The waves of time von MorgainePendragon (Eine Geschichte von Liebe, Schmerz und Tod. Und von Wiedergeburt…) ================================================================================ Kapitel 4: The man who caused the rain to bleed ----------------------------------------------- Ich hatte mich benommen wie ein vollkommener Idiot. Herrgott noch mal, was war denn nur los mit mir? Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Noch nie hatte es irgendein Mensch auf Erden fertig gebracht mich derartig und so nachhaltig aus der Fassung zu bringen, wie es Himura-sensei tat. Es war mir noch im Nachhinein unendlich peinlich: Zum einen was mir ob meiner Ungeschicklichkeit passiert war, zum anderen, dass ich mich dann auch noch so dämlich benommen hatte. Ich hatte nicht wirklich geistreiche Dinge gesagt, das war mir vollkommen klar. Verdammt! Wenn ich schon nicht mit blendender Schönheit aufwarten konnte, wie vielleicht manch andere junge Frau an dieser Akademie, so hatte ich doch wenigstens von mir gedacht (Gehofft? Erwartet?), dass es mir möglich sein sollte ein wenig von diesem Mangel mit Humor, Freundlichkeit und geistreichen Kommentaren ausgleichen zu können. Tja, was hatte ich denn noch zu bieten, wenn das nun auch noch flöten ging? Verd… Und wieso sollte mich das kümmern? Herrje, wie tief waren meine Gefühle schon verstrickt und gefesselt, wie sehr mein ureigenstes Verlangen geschürt, diesen Mann kennenzulernen. Es war… seltsam. Denn es war teilweise wirklich so, dass ich das Gefühl hatte, ich WÜRDE ihn schon irgendwoher kennen. Zumindest einen Teil von ihm. Selbstverständlich war das unmöglich. Aber immer wieder, jedes Mal wenn ich ihn sah oder ich über ihn nachdachte stellte sich dieses beinahe… vertraute Gefühl in mir ein. Ein Gefühl, dass dieses Verlangen, mein unbewusstes Wollen und Drängen, auf etwas Gutes oder doch zumindest Richtiges hinauslaufen würde. Musste. Verrückt, oder? Wieso ausgerechnet ich? Was brachte mich dazu in derart hochtrabenden Maßstäben von mir selbst zu denken? Wieso sollte es ausgerechnet ich sein, die „richtig“ für Himura wäre? Was bildete ich mir denn da ein? Und überhaupt! An was DACHTE ich denn hier schon wieder… Unwillkürlich errötete ich… Und verpasste das Ende der Lesung von Mr. Walsh, der uns soeben auftrug das Gehörte in einer Art kleinen Zusammenfassung in Eigenarbeit niederzuschreiben. Die Ergebnisse wolle er kommende Woche einsehen... Mei Lin sah etwas mitleidig zu mir hinüber. Aber in ihrem Blick spiegelte sich pure Schadenfreude. „Sag mal, musst du selbst in den Lesungen mit offenen Augen träumen?“ „Wieso? Hab ich zu laut geschnarcht?“, nuschelte ich verlegen. Mei Lin grinste. „Nein. Du warst recht anständig und ganz leise. Bis auf das irgendwie… gequält wirkende Stöhnen am Schluss. Du wirst doch nicht etwa krank?“ Etwas von der Schadenfreude schwang nun auch unüberhörbar in ihrer Stimme mit. Schnell und nun eindeutig mit einer Farbe im Gesicht, die einmal mehr verdächtig nah an karmesinrot heranreichte, machte ich mich daran meine Tasche zu packen – und hielt inne, starrte auf den Karo-Schreibblock, der aufgeschlagen vor mir auf dem Tisch lag. Um uns herum erhoben sich die Studenten und verließen den Hörsaal. Mei Lin sagte wieder etwas, aber ich hörte es nicht einmal. Ich starrte auf das Papier. Besser gesagt auf das, was ich wohl völlig unbewusst während der Lesung gezeichnet haben musste. Naja, gekritzelt traf es wohl eher… Es war nichts weiter als ein Auge. Ein ausdruckstarkes, klares Auge mit einer entschlossen gesenkten Augenbraue und langen Wimpern. Und der Ausdruck… Ich vermochte ihn nicht zu deuten. Traurig vielleicht, trotz der unübersehbaren Entschlossenheit. Das Auge selbst war leicht mandelförmig… Mei Lins Blick war meinem gefolgt. „Was…? Ich raffte den Block an mich und begann mit Riesensätzen die Stufen des Auditoriums hinunterzulaufen. Mei Lin ließ ich einfach stehen. Ich hatte keine ZEIT mich mit ihr auseinanderzusetzen oder (was wahrscheinlich eher der Fall sein würde) mir wieder einmal dumme, schadenfrohe Sprüche anzuhören. (Auch wenn ich ihr zugute halten musste, dass SIE sich immer SEHR damit zurückhielt.) Das würde