich ein wenig die Würde nahm. T-Shirt und kurze Hose waren einfach nur halb so beeindruckend, wenn man mit einem Bambus-Schwert scheinbar gewichtig herumfuchtelte… Ich musste unwillkürlich grinsen. Doch mein Blick wurde immer wieder magisch angezogen von Himura, der sich dann und wann auch neben einen seiner Schüler stellte, um die Bewegungen noch einmal vorzuführen und so lange neben ihm zu bleiben, bis dieser von den Abläufen der Bewegung her mit ihm in völligem Einklang war. Bei Himura wirkte diese einfache Schwertübung mehr als beeindruckend. Hieb auf Hieb wirkte sehr mächtig, stark und exakt wie er vorangegangene. Außerdem um einiges schneller. Aber das war natürlich klar, er war wahrscheinlich ein Meister seines Faches. Ich sah nur ihn. Und fühlte mich zurückversetzt in meinen Traum. Erneut. Wie konnte das sein? Er trug sogar dieselbe Kleidung! Ich fand das nicht mehr nur faszinierend. Auf eine andere, unbewusstere Weise fand ich es sogar beängstigend. Schließlich stellte Himura Paare zusammen, Gegner, die gegenseitig einige leichtere Schläge und Paraden üben sollten. „Das Wichtigste hierbei ist immer die Verteidigung, die eigene Deckung und die der Menschen, die ihr schützen wollt. Der japanische Schwertkampf ist der präziseste und formvollendetste der Welt. Ursprünglich geschaffen, um zu schützen und zu verteidigen, nichts anderes. Dieses Schwert sollte immer nur dienen, Samurai waren Diener ihres Herren. Sie beschützten diesen und sein Lehen. Verwechselt das niemals mit den Methoden der Ninja, deren einziger Sinn und Zweck darin bestand vorsätzlich und aus dem Hinterhalt heraus zu töten. Das Schwert eines Samurai ist ehrenvoll. Es ist ein Teil von euch, von eurer Seele. Ihr tragt es in euch. Vergesst niemals, dass das Gewicht dieser Klinge auf euren Schultern lastet und solltet ihr sie unehrenhaft einsetzen, wird sich diese Klinge gegen euch selbst richten.“ Fasziniert sah ich weiterhin zu und lauschte voller Faszination den Worten des sensei. Niemand hatte bemerkt, dass ein Gruppe von drei jungen Männern sich dem Platz aus anderer Richtung genähert hatte und stehen geblieben war. Einer von ihnen trat nun heraus aus den mittlerweile langen Schatten der Bäume und das Licht brach sich jäh gleißend auf der blanken Schwertklinge, die er bei sich trug. Er hielt das Schwert gesenkt, lauernd. Und Himura war so mit seinen Schülern beschäftigt, dass er ihn nicht kommen sah. Ein eiskalter Hauch schien über die Lichtung zu streichen. Eine noch unbestimmbare, jedoch lähmende Angst ergriff von mir Besitz. Ich wollte rufen, irgendetwas sagen, um Himura auf den Fremden aufmerksam zu machen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte ich, was weiter geschah. „Denkt immer daran, ein Samurai kann es fühlen, wann die Zeit gekommen ist, sein bestes zu geben, vielleicht sogar sein eigenes Leben.“, sagte Himura gerade und nickte einem Studenten aufmunternd zu, der soeben eine gute Parade zustande gebracht hatte, vielleicht um seinen Worten auch ein wenig die Schärfe zu nehmen. „Dann werde ich wohl immer ein Ronin sein, oder was meinst du Himura?“, ertönte eine kalte Stimme über dem Platz. „Denn der einzige Mensch für den ich mein Leben lassen würde bin ich selbst. Ich töte auch, wenn ich es für richtig halte. Dienen ist etwas für Schwächlinge.“ Schlagartig standen alle Studenten still, verharrten in der Bewegung und sogar die Temperatur schien zu sinken – was natürlich nur ein subjektiver Eindruck war. Nach wie vor schickte die nun dunkelrot am Himmel hängende Sonne ihre warmen Strahlen über den Platz – doch sie schienen die Menschen auf ihm nicht zu erreichen, die den Eindruck machten, als seien sie von eisigem Entsetzen umhüllt. Was war nur los auf einmal? Es war doch nur… ein Mann… Mein Blick saugte sich an der hoch gewachsenen Gestalt fest, die nun vor Himura hintrat, die Studenten einfach ignorierte. Auch er trug traditionell japanische Kleidung – im Gegensatz dazu wirkten seine neumodische Brille und der gestylte kurze Schnitt seiner schwarzen Haare absolut unpassend. Das Licht brach sich auf den Gläsern dieser Brille, sodass man seine Augen nicht sehen konnte – aber im Moment verspürte ich auch nicht das Bedürfnis, sie sehen zu wollen. Ich stand langsam auf und wich zurück – etwas, was die Handvoll Zuschauer um mich herum schon längst getan hatte. Auch die Kendo-Schüler waren nun aus ihrer Erstarrung erwacht und traten zurück. Eine unheimliche Spannung lag in der Luft, wie vor einem Unwetter. Ein kaltes Lächeln umspielte die dünnen Lippen des Fremden. Einzig und allein die Reaktion von Himura war überraschend. Er stand einfach nur da, mit dem Rücken zu dem Fremden. Und er wirkte nicht im Mindesten überrascht, ja nicht einmal erschrocken. Nach kurzer Zeit schloss er die Augen. Langsam. Ergeben. Sein Gesicht gezeichnet von tiefster Resignation und Trauer. Langsam drehte er sich herum. „Hast du geglaubt ich würde dich nicht finden, Himura?“, fragte der Fremde nun leise, lauernd. „Hast du wirklich geglaubt, dieses Mal könntest du mir entfliehen? Nein. Niemals. Deine Strafe ist noch lange nicht zu Ende. Ich werde dich IMMER finden. Immer. So sicher, wie die Sonne morgens auf und abends untergeht. Meine Rache ist noch nicht vollendet.“ Ich konnte Himuras Gesicht nicht sehen, da er sich nun umgewandt hatte. Aber allein die Art, auf die er seine Schultern hängen ließ, versetzte mir einen tiefen Stich in der Brust. ‚Kämpfe!’, dachte ich voller Inbrunst. ‚Kämpfe, Himura! Wo ist die Entschlossenheit, die du eben verkörpert hast?’ Ich hatte keine Ahnung WAS da vorging oder was genau der Fremde mit seinen Worten meinte. Aber ich erkannte auch, dass es mir egal war. Es war nicht wichtig. Das, was ich für Himura empfand KONNTE nicht erschüttert werden. Ganz egal was geschah. Und mit leisem Erstaunen wurde ich mir erneut der Tiefe und Heftigkeit meiner Gefühle für den jungen Mann, den ich eigentlich nicht kannte, bewusst. Doch es war nun einmal so. Die Gefühle waren unverleugbar da. Vielleicht war ich nie der Typ Mensch gewesen, der sich so heftig in so kurzer Zeit verlieben konnte, doch dann hatte sich das wohl in den letzten paar Wochen geändert. Meine Hände krampften sich um den Zeichenblock, den ich noch immer an mich gepresst hielt. ‚Kämpfe! Oder lauf weg. So schnell und so weit du kannst. Nur steh nicht einfach so da!’, gellte es in meinen Gedanken. Und ich schloss die Augen, wollte sie verschließen vor dem, was nun folgen mochte. Die Situation war irreal. Was sollte schon passieren? Wahrscheinlich hatte es sich dieser Student (Student?) einfach in den Kopf gesetzt, den sensei herauszufordern. Doch warum schlug mein Herz dann wie wild, als wolle es meinen Brustkorb sprengen? Warum konnte ich kaum atmen? Und warum schien das auch all den anderen Studenten hier ebenso zu ergehen? Es musste mehr dahinter stecken. Es war sehr viel bedeutungsvoller was hier geschah, als es von außen den Anschein hatte. Und die Worte des Fremden schienen dies zu bestätigen. „Bist du bereit? Dieses Leben gehört dir nicht. DU gehörst nicht in diese Welt. Du kannst noch so oft fliehen. Ich werde dich verfolgen bis ans Ende der Welt und aller Zeiten. Und dann werde ich meine Rache endlich vollendet haben." Himura hob den Kopf, erwiderte den Blick seines Gegenübers. Er schien eine Entscheidung getroffen zu haben. „Enishi.“, flüsterte er leise. „Noch ist es nicht soweit. Noch nicht.“ Enishi lachte. „Und du denkst, dass DU noch eine Wahl hättest?“ „Hör zu, du sollst deinen Kampf haben, Enishi. Jedoch nicht jetzt.“ Himura wandte den Kopf und sah mich an. Ich erstarrte. Mein erster Impuls war tatsächlich mich umzudrehen um nachzusehen, wer hinter mir stand und wen er wirklich ansehen mochte. Doch tief in meinem Inneren, in meiner Seele, wusste ich, dass er genau mich ansah. Nur ein kurzer, eindringlicher Blick, dann wandte er wieder Enishi den Kopf zu. „Ich habe noch etwas, das ich erledigen muss.“ „Wie immer.“, erwiderte der Schwarzhaarige lakonisch. Und ohne weiter abzuwarten griff er Himura an. Die Stundenten sogen scharf die Luft ein. Ich war unfähig mich zu rühren. Er war so unglaublich schnell. Doch Himura besaß einzigartige Reflexe. Er zog sein Katana und parierte den mächtigen Hieb so schnell, dass es mit bloßem Auge kaum zu erkennen war. Mit einem markerschütternden Klirren prallten die Klingen aufeinander, gleißend im letzten Licht der blutroten Sonne. Jemand rief etwas. Man solle den Aufseher holen, andere Lehrkräfte. Ich hörte hastige Schritte um mich herum. Und innerhalb weniger Herzschläge stand ich allein auf dem Platz da, allein, mit den zwei Schwertkämpfern, die sich verbissen gegenüberstanden und gegenseitig, Klinge an Klinge, niederzuringen versuchten. Die zwei Begleiter des Schwarzhaarigen wollten in den Kampf eingreifen, doch Enishi schickte sie mit einer unwilligen Kopfbewegung fort. „Verschwindet! Das erledige ich allein.“ Die zwei verschwanden lautlos und ohne ein weiteres Wort in die Schatten. „Madoka.“ Himuras Stimme war ruhig und ohne Furcht, obwohl sie erkennen konnte wie viel Kraft es ihn kosten musste den ungleich muskulöseren Mann auf Distanz zu halten. Seine Arme zitterten leicht. Ich konnte sein Gesicht noch immer nicht sehen. „Ich bin hier.“, hörte ich mich selbst leise antworten. „Geh. Sieh dir das nicht an.“ Vielleicht wollte das ein Teil von mir auch. Der Teil in mir, der die „alte“ Madoka ausmachte, die es bis vor wenigen Wochen noch gegeben hatte und zweifellos noch immer irgendwo in mir gab. Doch die neue Madoka, jene, die Himura Kenshin aufrichtig liebte, einfach weil sie das Gefühl hatte, es nicht anders zu können, einfach weil es so war, weil es IMMER schon so gewesen war, dass sie diesen Mann geliebt hatte, jene neue Madoka war stärker. Sie wollte bleiben. Sie wollte ihn mit ihrer Nähe stärken. „Ich kann nicht.“ Himura antwortete auch nicht mehr. Mit einem Ruck trennten sich die Kombattanten und Enishi zog seine lange Klinge noch im Zurückweichen mit einer schnellen, heftigen Bewegung über Himuras Brust. Der Yukata klaffte auf. Schwer atmend standen die beiden voreinander. Schweiß strömte über ihre Gesichter. Himura, dessen Yukata halb über seine Schulter gerutscht war, zog das lästige, nutzlose Kleidungsstück nun aus, das ihn nur behindert hätte. Enishi folgte ihm mit Blicken und schürzte abfällig die Lippen. „Und noch immer hat der Erleuchtete es anscheinend nicht vorgesehen, dass du den Sieg davonträgst. Denn sonst hätte er dir vielleicht ein wenig mehr Kraft und Muskeln mit auf deinen neuen Lebensweg gegeben. Was meinst du?“ Und mit einer beinahe schon prahlerischen Bewegung riss auch er sich das Oberteil vom Leib. Mit Erschrecken nahm ich wahr, dass Enishi nicht nur rein körperlich größer war als Himura, sondern auch weitaus kräftiger gebaut. Aus der schleichenden Angst in mir wurde flackernde, sengende Panik. „Kenshin…“, flüsterte ich, hörte, wie der Name meinen Lippen entwich, wie er schmeckte, wie er sich anfühlte, wenn ich ihn aussprach. So vertraut. So unendlich vertraut. Himura wirkte nicht beeindruckt und auch nicht eingeschüchtert. Es war, als würden auch sie sich schon ewig kennen und bekämpfen. Und auch wenn ich es noch nicht ganz begreifen konnte: Ihr Gespräch bestätigte diesen Eindruck weiterhin. Eine leichte Schnittwunde zog sich quer über den Brustkorb des sensei, wie ich nun erkennen konnte, als sich die Gegner langsam zu umkreisen begannen. Und schließlich, auf ein lautloses Zeichen hin, begann der Kampf wirklich. Es war wie ein grausamer und doch unglaublich faszinierender Tanz, den die beiden dort vor meinen Augen vollführten. Ich konnte meinen Blick nicht mehr abwenden, selbst wenn ich es jetzt noch gewollt hätte. Die Welt schien zu versinken, es gab sie nicht mehr, sondern nur noch diesen Kampf und mich selbst, die ich wie gelähmt dabeistand und vor Angst um den geliebten Menschen fast den Verstand zu verlieren glaubte. Wusste Himura wie ich fühlte? Konnte er es spüren? Konnte er meine Gebete hören, die ich für ihn innerlich wieder und wieder rezitierte, obwohl ich NIE gebetet hatte und nicht wusste, woher die Worte nun kamen und aus mir herausströmten? ‚Ich bin hier! Ich weiß noch immer nicht, wer du wirklich bist. Aber ich bin bereit dich zu lieben. Ich bin bereit, die Konsequenzen zur tragen. Nur LEBE! Lebe für mich! Bitte!’ Wo der Körper des Feindes muskulös und sehr massig wirkte, so war der Himuras schlank, athletisch und biegsam. Fasziniert ertappte ich mich dabei, wie ich trotz der beständigen Angst um ihn das Spiel der sehr viel subtileren Muskeln unter seiner Haut beobachtete. Der Schweiß glänzte, sein Körper schien zu glühen, und sein langes Haar flog durch die Luft. Feine Schweißperlen flogen und fingen das letzte Licht der sterbenden Sonne ein, wie winzige Edelsteine, für Sekunden in Zeit und Raum eingefroren, scheinbar stillstehend, um dann niederzufallen. Sein Schwert tanzte und sang, als er es durch die Luft wirbeln ließ und mal von der Seite, von hinten oder gar aus dem Sprung von oben angriff, alles sehr schnell und beinahe leichtfüßig, als wäre es für ihn wahrhaftig nichts anderes als ein Tanz, dessen Melodie man nicht hören konnte, und die doch seine Adern zu durchströmen schien. Er umkreiste den Gegner, schien mit ihm zu spielen, doch auch Enishi kämpfte beeindruckend, schien immer genau dort zu sein, wo Himura es nicht erwartete. Als die Sonne endgültig hinter dem Horizont versank und die beiden Körper flach und schwarz vor dem violetten Himmel aufeinander eindrangen, brach sich ein letzter tiefroter Sonnenstrahl in den Augen der Gegner, ließ sie aufblitzen und brennen, dass sie wie zwei nachtschwarze Dämonen erschienen, deren Blicke nur tödlich sein konnten und deren Kampf unweigerlich zum Ende eines der beiden führen musste. Und in diesem einen Moment HATTEN beide Kontrahenten nichts Menschliches mehr an sich. Sie wirkten wahrhaftig dämonisch. Dann drehte sich der Mann namens Enishi um die eigene Achse, wieder atemberaubend schnell und leichtfüßig, trotz seiner ungleich massigeren Statur, und Himura wich der mitgeschwungenen Klinge aus, sah jedoch nicht den Tritt kommen, den der Fremde heimtückisch gleich nachsetzte. Sein Fuß erwischte den jungen sensei von unten und unfairer Weise genau zwischen den Beinen, worauf es Enishi zweifellos auch abgesehen hatte. Mit einem kurzen Aufschrei entwich Himuras Lungen sämtlicher Sauerstoff und er sank in die Knie, krümmte sich vor Schmerz. Er hob schwach die Klinge, um den Schlag abzuwehren. Der nun zweifelsohne von oben auf ihn niedergehen würde, jetzt wo er praktisch schutzlos war. Doch der Schlag erfolgte nicht. Weil ich zwischen ihnen stand. Ich hatte keine Ahnung welcher Teufel mich geritten hatte es zu tun, aber als Himura zu Boden ging schien sich mein Verstand komplett abzuschalten und etwas anderes, größeres, mächtigeres schien von meinem Körper Besitz zu ergreifen, drängte mich vorwärts. Mit einem leisen Aufschrei hatte ich den Zeichenblock fallen gelassen und stürmte zu den beiden Männern, warf mich dazwischen, als Enishi seine Klinge zu einem Schlag hob, der Himura sogar hätte enthaupten können. Ich warf mich in Enishis Schwertarm, verhinderte den Schlag nach vorn und lenkte ihn in eine andere Richtung ab, wobei ich mir einen tiefen Schnitt im Oberarm zuzog – aber den damit einhergehenden Schmerz spürte ich in diesem Augenblick nicht einmal wirklich. Ich schien wie in Trance zu sein. Aber wenn ein winzig kleiner Teil von mir vielleicht bis jetzt noch geglaubt haben mochte, dass dies alles hier nur ein Albtraum, ein Hirngespinst meiner eigenen, verrückten Fantasie war, so wurde ich nun eines besseren belehrt. Der Schmerz WAR da. Aber ich ignorierte ihn verbissen. Enishi knurrte wütend, doch ich brachte meine ganze Kraft und mein Gewicht auf, seinen Schwertarm festzuhalten, und so war es ihm unmöglich den Arm noch einmal zu heben oder mich abzuschütteln, denn ich klammerte mich wie eine Wahnsinnige an ihn. Doch nur so lange, bis ich in seine eiskalten, grauen Augen blickte. Abgrundtiefer Hass und eisige Wut schlugen mir daraus entgegen. Genau wie sein Erscheinen vorhin auf dem Platz hatte nun dieser Blick die Wirkung, mich quasi auf der Stelle vor Entsetzen erstarren zu lassen. Eine riesige Hand schien sich um mein Herz zu schließen und es zusammenzudrücken. Ich wollte schreien, irgendetwas TUN, doch ich konnte nicht. Wie paralysiert stand ich da und so war es Enishi nun ein Leichtes sich aus meiner Umklammerung zu lösen. Er riss sich los und schleuderte mich zu Boden. Ich fiel halb gegen Himura, der sich sogar noch die Mühe machte den Arm auszustrecken, um meinem Sturz die größte Wucht zu nehmen. Dann war die Spitze von Enishis Schwert direkt auf Himuras Gesicht gerichtet. Keiner von uns wagte es sich zu bewegen. Endlose Sekunden vergingen – mir kam es vor wie Stunden. Ich spürte mein Herz rasen und die Wärme des Blutes, das meinen Arm hinab lief. Und ich fühlte die Körperwärme Himuras in meinem Rücken, irreal und doch irgendwie tröstlich in diesem absurden Moment der Todesangst. Ja, der Todesangst. Denn nichts anderes hatte nun viel zu spät und doch sehr umfassend von meinen Gefühlen Besitz ergriffen. Als ich den Kopf wandte und in Himuras Gesicht blickte, da erkannte ich ungläubig, dass er wiederum alles andere als erschrocken oder verängstigt aussah. Resignation und Trauer. Das war alles, was ich in seinem Blick ausmachen konnte. So tief, so allumfassend, dass es mir die Kehle zuschnürte und die Tränen in die Augen trieb. Die eiskalte Hand um meinem Herzen war noch da. Und sie schloss sich unbarmherzig. „Kenshin…“, flüsterte ich erneut. Ich wollte diesen Namen immer wieder aussprechen. Ich wollte niemals wieder einen anderen Namen überhaupt noch in dem Mund nehmen. Ich schmeckte die Süße und Bitterkeit, die mit diesem einen Wort einhergingen, und wollte sie nicht mehr loslassen. Himura sah seinem Tod ins Auge. Doch er schien dies… erwartet zu haben! Das war… einfach absurd. Genau wie diese ganze, verdammte Situation. Warum kämpfte er nicht? Warum wehrte er sich nicht? „Kenshin!“, rief ich verzweifelt, hatte jedoch den Eindruck, dass er mich nicht einmal hörte. Schweigen. Die Spitze von Enishis Klinge zitterte nicht einmal. Dunkelheit hüllte uns ein, wie ein Mantel. Am Waldrand begannen Glühwürmchen zu tanzen. Die letzten Vögel sangen ihr Lied. Mir war zum Heulen zu Mute. Dann, ganz plötzlich, zog der dunkle Schemen vor uns, der Enishi war, sein Schwert zurück, ließ es mit einem scharrenden Geräusch in seiner Scheide verschwinden. „Nun gut, Himura. Ich gebe dir noch ein wenig Zeit. Dieses Mal. Ich weiß zwar nicht, was du dir davon versprichst, denn es wird unweigerlich zu noch mehr Qual und Tränen führen. Aber mir soll das Recht sein. Je mehr du selbst und diejenigen die du liebst leiden, umso größere Genugtuung bedeutet dies für mich. Also leide. Niemand kann dies so gut wie du, Himura. Niemand.“ Und er drehte sich herum, verschmolz mit den Schatten des Waldes. „Leide.“ Seine Worte berührten etwas tief in mir. Und es erschreckte mich. Es war als wäre mit Enishis Verschwinden auch die Unwirklichkeit dieses Kampfes verflogen, denn nun hörten wir eindeutig auch aufgeregte Stimmen und schnelle Schritte, die sich vom Hauptgebäude des Campus aus näherten. Grelle Taschenlampen-Strahlen durchstachen die aufkommende Nacht, vertrieben die Glühwürmchen. Ich versuchte in der Dunkelheit Himuras Gesicht zu sehen. Doch es war nur ein hellerer Schemen zu erkennen, in dem ich mir das Funkeln seiner Augen auch nur einbilden mochte. „Himura, ich…“ Er legte sacht eine Hand über meine Lippen. Ich erschauerte, öffnete überrascht den Mund. So unvermittelt seine Haut an der meinen zu fühlen wühlte mich innerlich auf. Ich zitterte. „Kein Wort über das was geschehen ist, Madoka. Nicht ein Wort.“, flüsterte er leise. Ich verstand nicht. Warum sollte ich dazu schweigen, was passiert war? Die anderen Studenten, seine Schüler, hatten doch auch gesehen, was geschehen war. „Aber…“ „Sag einfach, dass es ein Student war, der mich herausgefordert hat. Nichts anderes.“ Ich starrte in die Dunkelheit vor mich, wo er sitzen musste, wo ich seine Nähe spüren konnte. Mein Herz raste wieder. Diesmal jedoch aus anderen, verwirrenderen Gründen. Als er sich langsam erhob krümmte er sich kurz zusammen, sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Voller Mitgefühl ignorierte ich den eigenen Schmerz, den ich jetzt überdeutlich spüren konnte, genauso wie das Blut, dass meine Kleidung tränkte, und griff einfach zu, ohne nachzudenken, stand auf und stützte ihn. Gedanken konnte ich mir später noch genug über seine Worte machen. Dann waren die ersten Studenten heran. „Meister! Um Himmels willen, seid ihr verletzt?“ „Sensei, was ist passiert?“ „Um Gottes Willen!“ Himura wehrte mit einem schwachen Lächeln sämtliche Hilfeversuche ab. „Es geht mir gut. Nichts Schlimmes.“ Ich stützte ihn weiterhin beharrlich. „Aber was wollte denn dieser Mann von ihnen, sensei?“ Ich erkannte die Stimme des Erstsemestlers wieder, der Himura vorhin gefragt hatte, wann sie denn mit echten Schwertern trainieren würden. „Er hat mich herausgefordert. Das habt ihr doch gesehen. Und mehr gibt es… dazu auch nicht zu sagen.“ Und auch wenn es späterhin bei dieser stark vereinfachten Version der Geschehnisse blieb, so sahen sich die Studenten, Himuras Schüler, die den Fremden mit eigenen Augen gesehen hatten, fortan immer mit vielsagenden Mienen an, wenn die Sprache auf das Thema kam. Das war kein Student ihrer Universität gewesen. Das war nicht einmal wirklich ein Student gewesen. Er hatte jedenfalls nicht wie einer ausgesehen. Da war irgendetwas vorgefallen, was sie nicht verstanden – aber sie respektierten den Wunsch ihres Meisters stillschweigend und blieben bei der Version, dass es lediglich einer der ihren gewesen war, der übereifrig den Meister herausgefordert hatte. Ich für meinen Teil schwieg natürlich auch. Ich tat es für ihn, auch wenn ich nicht genau wusste, wieso eigentlich. Aber ich ahnte, genau wie die anderen, dass da sehr viel mehr dahinter steckte. Nur hatte ich nicht vor die Hände in den Schoß zu legen. Ich wollte Himura bei der nächsten Gelegenheit darauf ansprechen. Ich wollte ihm einfach anbieten, zu reden. Ich wusste nicht, woher ich die Gewissheit nahm, dass er sich mir auch wirklich anvertrauen würde. Vielleicht würde er es ja auch nicht, aber ich hatte das Gefühl, dass sich zwischen uns ein unsichtbares Band befand. Der Blick auf dem Trainingsfeld, den er mir kurz bevor der Kampf mit Enishi begann zugeworfen hatte, hatte mir in dieser Hinsicht Gewissheit verschafft. Da WAR etwas zwischen dem jungen Mann und mir. Unleugbar. Und nicht erst seit dem seltsamen Traum den ich gehabt hatte war mir das klar. Nein, schon früher. Seit ich ihn zum ersten Mal sah. Nur, war das in diesem, oder in einem anderen Leben gewesen? Ich versuchte den Gedanken festzuhalten und zu vertiefen. Er entschlüpfte mir. Vielleicht war es nicht nur so, dass ich Himura eine Aussprache anbieten wollte. Vielleicht brauchte ich selbst Klarheit. Und vielleicht - nein, ganz sicher – würde ich diese nur durch ihn erfahren. Und etwas in mir wusste das. Wie sonst konnte ich mir erklären, dass ich plötzlich so überhaupt nicht mehr schüchtern ihm gegenüber war? Blieb nur die Frage, ob er mich wirklich an sich heranlassen, sich mir öffnen würde. Ich ging an jenem Abend noch einmal allein zurück zum Wald. Meine Wunde war versorgt worden und der Schmerz war auf ein erträgliches Maß, ein dumpfes Pochen, herabgesunken. Ich hatte eine Taschenlampe dabei, aber ich brauchte sie nicht. Denn mittlerweile stand ein Dreiviertel-Mond am Himmel. Meine Augen gewöhnten sich rasch an das Zwielicht. Ich suchte und fand nach kurzer Zeit meinen Zeichenblock wieder, den ich fallengelassen hatte. Flüchtig öffnete ich ihn. Ich weiß selbst nicht genau warum. Doch ich war nicht wirklich überrascht als ich sah, dass das Bild, was ich von Himura gezeichnet hatte, verschwunden war. Um mich herum tanzten die Glühwürmchen in der Nacht. Und ich fühlte mich seltsam berührt und mit einem Mal unendlich traurig ob dieses Anblicks. ********************************************************************************* Hallöchen! Kurzer Nachsatz hierzu dieses Mal: Enishi hat bei mir ABSICHTLICH wieder seine ursprüngliche Haarfarbe. Das war so gewollt. Und ich möchte mich an dieser Stelle auch ganz doll für euer anhaltendes Interesse und die lieben Kommies bedanken^^. Ich freu mich total!