meinem ohnehin ziemlich… merkwürdigen Ruf nur mehr Nahrung geben. Dass ich als Träumerin verschrien war, war eine mir nicht unbekannte Tatsache. Glaubten sie wirklich, das würde ich nicht mitbekommen? All die Mädchen, mit denen ich mich oberflächlich gut verstand und die vorgaben meine Freundinnen zu sein, lächelten in Wahrheit auf mich herab. Das war mir schon klar. Jedoch... Ich war vielleicht tatsächlich jemand, der sich weigerte seine Träume aufzugeben und ihnen wirklich noch nachging – aber ich war nicht blöd. (Jedenfalls hatte ich das bis heute angenommen…) Auf alle Fälle bekam ich durchaus mit, wie man über mich sprach. Doch auch wenn es mich bislang vielleicht sogar gestört haben mochte: Seit einigen Tagen, genauer gesagt, seit ER in mein Leben getreten war, war das anders. Nichts war mehr wirklich wichtig. Konnte denn ein Mensch, den man gar nicht weiter kannte, wirklich so sehr und umfassend von den Gefühlen und Gedanken eines anderen Besitz ergreifen? War das möglich? Ich beschloss den freien Spätnachmittag fernab von vermeintlich freundlichen Kommilitonen und wirklich verdammt attraktiven Referendaren in meinem Zimmer zu verbringen. Ich teilte mir ein Zimmer mit Gladys – was nicht meine erste Wahl gewesen war. Aber das wäre eine zu lange Geschichte, um sie jetzt zu erzählen. Das Studentenwohnheim lag auch auf dem Campus, allerdings ein Stück versetzt vom Haupthaus, in welchem die Hörsäle untergebracht waren. Wenn ich das Fenster unseres kleinen, jedoch irgendwie gemütlichen Zimmers öffnete konnte ich direkt in den Park hinunter sehen. Und zum Waldrand. Dort, wo das Gras kurz gemäht war würden heute Abend die Übungskämpfe stattfinden. Es war ja nicht das erste Mal. Ein oder zwei Mal hatte Himura bereits solche Abende schon organisiert. Allerdings… hatte ich mich nie getraut hinzugehen, obwohl ich sah, dass nicht viele Interessierte gekommen waren. Himura schien Recht gehabt zu haben. Ich hatte es von unserem Fenster aus sehen können. Er brauchte mehr Teilnehmer, sonst würden seine Kurse wahrscheinlich bald gestrichen. Naja, zumindest in etwa hatte ich etwas sehen können, denn die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als ich das letzte Mal zusah. Und heute? Heute würde ich also dorthin gehen. Ganz offiziell eingeladen. Ich würde ihn wiedersehen. Ich fühlte, wie sich die ganz feinen Härchen in meinem Nacken aufstellten und ein wohliger Schauer meinen Körper und scheinbar auch meine Seele oder meinen Geist durchlief. Denn mein Frust über die eigene Ungeschicklichkeit am Nachmittag verflüchtigte sich. Aber meine Gedanken hörten einfach nicht auf um ihn zu kreisen. Nun, vielleicht konnte ich mich etwas ablenken, indem ich meiner Lieblingsbeschäftigung nachging, die ich ohnehin in letzter Zeit sträflich vernachlässigt hatte. Schön, mir fehlten noch immer die Ideen, die Inspirationen zum Zeichnen. Aber ich würde die Blockade wohl kaum überwinden, indem ich mir selbst Leid tat und es nicht probierte. Also nahm ich meinen Skizzenblock, hockte mich auf den einzigen, kleinen Sessel im Zimmer, der ebenso wie unsere Betten mit orientalisch angehauchten und mit bunten Ornamenten geschmückten Tüchern behangen war (Gladys hatte eine Vorliebe für Asien im Allgemeinen und bunten Schnickschnack im Besonderen, was wohl auch ihre Zuneigung zu Mei Lin erklärte – beides traf auf Mei Lin zu: Sie war Asiatin und sie kleidete sich ausschließlich bunt), kramte meine Kohlestifte hervor und starrte in den Raum. Das erste, auf was mein Blick fiel, war die Schale mit Äpfeln, die auf dem kleinen Holztisch neben dem Sessel stand. Nichts Originelles. Klar. Aber irgendwie MUSSTE ich ja schließlich anfangen. Völlig unbewusst fing ich zunächst zu summen, dann leise zu singen an. Worte, eine Melodie, irgendwo aus meiner Kindheit. Lange vergessen. Und doch als Erinnerung bewahrt. „Schweben in das Licht, kein Atemzug und kein Gefühl ich fliege ohne mich. Hoch, tief, Raum und Zeit. Kein Anfang und kein Ende und auch keine Wirklichkeit. Reinkarnation, in Lichtgeschwindigkeit, doch noch so lang, Morgen schon. Irgendwann." Meine Hand glitt über das Papier, meine Gedanken fort, in eine andere Zeit, an