^^ Domo arigato! Eure Mado^^x Kapitel 6: Decisions -------------------- "Liebe ist ein geistiger Vorgang, verbunden mit der Geschichte, die wir in uns tragen." Federica de Cesco ********************************** Still und dunkel lag der Wald unter einem wolkenverschleierten Vollmond. Der markante Schatten des Universitätsgebäudes hob sich vor dem noch dunkleren Hintergrund nur dadurch ab, dass hin und wieder das Licht dieses Mondes von einem Fenster aufgefangen und zurückgeworfen wurde, wie kleine, forschende Augen, die in die Nacht spähten. Doch der Wald jenseits des Gebäudes, der sich so weit das Auge reichte über das großflächige Campusgelände zog, war vollkommen schwarz. Nur ein einzelnes, beinahe schon verschwindend schwaches Leuchten drang warm durch die Zweige der Bäume, die eine nicht allzu weit entfernte Lichtung umgaben. Himura Kenshin saß mit verschränkten Beinen, nur mit einer baumwollenen Hakama bekleidet, auf seinem Futon und schrieb etwas in ein in dunkelrotes Seidenpapier geschlagenes Buch. Die Ruhe und der Frieden, die er hier draußen im Wald fand, waren Balsam für seine geschundene Seele. Er hatte daher gebeten in dieser kleinen, bescheidenen Jagdhütte wohnen zu dürfen, während er an dieser Universität dozierte. Man hatte den jungen Japaner schräg angesehen und viel darüber geredet, das wusste er sehr wohl. Doch es war ihm gleich. Sollten sie reden. Sie, die nicht einmal im Entferntesten ahnten, was er erlebt hatte. Trotz des Friedens den er hier zu finden glaubte, hier draußen im Wald, war es doch so, dass die Vergangenheit ihn auch hier immer wieder einholte. Es war völlig gleich wo er sich befand. Fortlaufen nutzte ohnehin nichts mehr. Denn das, was er getan hatte, trug er in sich und für immer mit sich durch all die Leben, die ein grausames Schicksal ihm noch vorbehalten mochte. Eine einzelne Träne rann über seine Wange. Sie verharrte für eine winzige Sekunde an einer Stelle, wo seine Haut unebener schien. Im milden Licht der papiernen Laterne konnte man nun einen leichten Schatten auf seiner linken Wange ausmachen, der die Form einer kreuzförmigen Narbe besaß. Die Träne rann weiter, verharrte an dem schmalen Kinn um dann, funkelnd, in seinen Schoß zu fallen. Es war wie jede Nacht, seit er hier war. Es war genau wie jede einzelne, schwere, schwarze Nacht aller Leben, die er bislang gelebt hatte. Auch in dieser Nacht war er von Träumen geplagt worden. Schöne Träume von geliebten Menschen, die mehr wehtaten, als es Albträume jemals vermochten. Und wieder war er stöhnend, schreiend aufgewacht, in Schweiß gebadet. Sein nackter Oberkörper glänzte im Licht der Laterne, die er immer brennen ließ, denn aus der Dunkelheit mochten die Träume plötzlich nur allzu reale Schatten zu ihm schicken. Seine Brust hob und senkte sich rasch, sein Herzschlag raste. Er schloss die Augen. Und wie jede Nacht begann er seine Träume und Gedanken niederzuschreiben. Der einzige Trost in all den Jahren und all diesen Leben, die er zu leben hatte. Er war so müde. So unendlich müde. Warum durfte der Wanderer noch immer nicht ruhen? War noch immer zu viel von einem Hitokiri in ihm? Hatte er nicht in all seinen Leben genug Menschen, genug Seelen gerettet und ins Licht geleitet, dass es seine Schuld sühnte? Die Antwort war einfach und stand ihm jedes Mal, wenn er aufs Neue in ein Leben trat, in leuchtenden Lettern vor seinen brennenden Augen. Nein. Es würde niemals enden und auch niemals vorbei sein. Was er getan hatte ließ sich nicht vergelten. Niemals. All diese Menschen, denen er den Tod gebracht hatte. Doch unter all diesen Morden wog einer am schwersten. Nein, es waren zwei. „Tomoe… Kaoru…“, flüsterte er rau. Der Schmerz wurde für einen Moment übermächtig. Er führte die rechte Hand an seine linke Wange und seine schlanken Finger zeichneten langsam das Kreuz, die Narbe nach. Beide Frauen hatte er über alles geliebt. Doch beide Frauen hatte er durch die eigene Hand verloren. Die eine erstochen, die andere mutwillig angesteckt mit einer unheilbaren Krankheit. Das erste hätte er vielleicht nie verhindern können. Sie hatte sich im Kampf einfach dazwischen geworfen um ihn zu schützen. In Wahrheit hatte es den Tod für Tomoe bedeutet – und vielleicht hatte sie dies auch gewusst. Aber Kaoru… Weitere Tränen traten lautlos aus seinen schmerzerfüllten, dunkelblauen Augen. Kaoru… Er hätte nein sagen sollen. Er hätte sie in jener einen, endlosen Nacht einfach nicht lieben dürfen. Auch und gerade da sie es so gewollt hatte. Er hätte für sie beide denken müssen, er hätte sie für ihrer beider Sohn schützen müssen. Für Kenji. ‚Großer Gott!’, dachte Kenshin. ‚Wenn ich auch so vieles falsch gemacht habe während meines Daseins, ist denn dieses eine, wunderbare Leben, das wir geschaffen haben, nicht ausreichend um zu sühnen?’ Kenjis Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Sein wunderbares Lächeln, als er noch klein gewesen war. Himura verbarg das Gesicht in den Händen und weinte lautlos, seine Schultern bebten. Niemand war da, der ihn hören konnte. Und kein Gott schien das Leid dieses Menschen überhaupt zu ahnen. Es war wie jede Nacht. Es war wie in jedem Leben. Er kam nicht wirklich jedes Mal neu zur Welt, wuchs von einem Säugling zu einem Mann heran. Nein. Es war anders. Seltsamer. Es war… nein. Er konnte es nicht wirklich beschreiben. Seine Seele, sein Bewusstsein lebten einfach immer fort, wurden in einen anderen Menschen hineinversetzt, in gewisser Weise übertragen. In dem Moment WURDE dieser andere Mensch dann zu ihm, Kenshin Himura. Er war immer noch derselbe, wie vor vielen, vielen Jahren, vor über zweihundert Jahren. Und er hatte in dieser Zeit mehr als sechs Leben gelebt. Er hatte irgendwann aufgehört zu zählen. Immer wieder von neuem, jedoch immer wieder in eine andere Zeit verschlagen, erlebte er dieselbe, tragische Geschichte. Verdammt dazu, jedes weitere Leben mit der Erinnerung an die vorangegangenen zu verbringen. Wer oder was auch immer dafür sorgte, dass er all diese Qualen immer wieder aufs Neue zu erleben hatte, wusste er nicht. Er wusste nur, dass es kein Entrinnen gab. Wenn er sich das Leben nahm kehrte sein Bewusstsein in einer anderen Gestalt wieder und immer wieder. Und er traf sie. In jedem dieser Leben. Tomoe und Kaoru. Sie waren es niemals wirklich, genauso wenig wie er es jemals wirklich, zumindest in Gestalt, war, der da ruhelos durch immer wieder ein neues Zeitalter wanderte. Aber er erkannte ganz zweifellos ihren Charakter, ihr Art, ihre Sanftmut und gleichzeitige Stärke sofort, wenn er sie vor sich hatte. Und er konnte nichts gegen die Gefühle tun, die ihn immer wieder dazu zwangen, diese Frauen auch in jedem weiteren Leben bedingungslos zu lieben, zu schützen – und zu verlieren. Wieder und wieder. Durch Krankheit, Unfall oder andere schreckliche Ereignisse … Er verlor sie. Und meist trug er auch wieder die Schuld an ihrem Tod. Wieder und wieder starb der geliebte Mensch in seinen Armen. Wieder und wieder musste er miterleben, wie seine Welt in Trümmern lag, gerade wenn er anfing, sich in der neuen Welt und Zeit zurechtzufinden. Und er war gezwungen zu altern und zu leben. Die ganze Zeit über in der grausamen Gewissheit, so viele Menschen getötet und auch seine Geliebte auf dem Gewissen zu haben. Bis er ein weiteres Mal in ein anderes Leben gerufen wurde. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gab. Er hatte gehofft, dass es in diesem Leben anders sein würde. Er war zum ersten Mal fortgezogen aus seiner Heimat. Zum ersten Mal seit er WIRKLICH gelebt hatte. Und er war nun so weit wie möglich entfernt von dem Land, dass er seine Heimat nannte. In diesem kühlen, reservierten und altehrwürdigen Land namens England hatte er gehofft, nun endlich Ruhe zu finden, vielleicht irgendwann alt werden und sterben zu können, um niemals mehr zurückkehren zu müssen. Doch anscheinend sollte dem nicht so sein. Auch dieses Mal nicht. Denn da war sie…. Es war anders als die anderen Male zuvor. Dieses Mädchen… Sie rief in ihm dieselben Gefühle wach, wie es seinerzeit Tomoe oder später Kaoru getan hatten. Doch er konnte sie dennoch nicht vergleichen. Irgendetwas… war anders als sonst. Intensiver. Fremder. Aufregender. Wo es vorher so war, dass er Tomoe oder Kaoru eindeutig in seinem Gegenüber ausmachen konnte, so war es dieses Mal so, dass diese junge Frau, Madoka Sakurai, Eigenschaften von BEIDEN in sich vereinte. Oder auch KEINE deren Eigenschaften wirklich besaß. Sie war… es war seltsam, aber sie war wer sie war, ganz sie selbst und niemandes Geist oder Bewusstsein aus der Vergangenheit schien in ihr verborgen. Dennoch verspürte er eine solch tiefe Verbundenheit zu ihr, dass es ihn erstaunte. Ungleich heftiger und tiefer waren seine Gefühle, stärker als in jedem anderen Leben zuvor. Und doch konnte er sie nicht an sich heranlassen… Sie faszinierte ihn. Er hatte in ihren Augen das Verständnis gesehen, ein Verständnis für sein Leid, von dem sie selbst wahrscheinlich noch nicht einmal wirklich wusste, dass sie es empfand. Er hatte diese… Zuneigung gesehen, die eindeutig da war, obwohl sie ihn nie zuvor gekannt hatte. Zuvor war es anders gewesen. Wenn er in einer Frau Tomoes oder Kaorus Gegenwart gespürt hatte, so war es auch umgekehrt so gewesen, dass diese Frau auch ihn zweifelsfrei wieder erkannte. Es war nicht wirklich so, dass sie sich dann bei ihren Namen nannten, aber da war ein gegenseitiges (Ein-)Verständnis, das ohne Zweifel bewies, dass sie nicht nur in diesem einen Leben füreinander bestimmt waren. Doch nun… Dieses Mädchen, Madoka, verwirrte ihn. Auf der einen Seite verspürte er das Verlangen (sehr stark) sie zu beschützen, vielleicht auch sie zu lieben. Auf der anderen Seite war sie eine völlig Fremde für ihn. Ein Widerhall der Liebe und Gefühle, die ihm diese Beiden wichtigsten Frauen in seinem Leben, Tomoe und Kaoru, entgegengebracht hatten, fand er auch in ihr – oder glaubte dies zumindest. Aber da war auch sehr viel von einem Mädchen, einer jungen Frau, die er nicht kannte, von Madoka Sakurai. Sie war eindeutig mehr sie selbst als jede Frau, deren Körper zuvor den Geist seiner früheren Geliebten beherbergt hatte. Und das irritierte ihn. Liebte er sie oder wollte er in ihr nur etwas sehen, was in Wahrheit gar nicht da war? Wohin würde das führen? Madoka… Er dachte daran wie sie lächelte. Und er dachte an ihre Ungeschicktheit auf der Treppe im Hof. Er musste lächeln, obwohl seine Wangen noch immer feucht waren und die Tränen sein langes, dunkelrot schimmerndes Haar benetzten. Er dachte an die Tiefe ihrer Gefühle, die sich deutlich in ihrem Blick widerspiegelten, als Enishi ihn zum Kampf herausgefordert hatte. Und sein Körper, sein Geist und seine Seele hatten darauf geantwortet. Schon vom ersten Tag an. Nein. Kein Zweifel, sie hatte Eigenschaften, die er schon an Tomoe und auch an Kaoru sehr geschätzt und geliebt hatte. Aber hieß das denn auch, dass sie gekommen war, um ein weiteres Mal für ihn, nein, DURCH ihn zu sterben? Hieß das, dass sie wirklich DIEJENDIGE war, die ihm in diesem weiteren Leben das Herz aus dem Leib reißen würde? Auf den Punkt gebracht: Würde er diesen wundervollen Menschen töten? Nur weil es ein grausames Schicksal so wollte? Er hatte gehofft und gebetet. In jedem einzelnen Leben seit seinem Tod in Kaorus Schoß vor so langer Zeit. Er hatte jedes Mal gebetet, dass man ihm die Frau die er liebte nicht nehmen würde, dass er an ihrer Seite alt werden durfte. Jedes Mal. Doch seine Gebete waren nie erhört worden. Das brachte ihn nun dazu eine tief verwurzelte Angst zu empfinden, vor dem was kam und vor seinen eigenen Gefühlen. Er konnte nicht verhindern, dass er sich verliebte. Das war wie ein ungeschriebenes Gesetz und einfach nicht zu ändern. Er und Tomoe, sowie er und Kaoru waren für immer auch durch die Zeiten miteinander verbunden und füreinander bestimmt. Und wenn dieses Mädchen hier, in dieser Zeit, an einem Ort so weit entfernt von Japan, nun Eigenschaften von diesen beiden aufwies... Das Schicksal, das ihn quälte, KONNTE gar nicht anders als dafür zu sorgen, dass er Madoka liebte. Vom ersten Moment an. Ungleich heftiger als er es je empfunden hatte. Sie war... anders. Dies faszinierte ihn und zog ihn magisch an. Er wollte sie aber auch schützen vor dem grausamen Schicksal, von dem er glaubte, dass es unvermeidlich war, wenn er mit ihr zusammen sein würde. Er konnte nicht ohne sie, aber er wollte auch nicht mit ihr sein. Er DURFTE nicht. In einem schwachen Moment hatte er sie zum Schwerttraining eingeladen. Doch die Ereignisse dort, vor allem die Heftigkeit ihrer Reaktion und ihre offenen Gefühle für ihn, hatten ihm gezeigt, dass er keinen Schritt weitergehen durfte, wenn er nicht riskieren wollte, dass sie starb. Den Frauen die er liebte hatte er niemals mehr als Leid gebracht. Er wollte sie nicht da mit hineinziehen. Sein Blick fiel auf das Bild, das er neben dem Futon auf den Boden gelegt hatte. Es zeigte ihn. Sein verzweifeltes, erschrockenes Gesicht nachdem er vor den Augen Tomoes gemordet hatte, jedoch auch viel mehr das, was in seinem Inneren vorgegangen war. Und den blutigen Regen… Er war später noch einmal zurückgegangen zum Trainingsplatz. Er wusste nicht einmal genau warum. Und da hatte er ihren Zeichenblock gefunden. Es war Madokas Bild. Und er begann sich zu fragen, ob sie nicht schon zu weit gegangen, ihm schon zu nahe war, als dass er sie noch schützen konnte… Aber er hatte seine Entscheidung getroffen. Es tat unendlich weh. Aber er würde ihr von nun an aus dem Weg gehen. Er glaubte sie bereits zu sehr zu lieben, um ihr jemals, und sei es nur mit Worten, wehtun zu können. Vielleicht war es sogar besser, wenn er England wieder verließ. Draußen schrie ein Käuzchen in der Nacht. Die Blätter an den mächtigen, alten Bäumen rauschten im aufkommenden Nachtwind. Die Kerze in der Laterne flackerte leicht, denn Himura hatte einen Fensterladen offen gelassen. Der Futon, den er sich angeschafft hatte, lag neben der Feuerstelle in der Mitte des Raumes. Es wurde dunkler, als die Kerze langsam herunterbrannte. Doch immer noch wanderte die Hand des jungen Samurai unablässig mit der Feder über das Papier vor sich. Er schrieb und glitt in die Vergangenheit zurück. Er schrieb von früher, von seinem Leben als Wanderer. Er schrieb von den Menschen, denen er begegnet und die für ihn da gewesen waren. Sanosuke, Yahiko, Megumi, Misao… Die Erinnerung an sie, verblasst in Zeit und Gedanken, trat wieder lebendig vor seine Augen, wenn er über sie schrieb. Er hatte das Gefühl, etwas von ihnen für die Ewigkeit im Leben festzuhalten, wenn er all das aufschrieb, was geschehen war, damals zur Meiji-Zeit. Auch die Zeiten in denen er Attentäter im Dienste der Regierung gewesen war hatte er nicht ausgelassen – beinhalteten sie doch den ersten, wirklich wichtigen Menschen in seinem Leben. Tomoe. Er schrieb, bis seine Finger wund waren, jede Nacht. Und alles endete immer wieder bei einem einzigen Gedanken, der seinem Geist endlich ein wenig Ruhe vergönnte. Bei dem Gedanken an seinen Sohn. An Kenji. Denn auch wenn das Schicksal womöglich der Meinung war, dieser Mensch hätte es niemals verdient Ruhe und Frieden zu finden, dieser Samurai hätte zu vielen Leid gebracht, so war er selbst doch fest davon überzeugt, dass DIES auf jeden Fall etwas gewesen war, dass er richtig gemacht hatte. Und irgendwo, auf dieser großen, schnelllebigen und unablässig in Wandlung begriffenen Welt lebte vielleicht ein Nachfahre von ihm in dem Frieden, den er niemals haben würde. Das tröstete ihn. Und während ein blutroter Schimmer am Horizont über dem Wald im Osten einen neuen, nicht enden wollenden Tag ankündigte, schlief er endlich, endlich ein. *** Ich schleuderte den Pinsel verzweifelt in eine Ecke des Raumes. Die Palette warf ich gleich hinterdrein und schließlich stieß ich die Staffelei vor mir auch noch um. Außer einem mörderischen Lärm zu veranstalten erreichte ich damit jedoch nichts. Ich stand erneut über den (nun etwas größeren) Trümmern einer Staffelei in Gladys und meinem Zimmer und erneut rollten mir die Tränen über die Wangen, die ich gar nicht weinen wollte. Nicht mehr. Dieser IDIOT! Alles verschwamm vor meinen Augen. Ich konnte es nicht verhindern. Fing ich einmal damit an zu heulen, dann schoss es aus mir hervor wie aus einem unerschöpflichen Brunnen. Ich warf mich auf den buntbetuchten Sessel, zog sie Beine an den Körper und vergrub mein Gesicht an den Knien. Es war ganz offensichtlich, dass Himura mir nach jenem Zwischenfall mit dem geheimnisvollen Schwertkämpfer aus dem Weg ging. Warum, war mir jedoch völlig schleierhaft. Ich war auch wütend auf mich selbst, weil ich mittlerweile glaubte, dass ich zu aufdringlich ihm gegenüber gewesen sei. Konnte ich mich denn so getäuscht haben? Seine Blicke, sein warmes Lächeln, die Einladung zum Training… Das alles MUSSTE doch etwas bedeuten! Ganz zu schweigen von den Träumen, die mich nun immer öfter heimsuchten und immerzu von ihm handelten. Es tat weh zu sehen, dass er geradezu vor mir FLOH, wenn ich einen Raum betrat. Sicher, er tat dann so, als hätte er furchtbar wichtige Dinge zu erledigen – und womöglich war dem auch so - aber ich glaubte es besser zu wissen. Denn wo er zuvor meinen Blick geradezu aufgefangen hatte, so wich er ihm jetzt aus. Das war nicht normal. Was war nur los? Und vor allem, was war schon wieder mit mir SELBST los? Ich KANNTE diesen jungen Mann nicht wirklich. Wieder und wieder ging mir dies durch den Kopf. Und doch schnitt es mir wie mit einem Messer ins Herz, wenn er sich wegdrehte, kam ich ihm auf einem Gang entgegen. Warum? Warum nur reichte er mir erst seine Hand und schlug die meine dann beiseite? Warum nur? Ich hatte keine Ahnung. Aber er ließ mich einfach nicht los. Ich hatte versucht zu vergessen. Wochen lang. Es war mir nicht möglich gewesen. Mittlerweile war der Herbst mit Macht ins Land gekommen und die Luft war so kühl wie die Stimmung in meinem Herzen. Mir war, als würde nicht nur die Welt draußen welk und leblos werden und sich auf eisige Zeiten vorbereiten, sondern als würde auch in mir selbst ganz langsam aber beständig etwas absterben, wenn ich nicht bald mit Himura sprechen konnte. Aber mit beträchtlichem Zorn auf mich selbst stellte ich auch fest, dass ich dazu bislang zu feige gewesen war. Ich hatte einfach nur Angst aus seinem Mund vielleicht das zu hören, was ich insgeheim schon die ganze Zeit über befürchtete. Dass ich ihn nicht interessierte. Dass ich ihm völlig gleich war. Etwas krampfte sich in mir zusammen und ich schluchzte leise. Verdammt… Jetzt, wo ich mir endlich im Klaren über meine Gefühle gewesen zu sein glaubte… Was sollte ich nur tun? In den ersten Wochen nach dem Vorfall mit Enishi hatte es eine Zeit lang sogar so ausgesehen, als wenn Himura vorzeitig die Universität aus was auch immer für Gründen verlassen wollte. Viele munkelten, dass dies an diesem fremden Herausforderer gelegen haben mochte. Sie lachten über Himura und sagten ihm Feigheit nach, was mich maßlos ärgerte. Aus irgendeinem Grund war er dann doch noch geblieben. Aber er war mir von nun an so fern, dass ich bald daran glaubte, ich hätte mir diese innere Verbundenheit zwischen uns überhaupt von Anfang an nur eingebildet. Doch warum dann diese Träume? Versuchten sie mir etwas zu sagen, etwas mitzuteilen? Ich hob den Kopf von meinen Knien. Nein, so konnte das nicht weitergehen. Ich glaubte zu wissen, wo er wohnte. Nicht hier im Gebäude. In der Hütte im Wald, welche die Studenten manchmal für Gelage benutzten. Ich würde dorthin gehen und ich würde mit ihm reden. Jetzt. Was war denn schon dabei? Ich musste ihm ja nicht gleich mit meinen tiefsten Gefühlen kommen. Ich versuchte mir Mut zu machen. Ich konnte ja meine Zeichenutensilien mitnehmen und vielleicht vertrieb das dann meine Nervosität ein wenig. Außerdem war das ein gutes Alibi um hinaus in die Natur zu gehen. Das leuchtend bunte Herbstlaub war das einzige, was momentan ein wenig Farbe in mein Leben und meine Malerei brachte. Ich musste raus hier! Als ich aufsprang und meine Sachen zusammensuchte hatte ich plötzlich dass Gefühl, die Wände um mich herum würden mich einengen und erdrücken. Es war so schrecklich dunkel zu dieser Jahreszeit, vor allem hier drinnen. Ich stürmte aus dem Raum als Gladys gerade hereinkommen wollte. Mit hochgezogenen Brauen blickte meine Kommilitonin mir nach, als ich mit Riesensätzen die Treppe hinunterzustürmen begann. ************************************* Gewidmet dem einen, wunderbaren Menschen, der das hier niemals Lesen wird. Und meinen lieben und treuen Lesern. *umarm* Was würd ich ohne euch machen..? Eure Madoka Kapitel 7: Shadow of doubt and way into light --------------------------------------------- Erstaunlicherweise hielt sich das Wetter heute noch ganz gut, als würde es zum letzten Mal vor dem herannahenden Winter noch alle Register ziehen wollen. Ehrlich gesagt interessierte mich das jedoch nur am Rande. Ich war so voll und ganz mit mir selbst und meinen Gedanken und Gefühlen beschäftigt, dass ich kaum merkte wohin genau mich zunächst meine Füße trugen. Dieser Wald… er hatte etwas Seltsames an sich. Beschützend und zugleich bedrohlich wirkte er, gerade auch jetzt, während die immer heftiger werdenden Windböen die alten knorrigen Äste seufzen und die Blätter wispern und raunen ließen. Als ich in die Schatten des Waldes eindrang war mir, als würde ich eine andere Welt betreten. Seltsam. Noch nie war mir dieser Gedanke gekommen, denn ich war schon unzählige Male hier gewesen. Nun, es stimmte wohl. Andere Jahreszeiten veränderten nicht nur das Angesicht eines Waldes, sondern vielleicht auch… sein Wesen. Was dachte ich da bloß? Merkwürdig. Ich raffte die Zeichenutensilien fester an mich und beschleunigte meine Schritte. Ich wusste nun wieder wo ich war. Ich war schon ziemlich weit gelaufen. Ohne es gemerkt zu haben. Und das war eigentlich NOCH seltsamer. Ich blieb stehen. Mein Blick wanderte hinauf zu den hohen Wipfeln der Bäume über mir, die einen buntfarbigen Baldachin bildeten, der hier und da schon aufgerissen war, da die Blätter bereits zu fallen begonnen hatten. Es war bewölkt. Aber es roch nicht nach Regen. Ich schüttelte den Kopf und ging weiter. Ich benahm mich schon wie ein witterndes Tier. Und genau als wäre ich ein solches warnte mich plötzlich mein Instinkt. Irgendetwas… beunruhigte mich. Ich trat an einen Baum, schloss die Augen und lauschte, bemühte mich, meinen Atem flach zu halten. Ich spürte es nun ziemlich deutlich. Jemand war hier. Ich war nicht mehr allein. Und irgendetwas an dieser Präsenz ließ mich frösteln und mit einem Mal sogar so etwas wie Furcht empfinden. Mir wurde klar, WIE weit ich mich schon vom Universitätsgebäude entfernt hatte. Ich wusste zwar, wo ich hingehen wollte, denn an jenem Ort war ich schon oft gewesen um meine Gedanken zu klären und zu zeichnen. Aber mir war nie aufgefallen, dass ich dort wirklich so gut wie IMMER allein gewesen war. WENN etwas passierte, würde nie jemand da sein, um… Schluss! ‚Du einfältiges, ängstliches kleines Mädchen!’, schalt ich mich selbst. ‚Hör auf dir etwas einzubilden! Wahrscheinlich ist alles was hier sonst noch auf dem Campus herumstreunt höchstens so etwas wie Wild. Närrin.’ Ich ging also weiter, unterdrückte die immer stärker werdende Furcht in meinem Herzen. Dann hörte ich eine Stimme. Jemand lachte. Dunkel. Böse. Und sehr kalt. Sekunden später trat ein Mann aus den Schatten des Dickichts in meinen Weg. Ich sog scharf die Luft ein, trat unwillkürlich einen Schritt zurück, den Zeichenblock wie einen unnützen Schild an mich pressend. Ich fühlte, wie mein Gesicht auch noch das letzte bisschen Farbe verlor. „Enishi...“, flüsterte ich tonlos. Meine Lippen zitterten. Ich kannte diesen Mann nicht wirklich. Und doch war alles, was ich in diesem Moment empfand, lähmende Angst. Alle meine Sinne schrieen mir zu fortzulaufen so schnell ich konnte. Doch ich rührte mich nicht. Wie ein Kaninchen beim Anblick des Wolfes, die Augen weit aufgerissen, verharrte ich. Wieder dieses Lachen. Enishi legte Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand ans Kinn. „Ich bin gerührt. Du hast dir meinen Namen gemerkt, kleines Mädchen.“ Etwas, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass ich es besaß (wahrscheinlich Mut – ich hielt es jedoch für eine Art bizarre Todessehnsucht…) brandete in mir herauf. Ich spürte plötzlich so etwas wie… Trotz. Und Zorn. Dieser Mann hatte Himura verletzt. Wie sehr ich ihn hasste… „Ich heiße Madoka!“ Wie kam er dazu, mich kleines Mädchen zu nennen? Die Wut in mir half tatsächlich, das Zittern aus meiner Stimme für einen Moment zu vertreiben. „Was willst du?!“ Enishi hob leicht eine seiner schwarzen, kühn geschwungenen Augenbrauen. Er war gutaussehend. Doch, das war er. Enishi war ein attraktiver, stattlicher junger Mann. Sein Haar glänzte ebenmäßig schwarz und seine Augen blitzten klar, wie seltene, jedoch eiskalte Basaltkiesel, tief und dunkel. Er ließ makellose Zähne blitzen, als er nun die Lippen zu einem Lächeln verzog, das jedoch nicht seine Augen erreichte. Er ignorierte meine Frage. Natürlich. „Du bist ziemlich weit entfernt vom Haus, nicht wahr? Was treibt dich hierher? Nur die Lust am Malen oder… vielleicht Angst? Vor der Wahrheit?“ Ich verstand kein bisschen, von was er da sprach. Die Wut in mir machte jedoch plötzlicher Betroffenheit Platz. Was… sollte das? „Sag mir was du willst und geh. Ich… möchte allein sein.“, sagte ich nun, schon nicht mehr ganz so sicher. „Dein Mut ist bewundernswert. Aber ich führe ihn auf Unwissenheit zurück. Unwissenheit darüber, mit wem du sprichst, Mädchen.“ Als ich zurückweichen wollte war er plötzlich so schnell neben mir, dass ich die Bewegung nicht einmal wirklich gesehen hatte! Es erschreckte mich bis ins Mark als plötzlich seine kalten, schlanken Finger mein Kinn umfassten und meinen Kopf zu ihm herum zwangen. Er sah mir tief in die Augen. Gefühllos. Kalt. Ironisch. „Ist es wirklich das, was du willst? Allein sein? Oder willst du zu IHM? Zu Battosai Himura?“ Mit dem Ausdruck „Battosai“ konnte ich überhaupt nichts anfangen. Dieses Wort ließ jedoch… einen eisigen Schauer über meinen Rücken laufen. Sehr wohl verstand ich den Namen, den er genannt hatte, brachte jedoch keinen Ton heraus. Enishis Finger drückten tief in meine Wangen. Es tat weh. „Ist da nicht etwas in dir, das dich warnt, Madoka-chan?“ Seine Stimme hatte nun etwas… Lauerndes, Schleichendes an sich. Heimtückisch wie Gift. „Eine kleine, leise, hartnäckige Stimme, die dir sagt, dass irgendetwas an diesem Mann, der dich so fasziniert, nicht stimmt? Dass er irgendetwas… verbirgt? Und dies vielleicht mit gutem Recht?“ Oh, wie gut er es verstand im Herzen Zweifel aufkommen zu lassen. Zu meiner eigenen ohnmächtigen Enttäuschung spürte ich, wie seine falsch wirkenden Worte Nahrung in meinem innersten Selbst fanden und auf ein Echo stießen. Ich begann mich in seiner Umklammerung zu winden. Er hielt mich fest, zwang mich weiter, ihn anzusehen. Sein Gesicht war nur Millimeter von meinem entfernt und doch schien selbst sein Atem kalt zu sein. Wie der Atem… die Anwesenheit eines Geistes. Ich schloss die Augen. Eine Träne der Hilflosigkeit fand ihren Weg unter meinen Lidern hervor. Sie schien auf meiner Wange zu erstarren ob des eisigen Hauchs, der mich nun zu umgeben und einzuhüllen schien. „Himura Battosai. Der Attentäter. Mörder von Hunderten, wenn nicht Tausenden.“ Ich zuckte zusammen, öffnete reflexartig auch wieder die Augen, starrte ihn ungläubig an. „Was…?“, brachte ich mühsam heraus. Und endlich, endlich ließ er mich los. Ich taumelte zurück, keuchte, als ich plötzlich wieder zu Atem kam. Seine Finger hatten rote Abdrücke auf meinen Wangen hinterlassen. „Von was zum Teufel REDEST du da?“, verlangte ich voller Angst und zugleich dunkler Ahnung, jedoch nicht ohne die mir eigene, verdammte Neugierde zu wissen. Etwas in mir wandt sich bei dem Gedanken daran, dass etwas Wahres an meinen Träumen sein konnte. Und dennoch… Wenn dieser Mann etwas wusste… Er KANNTE Himura. Ich hatte es gesehen, als sie sich gegenüber gestanden hatten. Ich wollte die Wahrheit wissen. Auch, wenn ich Angst vor ihr hatte. „Du weißt genau, was ich meine. Du hast es gesehen. Das weiß ich.“, antwortete er ganz leise und ruhig. Wieder so eine merkwürdige, rätselhafte Aussage. Wie konnte er von meinen Träumen wissen? War er nicht von dieser Welt? Aber wer (oder was) war er dann? Ich wich zurück, bis ich die kühle, knorrige Rinde eines Baumes im Rücken spürte. Seltsamerweise gab mir das Kraft. Ein kleines bisschen Realität in dieser albtraumhaften Szene in meinem verrückten Leben. „Frag ihn, Madoka. Frage ihn, ob die Stimmen verstummt sind. Frage ihn, ob er nicht immer noch Nacht für Nacht seine „Frau“ (er betonte dieses Wort sehr merkwürdig) in seinen Armen sterben sieht. Ob ihr Blut immer noch an seinen Händen klebt! Frage ihn wenn du den Mut dazu hast. Aber wenn die Angst in dir zu groß ist, dann flieh. Lauf, so weit du nur kannst und vergiss diesen Mann. Seine Buße für das, was er getan hat, muss um JEDEN Preis anhalten und darf niemals enden.“ „N… nein…“, hauchte ich kraftlos. Meine Geddanken rasten. Himuras Frau? Ihr Blut an seinen Händen? Was bedeutete das alles nur? Etwas in mir zog sich schmerzhaft zusammen bei Enishis Worten. „Oh doch, Madoka. Himura ist böse. Er ist ein eiskalter Mörder. Du hast es gesehen! Du hast den Regen aus Blut gesehen! Verschließe dich nicht davor! Höre auf deine innere Stimme die dir selbst auch sagt: Flieh! Und versuche niemals wieder ihm zu begegnen.“ „Ich… Nein…“, ich weinte mittlerweile wieder. Doch ich merkte es nicht einmal. „Das kann… nicht sein. Unmöglich… Du lügst!“ „So…?“, Enishi verschränkte die Arme vor der mächtigen Brust. „Ist das so. Nun denn. Ich meine es nur gut mit dir. Du wirst es herausfinden. Du wirst die Wahrheit erfahren. Und dann wirst du dich der Frage stellen müssen, ob du wirklich imstande bist, einen Mörder zu lieben und damit seine Schuld auch zu der deinen zu machen!“ Er fuhr herum und war ebenso lautlos und schnell wieder im Halbdunkel des Waldes verschwunden, wie er aufgetaucht war. Als hätte es ihn niemals gegeben. Nur der Wind raunte leise in den Baumkronen über mir. Ich war innerlich wie zu Eis erstarrt. Es war… sehr merkwürdig. Ganz entgegen der Worte, die ich Enishi entgegengeschleudert hatte, glaubte ich seltsamerweise in diesem Moment jedes Wort von dem, was er gesagt hatte. Er hatte nicht nur Zweifel gesät. Er hatte Gewissheit hervorgerufen. Eine dunkle, böse Gewissheit, dass an seinen Worten und somit auch an meinen Träumen viel mehr Wahres dran war, als mir lieb sein konnte. Eigentlich war die Entscheidung die daraus resultierte sehr einfach. Wenn all das nun auch meine Überzeugung war, dann sollte ich Himura wirklich meiden. Für immer. Nur… Warum tat es dann so weh? Ich sah sein Gesicht vor mir. Himuras Gesicht. Seine sanften, blauen Augen, sein trauriges Lächeln. Was hatte Enishi gesagt? Er tat Buße? In welcher Form? Dass er es wahrhaftig bereits tat war unübersehbar ob seiner Trauer, die man deutlich wie eine Aura um ihn herum wahrnehmen konnte. Himura litt. Ganz egal, was in seiner Vergangenheit gewesen war, jetzt und hier litt er Höllenqualen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass dieser Mann, der Himura heute war, jemals etwas Böses tun konnte. Und dieser Gedanke und auch die Neugier, SEINE Version der Dinge zu erfahren, brachte mich dazu, meinen Entschluss Himura zur Rede zu stellen nur noch fester ins Auge zu fassen. Ein kleines, grimmiges Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Mir war klar, dass Enishi es alles andere als „gut“ mit mir meinte, wie er es ausgedrückt hatte. Er war mir von Anfang an nicht geheuer vorgekommen. Was auch immer Enishi mit seinen dunklen Eröffnungen hatte provozieren wollen – es war nicht aufgegangen. Ich hatte für einen Augenblick geschwankt (und vielleicht würde ich wieder schwanken, das wusste ich natürlich nicht), aber im Augenblick war ich umso entschlossener nun endlich Licht ins Dunkel zu bringen. Enishi… DER würde sich wundern. ‚Idiot!’, dachte ich wütend. Dass er es überhaupt geschafft hatte die Tiefe meiner Gefühle für Himura ins Wanken zu bringen ärgerte mich maßlos. Aber… was dachte ich denn da überhaupt schon wieder… Gut, ich mochte ja so fühlen. Aber Himura war keinesfalls dazu verpflichtet mir Rede und Antwort zu stehen. Wahrscheinlich würde er mich auslachen. Oder fortschicken. Oder beides… Was sagte mir denn, dass ihm ÜBERHAUPT etwas an einem Gespräch mit mir lag? Oder gar an mir? Himuras Frau… Wieder dieser Schmerz tief in meiner Brust. Ich war mir sicher: Niemand hier an der Universität wusste, dass der junge Japaner verheiratet war. Wenn Enishi Recht hatte… Wo war sie dann? Und WER war sie? Warum sollte Himura ihr Blut vergossen haben? Vielleicht war es Enishi nicht gelungen, mich von meinem Entschluss abzubringen. Dennoch hatte ich plötzlich Angst Himura gegenüberzutreten. Enishi hatte einen dunklen Keim gesät, der tatsächlich in mir Wurzeln geschlagen hatte, ob ich nun wollte oder nicht. Unsinn. Ich musste jetzt wirklich einmal zu dem stehen, was ich mir vorgenommen hatte. Wenn ich nicht wenigstens versuchte mit Himura zu reden, würde ich für immer diesen Zweifel in mir tragen. Kein Zustand, den ich aufrechterhalten wollte. Es war nicht mehr weit bis zum Bach. Ich hörte ihn schon nach ein paar weiteren dutzend Schritten murmeln. Wenn ich seinem Verlauf zurück folgte, dann musste ich zu jener Lichtung kommen, auf der die alte Jagdhütte lag, in welcher Himura Quartier bezogen hatte. Während ich zurückging wurden meine Schritte immer langsamer. Mein Gott, wie ich Enishi hasste! Jetzt noch mehr als vorher! Wie ich mich selbst verabscheute! Zweifel. Angst. Verzweifelt seufzend verdrehte ich die Augen. Es half nichts. Es gab nur einen Weg, meine rasenden Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Ich steuerte das Ufer des Baches an und ließ mich auf einer riesigen Baumwurzel nieder. Ich öffnete den Zeichenblock. Weiß und jungfräulich lag die Seite vor mir auf meinen Knien. Und doch sah ich bereits das Bild, dass sie wiedergab, vor mir. Ich brauchte es nur hervorzulocken, herauszuarbeiten. Wie ein Bildhauer sein Werk aus einem Stein herausarbeitet. Aber es war bereits da. Und während meine Hand über das Papier glitt verschwamm mein Blick. Ich begann erneut und vollkommen hilflos zu weinen. Denn ich wusste, ganz egal was oder wer Himura nun wirklich war, ich liebte ihn schon zu stark, um mich gegen die tiefe Sehnsucht nach ihm wehren zu können. *** Himura Kenshin stand an dem kleinen Bach, der klar und leise vor sich hin murmelnd seine Hütte umfloss. Er liebte es einfach die Schuhe auszuziehen und in das kalte Wasser zu steigen. Es erfrischte ihn nicht nur rein körperlich. Es klärte auch seine Gedanken. Im Sommer badete er auch in dem kühlen Nass. Allerdings war es dafür nun bereits zu kalt. Er legte, im Wasser stehend, den Kopf in den Nacken. Der Himmel, der die Lichtung überspannte, war mit Wolken bedeckt. Allerdings sah es nicht nach Regen aus. Eine Ahnung des herannahenden Winters lag in der Luft. Aber heute wirkte das Wetter noch einmal versöhnlich. Er bückte sich, tauchte die aneinander gelegten Hände in das Wasser und schöpfte es sich ins Gesicht, während er sich wieder aufrichtete. Es war wie ein kleiner Schock, der durch alle seine Sinne jagte. Er lächelte, während er den Kopf zurücklegte, sein langes Haar über die Schulter zurückwarf und das sanfte Perlen der Tropfen auf seiner Haut spürte. Es prickelte und tat sehr gut. Es war in diesem Augenblick etwas Reales in dieser Welt voller Albträume, die sein Leben ausmachten… Tropfen, wie kleine Edelsteine, benetzten sein langes, kupferfarbenes Haar, umspielten einzelne Strähnen, fingen das Licht des vielleicht letzten angenehmen Tages im Jahr auf und warfen es zurück. Dann ruckte sein langer, schlanker Hals herum. Er hatte etwas gehört. Etwas… Seltsam. Es klang, als würde jemand weinen. Es schien aus dem Wald hinter ihm zu kommen. Er stieg aus dem Wasser und zog seine Schuhe wieder an. Neugierig und auch ein wenig beunruhigt folgte er dem leisen Seufzen und Klagen, dass den Geräuschen eines Herbstwaldes nicht unähnlich war. Was erzählten sich die Menschen dieses Landes noch für seltsame Sagen? Ein versunkenes Königreich, in welchem alle gleich waren, auf weißer Magie basierend errichtet? Ein alter Zauberer, der von einer Nymphe in einem Baum eingeschlossen worden war? Geschichten von mächtigen Hexen, Flüchen und Intrigen? War es vielleicht die klagende Stimme Merlins, die er vernahm? Er blieb stehen und musste beinahe über sich selbst lachen. Dieses Land barg interessante Geschichten. Aber das sollte ihn keinesfalls zu solch albernem Irrglauben verleiten, kam er doch aus einem Land, das die Mutter aller Dämonengeschichten zu sein schien. Zudem hatte er wahrhaftig genug mit seinen inneren Dämonen zu kämpfen, um sich nun auch noch Gedanken über mittelalterliche Geister zu machen. Er ging weiter. Wer auch immer dort weinte war aus Fleisch und Blut. Vielleicht brauchte er Hilfe? Er erreichte eine Stelle, wo der Wald etwas vom Bachlauf zurückwich. Dort, im Schatten einer uralten Eiche, saß jemand. Als er sich behutsam von hinten näher an die Gestalt heranschlich konnte er erkennen, dass es eine junge Frau war, die… Er stockte mitten im Schritt. „Madoka…“ Die Gefühle, die in ihm aufbrandeten waren unbeschreiblich. Alles auf einmal empfand er. Freude, Liebe, unendlich tiefen Schmerz und eine beinahe qualvolle Sehnsucht. Sein Entschluss, ihr aus dem Weg zu gehen kam ihm in den Sinn. Er sollte machen, dass er hier weg kam. Dann sah er, wie ihre Schultern unter nie gekannter oder erwarteter Pein bebten. Sie weinte! Die kehligen, hilflosen Laute riefen eine Gänsehaut bei ihm hervor. Er begann zu zittern. Warum weinte sie? Warum war sie hier, ganz allein? Sie hielt den Kopf geneigt, als würde sie etwas auf ihrem Schoß betrachten. Dann sah er die gleichmäßige Bewegung ihres rechten Armes und wusste, dass sie zeichnete. Er schlug alles in den Wind. Er war nicht mehr fähig klar und rational zu denken. Um ihrer selbst willen sollte er gehen, solange sie ihn noch nicht bemerkt hatte. Doch seine Neugier siegte. Und auch die Beunruhigung ob ihrer Trauer. Was veranlasste eine so junge Frau wie so, so abgrundtief traurig zu sein? So trat er unendlich behutsam hinter sie. Er beugte sich vor, um über ihre Schulter einen Blick auf das Bild zu werfen, das sie zeichnete. Und es wunderte ihn nicht, nicht wirklich, dass er mit einem Mal in einen Spiegel zu blicken schien, der sein eigenes, trauriges, müdes Gesicht wiedergab… *** Ich hatte alles um mich herum vergessen. Tatsächlich gab es nur noch mich, meine Trauer und die Zeichnung vor mir. Von ihm. Natürlich. Warum waren mir seine Züge nur so unendlich vertraut? Warum war das Bedürfnis ihn zu berühren so stark? Wieso schien ich all diese Empfindungen zu kennen? Dieser Schmerz… So vertraut. Ebenso wie die Sehnsucht. Ich hielt inne und meine Finger glitten langsam, zärtlich, über sein Gesicht, seine Lippen. Er schien mich anzusehen. Sein Blick ging direkt durch mich hindurch. „Warum….“, flüsterte ich unter neuerlichen Tränen. „Warum muss ich dich lieben? Sag es mir… Wer BIST du nur! Und wer… bin ich?“ Dann… spürte ich etwas. Es war ganz ähnlich wie das Gefühl, dass ich schon vorhin gehabt hatte, bevor Enishi erschien. Aber die Qualität dieses Gefühls war eine ganz andere. Ich war nicht allein. Aber dieses Mal jagte mir die Anwesenheit des anderen keine Angst ein. Im Gegenteil… Die kleinen Haare in meinem Nacken stellten sich auf. Eine sehr leise, ruhige und gefasste Stimme sagte direkt neben meinem Ohr: „Das ist ein… eine sehr gute Zeichnung…“ Ich schloss die Augen. Der Ausdruck auf meinem Gesicht mochte schwer zu deuten sein. Gequält vielleicht. Vielleicht auch resignierend – schicksalsergeben. Eine letzte Träne lief über meine Wange. Ich spürte, wie sie sich ihren Weg suchte, genauso wie ich seinen warmen Atem auf der Haut meines Nackens spürte. Er war ganz nah. So nah… Es war mir gar nicht peinlich, dass er mich beim Zeichnen dieses Motivs entdeckt hatte, dem einzigen Motiv, das für mich noch existierte zu dieser Zeit. Meine Hand, die den Stift hielt, zitterte unmerklich. „Madoka….“ Wenn er meinen Namen sagte, wurde mir ganz warm. Ich fühlte, wie sich mein Puls- und Herzschlag beschleunigten. „Warum weinst du?“, leise, beinahe sanft. Ich konnte nicht antworten. In diesem zeitlosen Augenblick war mir völlig egal, wer oder was Kenshin nun war. Er war hier. Bei mir. Nur das zählte wirklich. Die Berührung seiner Hand auf der Schulter war wie ein Hauch und doch warm und beschützend. Er zog mich zurück. Mein Rücken lag nun an seiner Brust. Ich lehnte mich an, legte den Kopf zurück, sodass er an seinem Hals zum Ruhen kam, schloss die Augen. Er legte den Arm um mich. Seine Hand fand meine. Unsere Finger verflochten sich. Es war… so natürlich. Es wirkte richtig. Es war, als hätte ich nie etwas anderes getan als in seinen Armen zu liegen. Irritierend vertraut. Und doch war es neu, aufregend, und ungleich intensiver, als alles, was ich jemals empfunden hatte. Wir sagten nichts. Lange Zeit saßen wir einfach nur so da. Der Tag dunkelte, die letzten Glühwürmchen tanzten über dem Bach. Das kühle, silberne Licht einer bleichen Mondsichel stach durch die Wolken, glitt über das Wasser. Der Zweifel, den Enishi in mir zu einer trügerischen Gewissheit hatte werden lassen, war verschwunden. Nichts war mehr wirklich wichtig. Wir hatten alles hinter uns gelassen. Zeit hatte keine Bedeutung mehr für uns. Ich war, wo ich sein sollte, wohin ich gehörte und immer schon gehört hatte. Der regelmäßige Schlag seines Herzens war ganz nah an meinem. Ich atmete seinen Duft ein. Ganz leicht nach Honig. Und ich weinte nicht mehr. Irgendwann, Stunden später, von denen ich nicht einmal gemerkt hatte, dass sie verstrichen waren, bewegte er sich leicht. „Es wird kühl.“, flüsterte er in mein Ohr. „Lass uns gehen.“ Er half mir auf. Ich raffte meine Sachen zusammen und folgte ihm durch die beinahe vollkommene Dunkelheit zwischen den Bäumen, in der er sich mit beinahe traumwandlerischer Sicherheit zurechtfand. Er hielt meine Hand umfasst. Ich hatte keine Angst. Wir erreichten die Lichtung, auf welcher die Jagdhütte stand. Und als er die drei überwucherten Stufen zu der Tür hinaufstieg war es nur allzu natürlich, dass ich alles hinter mir ließ und ihm auch dorthin folgte. ****** close your eyes let me touch you now let me give you something that is real close the door leave your fears behind let me give you what you’re giving me you are the only thing that makes me want to live at all when I am with you there’s no reason to pretend when I am with you I feel flames again just put me inside you I would never ever leave just put me inside you I would never ever leave you Kapitel 8: Eternity within us ----------------------------- Dunkelheit hüllte mich ein, als ich die Hütte betrat. Doch es war eine seltsam samtene Dunkelheit, eine Dunkelheit, die mich nicht schreckte, sondern auf seltsame Weise zu trösten schien. Kenshin hatte meine Hand losgelassen, die Tür hinter uns geschlossen und hantierte nun irgendwo vor mir in dem Zwielicht. Ich hörte etwas leise klirren. Dann war plötzlich Licht da, das die Schatten zurücktrieb. Er hatte ein Holzscheit angezündet und legte es nun zu den anderen in der Feuerstelle. Diese befand sich praktisch mitten im Raum – was für europäische Verhältnisse recht ungewöhnlich war. Als die kleine Flamme begann um sich zu greifen und mehr Nahrung in dem umgebenen Holz zu finden, wurde es nicht nur heller, sondern auch gleich merklich wärmer in dem Raum, den ich erst jetzt richtig in Augenschein nehmen konnte. Was ich sah war… schlicht, fremdartig und doch auf seine Weise wunderschön. Was Himura aus dieser kleinen Jagdhütte gemacht hatte konnte man nicht anders als faszinierend bezeichnen. Da waren zwar noch immer die alten, schon längst nachgedunkelten Holzbalken und Wände, die dem ganzen ein wahrhaft uriges und englisches Aussehen verliehen, doch wie zauberhaft war das, was der junge Japaner aus diesem Zimmer gemacht hatte! Da hingen lange Stoffbahnen an den Wänden zwischen Fenstern, die vereinzelt mit dezent erdfarbenen Tüchern verhüllt waren. Die papiernen Stoffbahnen zeigten alte japanische Schriftzeichen in unendlicher Schönheit, formvollendet. Kühn geschwungene Striche und Kreise, miteinander verbunden und geheimnisvoll. Sie erzählten mir von Dingen, die ich jetzt noch nicht verstand und doch bereits zu spüren ahnte. Sie zeigten auch Bilder. Faszinierende, wunderschön historische Malereien japanischer Landschaften, sparsam in ihren Farben und doch unglaublich authentisch. Mein Blick verlor sich in ihnen und mein Geist schweifte ab. Ich WAR dort, an auf jenem Hügel, von dem aus man den schneebedeckten Gipfel des Fuji-san sehen konnte. Ich war auch dort, an dem kleinen Bach, dessen kühles Nass im Sonnenlicht glitzerte und aus dessen Fluten ein Koi aufsprang, getaucht in schillerndes Licht. Voll Staunen und kindlicher Faszination wandte ich den Kopf. Da gab es einen Paravent, der den Raum dezent in zwei Bereiche teilte, ebenfalls bespannt mit diesem wundervoll durchscheinenden Papier und bemalt in klassischer, japanischer Tradition. Die Herdstelle konnte noch nicht lange inmitten des Raumes sein, denn an der Wand sah ich einen Kamin, der diesen Zweck eigentlich übernehmen konnte. Doch Himura legte wohl Wert auf heimische Tradition und hatte auch diesen mit Stoff verhüllt. Die Feuerstelle inmitten des Raumes schien er sich selbst geschaffen zu haben. Von der Decke hing eine Kette, an welcher eine gusseiserne Kanne leicht hin und her schwankte. Mein Blick glitt weiter. An einer Wand, die keine Fenster hatte, gab es ein einfaches Regal aus hellem Holz, auf welchem sich zahlreiche Bücher befanden. Darunter waren nicht nur japanische Werke, sondern, wie ich sehr wohl bemerkte, auch Klassiker der englischen Literatur. In einer Ecke dieses einzigen Raumes der Hütte hatte er seinen Futon zusammengerollt gelagert. Wenn man zur Tür herein kam befand sich gleich links unter einem der Fenster ein niedriger Tisch, an dem man bequem knien konnte. Er war übersät mit Pergamenten. Ein Tuschstein und mehrere Pinsel zeugten davon, dass Himura nicht nur die Schwertkunst zu beherrschen schien. Interessiert trat ich näher und begutachtete die kühn geschwungenen Schriftzeichen, die einfach nur wunderschön waren, wie kleine Gemälde, Kunstwerke in sich. Alles was ich in dieser Jagdhütte vorfand erzählte mir eine Geschichte, eine Geschichte, die lange Zeit zurück lag und doch immer noch kein Ende gefunden hatte. Eine Geschichte, der ich bereit war zu lauschen, wenn Himura es denn zulassen würde. Alles hier…war mir so vertraut, fühlte sich so richtig und gut an. Es war gut, dass ich hier war. Es war der richtige Weg. Mein Herz schlug bis zum Hals und doch fand ich hier einmal mehr die Ruhe, die ich gebraucht und auch schon in Himura selbst gefunden zu haben glaubte. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Es roch nach Harz, fremdartigen Kräutern und … nach ihm. Ich hörte wieder dieses leise Klirren, das ich schon beim Eintreten vernommen hatte, und als ich mich herumdrehte konnte ich sehen, dass Himura sich an dem Kessel über dem Feuer zu schaffen gemacht hatte. Ich hatte mit einem Mal einen ganz trockenen Hals und Schwierigkeiten überhaupt zu schlucken. Was sollte ich sagen? Wie sollte ich beginnen? Mein Kopf war wie leergefegt, mein Herz voller Gefühle, die ich ihm darlegen wollte und wozu mir dennoch die Worte fehlten. Ich war dort, wo ich sein sollte. Und doch war ich nervös. Er war es, der mich nervös machte. Mit jeder einzelnen dieser kleinen, geschmeidigen Gesten und Bewegungen seinen drahtigen, schlanken Körpers, der mir so vertraut zu sein schien. Die Art, wie er den Kopf drehte, wie sein Haar über seine Schultern floss, wundervoll kupfern schimmernd im Licht des wärmenden Feuers, die Art wie er sich fließend aus der knienden Position erhob, wie er vorsichtig aus einem Eimer neben der Tür Wasser in den Tiegel schöpfte. Alles ganz ruhig, nicht übereilt und sehr präzise, gleichzeitig aber auch mit einer Leichtigkeit und Anmut, die mich bis ins Innerste erschütterte und mich zum Zittern brachte. Ich beobachtete, wie das Licht sich in seinen Augen spiegelte, als er mir nun den erwartungsvollen Blick zuwandte. Fasziniert fiel mein eigener Blick auch auf seine Lippen, sanft geschwungen, leicht geöffnet. Da war ein Gefühl in mir, das ungleich tiefer ging als bloßes Verlangen. Dieses Gefühl, dass ich den Menschen endlich gefunden hatte, der mich vervollständigen würde, war beinahe übermächtig geworden. Ob das nun daher rührte, weil ich immer noch diese irritierende Vertrautheit zwischen uns spürte oder einfach daher, weil ich ein momentanes, übermächtiges Verlangen danach verspürte, seinen Körper an meinem zu fühlen wusste ich nicht. Vielleicht von allem etwas. Aber es ging sehr tief. Tiefer, als ich das je für möglich gehalten hätte. Tatsache war, dass ich einfach kein Wort herausbrachte. Himura lächelte. Es war dieses wunderschöne, seltsam traurige Lächeln, das er immer zeigte. Und das mir so bekannt war, als wäre es ein Teil von mir selbst. Es tat weh. Seltsam. „Möchtest du auch Tee?“ Ich war verwirrt. Verwirrt drüber, dass ein Gespräch so leicht beginnen konnte. Die ersten gesprochenen Worte seit wir das Ufer des Baches verlassen hatten fügten sich wunderbar in die Ruhe und Harmonie dieses Augenblicks und dieses Raumes ein. Es wirkte leicht und unbeschwert, nahm mir endlich auch diese faszinierte Befangenheit, in welche ich seit dem Eintreten in die Hütte gefallen war. Ich nickte leicht, erwiderte sein Lächeln scheu. „Sehr gern.“ Er bedeutete mir, mich auf eines der Sitzkissen vor dem Feuer zu setzen. Ich ließ mich nieder und sah vollkommen gefesselt zu, wie er, mir gegenübersitzend, kleine Schälchen von einem Tablett neben sich hervorholte. Mit einem kleinen Stößel zerstampfte er Blätter von Kräutern und schon jetzt begann sich ein fremdartiger und zugleich würziger Duft in dem Raum auszubreiten. Sein langes Haar fiel ihm über die Augen, als er konzentriert arbeitete. Plötzlich lachte er. Es traf mich wie ein Pfeil und fasziniert hing mein Blick an der Reihe makellos weißer Zähle, die seine geöffneten Lippen preisgaben. Feine Grübchen zeigten sich in seinen Wangen. Etwas zog sich beinahe schmerzhaft in mir zusammen – deutlich unterhalb des Bauchnabels. Ich wurde unwillkürlich rot. Ohne aufzusehen und immer noch mit diesem leisen Lachen in der Stimme sagte er: „Ich bin nicht besonders gut in diesen Dingen. Die Teezeremonie. Ich hatte weiß Gott lange genug Zeit es zu lernen, und doch habe ich….“ Er brach plötzlich ab, sein Blick streifte mich über das Feuer hinweg. Er wirkte… zerstreut. Und ein kleines Bisschen erschrocken. „Ich meine… Ich habe es jedenfalls schon oft durchgeführt und immer wieder vergesse ich Details. Wenn mein Meister das sehen würde….“ Er verstummte erneut. Und dieses Mal war der Ausdruck seiner Augen eindeutig melancholisch. Er senkte wieder das Haupt und arbeitete weiter. Ich schwieg und sah zu. Ich hatte natürlich schon von der traditionellen japanischen Teezeremonie gehört, jedoch noch nie eine gesehen oder gar einer beigewohnt. Er übergoss die zerstampften Kräuter später mit dem mittlerweile aufgebrühten Wasser aus der Kanne. Die winzig kleinen Schälchen verströmten sofort einen aromatischen, belebenden Duft, als die klare Flüssigkeit sie füllte. Er erhob sich formvollendet, kam mit dem Tablett um das Feuer herum und ließ sich neben mir nieder, das Tablett zwischen uns. Er hob eines der Schälchen. „Ich werde erstmal probieren… Wer weiß, was ich dir da vorsetzen will… Es schmeckt manchmal….“, wieder dieses leise Lachen. “Es schmeckt manchmal einfach grausam bitter.“ Ich lächelte zurück, befangen von der Schönheit und Einfachheit dieses Augenblicks. Er führte das Schälchen an die Lippen und kostete. Er hielt dabei die Augen mit den erstaunlich langen Wimpern geschlossen, runzelte nachdenklich die Stirn. Doch dann erhellte sich seine Miene. Er blickte auf. „Ich denke, das kann man trinken.“ Er drehte das Schälchen nun drei Mal in seinen Händen, zwei Mal in die eine und ein Mal in die Gegenrichtung. Dann beugte er sich vor, hielt es mir hin. Es hatte etwas unglaublich Intimes an sich, dass er mich aus demselben Schälchen trinken lassen wollte, aus dem schon er gekostet hatte. Ich hob die Hände. Unsere Finger berührten sich, doch er zog seine Hände nicht zurück. Es war, als würde er es mir einflößen wollen, wie man es vielleicht bei einem kleinen Kind tun würde. Und ich ließ es zu, wollte es zulassen. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich spürte die Wärme seiner Finger, sie waren meinem Gesicht so nah. Betört von seiner Nähe und dem Kräuterduft des Tees zitterte ich. Ich wollte die Schale an meine Lippen führen, so wie er es getan hatte. Er folgte der Bewegung behutsam. Aber dann verhielt ich mitten in der Bewegung. Ich hatte etwas gesehen, das meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Konzentriert sah ich genauer hin, meine Augen wurden schmal. Tatsächlich. Da war… etwas auf seiner Wange. Der Schatten einer kreuzförmigen Narbe auf seiner linken Wange. Etwas wie ein kalter Hauch aus weit zurückliegender Vergangenheit schien mich zu streifen, meine Glieder verkrampften sich, ich fror plötzlich. Wieso war mir diese Narbe nie aufgefallen? Oder hatte ich einfach nur nie darauf geachtet? Ich hatte… ein ganz merkwürdiges, seltsames Gefühl. Ich sollte WISSEN, was es mit dieser Narbe auf sich hatte. Irgendetwas sagte mir, dass ich es wissen musste. Dieselbe Stimme, die mir immer wieder zuflüsterte, dass ich Himura kennen würde. Es war komplett unmöglich, nach wie vor. Aber… Merkwürdig. Es… verwirrte mich. Er bemerkte natürlich, dass ich ihn ansah. Er schien auch meine innere Unruhe zu spüren. Ein klein wenig wirkte sein Blick nun alarmiert. Aber dann schien er zu merken, WAS ich so irritiert ansah. Und eine unglaubliche Veränderung ging mit ihm vor sich. Von einem Moment zum anderen wurde aus dem jungen Mann, dem japanischen Referendar, der eine Studentin zu sich zum Tee eingeladen hatte und der über seine eigene Ungeschicklichkeit bei der Durchführung dieser altehrwürdigen Zeremonie gelacht hatte, innerhalb von Sekunden wurde aus ihm ein gramgebeugter Mann, dem man das unendliche Leid, das er durchmachen musste auch ansah. Seine Schultern sanken herab, er wirkte verzweifelt, niedergeschlagen und entsetzlich allein. Die Maske fiel. Und mit ihr die gesamte Fassade dessen, was ich mein bisheriges Leben genannt hatte. Es traf mich wie ein Hammerschlag. Ich starrte in seine tiefblauen Augen, sah die Narbe an. Sie blutete. Ich sah den Regen aus Blut, der um mich herum niederging. Und ich roch es wieder. Jenen Duft der weißen Blüten eines Pflaumenbaumes… Und dann… wusste ich es plötzlich. Alles. Unser ganzes Leben. Die Vergangenheit. Seine und auch meine… Ein Teil meiner Seele schrie gepeinigt auf, wollte dies alles nicht wissen. Der Teil, der mich, Madoka, ausmachte. Der einzige Teil, der wirklich ICH war und in dieser Welt und Zeit lebte und nicht in irgendeiner Vergangenheit. Doch da war auch etwas anderes in mir, das nun mit Macht hervorbrach, die Erinnerung an ein anderes Leben, das ich gelebt hatte. Oder das ein Teil von mir gelebt hatte. Es war zu viel. Bilder und Szenen zuckten an meinen entsetzt aufgerissenen inneren Augen vorbei, Szenen die ich kannte und doch auch nicht kannte. Alles was ich wirklich hatte wissen und doch niemals hatte hören wollen. Und da war so viel Blut. Immer wieder so unendlich viel Blut… Und eine Liebe die tiefer ging als alles, was ich jemals empfunden hatte. Ich schrie gepeinigt auf, als das Schwert in mein Herz drang und meine Seele zerrissen wurde. Ich fiel. Schnee. Um mich herum war alles mit Schnee bedeckt. Ich konnte meinen eigenen, stockenden Atem als weißen Raureif vor meinem Gesicht aufsteigen sehen, bis er versagte. Sengender Schmerz. Unendliche Trauer. Immer wiederkehrende Liebe. Und ich sah noch so vieles mehr. Alles innerhalb von wenigen, unendlich langsamen, harten und vor allem lauten Herzschlägen, die wie ein zeremonieller Gong in meinen Ohren dröhnten. Ich sah mich in seinen Armen liegen, sah, wie er langsam den Kopf schüttelte. Ich weinte. Ich wollte alles mit ihm teilen. Immer. Seine Liebe und auch seinen Schmerz. Ich wollte SEIN sein. Für immer. Ich sah, wie er nachgab und mich liebte, wie er mich noch nie zuvor geliebt hatte. Und es war zugleich wie ein zweiter Schwertstoß tief hinein in mein geschundenes Herz. Erneut zerriss es mich und mein ganzes Leben, als er in meinen Armen starb. Um uns herum fielen hunderte, tausende von sanft rosafarbenen Kirschblütenblättern nieder. Sie bedeckten uns wie Schnee… Dann war es vorbei. Keuchend saß ich da, neben den nun niedriger hochschlagenden Flammen der Herdstelle, die Hände ineinander verkrampft, die Fingernägel ins eigene Fleisch gegraben, blutend und in Schweiß gebadet. Ich starrte vor mir auf das Tablett mit den kleinen Schalen, vermied es krampfhaft aufzusehen. Ich zitterte. Mein Gott. Enishi…. hatte Recht gehabt. Und auch wieder nicht. Dieser Mann vor mir, er hatte gemordet, ja. Doch was er durchlitt war MEHR als nur die Hölle. Wie war das möglich? All das? Es lag schon so lange Zeit zurück, das fühlte ich. Wieso wusste ich das alles? Wieso war er mir nur so vertraut? Und wieso hatte ich plötzlich Angst vor mir selbst? Ich hasste mich dafür, doch sie war da. Eindeutig. Diese Angst vor mir – aber auch vor ihm. Vor ihm… Ich sah auf. Ganz langsam. Sein Gesicht war sehr blass. Aber auch ganz ruhig. Gefasst. Er schien zu ahnen, was in mir vorging, wenn er auch nicht wissen konnte, wie tief ich nun schon in seine Gedanken und in unsere Vergangenheit vorgedrungen war. UNSERE Vergangenheit? Ich zuckte vor diesem Gedanken zurück. Nein. Ich war MADOKA. Ich war HIER. Ich KANNTE diesen Mann nicht! Mein Atem beschleunigte sich. Doch bevor mich Panik in schwarzen Wogen überrollen konnte, sagte er ganz leise und sehr ruhig: „Lass mich dir eine Geschichte erzählen, Madoka. Eine Geschichte, die ich in dieser Form noch nie zuvor jemandem erzählt habe. Ich weiß nicht, warum gerade du mir den Eindruck vermittelst, dir dies erzählen zu können. Ich kann dir wahrscheinlich auch viele Fragen die du hast nicht beantworten. Aber wenn du möchtest, dann erzähle ich dir meine Geschichte. Die Geschichte eines Schwertkämpfers zur Meiji-Zeit. Die Geschichte… eines Mörders.“ Ich saß da wie versteinert, mit weit aufgerissenen Augen. Doch was ich schon beim Eintreten in die Hütte gedacht hatte kam nun wieder stärker in mir zum Vorschein. Doch. Ich wollte sie hören, diese Geschichte, die mir der junge Japaner erzählen wollte und die mir jeder einzelne Gegenstand hier bereits in stummen Worten zu vermitteln versuchte. Und erst dann würde ich meine Entscheidung treffen. Während ich nun seiner wunderbar weichen, sanften und immerzu traurigen Stimme lauschte, Zeugin, seiner unglaublichen und tragischen Vergangenheit wurde, wurde dieses Echo in mir, diese innere Stimme, die mir schon bei unserer allerersten Begegnung gesagt hatte, dass ich ihn kennen würde, immer lauter. Ich konnte es nicht leugnen. Ich glaubte nicht an Wiedergeburt oder so etwas. Aber… da war etwas in mir, was mich in diesem Punkt nun doch schwanken ließ. Wie sonst sollte es möglich sein, dass ich viele Dinge bereits wusste, BEVOR er sie aussprach? Meine Angst wurde wieder und gegen meinen Willen größer. Er erzählte von seinen Zieheltern, die vor seinen Augen ermordet wurden. Er berichtete von seinem Meister, der ihm den eigenen, unverwechselbaren Schwertkampfstil beigebracht hatte. Und von seiner Zeit als Attentäter für die Regierung, als Auftragsmörder. Er hatte geglaubt Gutes zu tun. Doch der Tod war nie etwas Gutes und das Blut klebte bis heute an seinen Händen. Er erzählte von seiner ersten jungen Frau, Tomoe, die ihn hatte umbringen wollen, weil er ihren Verlobten getötet hatte. Er führte auch aus, dass sie es nicht gekonnt hatte und sie sich ineinander verliebt hatten. Und dass er selbst diese Liebe vernichtet hatte. „Heute weiß ich, dass ich nichts hätte tun können. Sie wollte mich schützen. Doch Nacht für Nacht frage ich mich, ob ich, wenn ich schneller reagiert hätte, nicht den Schwertstreich hätte umlenken können. Alles wäre anders geworden. So aber… sehe ich noch immer ihr Blut im Schnee, spüre die Wärme ihres Körpers in meinen Armen schwinden.“ Er erzählte mir von der kreuzförmigen Narbe, die er seitdem immer mit sich trug und die nicht hatte heilen können. Er führte aus, dass er ein Leben als Vagabund begonnen hatte nach den kriegerischen Auseinandersetzungen zu Beginn der Meiji-Restauration, in welcher Vertreter der herkömmlichen Regierung unter dem Shogunat gegen die kaisertreuen Soldaten gekämpft hatten. „Ich trug auch weiterhin ein Schwert. Doch ich trug es nur noch, um diejenigen zu beschützen, die mir wichtig waren. Ein Schwert mit verkehrter Klinge. Das Sakabatou.“ Er erzählte mir nun von seinem Leben als Wanderer, von seinen Freunden, die fortan alles für ihn bedeuteten. Er war nicht mehr allein und wurde so akzeptiert, wie er war. Dass er dies seiner Meinung nach nie verdient hatte war überhaupt nie wichtig gewesen für diese Menschen. Kaoru hieß sie, die zweite Frau in seinem Leben. Mit ihr hatte er einen Sohn. Kenji. Himura berichtete von seiner Krankheit und von der Liebe seiner Frau, die sogar dazu führte, diese Krankheit mit ihm zu teilen. Ja. Ich wusste es. Es war die Wahrheit. Denn es war das, was ich gesehen hatte. Was ich wie am eigenen Leib hatte spüren können. Und doch schmerzten seine Worte immer noch so sehr, dass es mir die Kehle zuschnürte und ich glaubte, nicht mehr atmen zu können. Dies hatte Enishi also gemeint, als er von Himuras Frau gesprochen hatte. Oder er hatte BEIDE gemeint, Tomoe UND Kaoru. Es war schlussendlich auch gleich. Was dies in letzter Konsequenz über Enishi aussagte verdrängte ich in diesem Moment noch. Über ihn konnte ich mir später noch Gedanken machen. Die Geschichte endete damit, dass Himura ausgezogen war, einen Krieg zu führen, der nicht sein eigener war. Sein bester Freund brachte ihn letztendlich zu seiner Frau zurück. „Als ich in ihren Armen einschlief dachte ich nur, dass es schön sei wieder daheim zu sein. Ich fühlte Frieden. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Mir war nicht bewusst, dass ich sie erneut und dieses Mal für immer allein ließ… Ich empfand es nicht… als meinen Tod.“ Stille. Nur das Knacken des Holzes im Feuer war zu hören. Also war es wahr. Alles. Er WAR es, jener Schwertkämpfer aus der Meiji-Zeit, der mir gegenübersaß. Und er war es auch nicht. Ich konnte spüren, dass es seine Seele war, die dem jungen Mann mir gegenüber innewohnte. Dieser Körper mochte ihm vielleicht auch ähneln. Aber in letzter Konsequenz KONNTE es gar nicht haargenau derselbe Mann sein. Das war nicht möglich. Auch SO war das Ganze schon äußerst… abstrus. Und ich schrak gedanklich immer noch vor diesem Wort zurück: Wiedergeburt. „Die Geschichte sollte hier enden. Die Geschichte eines JEDEN sollte eigentlich so oder ähnlich enden. Doch es ist mir nicht vergönnt zu ruhen. Ich…“ Er erzählte mir nun von den Dingen und Gedanken, die ihn Nacht für Nacht nicht schlafen ließen. Er erzählte, wie sich seine immer neuen Leben, in die er gezwungen war zurückzukehren, anfühlten, wie es sich anfühlte, wieder und wieder zu leben, zu altern und die Menschen, die er liebte, um sich herum sterben zu sehen. Und mein Herz zog sich zusammen. Erst jetzt begann ich die gesamte Tragweite seines Leids zu verstehen. Und doch… Ich wand mich. Wie widerwärtig war dieser Gedanke, doch er ließ sich nicht abschütteln. Gott, er war ein Mörder! Er hatte diesen Weg damals bewusst gewählt! Hatte er ein solches Schicksal nicht verdient? „Ich traf sie wieder. Tomoe. Kaoru. Irgendwie… war da immer etwas von ihnen in den Frauen, denen ich begegnete. Oder ich WOLLTE nur, dass es so war. Schicksal? Vielleicht. Denn immer wenn ich ihnen näher kam wurden sie mir wieder genommen. Auch und gegen meinen Willen durch die eigene Hand.“ Er hob seine Hände vor das Gesicht, sah sie an, als würde er immer noch das Blut an ihnen sehen können. Und etwas in mir brannte durch, zerbrach. Mein Verstand verabschiedete sich einfach. Das war… einfach zu viel. Ich verstand einfach nicht, wie ich wissen konnte was ich wusste und wie ich fühlen konnte was ich fühlte. So etwas KONNTE gar nicht sein! Es war einfach nicht möglich. ‚Er ist ein Mörder!’, hämmerte es in meinen Gedanken. ‚Enishi hat dich gewarnt! Lauf so schnell und so weit du kannst!’ Ich hasste mich dafür. Aber ich hatte Angst. Was für Mächte waren das, die so etwas überhaupt möglich machten? Diese ganze Geschichte war ungeheuerlich! Ich war vollkommen verwirrt und verängstigt. Ich sprang auf und rannte völlig kopflos zur Tür, riss sie auf und stürmte in die kühle Nacht hinaus. Der Wind umtoste mich, das Rauschen in den Wipfeln der Bäume wirkte mächtig und bedrohlich. Ich lief nicht weit, merkte dass ich weinte und fand Halt an dem nächstbesten Baum, an dem ich vorübertaumelte. Ich klammerte mich an dessen Rinde, suchte den Halt und den Trost, den ich auch vorhin, als ich Enishi begegnete, an einer solchen gefunden hatte. Doch dieses Mal blieb mein Herz stumm, verhärtete sich gegen jeglichen Schutz und Trost von außen. Ich kannte nur noch Schmerz, Wut, Trauer und unendliche Verwirrung. Und immer wieder Enishis Stimme. ‚Mörder…. Er ist ein Mörder…’ Was so wunderbar unbeschwert begonnen hatte… Konnte es denn so enden? Ich hörte auf zu weinen und hob den Kopf. Der kalte Wind tat gut. Er kühlte meinen Kopf, ließ mich etwas zur Ruhe kommen. ‚Denk nach, Madoka! Bleib ganz ruhig. Gut, du weißt nicht genau, woher dieses Wissen und die Gefühle in dir kommen. Aber bis heute Morgen warst du doch noch der Meinung, dass sie gut und richtig seien, diese Gefühle. Du warst dir sicher, ihn zu lieben. Du hast dir selbst sogar immer wieder gesagt, dass es dir gleich ist, was in seiner Vergangenheit geschehen ist.’ Und wer war dieser Enishi überhaupt? Gut, er hat vielleicht in einigen Punkten die Wahrheit gesagt. Aber woher kam er? Wieso kannte auch er Himuras Geschichte? Das wollte ich herausfinden. ‚Du musst jetzt stark sein. Versuche es! Für dich selbst – und auch für ihn, Kenshin. Er bereut. Und er leidet. Wenn du ihn wirklich liebst solltest du deine eigene Angst überwinden können.’ Ich musste mit meinem Fortlaufen bei seinen Eröffnungen die Klinge, die sein Herz verletzte, nur noch weiter hineingetrieben und darin herumgedreht haben. Wie unendlich musste er leiden, wie entsetzlich seine Einsamkeit sein, wenn er mir wirklich ALLES anvertraute, was ihn ausmachte! War dies nicht ein Beweis seiner Gefühle mir gegenüber? War dies nicht ein Hilferuf? Ein Akt unendlichen Vertrauens? Ich versuchte meinen Atem zu beruhigen. Dass von Anfang an, seit ich ihn das erste Mal sah, mysteriöse Mächte am Werk waren, stand außer Zweifel. Niemals hätte mich dieser junge Mann sonst derartig fesseln können. Nicht so. Nicht in dieser Tiefe, wo er mir doch eigentlich völlig unbekannt gewesen war. Diese Vertraut- und Verbundenheit zwischen uns, die ich die ganze Zeit über und am stärksten vorhin am Bach, in seinen Armen, verspürt hatte…. Diese Gefühle waren einfach zu stark und zu wichtig, um sie einfach in den Wind zu schlagen. Ja. Wenn ich ihn liebte, dann musste ich kämpfen. Zur Not auch gegen mich selbst und meine Ängste. Doch nagender Zweifel, klein, hässlich und lauernd, war immer noch in meinem Herzen, zurückgedrängt aber da, als ich meine Schritte vorsichtig zurück zum Haus lenkte. Aber ich sah auch ein, dass die Geschichte noch nicht zu Ende war und so auch nicht enden konnte. Das mit Enishi interessierte mich, machte mich wieder neugierig. Himura kannte ihn. Wer also war er? Und würde Himura mir verzeihen? Dass ich, feige wie ich war, fortgelaufen war? Das ich mich so sehr erschrecken ließ? Anders und noch wichtiger: War ICH in der Lage IHM zu verzeihen? Und seine Vergangenheit zu akzeptieren? Ich trat ans Fenster und sah ihn nach wie vor an derselben Stelle am heruntergebrannten Feuer sitzen. Seine Silhouette hob sich dunkel vor den glimmenden Holzscheiten ab. Sein Gesicht, nur im Profil zu erkennen, zuckte… Ich fühlte, wie mein Herzschlag für einen Moment aussetzte. Er weinte. Der glutrote Schein der kleinen Flammen schimmerte auf den langen, dünnen Linien, die sich feucht über seine Wange zogen. Seine Schultern bebten. Und in diesem Moment hob er die Hände, um sein Gesicht zu bedecken. Sein Schluchzen klang wie ein Schrei, tief, mächtig und unendlich verzweifelt, wie aus dem innersten seines Selbst kommend. Er hatte keine Kraft mehr. Jetzt nicht mehr. Meine Hände krallten sich um den äußeren Fenstersims. Etwas in mir schrie ebenfalls, krümmte sich angesichts seines Leids. Und plötzlich war mir ALLES egal. Und wenn er der Teufel in Person gewesen wäre, ich konnte das nicht länger mit ansehen. Ich konnte und WOLLTE nicht. Ich schlug alles in den Wind. Ich zweifelte nicht mehr. Ich musste zu ihm zurück. Sollte ich doch mit ihm untergehen wenn es dies bedeutete. Es war mir gleich. Solange er nur aufhörte zu weinen. Ich überwand die Strecke bis zur Tür mit nur zwei mächtigen Laufschritten, riss sie auf und stürmte, ohne mir die Mühe zu machen die Tür zu schließen, in den Raum hinein. Erschrocken war er herumgefahren, sein wunderschönes Gesicht tränenüberströmt und verzerrt. Meine Brust hob und senkte sich rasch, mein Herzschlag wollte meinen Leib zerspringen lassen. „Kenshin…“, flüsterte ich und fühlte nun selbst wieder brennende Tränen in mir aufsteigen. Ich stürmte zu ihm, stolperte beinahe über meine eigenen Füße. Ich glitt vor ihm in die Hocke, hob die Hände und legte sie um sein Gesicht. „Sieh mich an! Kenshin, weine nicht… Bitte, bitte, weine nicht… Ich werde… nicht mehr weglaufen. Nie mehr.“ Ganz entgegen meiner so tapferen Worte heulte ich selbst wie ein kleines Kind. Ich fiel ihm um den Hals, vergrub mein Gesicht an seiner Schulter und schlang die Arme um ihn. Niemals wieder wollte ich ihn loslassen. Niemals wieder seine Nähe und Wärme missen. Und er sollte niemals wieder einsam sein. Sein Atem stockte, dann sog er rasch und heftig die Luft ein. Er hob die Arme und zog mich noch enger an sich, wenn dies überhaupt noch möglich war. Er schmiegte sein tränenüberströmtes Gesicht in mein Haar. Seine Lippen berührten mein Ohr, als er schnell und so viele Worte auf einmal flüsterte, dass ich kein einziges davon wirklich verstand. Aber das war auch unnötig. Ich verstand ihn mit dem Herzen. Er hob die Hand, strich mir über den Kopf, wieder und wieder. Wir wiegten uns in dieser innigen Umarmung. Sie war intensiver, als es jeder Liebesakt je sein konnte. Er war ich und ich war er. Seine Wange lag nun an meiner. Ich atmete ihn ein, ganz tief. Ich spürte, wie unsere Seelen sich fanden und vereinten. Wir versanken im Jetzt und Hier. Und jetzt und hier war die Ewigkeit. In uns. **** Dem Menschen, dem ich nah sein möchte und es doch nie sein kann. Danke. Für alles. Und sei es auch nur ein Wort. Kapitel 9: And you and I... --------------------------- Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so dasaßen, eng umschlungen, einer Trost beim anderen suchend. Es musste jedoch eine sehr lange Zeit gewesen sein, denn das Feuer war komplett heruntergebrannt und die glühende Asche verströmte nur noch ein ganz vages, mildes Licht. Wer von uns hatte die Tür geschlossen? Oder hatte es der Wind getan, der jetzt deutlich aufgefrischt war und mit tausend Stimmen ums Haus heulte? Ich hatte es vergessen. Es war auch gleich. Draußen herrschte ein Unwetter. Hier drinnen war eine warme Insel aus Geborgenheit entstanden, der ich niemals mehr entfliehen wollte. Kenshin bewegte sich. Sein Kopf lag noch immer an meinem, seine Wange warm an meiner. „Ich habe Angst…“, flüsterte er mit einem Mal. Ganz leise und so ruhig, als würde er eine Tatsache aufzeigen, die ihm bereits so vertraut war wie sein Leid an sich. Ich wusste und fühlte genau, was er meinte. Sagte jedoch nichts. Ich versuchte nur, mich noch enger an ihn zu schmiegen, in ihn hineinzukriechen, wenn dies nur irgend möglich gewesen wäre. Ich wollte nichts hören. Nichts von dieser realen Welt. Nichts, dass diesen Traum, in dem ich mich befand, zerstören könnte. Ich wollte unsere Insel nicht verlassen… „Ich habe Angst dich zu verlieren, dir weh zu tun…“, fuhr er fort. Ich schloss die Augen, kuschelte mein Gesicht in sein Haar. „Kenshin…“, ich war überrascht wie ruhig und leise meine Stimme klang, ganz entgegen meiner inneren Zerrissenheit. „Ich bin nicht sie. Ich bin weder Tomoe, noch bin ich Kaoru. Ich bin Madoka. Ich werde dich nicht verlassen.“ Er rückte nun ein Stück von mir ab. Jetzt war er es, der MEIN Gesicht in seine Hände nahm, so behutsam, als sei es etwas unendlich Kostbares. Der Blick seiner Augen war innig, schien mir bis in die mir selbst unbekannten Tiefen meiner Seele zu dringen. „Ja.“, flüsterte er. „Ja, du bist nicht sie.“ Sanft strichen seine Daumen über meine Wangen, wischten die Tränen fort. Und dann küsste er mich. Die Stirn, meine Augenlider, eines nach dem anderen. Ganz leicht berührten seine Lippen meine Haut. Ich erschauerte. Er hauchte Küsse auf meine Nase, meine Wangen, die Schläfen. Er küsste meine Mundwinkel, unendlich vorsichtig und zärtlich. Er nahm sich Zeit, mein Gesicht zu erforschen und zu liebkosen. Ich hatte gesagt, ich sei nicht Tomoe und auch nicht Kaoru. Dies stimmte. Ich war mir meines Selbst noch nie so bewusst gewesen, wie in jenen zeitlosen Momenten, als wir uns liebten. Und doch… Es war, als würde ich das alles kennen. Diesen Hauch von Melancholie, diesen unterschwelligen, ständigen Schmerz, der über all unseren Bewegungen und Berührungen lag. All das und auch sein wunderbarer, warmer Körper schienen mir so vertraut. Es war unheimlich. Und zugleich unendlich schön. Es war nur natürlich, dass unsere Körper nun vollendeten, was mit unseren Seelen begonnen hatte. Wir hatten uns gefunden. Es war unwichtig, in diesem einen Augenblick der Ewigkeit, wer ich war oder wer er war. Wichtig war nur, dass wir uns liebten, auf einer sehr tiefen, umfassenden und vollkommenen Ebene unseres Selbst. Unsere Körper waren nur äußerlich dazu in der Lage in der Liebe zu geben und zu nehmen. Doch was IN uns vorging, als wir uns vereinigten, ging viel, viel weiter und sehr viel tiefer. Ich hatte so etwas noch nie erlebt und nie geahnt, dass so etwas überhaupt möglich war. Er war über mir und zugleich spürte ich kaum, dass er da war, so leicht war die Berührung, so selbstverständlich sein Körper auf meinem. Ich fühlte seine Brust an meiner, seinen Herzschlag und seine Wärme, die ganze Länge seiner Schenkel, als sich unsere Beine verflochten. Seine Haut, glatt und geschmeidig, bedeckte meinen ganzen Leib. Sein Atem strich über mich hinweg. Ich nahm seine Wärme in mich auf, verfolgte mit der Hand seine biegsame Rückenlinie. Wann hatten wir uns ausgezogen? Ich wusste es nicht mehr, Zeit hatte keine Bedeutung. Nicht jetzt und niemals, wenn wir zusammen sein würden. Sein langes Haar floss seidig über unsere Körper. Es schimmerte wunderschön rotgolden im letzten Licht der verglühenden Asche. Seine Leidenschaft war von einer sehr sanften, ruhigen Art. Dennoch brachte sie meinen Atem und meinen Herzschlag dazu, sich zu beschleunigen. Er hatte ein lebendiges, niemals wirklich erloschenes Feuer in sich, das sanft und dunkel zu mir herüber floss, eine Gefühlswelt, die mich umfing, und in der ich mich nicht nur willkommen, sondern heimisch fühlte. Bei ihm konnte ich ICH sein. Das wusste ich einfach. Er schien meinen Körper besser zu kennen als ich selbst, streichelte mich mit weichen Fingerkuppen an den richtigen Stellen, sanft und gezielt. Nie hatte ich gedacht, dass Liebe so tief und restlos sein konnte. Ich spürte die Feuchte des Verlangens in meinem Mund, ein pochendes Brennen im Unterleib. ‚Ich darf nicht die Augen schließen!’, dachte ich, denn ich wollte all seine Schönheit, jede seiner Bewegungen nicht nur spüren, sondern auch sehen. Nichts durfte mir entgehen. All dies gehörte uns, nur uns. Ich wollte es in meine Gedanken aufnehmen, es dort einbrennen, um es niemals wieder zu vergessen. Was mich am stärksten verwunderte, war seine mühelose Sicherheit und Kraft, die fast spielerische Leichtigkeit aller seiner Bewegungen. Er presste sein Gesicht an meines, legte sein Knie zwischen meine Schenkel, bevor er in mich eindrang, mich ganz ausfüllte mit langsamen, harten Stößen. Mein Atem kam aus dem Takt. Ich spürte meinen und seinen Körper, fließend wie Wasser, wie gemacht füreinander, zusammengehörend. Meine Beine umfassten ihn, ich hielt ihn in mir fest, ich ließ ihn nicht gehen. Ich verbarg mein Gesicht an seinem Hals. Auch sein Pulsschlag war schnell. Er atmete tief. Ich stützte mich auf die Fersen, wölbte das Becken vor, tat mich ganz für ihn auf. Dann, plötzlich, zog ich mich zusammen, hielt ihn in mir fest, stöhnte leise an seinem Mund, fortgetragen von dem Gefühl süßer, beinahe schmerzhafter Verzückung. Er bewegte sich noch einen Moment lang. Seine geöffneten Lippen streiften mein schweißnasses Gesicht, glitten zärtlich über meinen Mund. Dann, in einer einzigen, langsamen und sehr tiefen Bewegung, spürte ich, dass auch er kam. Mir wurde heiß. Er unterdrückte ein Stöhnen. Ich schlang die Arme um ihn, als er seinen Kopf ermattet auf meine Brust sinken ließ. Wir lauschten beide auf unseren Atem, der sich nur langsam beruhigen wollte. Ich blickte in die Glut des heruntergebrannten Feuers und fand ein Echo dieses Anblicks in mir. Doch sollte dieses Feuer, dass in meiner Seele nun heller denn je brannte, niemals wieder verlöschen. Ich hielt ihn ganz fest. Später saßen wir eng aneinandergeschmiegt unter einer Decke am wieder entfachten Feuer. Wir saßen ähnlich wie am Abend am Bach, er hinter mir, mich mit den Armen umschlingend. Ich atmete ganz ruhig, in den Nachhall unserer Vereinigung versunken. Ich spürte ein Beben und Brennen, irgendwo tief in mir, dass mir sagte, dass ich nie genug von ihm bekommen würde, egal wie oft er mich auch ausfüllte. Er vervollständigte mich. Es war tatsächlich so, wie ich es schon bei unserer ersten Begegnung gefühlt hatte. Ohne ihn war ich nicht ich selbst. Ohne ihn war ich nur ein halber Mensch. Er lehnte sein Kinn an meinen Kopf, ganz sacht. Dann hauchte er einen Kuss in mein Haar. Ohne die Augen zu öffnen flüsterte ich: „Ich liebe dich, Kenshin.“ Seine Hand strich zärtlich durch meine langen Strähnen. „Mir scheint, als hätte ich es immer schon getan.“ Er schwieg, nur sein Atem ging regelmäßig an meinem Ohr, die Wärme ließ mich erschauern. „Ich bin mir ganz sicher, dass ich weder Tomoe, noch Kaoru bin. Doch etwas in mir… scheint dich zu kennen. So lange schon. Es ist als… hätte ich mein ganzes Leben lang etwas gesucht und es jetzt erst gefunden.“ Ich lauschte kurz in mich hinein. Dann fuhr ich fort: „Weißt du, was mir noch die Gewissheit gibt, dass ich nicht eine von… ihnen bin, von deinen… Frauen?“ Die Formulierung kam mir merkwürdig vor. Aber immer noch keine Antwort, nur seine beruhigende, beschützende Gegenwart. „Ich bin eifersüchtig auf sie.“, schloss ich endlich und mit einem Seufzen. „Ich liebe dich. Ich bin selbst erschrocken, wie sehr. Ich… möchte dir gehören und ich kann den Gedanken einfach nicht ertragen, dass diese Frauen… dass ihnen ein Teil deines Herzens gehört. Und ich daran niemals etwas ändern kann. An ihnen hängt deine Liebe, deine Erinnerung. Ja, vielleicht sogar dein ganzes Leid, der Schmerz, den du noch immer mit dir und in dir trägst. Ich könnte…“ Ich hielt inne und fuhr dann bitter fort: „Auf der anderen Seite muss ich ihnen ja fast dankbar sein. Denn ohne sie und ihren Tod wärst du wahrscheinlich nicht hier…“ Kenshin schlang nun beide Arme um meine Schultern, lehnte den Kopf an meinen. „Ich habe auch genug andere Menschen getötet, dass es meine ewige Wiederkehr begründen würde.“, sagte er traurig. „Aber diese beiden waren… Sie SIND…“ „Nein, sie waren.“, fiel er mir sanft ins Wort. „Ganz genau. Sie WAREN. Sie sind nicht mehr. Ja, ich habe sie geliebt. Sehr sogar. Tomoe, Kaoru…“ Ich zuckte bei diesen Worten unmerklich zusammen. „Aber das war in einem anderen Leben, zu einer anderen Zeit. Ich habe in vielen Frauen in jedem neuen Leben, dass zu führen ich gezwungen war, gehofft sie wiederzufinden. Doch in Wahrheit hatte ich etwas anderes gesucht und gebraucht. Ich habe mir mein eigenes Grab geschaffen, indem ich wie ein Blinder immer wieder in mein Selbstmitleid zurückgefallen bin und Dinge gesucht habe, die es gar nicht mehr gab. Niemand wird mir diese beiden Menschen je ersetzen können. Das ist wahr. Aber sie sind Erinnerung. Ich habe das nicht begreifen wollen. Ich suchte und suchte, und fand doch nie das, was ich wirklich brauchte. Vielleicht war es da, schon immer. Doch ich verschloss die Augen davor, klammerte mich an Altes, an Vergangenes. Du hast mir die Augen geöffnet. Du bist anders. Und ich liebe dich. Ich liebe DICH, Madoka. Jetzt. Es ist gleich, was war. In dieser Zeit, in diesem Augenblick ist es nicht wichtig. Sicher, sie begleiten mich. Beide. Das werden sie immer tun. Doch nie hat mich jemand gerettet und vor mir selbst bewahrt, so wie du es getan hast. Denn nur du hast mir bewusst gemacht, dass ich mir selbst vergeben muss, dass ich es selbst bin, der alles ändern muss. Nur ich selbst kann dem entfliehen. Und mit deiner Hilfe werde ich es vielleicht auch endlich schaffen können.“ Ich hielt die Augen geschlossen. Wieder rannen Tränen über mein Gesicht. Seine Worte berührten mich bis ins Innerste meiner Seele. Ja. Vielleicht konnte ich das so akzeptieren, ohne vor Eifersucht wahnsinnig zu werden. Tomoe und Kaoru waren Vergangenheit. WIR… wir waren die Gegenwart. Und wenn es uns vergönnt war auch die Zukunft. „Ich liebe dich…“ Ich weinte, drehte mich und vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Er schloss die Arme um mich. Ich verspürte eine verzweifelte, unglaublich tiefe Liebe zu diesem Mann, der eigentlich gar nicht in diese Zeit gehörte. „Wie kann ich dir helfen? Wie dein Leid lindern?“, flüsterte ich nah an seiner Haut. „Ich habe noch nie… jemanden so leiden sehen wie dich. Es tut weh. Wann immer ich es sehe. Vor meinem geistigen Auge, im Traum, habe ich den Regen aus Blut gesehen. Es tut so weh! Es ist so abgrundtief! Ich kann es FÜHLEN, als wäre ich du. Als wären wir mal eins gewesen und als hätte man uns getrennt, irgendwann, auf dem Weg durch die Zeiten…“ „Glaube mir, du HAST mir schon geholfen.“, flüsterte er. „Lass mich dir etwas zeigen.“ Sanft löste er sich von mir und erhob sich. Aus tränenverschleierten Augen beobachtete ich, wie er auf den niedrigen Tisch zuging, auf dem er auch der Tuschstein lag. Er hatte lediglich die weite, bequeme Hakama wieder angezogen. Sein nackter Oberkörper glänzte nach wie vor matt aufgrund der feinen Schweißperlen, die ihn überzogen. Fasziniert beobachtete ich das Spiel der Schatten auf seinem Rücken und in seinem Haar, das ihm nun offen und lang über die Schultern fiel. Er schob ein paar Pergamente zur Seite und kam dann mit einem Blatt Papier zum Feuer zurück, das die Größe meines Zeichenblockes hatte… Er setzte sich neben mich und hielt es mir hin. Es war meine Zeichnung. Meine Zeichnung von ihm an jenem Tag, als der blutige Regen fiel. Ich war nur milde erstaunt. Irgendwie… hatte ich es gespürt, dass das Bild nie fort gewesen war, sondern immer in meiner Nähe. „Du hast…“ „Ja.“, unterbrach er mich leise. „Ich habe es an mich genommen an jenem Tag, an dem Enishi…“ Er schwieg wieder, senkte den Kopf. Ein bitterer Zug zeigte sich um seine schmalen Lippen. Ich streckte die Hand nach der Zeichnung aus. Auch jetzt noch zog sich in mir alles zusammen, als ich diesen Ausdruck vollkommenen Entsetzens in den noch so kindlichen Zügen gewahrte. Ich zögerte. „Warum?“ Er wusste, was ich meinte. „Zu jenem Zeitpunkt… wollte ich einfach nicht, dass du noch mehr über mich weißt. Ich ahnte, als ich das sah, dass du schon sehr tief darin verwickelt gewesen sein musstest. Aber ich wollte unbedingt vermeiden, dass dir etwas zustößt. Deshalb nahm ich es an mich. Zudem… HASSE ich diesen Ausdruck. Du hast das sehr genau getroffen. In diesem Bild überschneiden sich Vergangenheit und Gegenwart. Hier wird das was war plötzlich greifbar. Das machte mir Angst. Und wenn es MIR schon Angst machte… Ich wollte unbedingt vermeiden, dass du…“ „Es war schon zu spät, glaub mir.“, sagte ich nun ganz ruhig. „Es war schon in jenem Moment zu spät, als ich dich zum ersten Mal sah, damals, in der Mensa.“ Ich sah ihm mit einem sehr leisen, zärtlichen Lächeln in die Augen. ‚Ich hatte Recht…’, dachte ich. ‚Wie die Motte in das Licht. Es GING gar nicht anders. Aber ich bereue nichts.’ Ich nahm ihm aus einem Impuls heraus das Bild ab und warf es in die Flammen. Etwas, das so viel Schmerz verursachte, sollte nicht weiter existieren – auch wenn ich sehr wohl wusste, dass ich die Erinnerung an diesen Augenblick weder aus seinen, noch nun auch aus meinen Gedanken je verbannen konnte. Ich blickte in sein Gesicht und Zärtlichkeit überrollte mich wie eine warme, große Woge. Er beobachtete, wie das Papier sich im Feuer wölbte und krümmte, wie seine schreckgeweiteten, gezeichneten Augen zu Asche zerfielen. Ich hob die Hand und strich sanft über seine Wange, ließ die Finger über seine Lippen gleiten. „Ich bete, dass dein Leid bald ein Ende hat. Was ich dazu tun kann, werde ich tun. Kenshin…“ Ich genoss es, seinen Namen auszusprechen. Es fühlte sich gut und richtig an, vertraut und sehr innig. Ich lehnte mich wieder an ihn. „Magst du mir von Enishi erzählen? Wer ist er?“, meine Frage klang beiläufig, war es aber natürlich nicht. Wenn dieser Mann Kenshin etwas Böses wollte, dann war er auch mein Feind. Ich musste es wissen. Ich spürte, wie er sich versteifte. Sein Atem stockte einen Moment lang, dann atmete er schwer aus. Er schien zu dem Schluss zu kommen, dass er mir das wohl nicht verheimlichen konnte. „Enishi…“, seufzte er. „Enishi… ist der Bruder von Tomoe gewesen. Er hatte damals mit ansehen müssen, wie ich… wie sie in meinen Armen starb. Er hat mir das niemals verziehen.“ „So ist auch er an diesen ewigen Kreislauf aus Wiederkehr und neuem Leben gebunden?“, fragte ich ungläubig. „So scheint es. Er ist neben mir der einzige aus meiner Vergangenheit, der wirklich und unzweifelhaft jedes Mal wieder auftaucht, um mich meiner Bestimmung zuzuführen.“ „Deiner Bestimmung?“, ich stutzte. „Meinst du damit, dass es dir bestimmt war, jedes Mal wieder zu töten? Den Menschen, den du am meisten liebst?“ Er nickte leicht. „Ja. Es liegt in seinem Interesse, dass das niemals aufhört. Er möchte, dass ich für alle Zeit dasselbe durchleide.“ Ich krümmte mich. „Was für ein Unmensch. Ist ihm nicht klar, dass er selbst dann auch dazu verdammt ist immer wiederzukehren?“ „Das ist ihm gleich. Du hättest ihn erleben sollen, Madoka. Er ist grausam und fanatisch. Letzteres wiegt beinahe noch schwerer. Sein Fanatismus bringt ihn dazu alles andere zu vergessen. Es ist ihm gleich, dass er selbst leidet. Er ist sich dessen vielleicht nicht einmal wirklich bewusst. Alles was er sieht ist Rache und das über Generationen hinweg. Er will, dass ich leide und weidet sich jedes Mal an diesem Anblick. Es lässt ihn durchhalten.“ Ich schwieg. Dann fügte er leise uns sehr bitter hinzu: „Dennoch kann ich ihn nicht einmal hassen…“ Nach einer ganzen Weile fragte ich leise, mehr an mich selbst gewandt, als dass ich wirklich eine Antwort erwartete: „Wo mag das hinführen? Du sagst zwar, dieses Mal sei es anders. Ich verkörpere ganz eindeutig NICHT seine Schwester. Aber… „ „Ich weiß es nicht.“, antwortete er dennoch leise. „Wollte er mich deshalb vielleicht schützen?“, murmelte ich. Kenshin neigte den Kopf zur Seite. „Dich schützen?“ Ich berichtete ihm kurz von dem Zusammentreffen mit Enishi im Wald, kurz bevor ich ihm begegnete. Kenshins Züge zeigten tiefe Besorgnis – und Nachdenklichkeit. „Ja, das passt zu ihm. Er sagt dir, dass du vor mir fliehen sollst… Wie… paradox…“ Ich runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ „Nun ja, es liegt in Enishis Interesse, dass du mich AUF JEDEN FALL aufsuchst. Nur so kann er sicher sein - wenn er davon überzeugt ist, dass du seine Schwester bist – nur so kann er sicher sein, dass sich alles wiederholt und ich dich töten werde um erneut und weiterhin zu leiden. Er scheint einen inneren Konflikt durchzumachen. Er liebt seine Schwester sehr. Immer noch. Auch wenn er weiß, dass er sie jedes Mal opfern muss, um mir weh zu tun, so kann er doch nicht über seinen Schatten springen und will sie zugleich schützen. Das ist interessant.“ Ich fand es alles anderes als das. Es erschreckte und verwirrte mich. „Du redest… über das Leben von Menschen, als wäre… es nichts. Als würde ihr Tod nur ein kleiner Teil im Rad des Schicksals und im Grunde unvermeidbar, vielleicht auch nicht wichtig sein. Ich…“ „Dies ist nicht MEINE Ansicht der Dinge. Es ist SEINE. Enishi denkt so. Zumindest vermute ich das. Vielleicht ist das seine Schwachstelle. Denn du hingegen scheinst ihm nicht egal zu sein.“ Ich zitterte. „Wird er dich erneut fordern?“ Er nickte. Sehr ernst und ruhig. Die Schatten um seine Augen schienen sich zu vertiefen, die ständig präsente Aura der Traurigkeit um ihn zu verstärken. „Ja, das wird er.“ Ich schlang die Arme um seinen Hals. „Kämpfe nicht mehr. Bitte. Es ist zu gefährlich. Ich… will dich nicht verlieren.“ „Madoka…“, er legte mich mit sanftem Druck zurück auf die Decke, glitt geschmeidig und warm an meine Seite, dann zwischen meine Schenkel. „Du wirst mich nicht verlieren. Nie mehr…“ Nachdem wir uns erneut und noch sehr viel länger geliebt hatten lag ich noch einige Zeit wach. Kenshin war in einen leichten Schlaf hinübergeglitten. Zärtlich beobachtete ich seine Gesichtszüge und die Schatten, die von den flackernden Flammen darauf geworfen wurden. Ich betrachtete verliebt den Schwung seines Nackens, die sanfte Wölbung seiner Muskeln unter der Haut, die beinahe matt golden schimmerte im Feuerschein. Seine schmale Brust hob und senkte sich unter seinen regelmäßigen, tiefen Atemzügen. Ich sah die Narbe auf seiner Wange, ganz schwach nur auszumachen, wie ein Hauch. Vorsichtig beugte ich mich über ihn, mein langes Haar strich wie ein leichter Vorhag über seine Brust. Ich küsste die Wange. Ganz sacht und zärtlich. „Diese Narbe… lass sie von nun an auch meine sein. Ich will deinen Schmerz, alles mit dir teilen. Ich…“ Ein seltsames Echo aus ferner Vergangenheit schien mich zu streifen. Ja, ich wusste, diese Worte wurden ihm nicht zum ersten Mal gesagt. Doch hier und jetzt waren sie ohne jene Bitterkeit, welche damals in ihnen mitgeschwungen war. Ich hob den Blick und bemerkte ohne Überraschung, dass es bereits tagte. Durch eines der Fenster glitt sanftes Morgenlicht zu uns herein. Ich schmiegte mich an Kenshins Seite. Mir war es gleich. Zumindest im Augenblick. Sollte der Morgen nur kommen. Kapitel 10: Trinity - Past, present & future -------------------------------------------- Die folgenden viel zu kurzen Wochen waren wie ein wunderschöner Traum. Während es draußen immer kälter wurde brannte das Feuer in mir immer heller und wärmer. Noch nie zuvor in meinem Leben war ich so erfüllt, so glücklich gewesen. Was er mir schenkte war mit Worten nicht zu beschreiben. Es war so viel größer als es Worte je sein konnten. Allumfassender und tiefer als der Ozean. Ich verlor mich in ihm ohne mich dabei selbst aus den Augen zu lassen, immerzu erstaunt darüber, wie ich reagierte oder was ich und wie ich es empfand. Es war sehr interessant mich selbst zu beobachten. So kannte ich mich gar nicht. Alles war so schnell gegangen und doch hatte ich keinerlei Zweifel an der Aufrichtigkeit und Tiefe unserer Gefühle zueinander. Wir ergänzten uns, schenkten uns Trost und leidenschaftliche Liebe. Ich wollte ihn niemals wieder gehen lassen. Doch im innersten meiner Seele war mir von Anfang an klar gewesen, dass es auch wirklich nichts anderes war als dies: Ein Traum. Und aus jedem Traum muss man irgendwann einmal wieder aufwachen. Es kam nun immer häufiger vor dass ich bei Kenshin übernachtete. Natürlich fiel das nicht nur Gladys auf, die mit mir ein Zimmer teilte, sondern auch den anderen Kommilitoninnen, mit denen ich sonst öfter zu tun hatte. Ich gebe zu, ich vernachlässigte auch meine Studien, gab mich völlig meiner Liebe hin. Gladys selbst feixte zwar und ließ nicht eine Gelegenheit aus mich damit aufzuziehen, aber sie genoss es auch – konnte sie so doch immer häufiger mit Mei Lin gemeinsam die Nacht verbringen. Wir arrangierten uns. Und es war in Ordnung. Von mir aus hätte dieser Herbst niemals enden können. Von mir aus hätte er auch niemals in den Winter übergehen sollen. Ich war so glücklich und wollte den Moment mit beiden Armen umschließen, ihn festhalten und einfrieren lassen in der Zeit. Und Kenshin? Wir redeten so viel in jener Zeit. Noch nie hatte ich mich mit einem Menschen so austauschen können, noch nie zuvor so sehr ich selbst sein können. Ich blühte auf. Ich denke, auch wenn er über Gefühle nicht allzu gerne sprach so konnte ich dennoch deutlich spüren, dass er ebenso tief empfand wie ich. Und ich FÜHLTE es auch. In jeder seiner Berührungen, wann immer wir uns liebten. Ich hatte den Eindruck, dass er glücklich war. Für eine kurze Zeit war es also auch dem Wanderer vergönnt zu rasten und Glück zu empfinden. Dass dies nur an mir lag konnte ich mir nicht vorstellen. Der Gedanke kam mir absurd vor. Ich räumte ein, dass ich einen Teil dazu beitrug – aber ich denke, dass er zu jener Zeit damit begann sich selbst endlich und wirklich zu vergeben. Und dies ermöglichte es ihm die Vergangenheit loszulassen und in der Gegenwart aufzugehen. Ich genoss es ihm dabei zuzusehen. Und liebte ihn nur noch inniger. Kenshin trainierte viel. Seine Art des Schwertkampfes glich einem zeitlosen und unendlich formvollendeten Tanz, tödlich und doch faszinierend schön. Wenn ich morgens aufwachte in jener Hütte im Wald, dann war er manches Mal bereits aufgestanden und trainierte draußen auf der Lichtung. Ich liebte es mich dann in die Decke zu kuscheln und mich auf die Stufen vor dem Haus zu setzen, um ihm zuzusehen. An klaren, wunderbar hellen Herbsttagen, die zwar kalt aber geradezu leuchtend daherkamen, konnte ich seinen und meinen Atem als leichte Dunstwolken vor unseren Gesichtern aufsteigen sehen. Die Morgensonne strahlte durch das bunte Herbstlaub, das vereinzelt noch an den Bäumen hing, jedoch größtenteils wie ein leuchtender Reigen im Wind um uns herum zu Boden ging. Und Kenshin tanzte. Seine Bewegungen erinnerten mich an die Biegsam- und Geschmeidigkeit seines Körpers während des Liebesspiels – und ich erschauerte jedes Mal, völlig ergriffen von dem was ich sah. Trotz der Kälte trug er meist nicht mehr als seine Hakama. Er schwitzte und feinste Schweißperlen glitzerten in der orangefarbenen Morgensonne, wenn er sich wirbelnd um sich selbst drehte; sein langes, dunkelrot schimmerndes Haar folgte getreulich jeder seiner Bewegungen. Das Spiel der schmalen Muskeln unter seiner Haut wurde durch die Schatten deutlich, die die letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres auf seinen Körper warfen und wandern ließen. Er atmete jedoch nicht wirklich schneller. Für ihn war das Training auch Entspannung. Die blanke Schwertklinge des Sakabatou fing die Lichtstrahlen blendend ein und warf sie zurück. Er ließ die Waffe um sich kreisen, ließ sie über seinen Kopf wirbeln, griff an und parierte. Die Art wie er das Schwert zog, blitzschnell und unendlich präzise, ließ mich schwindeln. Er verneigte sich jedes Mal ehrerbietig vor dem nicht vorhandenen Gegner, wenn er sein Training aufnahm oder es beendete. Manches Mal ging er auch seinen Tai-Chi-Übungen nach. Dies war nun wirklich unglaublich anziehend und erotisch zu beobachten. Die langsamen, grazilen Bewegungen, die konzentriert geschlossenen Augen wenn er die Hände, ineinander gelegt, langsam voranstreckte und tief aus- und einatmete, wie er leicht in die Hocke ging und sich in ihr drehte, sich erhob, die Arme streckte und auf einem Bein stehend ausbalancierte… Es war so unendlich schön. ER war so unendlich schön. Ab und zu überredete er mich dazu mitzumachen. Es fiel mir jedes Mal unendlich schwer mich zu konzentrieren. Aber ich hatte einen geduldigen Lehrmeister. In jeder Hinsicht. Das Sakabatou in den Händen zu halten war ein sehr merkwürdiges Gefühl für mich. Doch ich wusste, mit diesem Schwert hatte er noch nie ein Leben genommen. Er hatte nur Leben geschützt. Und ich hatte keine Skrupel es zu führen. Das Katana war wunderschön. Es lag schwer in meinen Händen. Wenn ich es nicht richtig hielt trat Kenshin vorsichtig hinter mich, griff mit beiden Armen um mich herum und zeigte mir, wie ich es richtig machen musste. Dabei sah er mir über die Schulter und ich konnte seinen warmen Atem einmal mehr in meinem Nacken spüren. Wenn er mir so nah war konnte ich nicht mehr denken. Dann war alles unwichtig außer ihm. Nicht selten kam es dann vor, dass das Training ein abruptes Ende fand und wir einander küssten. Manchmal liebten wir uns dann mitten auf der Lichtung, der weite Himmel überspannte uns und der Wind umschmeichelte unsere aneinander geschmiegten Körper. Dann spürte ich die Kühle des Herbstes nicht mehr. Das Schwert bedeutete alles für Kenshin. Eines Abends saßen wir wieder einmal eng umschlungen am Feuer in seiner Hütte. Der Tag war kühl und leicht regnerisch gewesen und wir hatten ihn größtenteils drinnen und damit verbracht, Kalligrafien anzufertigen. Es war faszinierend ihm beim Zeichnen und Malen der wunderbar künstlerischen Schriftzeichen zuzusehen. Lachend hatte er mir erklärt, dass er früher eine sehr furchtbare Handschrift gehabt hatte, was seine Freunde auch nie müde wurden zu betonen. Doch über all die Jahre seiner ruhelosen Wanderschaft durch die Zeiten hatte er auch dies nun endlich zur Perfektion gebracht. Ich konnte es sehen. Die Schriftzeichen waren wunderschön und sehr geheimnisvoll. Sie flüsterten mir zu, erzählten mir Geschichten aus ferner Zeit und es gab auch nicht eines das dem anderen glich. Ein jedes war ein kleines Kunstwerk für sich. Er brachte es mir bei. Mit großer Freude beobachtete ich an mir, wie ich diese Art der Kunst verinnerlichte und auch tatsächlich umsetzen konnte. Ich war vielleicht ein hoffnungsloser Fall im Schwertkampf. Aber Kalligrafie lag mir. Das mochte auch an meinem ohnehin vorhandenen Zeichentalent liegen. Ich hatte mich auch an diesem Abend einfach nicht satt sehen können an der so leicht aussehenden, schwungvollen Bewegung seines Handgelenks, wenn er den Pinsel über das Papier gleiten ließ. Konzentriert hatte er sich vorgebeugt, sein langes, weiches Haar war ihm nach vorn über die Schulter gefallen. Zärtlich hatte ich es zurückgestrichen, damit es ihn nicht beim Zeichnen behinderte. Das Feuer der Herdstelle ließ eine Hälfte seines Gesichtes strahlen, die andere lag im Schatten. Nur die Augen funkelten gleichermaßen hell und wachsam. Er hatte die Eigenart manchmal die Unterlippe zwischen die Zähne zu nehmen, wenn er so konzentriert arbeitete. Ich liebte das. Mein Herz zog sich zusammen und Zärtlichkeit schien mich jedes Mal zu überrollen, wenn ich dies sah. Ich hatte mich leicht an ihn gelehnt und zugeschaut wie er malte, hatte meine Hand sanft über seinen Rücken gleiten lassen und sanfte Küsse in seinen Nacken und sein Haar gehaucht, bis er seine Arbeit einstellte und zu mir kam. Auch an jenem Abend hatten wir uns wieder geliebt und saßen nun zusammen. Ich blickte hinüber zu seinem Sakabatou, das auf einem eigens für es angefertigten Schwertständer ruhte. Es stand am Kopfende seines ausgerollten Futon und das Licht der Flammen fing sich matt im Stichblatt. Kenshins Blick folgte dem meinen. „Unsere Schwerter hatten einst große Macht.“, sagte er leise. Ich liebte es sehr, seiner weichen, dunklen Stimme zu folgen, was auch immer er mir erzählen mochte. Geschichten aus seiner Heimat ließen mich oft Zeit und auch Raum vergessen und ich war dort. Fasziniert legte ich den Kopf zur Seite und lauschte. Er berührte kurz mit den Lippen meinen Nacken, dann mein Ohr, bevor er fortfuhr: „Sie eigneten sich dazu böse Geister zu bannen. Beim Tode eines Samurai wurden seine Schwerter an seinem Lager aufgebahrt und auch bei der Geburt eines Kindes hatten sie immer ihren Platz im Zimmer. Schwerter wehrten die bösen Geister ab, welche Sicherheit und Glück der verstorbenen oder ankommenden Seele bedrohen konnten. Man sagt auch heute noch, dass die Dämonen, wenn man die Waffe den bösen Mächten entgegenhält, sich diese wie in einem Spiegel in seiner Klinge sehen und die Flucht ergreifen.“ Ich schwieg. Das klang mysteriös, zugleich aber auch schön und irgendwie tröstlich. Ich kuschelte mich in seine Arme. Ich konnte nicht wissen, dass diesen Worten auch für mich selbst so viel mehr Bedeutung beiwohnte, als ich es mir je hätte vorstellen können. *** In jener Nacht hatte ich einen Traum. Zumindest war mir im Nachhinein klar, dass dies ein Traum gewesen sein musste, auch wenn er auf mich sehr realistisch wirkte. Ich befand mich auf einer von dutzenden Kirschbäumen gesäumten Allee. Die Bäume standen in voller Blüte und um mich herum gingen tausende und abertausende von zart rosafarbenen Blättern hernieder, die von einem sanften, warmen Wind auseinandergetrieben wurden. Zu meiner Rechten erkannte ich eine niedrige, weiße Stadtmauer, gesäumt von dunklen Ziegeln. Zur Linken konnte ich das Glitzern eines Baches ausmachen, der sich durch grünes Gras wand. Überall lagen die Blüten und alles glich einem Meer aus hellrosafarbenem Schnee. Doch ich fror nicht. Ich fühlte mich geborgen. Ich fühlte mich… daheim. Es war ein sehr seltsames und zugleich doch beruhigendes Gefühl. Ich war zu Hause. Nirgendwo wollte ich lieber sein als hier. Doch irgendetwas… fehlte. Teilweise war das Treiben der Blütenblätter im Wind so dicht, dass ich kaum noch etwas erkennen konnte, das weiter entfernt als eine Armspanne war. Doch dann… ganz plötzlich… glaubte ich in all dem Durcheinander vor mir eine Gestalt zu erkennen. Sie war schlank, beinahe zierlich, und schien bei jedem Schritt zu wanken, als würde sie gleich fallen und so schwach sein, dass sie kaum laufen konnte. Die Gestalt kam näher, wurde deutlicher. Und mit einem Mal wusste ich, was mir gefehlt hatte. Wie hatte ich es auch nur eine Sekunde lang vergessen können? Ich breitete die Arme aus. ‚Mein Liebster! Mein Geliebter ich bin hier, ich warte auf dich! Schon so lange warte ich auf dich!’ Kenshin. Es war ganz eindeutig Kenshin, der dort auf mich zukam. Doch wie sah er aus… Mein Herz weinte und schrie. Er war unendlich blass. Sein Körper bandagiert. Seine Schritte waren fahrig und schwach und er taumelte, als würde er bei jedem weiteren Schmerzen empfinden. Seine Augen blickten stumpf und voller Qual. Und doch konnte ich auch die Sehnsucht in ihnen erkennen, die ihn immer noch weiter vorantrieb. Sein einst wunderschönes, kastanienfarben schimmerndes Haar lag matt, glanzlos und feucht an seinem fiebernden Körper. Er hustete. Jetzt war er ganz nah. Ich streckte die Arme nach ihm aus um ihn aufzufangen, ihn zu stützen. „Willkommen daheim, Shinta…“, flüsterte ich glücklich, den Namen auf den Lippen, den ihm seine Eltern einst gegeben hatten und der sein wirklicher war. Der Name, unter dem ich versprochen hatte ihn willkommen zu heißen. Doch dann… …flackerte das Bild. Es gab keine bessere Beschreibung für das, was geschah. Die Szene war dieselbe. Ich war noch immer auf dieser Allee, umgeben von Kirschbäumen. Doch es war nicht mehr Kenshin, der vor mir stand. Die Zeit stand still. Die Blütenblätter, mitten im Fallen begriffen, erstarrten, als wäre die Zeit für einen Moment eingefroren. Und vor mir stand Tomoe. Ich wusste ganz ohne Zweifel dass sie es war, begegnete sie mir doch nicht zum ersten Mal im Traum. Ich war nicht erschrocken. Nur milde überrascht. Und plötzlich konnte ich spüren, dass auch hinter mir jemand war. Ich drehte mich zur Seite und gewahrte ebenfalls ohne wirkliche Überraschung, dass es Kaoru war, die Mutter von Kenshins Sohn. Es konnte nur sie sein. Beide Frauen blickten ernst und ruhig inmitten des erstarrten Blütensturmes auf mich. Dann lächelte Kaoru mir zu. Es war ein sehr warmes, herzliches und wunderbares Lächeln. Ich hatte geglaubt, diese Frauen zu hassen oder doch zumindest sie nicht zu mögen, ich hatte geglaubt meine Eifersucht auf ihren Platz in Kenshins Herz wäre unüberwindlich. Aber dieses Lächeln… Ich empfand nur Wärme und Geborgenheit. Ich befand mich unter Freundinnen, drei Frauen, die dieselbe Liebe in ihren Herzen trugen. Es verband uns. Auch durch die Zeiten. Ich konnte Kaorus Stimme hören auch wenn ich nicht sah, dass sie die Lippen bewegte. „Hab keine Angst. Auch nicht vor dem, was vor dir liegt. Es wird gut sein. Denn mit dir wird es enden. Sein Leid…wird endlich ein Ende finden.“ Ihre Stimme verklang im nicht vorhandenen Wind, wurde leiser. Dann machte Tomoe eine leichte Bewegung und ich blickte zu ihr hin. Sie griff behutsam in den Ärmel ihres Kimonos und holte etwas hervor. Sie legte es auf ihre flachen Hände und hielt es mir dann mit einer ehrfurchtsvollen und sehr bedächtigen Geste hin. Auf ihrem Gesicht war kein Lächeln zu sehen. Und doch war ich mir sicher, dass auch sie mir nichts Böses wollte und unsere Sympathie auf Gegenseitigkeit beruhte. Ich erstarrte jedoch innerlich zu Eis, als ich erkannte, was dort auf ihren kleinen, weißen Handflächen ruhte. Es war ein Dolch. Einer von jenen schmalen, filigran gearbeiteten und dennoch äußerst tödlichen Waffen, welche die Frauen in Japan gelegentlich bei sich getragen hatten. Ebenfalls leicht gebogen und in seiner Form an die kleinere Version eines Katana erinnernd, lag die Klinge dort und fing das Licht dieses Traumes ein. Der Griff war aus feinstem Elfenbein und Jade angefertigt. Ich starrte auf die Waffe hinunter und rührte mich nicht. Was wollten sie von mir das ich tat? Ich war ein wenig ratlos. Und nun kam doch eine leichte Spur von Angst in mir auf. Ich ahnte es. Auch wenn ich es nicht hören wollte. Ich ahnte, was ich tun sollte. Was ich tun MUSSTE… Tomoe hob die Hände noch etwas höher. „Nimm ihn. Und bringe es zu Ende. Du wirst wissen, wann der Zeitpunkt gekommen ist.“ Auch ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne zu mir herüber. Und auch ihr Gesicht blieb unbewegt, während sie sprach. „Wir sind leidvolle Vergangenheit, immer gesuchte Gegenwart und gefundene Zukunft ein und desselben Mannes, einer Seele, die verflucht wurde und niemals Ruhe hatte finden dürfen. Doch mit dir wird es enden. Vertraue uns.“ „Wir werden bei dir sein.“, flüsterte Kaoru. „Immer.“ Ich weinte. Ich merkte es erst, als ich mein eigenes Schluchzen gewahrte und davon erwachte. Die Vision verblasste. Das Bild blieb. Tief eingebrannt in meinem Herzen und in meiner Seele. Und irgendetwas tat furchtbar weh. Es war ein sehr konkreter, körperlicher Schmerz, der mich da auch aus dem Schlaf geholt hatte. Als ich mich nun verstört aufsetzte und Tränen mein Gesicht hinabströmen fühlte, da gewahrte ich das Blut auf meiner Decke und an meinen Händen. Und den Dolch, den ich so fest umklammert hielt, dass ich mich selbst schnitt…. Mit einem Schrei sprang ich auf und schleuderte die Waffe von mir. Das war… doch einfach nicht MÖGLICH! Es war ein TRAUM gewesen! Es war völlig unmöglich, dass dieser Dolch… Wie kam er hierher? Wie zum Teufel kam er HIERHER? Ich war unendlich dankbar dafür, dass Kenshin nicht hier war. Er schien draußen zu sein oder vielleicht unterrichtete er ja auch bereits. Ich hatte keine Ahnung wie spät es war, aber es war bereits hell draußen und zu dieser Jahreszeit mochte dies von fortgeschrittener Stunde künden. Ich atmete schwer, starrte abwechselnd und nahe einer Panik meine blutigen Hände und den Dolch an, der auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers an die Wand geprallt und zu Boden gefallen war. Die Klinge schien mich zu verhöhnen, das Blut an ihr schien mich anzuschreien. Ich konnte es beinahe körperlich spüren. ‚Nein!’, gellte es in meinen Gedanken. ‚NEIN! Das kann ich nicht. Ich WILL es nicht! Das könnt ihr nicht von mir verlangen! Wie kann ich dem Menschen ein Leid antun, den ich am meisten liebe auf der Welt? Wie könnte ich?’ Egal was ich im Traum (Traum?) empfunden hatte, JETZT hasste ich diese beiden Frauen, die mir so eine schwere Bürde auferlegt hatten. Ich sollte seinem Leid ein Ende bereiten? Niemals. Dann war ich eben egoistisch, aber ich wollte ihn nicht gehen lassen. Nicht in diesem und auch in keinem anderen Leben. Etwas schrie und wand sich in mir allein nur bei dem GEDANKEN daran, etwas so Grauenvolles zu tun, wie meinen Geliebten zu verletzen! Ich hörte draußen etwas klirren und gewahrte dann gleich darauf, wie ein Schwert mit leisem, aber charakteristischem Scharren in eine Scheide glitt. Kenshin war also doch hier. Er trainierte wieder. Ich musste… Oh, Gott, ich musste es verschwinden lassen! Er durfte das Messer auf keinen Fall sehen! Ich stürmte hinüber zu der Stelle, wo es lag und raffte es hektisch an mich. Gerade noch rechtzeitig verstaute ich es unter meinem Baumwollkimono, den ich mir von ihm geliehen hatte, und hechtete hinüber zu der Schale mit Quellwasser, die er jeden Morgen für mich hinstellte, damit ich mich waschen konnte. Ich tauchte die Hände in dem Moment in das kalte Wasser ein, als die Tür aufging und er hereintrat. Für einen Moment war es so hell, dass ich seinen Körper nur als schlanken Schatten vor dem Hintergrund wahrnehmen konnte. Er trug ein Handtuch um die Schultern und sein Haar klebte tropfnass und in langen Strähnen in seinem Gesicht. Vielleicht war er auch am Bach gewesen. Er lächelte mich an als er vollends eintrat und die Tür hinter sich schloss, um die kühle Herbstluft nicht hereinzulassen. Ich verkniff mir ein schmerzhaftes Stöhnen, als ich meine Hände nun vom Blut reinigte und die zwar zahlreichen und höllisch brennenden Schnitte begutachtete, die jedoch Gott sei Dank nicht allzu tief zu sein schienen. Als er hinter mir herankam, griff ich nach den zwei Handtüchern neben dem Becken und warf eines davon über das rot gefärbte Wasser, das andere wickelte ich hastig um meine Hände. Ich drehte mich um und nahm dann seinen liebevollen Kuss in Empfang. „Guten Morgen...“, flüsterte er zärtlich. Dann drehte er sich herum und machte sich daran Tee zu kochen. „Hattest du heute Nacht schlimme Träume?“, fragte er scheinbar beiläufig. Ich zuckte zusammen, spürte den Dolch kalt und glatt an meiner Haut liegen. Ich nickte und merkte erst dann, dass er dies ja nicht sehen konnte. „Ja.“, bestätigte ich hastig. „Das habe ich gemerkt. Du warst… unruhig. Und du hast im Schlaf geweint.“ Er hängte den Kessel über das frisch geschürte Feuer der Herdstelle und stand auf, kam auf mich zu. „Du hast mich bei meinem Namen gerufen. Bei meinem richtigen Namen.“ Er er strich mit seinen Fingern sanft über meine Wangen. „Ich habe einmal davon geträumt, dass ich ihn dir gesagt habe. Vielleicht kennst du mich auch besser als ich mich selbst. Habe ich ihn dir je wirklich gesagt? Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht… Irgendwann… In einem anderen Leben… Vielleicht auch nicht. Aber du kennst ihn.“ Ich lächelte schwach. „Shinta… Was für ein wunderschöner Name.“ Er nickte leicht. „Ja. Ein Name aus meiner Vergangenheit, den ich hinter mir ließ. Ich war und bin Kenshin und…“ „… für mich wirst du es immer sein.“, vollendete ich flüsternd den Satz. Er wandte den Kopf. Seine Augen leuchteten und strahlten mich an. Die Tiefe seiner Gefühle war überwältigend. Er nahm mein Gesicht in beide Hände. Sein Kuss war sehr tief und leidenschaftlich. Wenn ich meine Hände nicht verzweifelt hinter mir verschränkt hätte halten müssen, damit er das Blut nicht sah, dann wäre ich schwach geworden – wie so oft. Ich löste mich stattdessen nach einer Weile atemlos von ihm und lächelte entschuldigend. „Ich… gehe kurz nach draußen an den Bach. Ich will… mich ein wenig frisch machen.“ Kenshin wunderte sich zwar ein wenig, da ich ja augenscheinlich bei seinem Eintreten bereits bei der Morgentoilette gewesen war, doch er sagte nichts. Nur sein Blick… wurde seltsam ernst, beinahe forschend. Ich drehte mich hastig um, nahm die Schale auf und eilte mit ihr und den Handtüchern zur Tür. Erst als ich draußen war und zum Bach ging atmete ich auf. Ich konnte ihm nichts vormachen. Noch wenige Augenblicke und er hätte mich durchschaut – oder ich hätte es ihm gesagt. Ich schüttete das blutige Wasser in den Bach, beobachtete wie es sich träge verteilte und dann auseinander trieb. Dann hockte ich mich ans Ufer, wusch erst die Hände, dann die Handtücher aus. Schließlich griff ich unter den Kimono und holte den Dolch hervor. Seine Klinge hatte die Wärme meines Körpers angenommen. Merkwürdig. Auch wenn dies eindeutig eine Waffe war und die beiden Frauen in meinem Traum keinen Hehl daraus gemacht hatten, was ich damit zu tun hatte, so konnte ich nun doch nichts weiter empfinden als Resignation wenn ich die Klinge betrachtete. Vorhin, beim Erwachen, war ich erschrocken und panisch gewesen. Doch jetzt… Gut, ich hatte diesen Dolch nun. Aber das hieß ja nicht, dass ich ihn wirklich auch benutzen musste. Niemand konnte mir vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen hatte. Es war MEINE Entscheidung, was ich damit tat. Ich tauchte die Schneide ins Wasser, wusch mein Blut von ihr ab. Feine Tropfen perlten auf ihr, als ich sie danach ganz nah ans Gesicht hob um sie zu bewundern. Nichtsdestotrotz war es eine unglaublich wundervolle Arbeit. Ich blickte auf meine Hände hinunter. Das Wasser und auch die Temperaturen hier draußen waren so eisig, dass es bereits aufgehört hatte zu bluten. Ich erhob mich, steckte den Dolch wieder unter meinen Kimono. Während ich zum Haus zurückging verließ mich die neu gewonnene Zuversicht bereits wieder mit jedem schweren Schritt den ich tat. Und ich fragte mich, ob ich wirklich das Recht hatte ihm die Chance zu verwehren, die vielleicht einzige Chance, aus diesem Chaos aus Schmerz und Leid zu entkommen – wenn sie es denn war. Aber ich wollte und konnte ihn nicht gehen lassen. Er bedeutete die Welt für mich. Und ich wollte ohne ihn nicht sein. Niemals wieder. ‚Liebster. Was soll ich nur tun? Ich kann dich nicht einmal fragen. Mit dieser Entscheidung stehe ich allein da. So allein, wie du es in all den vielen Jahren gewesen sein musst. Ich werde versuchen die Kraft in mir zu finden das Richtige zu tun. Mein geliebter Kenshin…’ Kapitel 11: My hands -------------------- Es ging auf die Weihnachtsfeiertage zu, als irgendetwas damit begann, meine Laune und auch mein Glück zu trüben. Ich konnte nicht benennen, woher dieses plötzliche Gefühl der inneren Unruhe kam, das von mir Besitz ergriff. Hätte ich genau überlegt, dann wäre mir durchaus klar gewesen, dass es der Traum gewesen war, der mir noch im Nachhinein ein Kopfzerbrechen bereitete, das ich nur zu bereitwillig ignorieren wollte. Seitdem hatte ich wieder schlechte Träume. Träume, die mich während der ersten Wochen unserer Liebe nicht mehr heimgesucht hatten und nun mit Macht erneut auf mich einstürmten. Kenshins Gegenwart war nach wie vor das Schönste für mich, meine Erfüllung. Dass er meine Gefühle erwiderte hätte ich mir niemals zu träumen gewagt. Ich war sehr glücklich und doch fragte ich mich, warum der Trost, den wir uns gegenseitig zukommen ließen, nun nicht mehr auszureichen schien. Es war wie eine dunkle Vorahnung von etwas, das unaufhaltsam herankam - wie bei einem Unwetter, das sich drohend und mit düsteren Wolken am Horizont ankündigte. Aber ich verschloss die Augen vor dem Offensichtlichen, das mir schon der Traum vermittelt hatte. Ich vergaß den Dolch, der fortan am Boden meiner Tasche ruhte. Absichtlich weit unten und unter einem Stapel von Skizzenpapier vergraben. Ich wollte nichts wissen davon, dass es vielleicht enden konnte, dass unsere Liebe nicht von Dauer sein könnte. Ich wollte auch nichts davon hören, dass der erste Schnee den für mich so wunderschönen Herbst zum Sterben verurteilte. Der Winter hielt Einzug. Und kurz vor den Feiertagen tat er dies mit eisiger, schneidender Kälte, heftigem Nordwind und Eisblumen an den Fenstern. Das alles interessierte mich nicht. Ich klammerte mich - zugegeben - nur noch fester an die Wärme, die Kenshins Liebe mir vermittelte. Ich verschloss mich vor den anderen, zog mich mehr und mehr zurück. War nur noch bei ihm. Dass dies auf Dauer auch nicht gerade eine Lösung war, war mir klar. Aber ich konnte nicht anders zu jenem Zeitpunkt. Ich wollte die Zauberhaftigkeit dieses ausklingenden Jahres mit beiden Armen ganz festhalten. Doch zugleich spürte ich, dass ich das nicht konnte. Mein eigener Aufschrei riss mich abrupt und ziemlich unsanft aus dem Schlaf. Senkrecht fand ich mich in meinem Bett wieder, mein Herz raste und mein Atem ging sehr schnell, als hätte ich einen Sprint hinter mir. Leicht drehte sich das Zimmer um mich und nur ganz langsam fand ich zurück in die Realität. Ich erinnerte mich nicht einmal mehr daran, dass ich am vergangenen Abend HIER schlafen gegangen war, und nicht bei ihm, bei Kenshin. Das Bett war kalt. Dennoch trat mir Schweiß aus allen Poren. Und mit neuerlichem Schrecken wurde mir klar, dass es Angstschweiß war. Was mich wiederum an meinen Traum erinnerte... Keuchend sog ich die Luft ein und hielt sie geschlagene zwanzig Sekunden an. Ich blinzelte nicht einmal. Mein Gott... Konnte das wirklich...? Nein. Das durfte einfach nicht... So unendlich viel Blut… So viel Schmerz… Mit einem Stoßseufzer, der fast einem Schrei gleichkam, entließ ich die Luft schließlich aus meinen Lungen. Meine Hände krampften sich hilflos in die Bettdecke. Warum nur hatte ich mich ausgerechnet in dieser Nacht dafür entschieden HIER zu bleiben und nicht zu ihm zu gehen? 'Ganz ruhig, Madoka...', schalt ich mich in Gedanken. 'Es war ein Traum. Nur ein Traum. Wie du so viele in letzter Zeit hattest.' In der verzweifelten Hoffnung mich ablenken zu können sah ich mich nach Gladys um - und wurde enttäuscht. Sie war nicht da. Oder vielmehr: Nicht MEHR da. Ihre Laken waren zerwühlt. Ich atmete tief. Versuchte den Albtraum, denn nichts anderes war es gewesen, endgültig abzuschütteln. Ich machte mir wahrscheinlich wieder einmal viel zu viele Sorgen. Während ich mich fröstelnd aufsetzte streifte mein Blick die Staffelei und mir fiel wieder ein, warum ich gestern hier geblieben war. Ich hatte die Arbeit für meinen anatomischen Kunstkurs fertig stellen wollen, die wir heute abzugeben hatten. Da ich noch nicht einmal angefangen hatte bis zum gestrigen Tag, hatte ich schweren Herzens entschieden den Abend und die Nacht auf meinem Zimmer zuzubringen und zu arbeiten. Ich raufte mir im wahrsten Sinne des Wortes die Haare. Denn erstens war das, was ich auf der Leinwand sehen konnte nicht viel mehr als nichts und zweitens - absolut grauenhaft, auch in der Farbwahl... Was zum Teufel hatte mich geritten, ein so hässliches Motiv zu malen? Ich zermarterte mir das Hirn, stand auf und trat näher heran. Ich war ja wirklich unglaublich kreativ gewesen letzte Nacht. Ich seufzte und schüttelte entnervt den Kopf. Das Bild zeigte die dunkle beinahe schwarze, schattenhafte Karikatur einer Hand, die man aber nur mit viel Mühe überhaupt ausmachen konnte, weil sie nämlich von Schlamm oder Dreck komplett besudelt schien. Vielleicht war es aber auch etwas anderes. Vielleicht Blut? Aber weshalb hatte ich dann die Farbe braun, ja beinahe schwarz gewählt? Oder wirkte es nur so? Und was war das überhaupt für eine Motivwahl? Ich wusste doch sehr genau, dass ich meine liebe Not damit hatte menschliche Hände zu zeichnen. Und was suchte ich mir als Motiv aus? Ich runzelte die Stirn. Mich hatte wohl gestern ein wenig der Ehrgeiz gepackt, das Thema „Hände“ endlich zu bewältigen. Dennoch. Mir hätte besseres einfallen können. Ich war dieser Tage wirklich nicht mehr ich selbst, verleugnete mich nur noch. Auch mir selbst gegenüber. Denn das, was mich wirklich tief bewegte war natürlich Angst. Eine unendlich tief verwurzelte Angst den Menschen zu verlieren, der mir die Welt bedeutete. Nein, ich wollte nicht daran denken. Ich musste mich konzentrieren. Ich schüttelte den Kopf und verfrachtete das Bild in eine Ecke des Zimmers, bedauerte leicht die vertane Zeit und Kapazität. Aber das konnte ich so nicht abgeben. Ich wollte es nicht. Ich holte mir ein kleineres Leinwand-Format aus dem Schrank, stellte es auf die Staffelei. Und noch im Pyjama begann ich zu überlegen, den Pinsel zwischen die Lippen geklemmt, das Haar komplett zerzaust. Ich hatte eigentlich keine Lust zum Thema zu malen. Ich hatte vielmehr... Ein Schauer überlief mich. Eiskalt und sehr deutlich. Es war, als würde eine Berührung mich streifen, meinen Rücken entlang gleiten und mir den Atem zuschnüren und mit dünnen, kalten Fingern nach meinem Herzen greifen. Deutlich spürte ich in mir die herannahende Gefahr. War aber noch immer irritiert. Weil sie nicht konkret war. Sie richtete sich auch nicht gegen mich selbst. Das fühlte ich plötzlich. Und dann.. wusste ich es. Heute. Die Bilder des Albtraumes von letzter Nacht stiegen wieder in mir auf, ich sah sie, konnte meinen Blick nicht abwenden, waren sie doch ein Teil von mir. Panik drohte mich mit schwarzen, übermächtigen Wogen zu verschlingen. Heute. Woher ich das wusste war mir nicht klar. Aber ich wusste, dass Enishi HEUTE auftauchen würde. Und heute würde es zu einem letzten, alles entscheidenden Schlagabtausch zwischen Kenshin und ihm kommen. Heute… Ich begann zu zittern. Ich presste die Lider einen Moment lang so fest zusammen, dass ich bunte Kreise vor meinem inneren Auge sah. ‚Du spinnst.’, rief ich mich herrisch zur Ordnung. ‚Woher willst du das denn wissen? Du hattest noch nie hellseherische Fähigkeiten. Also komm runter und konzentrier dich! Bild dir ja nicht ein, dass du neuerdings Dinge vorhersehen könntest. Ausgerechnet jemand wie du, Otto Normalo schlechthin. Das ist glatter Irrsinn. Ganz ruhig bleiben. Tief atmen. So ist es gut. Wahrscheinlich hat nur irgendwo ein Fenster offen gestanden und es hat gezogen…’ Ich log mir selbst etwas vor. Mal wieder. Aber mit wenigstens mäßigem Erfolg. Zwar bekam ich heute kein einziges Bild mehr zustande, aber zumindest besuchte ich ein paar Vorlesungen. Ich war körperlich anwesend. Das war aber auch schon alles. Die Unruhe, die mich in letzter Zeit überkommen hatte war heute Morgen zu etwas Unaussprechlichem herangewachsen. Ich musste mit Kenshin darüber sprechen. Nicht erst heute Abend. Gleich jetzt, nach der Lesung am frühen Nachmittag, würde ich zu ihm gehen. Und unbewusst begann ich den Stift in meiner Hand hektische zu drehen, sodass Mei Lin, die neben mir saß, mir seltsame Blicke zuwarf. ~~~oOo~~~ Kenshin Himura liebte den Schnee. Wie eine weiche, weiße Decke lag er über allem, über dem ganzen Land und alle Laute wirkten gedämpft. Es war sehr friedlich und ruhig hier draußen. Die Wintersonne zeigte sich ab und an und stach mit goldenen Strahlen bis hinab zu der in funkelndes Eis gehüllten Erde. Ihr Licht brach sich dann und blendete beinahe, so hell strahlte es. Der Schnee ließ alles unwirklich werden. Er verbarg Dinge. Und das war gut so. Er verbarg und er ließ Dinge schöner werden. Nicht nur hier draußen. Kenshin stand an dem kleinen Bachlauf, der nun teilweise zugefroren zu seinen Füßen träge flüsternd dahinfloss. Er hatte das Gesicht gehoben, die Augen geschlossen und atmete tief die kalte, klare Luft ein. Es war wunderschön. Doch es war ein Traum. Wie immer. Madoka und er hatten sich Zeit gestohlen. Kostbare, wunderbare Zeit. Er wusste nicht, wem genau er dafür danken sollte, aber dankbar war er. Das ließ sich nicht leugnen. Denn zum ersten Mal auf seiner langen, ruhelosen Wanderschaft hatte er wirklich das Gefühl, angekommen zu sein. „Zu Hause…“, flüsterte er leise und ein fernes Echo schien auf seine Worte zu antworten. „Willkommen daheim, Shinta…“ Ein eisiger, leichter Wind glitt durch sein langes, dunkelrot schimmerndes Haar, bauschte es und ließ es wie einen seidigen Vorhang um ihn wehen. Ja. Es war zu Ende. Vorbei. Die Zeit, die sie sich genommen hatten. Sie würde enden. Nicht bald, nicht morgen. Sondern jetzt. Als er sich umwandte blickte er ruhig in das Gesicht seines Gegners, der schweigend unter einer Weide gewartet hatte. Wie lange Enishi schon so dort gestanden hatte wusste er nicht. Aber auch das war gleich. Nicht wichtig. Kenshins dunkelblaue Augen verengten sich, wurden schmal, forschend. Enishi trat langsam unter den tief hängenden Ästen des Baumes hervor auf die kleine, schneebedeckte Lichtung – und es war, als würde die Sonne verhüllt werden, als würde die Welt den Atem anhalten. Denn schlagartig war kein anderer Laut mehr zu hören, als ihrer beider Schritte im Schnee und es war auch nichts anders mehr zu sehen, als sie voreinander zum Stehen kamen, als ihr Atem, der sich vor ihren beiden Gesichtern als grauer Dampf manifestierte. Wolken zogen auf, kündeten von neuerlichem Schnee. Es wurde merklich dunkler. Wie seltsam, dass mit dem Unheil meist auch andere Symptome einhergingen, die alles nur noch unterstrichen und düsterer erscheinen ließen. „Bist du bereit?“, fragte Enishi. Seine Stimme war so kalt und schneidend wie der Wind, der nun immer mehr auffrischte. Kenshin presste die schmalen Lippen aufeinander. „Ich muss dich warnen, Enishi.“, er senkte die Hand auf das Heft seines Katana. „Dies ist das erste Mal, dass du mich forderst und ich tatsächlich noch etwas habe, für das ich kämpfen werde.“ Enishi lachte leise und wie immer auch sehr böse. „Du Narr. Glaubst du wirklich das wäre NICHT so gewollt? Meinst du nicht, dass ich die Kleine JEDERZEIT hätte töten können, wenn es dem Zweck dienlich gewesen wäre? Oh nein, das wäre viel zu einfach, Battosai.“ Enishis Augen waren so düster wie der winterliche Wolkenhimmel. Kenshins Augen weiteten sich. „Ja, genau, du beginnst wohl zu begreifen.“, lächelte sein Gegner. „Sie ahnt es, weißt du? Soeben stirbt sie beinahe vor Sorge um dich. Und sie wird schon bald hier sein. Wie wäre es dann, wenn dieses Mal ICH es bin der sie tötet? Das ist zwar nur ein sehr schwaches Bild von Rache, wenn ich das mit deinen bisherigen Taten vergleiche, wo du selbst Hand an deine Geliebte gelegt hattest. Aber, mh…, ich komme nicht umhin, dass der Gedanke doch etwas für sich hat, meinst du nicht? Zumal dir DIESES Mädchen etwas zu bedeuten scheint, das die anderen nie erreicht haben.“ Noch fester pressten sich Himuras Lippen aufeinander. Er zitterte vor mühsam verhohlener Wut. Er musste sich beherrschen! Enishi wollte ihn ganz bewusst provozieren, das war ihm klar. Änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass es funktionierte. Und Enishi entging das auch nicht. „Wunderbar!“, sagte er und zog nun langsam sein eigenes, breites Schwert aus der prachtvollen Scheide an seiner Seite. Es gab ein leises, singendes Geräusch. „Du begreifst also, worauf ich hinaus will. Das ist gut, Battosai Himura. Das ist GUT.“ Sein Gesicht verzerrte sich schlagartig. „Erinnerst du dich? Damals an jenem Strand? Als du deine kleine Frau retten gekommen bist? Als wir gegeneinander kämpften? Da war nur sie allein es, die mich davon abhielt dich zu töten. Nur sie – und der Gedanke an meine Schwester, die dich aus unerfindlichen Gründen geliebt hat. Ich habe Tomoe immer geliebt, aber ich habe sie für ihre Gefühle für dich gehasst. Abgrundtief. Weißt du, was für ein schreckliches Gefühl das ist, seine eigene Schwester HASSEN zu müssen? Und wer ist Schuld daran? Und du mimst den heiligen Samariter, erzählst mir, dass meine Schuld getilgt sei, wenn ich nur Vergebung lerne? Was BILDEST du dir ein, der du tausende Menschen auf dem Gewissen hast, den Moralapostel zu spielen? Und wie KONNTEST du es nur wagen, meine Schwester auch nur ANZUSEHEN?!“ Enishis Grinsen verzerrte sich, wurde irr. Er lachte. Seine Wut steigerte sich zur Raserei, nur noch Sekunden von einer Explosion entfernt, die den Kampf bestimmen würde. "Hinzu kommt, dass ich, so zuwider mir dies auch ist, an dich und dein Schicksal gebunden zu sein scheine. Warum sonst muss auch ich immer wieder zurückkehren? Warum sonst kann ich nicht vergessen? Vielleicht, weil deine Strafe noch immer nicht verbüßt ist, Battosai? Kann das sein?", er grinste schief. "Dann ist es nur Recht und billig mich als deine Nemesis zu bezeichnen. Wenn ich dazu ausersehen bin, die Strafe an dir zu vollziehen. Wieder, und wieder, und wieder..." Kenshin blieb ganz ruhig. Es überraschte ihn nicht wirklich, dass Ensihi sich selbst so in Rage redete. Er war immer schon so gewesen. Und wer konnte es ihm verdenken? Selbst jetzt noch, nach all diesen Jahren und Leben, in denen er ihn verfolgt hatte, konnte Kenshin diesem groß gewordenen Kind vor sich nicht böse sein. Auch er hatte sich sein Schicksal sicher nicht ausgesucht. Hinter all dem steckten Hilflosigkeit und Trauer. Er hatte den Menschen verloren, der ihm am Meisten bedeutete. Und wer, wenn nicht er selbst, konnte ahnen, was dies genau hieß… „Enishi…“, flüsterte Himura leise. „Wir müssen nicht kämpfen. Es ist schon zu viel Blut geflossen. In JEDEM Leben, das wir geführt haben. Ich weiß, dass ich meine Schuld NIEMALS tilgen kann. Sie wird das Kreuz sein, das ich zu tragen habe - wie lange noch, das weiß nur der Erleuchtete selbst. Vielleicht nicht einmal er. Vielleicht hat er sich von mir abgewandt. Zu Recht. Aber du, Enishi. Du bist verbittert, enttäuscht und voller Zorn. Du wolltest nur verletzen, weil DU verletzt wurdest. Niemals hast du wirklich aus eigenem Antrieb getötet. Dich hat immer irgendetwas gezwungen, dich so verändert, dass du nicht anders handeln konntest. Aber höre, Enishi, du kannst es beenden. Lass und all dies Blutvergießen beenden, heute und hier. Ich bin sicher, du wirst deinen Frieden finden. Für dich mag es noch nicht zu spät sein. Das ist es, was Tomoe gewollt hätte.“ Doch Enishi Yukishiro antwortete nicht. Seine Lippen zuckten. Wie konnte er es nur wagen? Schon WIEDER! Wieder hatte er behauptet zu wissen, was seine Schwester gewollt hätte. Wie KONNTE er es wagen? Und wie hatte SIE es wagen können, ihm JEMALS zu vergeben? Nein. Er würde NICHT vergeben. Es gab einen GRUND warum er wieder und wieder lebte, warum er immer wieder zurückkehrte. Er wollte Rache und er würde sie einmal mehr bekommen. Er fühlte das Blut heiß und rasch durch seine Adern jagen. Vorfreude. Ja. Vorfreude darauf, Himura erneut leiden zu sehen. So wie er selbst gelitten hatte. All dieser Schmerz, der seinen Lebensmut genommen und sein Haar in jenem fernen Winter grau hatte werden lassen. Der sein Leben zu einem NICHTS reduziert hatte. Seine Seele mochte nun, so wie die des Battosai, in einem anderen Körper wohnen. Doch es war immer noch er selbst und sein Hass der hier vor Himura stand. Mit einem Ruck wandte er den Kopf und starrte in die Augen seines verhassten Feindes, musterte mit brennendem Blick dessen schmales, blasses Gesicht. Mit einer Wut und einem Hass, der alles zu verschlingen schien. Er hatte... ein seltsames Gefühl. Wie ein Hauch, der seine Sinne durchfuhr. Vielleicht hatte Himura zumindest auf EINE Weise Recht. Vielleicht würde es heute enden. Die Wirklichkeit… schien zu flackern, inne zu halten. Zeit verlor jegliche Bedeutung, als Enishi mit einem gellenden Schrei auf den Lippen, der Welten zu durchdringen schien, vielleicht ein letztes Mal und mit einer beinahe animalischen Urgewalt, den Wanderer anzugreifen begann. ~~~oOo~~~ Ich stürmte in mein Zimmer, um den Mantel zu holen. Es war mir mittlerweile egal, ob ich mir selbst meine Ahnungen nur einbildete, oder wo auch immer sie sonst herkommen mochten. Sie waren DA. Und das allein sollte Grund genug sein, mit Kenshin zu sprechen. Ihn vielleicht auch zu warnen… Ich brauchte Gewissheit. Und wollte ihn wiedersehen… Seine Stimme wieder hören… Auch jetzt noch, nach Wochen, in denen wir uns geliebt hatten als würde es kein Morgen und keine Zukunft geben, kribbelte es noch immer in meinem Unterleib, entfachte es noch immer diese Wärme in meiner Brust, wenn ich auch nur an ihn dachte. An sein seltenes, so wunderbares Lächeln, das mich jedes Mal wie ein Pfeil durchdrang. Ich liebte ihn so unendlich. Ich hatte selbst ein wenig Angst vor der umfassenden Tiefe dieser Gefühle. Nie zuvor hatte ich so empfunden. Kenshin war der Mann, mit dem ich mein Leben verbringen wollte. Genau wie er sollte mein Kind aussehen, wenn ich denn eines bekommen durfte. Wenn es uns vergönnt sein würde… Ein Ruck schien durch die Realität zu laufen, als hätte jemand die Zeit für eine Sekunde angehalten. Es war gespenstisch und unbeschreiblich. Kälte griff erneut und sehr viel stärker nach meinem Herzen. Ich blinzelte und erkannte, dass die Zeit wie gewohnt weiterlief. Hatte ich mir das nur eingebildet? Nein. Dieses Mal funktionierte die Ausrede nicht mehr. Ich starrte aus dem Fenster hinunter zum Wald des Campusgeländes. Wo war die Sonne geblieben? Schwarze, tief hängende Wolken schienen sie verschlungen zu haben. Und aus Ahnung wurde schlagartig bange Gewissheit. „Kenshin…“, flüsterte ich voller Angst. Ich warf den Mantel über, griff ohne nachzudenken nach meiner Tasche und wollte auf der Stelle das Zimmer verlassen, als Mei Lin und Gladys mit geradezu provozierend guter Laune in den Raum platzten und mir den Weg versperrten. Beide hatten rote Bommelmützen auf und Gladys sang (ziemlich schräg) ein Weihnachtslied… Auch das noch. Dies war nun wirklich der unpassendste Moment… Jede Sekunde zählte! Das spürte ich einfach. Rigoros und ohne Erklärung versuchte ich mich an den beiden vorbeizudrängeln, die gar nicht daran dachten, noch weiter ins Zimmer zu kommen und die Tür blockierten. „Ho-ho-ho, wohin so eilig Kind? Warst du nicht brav und versuchst jetzt der Rute zu entfliehen?“ Beide Mädchen kicherten albern. Gott. War diese Welt immer schon so naiv und kleinkariert gewesen, so blind für die wirklich wichtigen Dinge? Endlich hatte ich mich durch die Tür gekämpft und stürmte mit großen Sätzen die Treppe hinunter. Gladys und Mei Lin sahen mir ein weiteres Mal in dieser unsäglichen Geschichte entgeistert nach. Irgendwie taten sie mir auch langsam ein bisschen Leid… ~~~oOo~~~ Ein wilder Schlagabtausch folgte dem nächsten. Blitzende Schwertklingen drangen mit hellem Klirren und Singen immer wieder aufeinander ein, tanzend und tödlich. Die Luft schien zu vibrieren. Kenshin befand sich in der Defensive. Aber sein Sakabatou war auch nicht für den Angriff gemacht. Er verteidigte sich nur, was Ensihi zu nur noch größerer Verbissenheit und Wut anstiftete. Er drängte den zierlichen Schwertkämpfer unbarmherzig zurück bis dieser einen Schritt in den Bachlauf hinein machte. Eis krachte unter seinem Fuß und er strauchelte gefährlich. Enishi setzte sofort nach, um die Blöße zu nutzen, die sich Himura gab. Doch Kenshin war ebenfalls ein hervorragender Kämpfer, der auch in ungünstigen Situationen noch einen kühlen Kopf behielt. Er parierte beinahe mühelos und war flink wie ein Wiesel an Enishi vorbei, um seine ungedeckte Flanke zu attackieren. Doch selbst wenn er traf, würde er den Gegner mit der verkehrten Klinge seines Katana nicht ernstlich verletzen können. Das wollte er jedoch auch nicht. Das hatte er NIE gewollt. Enishi knurrte böse. Er wirbelte herum und fing das Sakabatou mit der eigenen Waffe ab. Wieder und wieder drangen die schimmernden Schwertklingen aufeinander ein. Die Kontrahenten umkreisten einander, lauerten auf eine Lücke in der Deckung des Gegners. Enishis gradliniger Kampf, der von Stärke zeugte, und Kenshins leichte, ruhige und wohlüberlegt aufgebaute Deckung wirkten wie eine bizarre Art von Tanz, genau wie damals auf der Wiese, als Enishi zum ersten Mal hier aufgetaucht war. Kenshins athletischer Leib war schnell und wo Enishi mit purer Gewalt zu gewinnen suchte, so ließ ihn Kenshin nicht an sich herankommen, da er ihm immer ein kleines Stück in der Bewegung voraus war. Dennoch begannen beide schneller zu atmen und trotz der Kälte glänzten ihre Gesichter vor Schweiß. Strähnen dunkelroten Haares klebten Himura in der Stirn. Enishi wischte sich den Schweiß vom Kinn, nahm erneut breitbeinig Aufstellung. „Ist das wirklich schon alles? Nur Verteidigung? Ich bin so enttäuscht von dir. Aber das sollte mich nun wirklich nicht mehr überraschen. Ein Samariter warst du und bist du geblieben. Heuchler. Du selbst bist hier nämlich der größte Sünder.“ Kenshin trat zurück, senkte die Klinge des Sakabatou. Er atmete schnell, seine schmale Brust hob und senkte sich rasch. „Du hast Recht, Enishi. Aber ich habe dies auch nie bestritten.“ „Nein.“, fauchte Yukishiro böse. „Aber du hast geheuchelt! Geheuchelt, als würde dein gutes Wesen, dass du jetzt zur Schau trägst, alles wieder gut machen! Aber ich muss dich enttäuschen! Nichts davon was du getan hast in der Vergangenheit kann durch irgendein vorgetäuschtes Verhalten in der Gegenwart wieder gutgemacht werden! Diese Menschen, die du umgebracht hast, meine Schwester! Sie werden nicht wieder lebendig dadurch!“ Enishis Gesicht war wutverzerrt – jedoch jetzt auch von Tränen des Zorns überströmt. Er merkte es selbst nicht einmal. „Nein.“, sagte Kenshin nun leise. Er senkte den Kopf. „All jene, denen ich Leid und Tod gebracht habe, werden nicht wieder zurückkehren. Nicht zu dir. Und auch nicht ins weltliche Leben an sich. Aber zu mir, Enishi, und das glaube mir. Zu mir kehren sie zurück. Jede Nacht. Jeden Tag. Ich höre ihre Stimmen. Ich sehe, wie sie anklagend auf mich deuten. Wie sie nach meinem Tod verlangen, oder nach noch schlimmerer Qual. Doch deine Schwester, Enishi, Tomoe. Sie kommt zu mir, im Traum, und verurteilt mich nicht. Sie hat es nie getan. Sie schenkt mir ein Lächeln, das anders sein mag, als das, was sie dir immer geschenkt hat. Aber doch ein Lächeln. Und ich weiß, dass ich auf dem richtigen Weg bin, wenn ich auch niemals wieder gutmachen kann, was ich getan habe. Enishi, deine Schwester liebt dich. Und sie trauert. Um den Menschen, der du einmal warst. Und der für immer verloren scheint.“ „Halt dein Maul!“, brüllte Enishi und seine rot umrandeten Augen funkelten. Jetzt reichte es. Er hatte es WIEDER gesagt. „Halt dein verdammtes Maul! Woher willst du wissen, was meine Schwester denkt und was nicht?!“ „Weil sie es mir sagt.“, erwiderte Kenshin unbeeindruckt. „Wann immer sie zu mir kommt. Im Traum. Vielleicht… ist dieses ewige Leid, diese immerwährende Wiederkehr in neue Leben eine Art… Reinigung unser BEIDER Seelen, Enishi. Vielleicht soll ich büßen – und du sollst bekehrt werden.“ Yukishiros Lachen troff vor Hohn. „JETZT klingst du wirklich wie ein verkappter Heiliger. Scheiße, lass mich mit diesem Unsinn in Ruhe! Ich weiß nicht genau, warum wir hier sind, und auch nicht, warum ich dir immer folgen muss. Aber bislang habe ich es genossen dich leiden zu sehen. Leben für Leben für Leben. Immerfort. Dein Leid, war mein Labsal, dein Schmerz mein Trost. Und dein Verlust meine Genugtuung. Ich hasse dich aus tiefster Seele. Glaubst du wirklich, ich WILL bekehrt werden? So ein Schwachsinn.“ Und erneut drang er mit dem Schwert auf Himura ein, kämpfte wie ein Berserker und voll hilflosem Zorn. Und er merkte immer noch nicht, dass er dabei unablässig weinte. ~~~oOo~~~ Ich lief über die verschneiten Wiesen in Richtung Wald. Verbissen kämpfte ich mich durch die teilweise überraschend hohen Schneewehen. Es war bitterkalt geworden jetzt, wo die Sonne nicht mehr zu sehen war. Die ersten, dicken Schneeflocken begannen lautlos zu fallen. Um mich herum war eine zauberhaft winterliche Landschaft entstanden – und das quasi über Nacht. Aber ich hatte keine Augen dafür. Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich konnte es so schnell rasen fühlen, dass ich beinahe überzeugt war, dass es nicht mein eigenes war. Absurderweise kam mir ausgerechnet jetzt ein Lied in den Sinn, dass ich sehr mochte. Eine Zeile darin lautete: „Couldn’t leave you, even if I try, your heart beats inside of me…“ Ja, vielleicht war es längst nicht mehr MEIN Herz, dass da in meiner Brust schlug. Sondern seines, das er mir so bereitwillig schenkte. Was ich wie einen Schatz hütete. Und wofür ich unendlich dankbar war. Voller Angst lief ich schneller und drang in den Wald ein. Hier lag der Schnee nicht so hoch und ich kam besser vorwärts, brach mir grob einen Weg durch das Unterholz. ‚Kenshin! Sei stark! Bitte! Ich komme!’ ~~~oOo~~~ „Oder ich werde Dich töten! Jetzt und hier! Vielleicht hat es dann ein Ende, was meinst du? Und wenn die Kleine kommt wird sie dich in deinem Blut liegen sehn! DAS ist wahres Leid! Ich dachte immer, es würde mich freuen, wenn ich das an dir sehe – und ich hoffe, dass du dann gerade noch am Leben bist, um ihr Gesicht zu sehen! Aber dieses Leid an euch BEIDEN zu sehen… wird alles übertreffen! Dann ist meine Rache vollendet!“, schrie Enishi und lachend (und unter unablässigen Tränen) drang er immer wilder auf Himura ein, der die Schläge des breiten Schwertes nun wirklich nur noch abwehrte, tänzelnd aber schwer atmend. Beide hatten nun schon Blessuren davongetragen – Himura blutete sogar aus zahlreichen kleineren und einer größeren Wunde. Die alte Narbe an seiner Brust war wieder aufgegangen und tränke seinen Yukata dunkelrot. Im Schnee wirkte das Blut beinahe schwarz. Enishi schien zu spüren, dass Himuras Kräfte nachließen, ja, dass er sogar versuchte, nicht mit voller Kraft gegen ihn zu kämpfen, dass er es geradezu vermied. „Nun ja, wenn der Hitokiri Battosai nicht mit mir kämpfen will soll mir das auch recht sein. Hauptsache du blutest. Für alles was du mir angetan hast.“ ‚Er hat den Verstand endgültig verloren’, dachte Kenshin traurig. ‚Er hat den Verstand verloren und ich kann nichts mehr für ihn tun… Ich fühle mich so hilflos…’ Doch er brauchte nicht weiter zu überlegen, was er noch tun konnte und was nicht. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. ~~~oOo~~~ Ich hatte die Lichtung erreicht. Stocksteif blieb ich stehen und starrte auf die Szene aus meinem Albtraum. Auf die Erfüllung all meiner furchtbaren Ahnungen. Auf die Wahrheit. Der Schnee zeigte dunkle Spuren von Blut, war zerwühlt durch den Kampf und die Schritte, welche die Beiden umeinander kreisenden Kontrahenten hinterlassen hatten. Schnee sprühte auf, wo sie umherwirbelten. Ich sah Enishis wütende Hiebe wie durch einen weißen Nebel, hörte seine schrille Stimme, die sich beinahe überschlug. Und ich sah auch jetzt voller Liebe Kenshin an, der zwar sichtlich erschöpft, aber immer ruhig und leichtfüßig parierte. Langes, dunkelrotes Haar peitschte durch den Nebel aus Schnee. Er lebte! Gott sei Dank. Doch wie lange konnte das noch so weitergehen? Ich wollte schon den Mund öffnen um meinem Geliebten zu sagen, dass ich da war, dass ich an seiner Seite sein würde, egal was kam. Da landete Enishi einen entsetzlichen Treffer. War es Absicht gewesen von Himura? Wie hatte er seine Deckung so vernachlässigen können? Mit schreckgeweiteten Augen sah ich, wie Enishis Klinge Kenshins Schulter traf und aufriss, der Stoff und viel zu viel Blut gingen zu Boden. Kenshin stöhnte vor Schmerz. Ich konnte seine Qual beinahe am eigenen Leib spüren und ich wimmerte leise, wollte nicht sehen was nun kam. Himura glitt auf ein Knie hinab, das dunkelrote Haar fiel nach vorn, über sein schmerzverzerrtes Gesicht, über seine bloße, schmale Schulter. Und doch musste ich sehen. Ich sah wie Enishi triumphierend seine Klinge hob. Kein Zweifel. Dieser Hieb würde Himura töten. Und ich dachte nicht mehr nach, handelte nur noch. Wieder einmal war es, als ob ein anderer Wille von mir Besitz ergriff, als wenn ich nur noch ausführendes Organ einer anderen, unbekannten Macht war. Ich hatte keine Ahnung, und in dem Moment war mir das natürlich auch nicht bewusst - und ziemlich gleich. Lediglich im Nachhinein versuchte ich zu überlegen, was mich dazu bewegt haben mochte so zu handeln wie ich es tat. Ich ließ die Tasche fallen und begann hektisch in ihr herumzukramen. Der kalte Griff des Dolches glitt wie von selbst in meine Hand. Und ich stürmte los. Mit wehenden Haaren. Quer über die Lichtung. Schneeflocken peitschten mir eisig ins Gesicht. Enishi MUSSTE mich jedoch einfach sehen. Aber er schien so in seinem Wahn gefangen, dass er nichts um sich herum wahrnahm. Dafür gewahrte Kenshin mich sehr wohl. Mit einem Ruck hob er den Kopf. Ich weiß nicht mehr, ob er etwas rufen wollte. Seine blauen Augen waren voller Entsetzen. Doch ich kannte kein Halten mehr. Dieser Mann wollte mir das Liebste nehmen, das ich auf der Welt besaß. Eher würde ich sterben, als dies zuzulassen! Ich hob den Dolch. Enishi drehte sich noch immer nicht herum. Er hatte keine Chance. Doch in vollem Lauf merkte ich, wie Himura mit jener gottgleichen Geschwindigkeit, die man dem Battosai nachgesagt hatte und die weder Enishi noch ich selbst momentan noch an ihm vermutet hätten, aus der knienden Position aufsprang. Er wirbelte um seinen Gegner herum, der erstaunt die Augen aufriss, trat mit einem Satz zwischen uns. So schnell, so entsetzlich schnell und unvermutet… Warum schützte er seinen Feind? Ich KONNTE einfach nicht mehr anhalten. Ich sah, wie Kenshins Lippen ein „NEIN!“ formten, wie in Zeitlupe. Die Zeit schien festgefroren, und unendlich langsam und doch unerbittlich weiterzulaufen. Ich versuchte, mein Handgelenk zu drehen, die Klinge gegen mich selbst zu richten, bevor ich meinen Liebsten verletzen würde. Doch es war zu spät. Viel zu spät. Die Zeit begann mit doppelter Geschwindigkeit auf mich einzustürmen, als auch Enishi entsetzt herumfuhr und den Mund aufriss, alles in wenigen Bruchteilen von Sekunden. Und mein Dolch drang mit unerbittlicher Kraft und Gewalt in Kenshins Leib, während seine ausgebreiteten Arme mich umfingen, er mich praktisch aus meinem Schwung heraus auffing und in eine tödliche Umarmung zog. Meine hektische Bemühung, den Dolch noch zur Seite zu drehen, verschlimmerte es nur noch und die Klinge riss eine tiefe, unglaublich tiefe Wunde in seinen Unterleib. Und plötzlich war da überall das Blut, das ich im Traum gesehen hatte. Warmes, dunkles Blut, das über meine Hände, auf meine Kleidung, aus seinem Leib hervorquoll. Unaufhaltsam wie das Leben selbst – oder wie der Tod, den dies mit sich brachte… Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Sein mir so vertrauter Geruch war mir ganz nah: Honig... Sein Atem stockte. Sein Herz hatte im Schlagen inne gehalten. Und doch konnte ich seine Wärme spüren so wie in jeder Nacht, in der wir vereint gewesen waren, in der seine Wärme auch die meine gewesen war. Vollkommen fassungslos hielt ich ihn und er mich, während seine Kraft ihn verließ. Während Kenshin stöhnend fiel starrte ich nun auf meine blutbesudelten Hände, ließ angewidert den Dolch fallen. Ich gewahrte weder Enishis entgeistertes Gesicht, noch wollte ich das Blut aus meinem Geliebten herausfließen sehen. In diesem Moment, wie ein trotziges, verstocktes Kind, wollte ich mich in mich selbst verkriechen, alles dicht machen, nie wieder jemanden an mich heranlassen und die Panik und den Schrecken, die an meinem Verstand zerrten und rissen, gar nicht erst zu mir vordringen lassen. Und doch läutete jeder verdammte Schlag meines Herzens, das gar nicht daran dachte stillzustehen, wie ich es verlangte wie nie etwas anderes zuvor, jeder Pulsschlag, der das Blut aus Kenshin heraus trieb, und auch mein Blick, der sich an meinen eigenen Händen festgesaugt zu haben schien, unweigerlich und unabänderlich das Ende ein. Den Tod. Und zugleich eine Wahrheit, vor der ich mich nicht mehr verschließen konnte. Ich starrte auf meine Hand hinunter und erkannte, dass es dieses Motiv gewesen war, das ich in der Nacht gezeichnet hatte. Meine eigene Hand. Das Blut auf ihr wirkte vor dem Schnee am Boden beinahe schwarz. ********* Hold on to me love you know I can't stay long all I wanted to say was I love you and I'm not afraid can't you hear me? can you feel me in your arms? I'll miss the winter a world of fragile things look for me in the white forest hiding in a hollow tree (come find me) I know you hear me I can taste it in your tears Holding my last breath safe inside myself are all my thoughts of you sweet raptured light it ends here tonight Closing your eyes to dissapear you pray your dreams will leave you here but still you wake and know the truth no one's there say goodnight don't be afraid calling me, calling me as you fade to black ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ So ihr Lieben. Das war echt ne schwere Geburt. *ggg* Hat ja lange gedauert, bis ich mich wieder aufraffen konnte zu schreiben. Da mir aber auch klar war, was im nächsten Kapi passieren würde, kann man vielleicht verstehn, dass ich das hinauszögern wollte. Vielleicht auch gar nicht schreiben wollte. >.< Mein armer Schatz... *schnief* *ken-san in arm nehm* Bis zum nächsten Mal! *wink* Eure Mado Kapitel 12: The dark winter of my soul -------------------------------------- Stille. Absolute, allumfassende, alles auslöschende Stille. Meine Lippen öffneten sich zu einem endlosen, lautlosen Schrei meiner Seele. Unhörbar und doch da. In vollkommener Lautlosigkeit brach ich neben meinem Geliebten in die Knie. Unendlich langsam, wie mir schien, ging ich zu Boden, überall wirbelten Schneeflocken – ebenso still, wie alles um mich und in mir selbst, ging die weiße Wand um mich, um uns herum nieder. Mein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Dieses Herz, das nicht das meine war, das schon lange nicht mehr das meine gewesen war. Mein Blut hatte aufgehört durch meine Adern zu fließen und mein Puls hielt inne. Auch mein Körper war vollkommen still. Ich beugte mich über den Leib meines Geliebten, presste wie besessen beide Hände auf die Wunde, versuchte mit aller Macht das Blut daran zu hindern, aus ihm herauszufließen. Kein Laut war zu hören und doch stürzten Tränen aus meinen Augen, die ob der eisigen Temperaturen, die plötzlich herrschten, auf meinen Wangen gefroren. Der Winter meiner Seele hatte die Welt erreicht. Die Nacht war auf lautlosen Sohlen herangekommen und umfing uns und die Lichtung, doch es wurde nicht dunkel, da der Schnee jede Helligkeit, und sei sie noch so vage, reflektierte. Unbarmherzig schien er zu leuchten, jedes Detail vor meinen Augen noch deutlicher hervorzuheben. All das Blut… Der Schnee in unmittelbarer Nähe… er war nicht mehr weiß. Ich riss mir den Mantel vom Leib und presste ihn mit beiden Händen auf die schreckliche Wunde, obwohl ich wusste, dass es keinen Sinn hatte und obwohl mir klar war, dass es zu Ende ging. Doch ich tat es dennoch. Minuten. Stunden. Ich wusste es nicht. Ich schrie, tobte und weinte – alles in vollkommener Stille in mir selbst, in abgrundtiefem Entsetzen, in der furchtbaren Angst und Gewissheit, dass ich in diesem Augenblick einen Teil meines Selbst an den Tod verlor. Für immer. Laute, Worte, Schreie hätten es nicht zu ändern vermocht. Vielleicht wusste dies mein Körper, mein Leib, der so unendlich und allumfassend still wurde in jenen Momenten, als ich Kenshin Himura beweinte. Meine Lippen, blau gefärbt und gefühllos, formten seinen Namen. Immer wieder rief ich seinen Namen – und doch war meine Stimme fort. Nicht zu hören. Vielleicht für immer verstummt. Weit aufgerissen waren meine Augen, mein Atem, vorher innegehalten, kam in schmerzhaften Stößen aus meiner Lunge, auch dies lautlos, entsetzt. Und ich fühlte, wie stiller Wahnsinn mich einzuhüllen begann und mit schwarzen Schwingen über meinen Verstand strich. Und der Schnee fiel. Dicht und lautlos. Bedeckte alles. Ganz langsam aber beständig. ~~~oOo~~~ Enishi Yukishiro wusste nicht mehr, wie lange er so dagestanden hatte. Es war etwas geschehen. Etwas, was vorher nie da gewesen war. Etwas, das… nicht RICHTIG war. Und doch… er spürte es. Und doch würde es dadurch eine gewaltige Veränderung geben. Vielleicht sogar das Ende von allem. Das, was auch Enishi sich insgeheim erhofft und doch nie gewünscht hatte. Wie konnte es sein, dass das Mädchen ihren Geliebten tötete? Und warum hatte Himura ihn selbst beschützt? Es war… wie damals. Ja. Es war wie an jenem so fernen Tag an jenem Strand auf einer einsamen Insel. Himura und er… Sie hatten gekämpft. Genau wie jetzt. Zwei Hälften eines Ganzen. Zwei Männer, die das Schicksal zu Feinden gemacht hatte, und die doch nicht so grundverschieden waren. Und Tomoe. Ja, sie hatte dies gewusst, immer gewusst. Er war auch nur ein Mann mit Fehlern, mit Sünden, dieser Himura. Auch Enishi konnte nicht von sich behaupten jemals ohne Sünde gewesen zu sein. Hatte nicht seine Hand auch Menschenleben gefordert? War es wichtig, wie viele Menschen man getötet hatte? Nein. Man HATTE getötet. DAS allein war es, das sie zu Sündern machte. Beide. Keiner war besser als der andere. Keiner schlechter. Und sie beide hatten gelitten. Und Tomoe… Er sah sie wieder. Jetzt. Sie saß vor ihm in den Schnee gekauert und hielt den Kopf ihres Geliebten, genau wie es damals Kenshin mit ihr getan hatte. Ihr schwarzes, langes Haar bedeckte offen ihre Schultern. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Ohne Vorwurf. Ohne Furcht. Voller Vergebung und Liebe. Und in Enishi zerbrach etwas. Der Wille zu hassen. Er spürte nichts mehr. Das Schwert entglitt seiner Hand, fiel lautlos zu Boden. Enishi Yukishiro drehte sich langsam herum und verschwand im dichten Schneefall, wurde eins mit der Nacht. Er wurde nie mehr gesehen. ~~~oOo~~~ Ich hatte keine Stimme und auch keinen Verstand mehr um um Hilfe rufen zu können. Ich fühlte nur, dass die Wärme seines Blutes meine Hände umfing. Was hatte ich nur getan? WAS HATTE ICH GETAN? Ich selbst, die sich geschworen hatte, Kenshin NIEMALS weh zu tun? Die ihn mit ihrem Leben hatte verteidigen wollen, egal, was kommen mochte? WAS HATTE ICH GETAN? Ich, der Tollpatsch vom Dienst? Die ich nicht einmal richtig zeichnen konnte? Die zwei linke Füße hatte? Die ein Tagträumer war? Harmlos und liebenswürdig, aber ganz gewiss nicht gefährlich? WAS… hatte ich nur getan… ‚Kenshin! KENSHIN! Verlass mich nicht! Bitte, bitte verlass mich nicht! Geh nicht dorthin, wohin ich dir nicht folgen kann! Wo ich dich nicht schützen, nicht für dich da sein kann! Kenshin! Bleib bei mir!’ Meine Gedanken formten die Worte, die meine Lippen nicht hervorzubringen vermochten. Mein Verstand SCHRIE. Wo vorher nur Stille in mir gewesen war, alles angehalten war, so war da nun dieser ohrenbetäubende Schrei in mir, der niemals mehr verstummen zu wollen schien. Ich griff mit beiden Händen Himuras kaltes, schönes, bleiches Gesicht, versuchte ihm, von meiner Wärme abzugeben, beugte mich über ihn. Mein Oberkörper wiegte hin und her, während ich ihn in meinen Schoß zog, ihn an mich presste, in ihn hineinzukriechen versuchte. Ich merkte nicht einmal, dass ich mich bewegte. Ich spürte nur seinen Körper auf meinem, seinen Kopf in meinen Armen, so wie ich ihn schon so oft gehalten hatte, nachdem wir uns geliebt hatten. Der Wahnsinn wich. Ich spürte es. Ich blickte hinunter in dieses ruhige, ernste und friedliche Gesicht meines Geliebten und fühlte, wie eine tiefe, abgrundtiefe Verzweiflung gepaart mit Resignation von mir Besitz ergriff. Ja, ich konnte mir nichts vormachen. Irgendetwas in mir… hatte, wenn schon nicht gewusst, so dann doch geahnt, dass es so hatte kommen müssen. Vielleicht… war unsere Liebe von Anfang an dazu bestimmt gewesen zu scheitern. Oder… ‚Ich habe so viele Leben gelebt und jedes Mal hatte ich gehofft, es würde anders verlaufen, ein anderes Ende nehmen, damit ich endlich ruhen kann. Ich bitte nicht um Vergebung, denn was ich getan habe KANN man nicht vergeben. Aber vielleicht werde ich irgendwann den Frieden finden, den ich mir so sehr wünsche. Ich bin müde. So unendlich müde…’ Ich hörte seine Stimme, als würde er neben mir sitzen. Ich schloss die Augen, fühlte neuerlich heiße Tränen in mir aufkommen und presste ihn noch fester an mich, ignorierte die beißende Kälte um mich herum. Denn in Gedanken war ich bei ihm an seinem Herdfeuer, saß neben ihm, an ihn gelehnt, während wir leise sprachen, jeder eine dampfende Teeschale in den Händen. Ich blickte dort in sein ruhiges, von tiefer… Trauer gezeichnetes Gesicht. Und sein Lächeln, wenn auch warm und innig, jagte mir ob seiner Melancholie jedes Mal einen Pfeil ins Herz. Ja. Ich hatte es gewusst. Irgendwann… MUSSTE es zu Ende gehen. Ich hatte gehofft, gefleht und gebetet, dass ich nicht diejenige sein würde, die das Ende der Geschichte erlebte. Das ich dies sogar HERBEIGEFÜHRT haben sollte, schien mir unerträglich. Warum war das Schicksal so grausam? Aber… War ich nicht egoistisch, wenn ich so etwas dachte? War es nicht genau dies, was Kenshin immer erhofft hatte? Frieden? Ruhe? OHNE Angst, erneut wiederkehren zu müssen? Und wieso… war ich so sicher, dass er dieses Mal nicht wiederkehren würde? Und in meinem Geist formte sich ein weiteres Bild. Tomoe, wie sie mir den Dolch überreichte. Und ich sah erneut, wie sich meine Finger um ihn schlossen. Von da an, war unser Schicksal besiegelt gewesen. Vielleicht schon früher. Aber von da an, war es unabwendbar geworden und so gewiss, wie das Untergehen der Sonne am Abend. Ja. Dieses Mal… war es ENDGÜLTIG. Dieses Mal würde der Wanderer endlich schlafen dürfen… Egoistisch oder nicht… Verdammt noch Mal! Ich war AUCH ein lebendes, fühlendes Wesen! Erwartete man allen ernstes von mir, dass ich meinen Geliebten tötete, seine ewige Ruhe herbeiführte und dann einfach weiterlebte? Zitternd ballten sich meine Hände vor Wut. Wie KONNTE ein Schicksal oder auch ein Gott, sei es nun der Erleuchtete oder Gottvater oder wie auch immer man ihn nannte, so grausam sein? Kenshin regte sich in meinen Armen. Ganz leicht nur. Ein Beben, ein leichtes Zittern, das durch seinen Leib fuhr. Er seufzte leise. Schmerz verzerrte sein hübsches Gesicht. Doch unter Aufbringung all seiner noch verbliebenen Kräfte öffnete er noch ein letztes Mal die Augen. Ich wusste, dass es so war. Man gönnte uns einen Abschied. Wie gnädig. Ob dies nun an meinen letzten Gedanken lag oder nicht: Ich wusste nicht, ob ich glücklich darüber sein sollte. Denn der Blick aus Himuras Augen erschütterte mich bis ins Mark… Unglaube. Erschrecken. Schmerz. Und dann… Schuldbewusstsein. All diese Dinge und in ebendieser Reihenfolge sah ich darin. Er wollte den Mund öffnen, erreichte damit aber nur, dass ein jäher Schmerz seinen schlanken Leib zu zerreißen schien. Er bäumte sich auf und begann qualvoll zu husten. Dunkles Blut, das auf seiner weißen Haut beinahe genauso schwarz aussah wie auf dem umgebenden Schnee, glitt aus seinem Mundwinkel, lief in sein feuchtes, dunkelrotes Haar. Ich beugte mich über ihn, zitternd, flehend, nahm sein Gesicht in beide Hände. „Versuch nicht zu sprechen, Liebster…“, hauchte ich die ersten, geflüsterten Worte, seitdem ich ihm den Dolch in den Leib gestoßen hatte. „Bitte… Bitte halte durch! Bleib bei mir…“ Seine blauen Augen richteten sich auf mich, verschleiert, versuchten mich zu fixieren. Das Schuldbewusstsein darin erreichte einen unerträglichen Grad für mich. „Ma…doka…“, flüsterte er und noch mehr Blut floss über seine Lippen, kristallisierte sich. „Ich wollte… leben. Dieses eine, letzte Mal wollte ich… leben. Für… dich! Bitte… glaube mir…“ Ich schloss weinend die Augen, lehnte meine Stirn an seine. Meine Tränen fielen auf seine Wangen, vermischten sich mit seinem Blut. Ich begann zu begreifen. Vielleicht… war genau DIES nötig gewesen, damit er endlich Ruhe fand. Vielleicht hatte er seinen Willen zum Leben wiederfinden SOLLEN. Seinen Lebensmut. Seine Lebenskraft. Vielleicht… hatte er anfangen sollen, sich selbst zu vergeben, sich für Neues öffnen sollen, so wie er es getan hatte, indem er unser beider Liebe zuließ. Vielleicht hatte er zum ersten Mal nicht für sich selbst und um seiner Sühne willen, sondern um seine Liebe kämpfen sollen, ein neues Leben, das er sich wünschte, das er verteidigen wollte. Welch eine Ironie, was für ein vollkommenes Martyrium. Um endlich Frieden finden zu können musste er loslassen, was er gerade im Begriff war zu gewinnen. Was zählte waren seine Gefühle, sein Wille. Er hatte es wirklich gewollt zu leben. In diesem einen Moment, als Enishi ihn wieder gefordert hatte, da hatte er zum ersten Mal nicht daran gedacht, wie er das Schicksal ändern könnte um selbst Vergebung und zu finden, um nicht mehr wiederkehren zu müssen. Nein. Er hatte nur an uns gedacht. An mich. Daran, dass er für mich leben wollte. Ich sah es in seinen Augen. Ich erkannte es an dem Schuldbewusstsein in seinem Blick. Und ich wusste, es war an MIR, einzig und allein an mir, ihm die Ruhe zu schenken, die er verdiente nach so viel Leid und Schmerz. Es war grausam. In diesem Moment war mein eigenes Leid nicht wichtig. Ich musste es ignorieren, in mir einschließen. Ich musste für ihn stark sein, damit er loslassen konnte – obwohl alles in mir danach schrie, ihn nicht gehen zu lassen. War jemals eine Prüfung, eine Aufgabe größer und schwerer gewesen als diese? Ich wusste es nicht. Es war auch gleich. Ich wusste nur, dass ich über mich selbst hinauswachsen musste, um DAS zu bewältigen. Ich nahm sein Gesicht in beide Hände und lächelte ihn unter Tränen voller Liebe an. Ich war selbst erstaunt, das dies auch ehrlich gemeint war. ER war meine Kraft, mein Herz und meine Seele. Und nur der Moment zählte. Auch jetzt, in den letzten Minuten seines letzten Lebens, gab er mir Kraft allein dadurch, dass es ihn gab, dass er mir so viel Liebe schenkte, so viel Vertrauen. Wo diese Kraft hinging, wenn er nicht mehr war, verdrängte ich. Der MOMENT war wichtig. „Kenshin…“, flüsterte ich, lächelte ihn an. „Ich liebe dich… Ich habe nie jemanden so sehr geliebt wie dich. Nichts hast du je mehr erfleht als Ruhe und Frieden und endlich schlafen zu dürfen. Wie könnte ich dir nach all dem, was du erlebt hast, wünschen, dass du nur für mich weiterlebst? Was für ein Mensch, was für ein EGOIST wäre ich? Du hast genug gelitten. Ich bitte dich nur… vergib mir… Vergib mir, was ich getan habe…“ Und ich legte eine Hand auf die Wunde. Ich versuchte nicht mehr, die Blutung zu stoppen. Es war nur eine Geste. Himura schloss leise stöhnend die Augen. „Du… lügst. Du… hast mich nie anlügen können, weißt du?“, ein gequältes, leichtes Lächeln stahl sich auf seine schmalen Lippen und ich fuhr wie unter einem Hieb zusammen. „Ich würde… dich auch nicht gehen lassen wollen.“ Ich schloss die Augen und weinte lautlos. Er durchschaute mich. So wie er es immer getan hatte. Er kannte mich wie niemand sonst. „Es ist… schon gut, Madoka. Verstell dich nicht. Weine, wenn du weinen willst. Ich wünschte… nur, ich hätte die Kraft… dich zu trösten…“ Er zitterte. „Ich habe… von dem Dolch gewusst.“, sagte er plötzlich leise. „Es… ist… nicht wichtig, woher. Aber ich wusste, dass… es gut war, dass er DIR gegeben wurde. Ich wusste, mit dir würde es enden. Nur nicht… auf welche Weise. Es war… vorherbestimmt. Du… hast dir… nichts vorzuwerfen.“ Er hob eine Hand, zitternd, langsam und strich sacht über meine Wange, über meine eingefrorenen Tränen. Er keuchte vor Schmerz, presste einen Moment lang die Lippen zusammen. Dann schüttelte er ganz leicht den Kopf. „DU bist es, die ich um Vergebung bitte. Da ich… dich nun… verlassen muss. Ich komme nicht… zurück.“ Ich nickte, legte erneut mein Gesicht an seines, meine Stirn an seine. Ganz nah waren sich unsere Gesichter. Sein Atem war kalt. Genau wie seine Haut. „Ich weiß.“, sagte ich nur. „Und es ist das, was du dir immer erhofft hast.“ Und plötzlich erfasste mich eine… innere Endgültigkeit, die ich noch nicht näher benennen oder fassen konnte, die aber eigentlich schon von Anfang an in mir gewesen war, von jenem ersten Blick an, den wir vor scheinbar so langer Zeit in der Mensa der Universität getauscht hatten. „Geh nur. Finde Frieden, mein Liebster. Meine Liebe… wird mit dir gehen.“ Der Wind frischte auf und trieb die fallenden Schneeflocken lautlos auseinander. Und plötzlich war der Himmel klar. Ein halber Mond leuchtete auf uns hinab, während die letzten Flocken um uns herum tanzten, funkelnd im Mond- und Sternenlicht, das heute kalt und unbarmherzig auf mich wirkte. „Du wirst… nicht allein sein…“, sagte ich leise. Er missverstand mich. Natürlich. „Ja. Ich werde… sie wieder sehen…“ Erneut hustete er qualvoll. Sein Leib krümmte sich und ich fühlte seinen Schmerz beinahe am eigenen Leib. „Tomoe… Kaoru…“ Dann fixierte mich sein Blick, vielleicht zum letzten Mal. „Danke dir. Für alles. Wirst du… jemals erfahren, wie viel du mir bedeutest? Was du mir WIRKLICH bedeutest? Ich wünschte, ich hätte noch ein Leben um dir zu zeigen… und zu sagen, wie sehr ich dich liebe und wie viel du mir gegeben hast. Ich würde… alles tun um…“ Ich legte rasch einen Finger über seine kalten, zitternden Lippen, hob den Kopf. „Shh, nein… sag das nicht. Ich weiß es doch. Ich weiß dies alles, mein Liebster.“ Ich hatte keine Tränen mehr. Vielleicht lag meine Tränenlosigkeit aber auch daran, dass jene Endgültigkeit in mir zur Gewissheit geworden war, zu etwas, das für mich feststand. Seine Hand umfasste meine, plötzlich und schmerzhaft fest. Er zitterte, bäumte sich auf. Sein Atem kam jetzt stoßweise, hektisch. „So… ist das also… wenn man… gewaltsam… aus dem Leben scheidet…“, flüsterte er voller Schmerz. „Aber… vielleicht ist dies meine letzte Prüfung.“ Er sah mich an, hielt inne. Die Endgültigkeit des Augenblicks, ein ganzes Universum, der Mensch, gefangen in der Unendlichkeit, eingeengt in einen Kreis aus Leben und Sterben, so klein und doch so kostbar, so wichtig, all das in einem einzigen Blick. Und ein Versprechen. Lautlos und voller Gewissheit: ‚Wir werden uns wieder sehen. Ich warte auf dich. Immer.’ Und plötzlich…war da wieder diese Stille. Nichts als Stille. Kein Laut. Weder von ihm, noch von oder in mir. Und in dieser Stille glitt sein letzter Atemzug aus ihm heraus, glitt über seine Lippen, während sein Körper in meinen Armen zusammensank und seine wunderschönen blauen Augen brachen. Endgültigkeit oder nicht. Über sich selbst hinausgehen oder nicht. In DIESEM wirklich unabwendbaren, letzten Moment erfasste mich kalte, schwarze, nackte Panik vor der Einsamkeit. Mein Herz wurde herausgerissen und umbarmherzig im Schnee zertreten. Und jetzt… erst jetzt… hatte ich die Kraft zu schreien. Ich riss den leblosen Körper an mich, verfluchte das Schicksal, das ihn mir genommen, das mir die Liebe meines Lebens genommen hatte und wusste, dass ich auch selbst nicht mehr länger leben wollte in einer Welt OHNE Kenshin. OHNE mein Herz, das geschunden, zertreten und vollkommen zerstört neben mir lag. Um uns herum breitete sich eine makellose Decke aus frisch gefallenem Schnee aus, der sich vergebens bemühte, das Blut zu verhüllen, das Leben, das hier ausgelöscht wurde. Durch meine eigene Hand. Ich hoffte, das Schicksal war nun glücklich, zufrieden oder wie auch immer man es nennen mochte. Es hatte mich für diese Aufgabe auserwählt. Und ich hatte sie erfüllt. Was ich fühlte, das schien niemanden zu kümmern. Und in diesem Moment HASSTE ich mich selbst. Denn ich spürte in mir, das ich nicht nur wütend auf ein Schicksal war, das grausamer war als alles, was ich mir je hätte vorstellen können, sondern auch auf ihn, Kenshin. Warum er es zugelassen hatte, dass ich… Warum er mich nicht zurückgewiesen hatte, als noch die Zeit dafür gewesen war. Warum er in den Kampf eingewilligt hatte, obwohl er WUSSTE, dass es für ihn hier und heute enden würde – in dem Irrglauben, vielleicht siegen zu können, weil er nicht für sich selbst kämpfte. Ich war ungerecht und wusste dies. Aber mir wurde wehgetan. Und ich schlug in Gedanken wild um mich, vor Trauer halb wahnsinnig, während ich meinen Schmerz in die Nacht hinaus schrie. Und das kalte Licht des Himmels vermochte die Flamme meiner Seele nicht mehr zu entzünden. Sie war erloschen. Vielleicht für immer. ~~~~~ heaven today is but a way to a place I once called home heart of a child, one final sigh as another love goes cold once my heart beat to the rhythm of the falling snow blackened below, the river now flows a stream of molten, virgin snow for the heart I’ll never have for the child forever gone the music flows, because it longs for the heart I once had living today without a way to understand the weight of the world faded and torn, old and fordorn my weak and hoping heart for the heart I’ll never have for the child forever gone the music flows, because it longs for the heart I once had Time will not heal a dead boy’s scars Time will kill for the heart I’ll never have for the child forever gone the music flows, because it longs for the heart I once had ~~~~ Ohne weitere Worte… *wein* Folgt noch ein Epilog. Dann ist Schicht. Kapitel 13: - Epilog - ---------------------- Die Welt ist wunderschön. Ja wirklich, das ist sie. Sie ist wahrscheinlich niemals schöner gewesen als an diesem Wintermorgen, der hell und klar heraufdämmert und einen wunderschönen Sonnenaufgang verspricht. Tief unter mir rauscht die See, wild und ungezügelt. Frei. Seit Urzeiten rollen die Wellen gegen die hohen Felsen der walisischen Felsenküste an. Unentwegt und unablässig wie die Zeit selbst, obwohl sie das Land nicht verschlingen können. Nicht in diesem Leben. Und auch nicht in tausend kommenden. Der Wind spielt mit meinem langen, offenen Haar. Ich stehe im Schnee, der das ganze Land wie eine sanfte, ruhige Decke verhüllt und jeden Laut außer dem Dröhnen und Tosen tief unter mir verschlingt. Mir ist nicht kalt. Ich fühle nichts. Gar nichts mehr. Die Welt ist tot. Mein Herz ist tot. Das Atmen tut weh. Ich bin mir jedes einzelnen Atemzugs schmerzlich bewusst. Weißer Raureif steigt vor meinen Augen empor, ein weiteres Anzeichen, dass ich noch lebe. Warum? Oh ja, die Welt ist wunderschön. Sie hat mir unglaubliche, wundervolle, unvergessliche Dinge gezeigt. Sie tat mir weh, diese Welt, aber sie gab mir auch das Gefühl zu leben, für etwas oder jemanden zu leben. Das war immer so gewesen. Seltsam, dass es jetzt nicht mehr möglich war zurückzukehren. Nicht für mich. Und nicht in diesem Leben. Die Wellen rauschen. Die Erde zittert ganz leicht unter meinen Füßen. Schöne Welt. Ja. Blendend geht die rote Sonne am Horizont auf, taucht das Meer in einen goldenen, warmen Schimmer. Geblendet schließe ich die Augen. Natürlich, da gab es Menschen, die mir etwas bedeuteten. Die mich jedoch nie verstehen würden. Egal was ich ihnen erzählen würde. Meine Schwester. Meine geliebte Schwester. Glaub ja nicht, dass ich nicht mitbekomme was dich zur Zeit beschäftigt, sagte sie letztens noch am Telefon zu mir. Und doch hatte ich nie das Gefühl ihr die ganze Bandbreite, die ganze Tragweite meiner Gefühle deutlich machen zu können. Das war einfach nicht möglich. Niemand konnte das verstehen. Ich selbst ja auch nicht wirklich. Es war einfach passiert. Die Gefühle waren einfach… da. Da kommt ein wundervoller Mensch in dein Leben, denkt was du denkst, fühlt was du fühlst, nimmt dir Angst und Hemmungen, gibt dir Kraft allein dadurch dass es ihn gibt, gibt dir ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit, ja sogar der Vertrautheit, das man nie bei einem anderen Menschen vorher gefunden hat. Diese Tatsache schlägt in deinem Leben ein wie ein Meteor, der zu Erde fällt und alles in Brand setzt, heiß, alles verzehrend, alles verändernd… Meine Liebe war zu groß gewesen. Ich hatte einen großen Fehler begangen. Und ich würde ihn immer wieder begehen, wenn ich noch einmal die Wahl hätte. Ich hatte mein Herz komplett aufgegeben, es ihm geschenkt und er hatte es mitgenommen. Mein kleines, zerstörtes Herz. Er hatte es in seinen kalten, toten Händen gehalten, als ich ihn auf jener Lichtung im Wald verließ. Ich hatte es ihm gegeben. Und nichts für mich behalten. Und jetzt war mein Leben zu Ende. Denn ohne mein Herz konnte ich nicht leben. Schöne Welt… Oh ja, wunderschöne, unbarmherzige, kalte, blendende Welt. So blendend schön, dass man nicht hinsehen kann. So schön und furchtbar und unerbittlich wie der kalte Wintermorgen. Ich bin schwach. Ich habe nicht die Kraft weiterzukämpfen. Die Zeit, als ich es allein gekonnt hatte, ist vorbei. Unwiderruflich, seit jenem Moment, als er mir in die Augen gesehen hatte. Mein Atem hatte gestockt, mein Herz war stehen geblieben – im Moment unseres ersten Zusammentreffens, wie auch im Moment seines Todes. Er hatte mich allein gelassen. Ich hatte ihn getötet… Nichts wiegt schwerer als diese Bürde. Ich hatte ihm ein Leid zugefügt. Ich hatte ihm weh getan. Dem Menschen, den ich auf der Welt am meisten liebte. Da halfen keine beschönigenden Worte. Es waren MEINE Hände gewesen, die ihm den Dolch in den Leib gestoßen hatten. Es ist SEIN Blut, das an meiner Kleidung haftet. Ich schaue auf meine Armbanduhr. Nicht das Zeit noch irgendeine Bedeutung hat. Aber ohne Überraschung stelle ich fest, dass die Zeiger unter dem blutverkrusteten Glas still stehen. Es ist vorbei. Liebster, ich habe nicht die Kraft deine Narbe allein zu tragen. Ich habe nicht deine Kraft, verzeih mir, bitte vergib mir. Ich kann nicht ohne dich sein. Ich will es nicht… Tränen, die ich längst vergossen geglaubt hatte, treten aus meinen Augen und laufen über meine Wangen, gefrieren im eisigen Wind, fangen das goldene Morgenlicht ein. In meiner anderen Hand halte ich den Dolch. Ich werde die letzte Reise antreten. Jene, vor der alle Menschen Angst haben. Ich habe auch Angst. Angst vor dem Sterben. Aber nicht vor dem Tod. Ich weiß, dass ich dort, wo ich hingehe nicht allein sein werde. Das größte Geschenk der Welt ist das Leben. Ich will es nicht mehr. Schwach und töricht bin ich und ich weiß dies, unendlich schwach und töricht. Aber es ist mir gleich. Alles ist mir gleich. Nichts ist mehr wichtig. Schöne Welt, ich werde nun gehen. Für mich ist der Vorhang bereits gefallen. Vielleicht ist es mir vergönnt eines Tages wiederzukehren. Und dann… mein Liebster… DANN werden wir vielleicht die Chance haben gemeinsam dieses Leben zu verbringen und uns niemals trennen müssen. Ich werde dich immer lieben, bis ans Ende aller Zeiten. Ich werde nicht bereuen, dass ich dir mein Herz gegeben habe. Denn die wenigen Tage die wir hatten, haben mir so viel gegeben. So unendlich viel. Ich will nicht auf dich verzichten, Liebster. Mein geliebter Kenshin. Du wurdest mir gegeben und gleich wieder genommen. Ich ertrage das einfach nicht. Lauf nicht davon… Stell dich deinen Erinnerungen, Dingen, die dich ängstigen, verfolgen und quälen… Ich sehe ihn vor mir. Er sagt es mit dem ruhigen, unerschütterlichen Ernst, der ihm zu Eigen war. Und dann legt er den Kopf zur Seite. Er lacht… Es ist dieses Lachen, die Erinnerung an dieses Lachen, die mich umbringt. Jede Sekunde, in jeder Stunde seit seinem Tod. Es tut so weh. So unendlich weh… Verzeih mir, mein Liebster. Ich laufe davon. Ich stelle mich nicht, ich bin schwach. Jetzt und hier habe ich keine Kraft mehr. Nicht für mich, nicht für diese schöne Welt, nicht für irgendjemanden. Verzeih mir. Bitte.. Ich weine. Es wird dunkel um mich, als ich die Augen schließe. Ich sehe Tomoe. Sie lächelt mich an. Ich sehe Kaoru. Sie streckt mir die Hand entgegen. In ihren Augen lese ich nur Verständnis. Und ich sehe ihn… Kenshin. Er lächelt nicht. Er empfindet keinen Schmerz mehr. Es ist einfach nur da. Er sieht mich an. Wunderschön. Mit vorwurfsvollem Blick. Resigniert. Eine einzelne Träne löst sich aus seinem Augenwinkel. Er weiß, dass er mich nicht aufhalten kann, dass er der Grund ist, aus dem ich gehen will. Ich sehe sie fallen, seine Träne. Sie fängt das Licht der Sonne ein, ebenso wie es meine taten. Doch im Gegensatz zu meinen eigenen gefriert seine Träne nicht. Denn dort.. wo er ist… existieren weder Kälte, noch Angst. Vergib mir… Kenshin. Aber nimm mich mit. Geh nicht ohne mich. Geh nicht dorthin, wohin ich dir nicht folgen kann. Ich bitte dich. Ich krümme mich vor Schmerz auf jener Klippe im Schnee, so hoch oben über den ewigen Wellen des Meeres. Jetzt hebt er die Hände. Streckt die Arme nach mir aus. Trauer in seinen Augen. Und ich weiß, dass ich es bin, die ihm erneut Schmerz zufügt, indem ich das Leben wegwerfe, das so kostbar ist. Vielleicht bin ich dazu geboren worden dir Schmerz zuzufügen, Liebster. Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich egoistisch, mein Leben aufzugeben, um bei dir zu sein. Auch das weiß ich nicht. Doch so wie ich dir dein Leben nahm, so werde ich nun auch meines nehmen. Schöne Welt… Alles unwichtig. Alles dunkel ohne dich. Ich sehe dich und du hältst mein Herz in deinen Händen. Ich sehe dich und du öffnest deine Arme. Ich sehe in deine Augen und sehe unsterbliche Liebe. Alles Schmerz, alles Trauer? Nein. Jetzt nicht mehr. Ich stehe auf, meine Finger umfassen den Dolch fester. Ich tue meinen letzten Schritt. Und breite die Arme aus. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Für dich. Ich liebe dich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)