einen anderen Ort. Ich sah… Eine mondlose Nacht. Regen. Wo waren die Sterne? Es roch nach… dem Duft von Pflaumenblüten. Ich versuchte tief zu atmen – doch ich konnte nicht, denn Entsetzen hatte mir die Kehle zugeschnürt. Blut. Da war… überall Blut! So viel… Blut. An mir, auf der Kleidung, auf dem Schirm, den ich in meinen verkrampften, kalten Händen hielt. Und auf dem schlammigen Weg in der Dunkelheit auf welchem ich stand. Nur ein Paar Schritte entfernt von… IHM. Er hatte sich erhoben. In seinem Blick las ich das tiefe Entsetzen, das ich selbst empfand. Seine Hand hielt ein Schwert, lang und gebogen, scharf und blutbesudelt. Neben ihm… Eine Leiche. Er hatte getötet. Der Mann vor mir, fast noch ein Kind, so jung, so verstört, war ein Mörder. „Du…“, flüsterte ich – mit einer Stimme, die nicht die meine war. „Deinetwegen… blutet der Regen…“ Er antwortete nicht. Der Schirm entglitt meinen Fingern. Das letzte was ich wahrnahm, bevor meine Sinne schwanden und ich in Ohnmacht fiel (ICH?) waren seine Haare. Sein dunkelrotes, nasses Haar. Und der Regen, unaufhörlich wie eine leichte, ständige jedoch sanfte Berührung auf Gesicht und Händen, als er mich in seinen Armen auffing… Mit einem Ruck wurde ich wach. Ich musste wohl eingeschlafen sein – obwohl mir das beim Zeichnen wahrhaftig noch nie passiert und ich auch nicht übermüdet gewesen war. Seltsam. All das… Was hatte ich da gesehen? War es ein bedeutungsloser Traum? Wer war sie, in deren Körper ich da gewesen war, die meine Gefühle gefühlt hatte – oder deren Gefühle ICH gefühlt hatte. Und… Vor allem… Wieso tauchte Himura in diesem Traum auf? Er war es, ganz ohne jeden Zweifel. Er war noch sehr viel jünger gewesen und merkwürdig altmodisch gekleidet, so wie man manchmal japanische Männer und Frauen auf alten Fotos und Bildern von traditionellen japanischen Festen oder ähnlichen Anlässen sehen konnte. Aber… Himura und ein Mörder? Entschlossen schob ich den Gedanken weit von mir. Das war unmöglich. Jemand mit so sanften, blauen Augen konnte kein brutaler Killer sein. Was auch immer mich da heimgesucht hatte – es hatte eindeutig mit meinen überreizten Nerven momentan in Bezug auf den jungen Referendar zu tun – der im Übrigen wahrscheinlich schon darauf wartete mit seiner abendlichen Trainingsvorführung beginnen zu können! Ich Depp! Jetzt aber schnell! Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon 18.53 Uhr war. Und ich wollte diesem denkwürdigen Tag nicht noch die Krone aufsetzen, indem ich mit Pauken und Trompeten zu spät kam. Denn wer zu spät kam wurde begafft. Immer. Das war nun mal so. Und ich HASSTE es Blicke auf mich zu ziehen. Ich sprang auf und griff nach meiner Strickjacke. Als DIESES Mal mein Blick auf den Skizzenblock fiel war der Schock NOCH tiefer und noch sehr viel heftiger, als er das vorhin beim Anblick meiner Kritzelei nach der Vorlesung gewesen war… Eine eiskalte Hand schien nach meinem Herzen zu greifen. Mit weit geöffneten Augen starrte ich auf das Gesicht, das ich gezeichnet hatte. Der DIN A3 Block war beinahe gänzlich ausgefüllt von diesem Gesicht. Es war SEIN Gesicht. Ganz eindeutig der junge Himura. Wie ich ihn soeben im Traum gesehen hatte – nur ungleich… schrecklicher. Denn was ich in traumhafter Abbildung, beinahe wie einem realen Film der Vergangenheit vor mir gesehen hatte, hatte ich in skizzenhaften, beinahe schon karikaturistischen Strichen und Zügen umgesetzt. „Der Schrei“ von Munch war nichts dagegen! Himuras Lippen waren aufgerissen zu einem lautlosen, stummen, hilflosen Schrei! Auch wenn ich nur schwarze Kreide verwendet hatte: Ich konnte das Blut förmlich SEHEN, das sein ganzes Gesicht bedeckte – und seine Seele. Ja, ich sah es. Ganz deutlich. Mein Herzschlag verlangsamte sich. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Sein Haar fiel in langen, vom Regen verklebten Strähnen in sein schönes, markantes und doch so verzerrtes Gesicht. Seine Augen! Es war wie ein Hieb in die Magengrube und ich taumelte beinahe zurück. Gott, nie im Leben hatte ich solch ein Leid in den Augen eines so jungen Menschen gesehen! Er schien zu flehen! Pure Angst war in seinem Blick, nacktes, abgrundtiefes Entsetzen und Abscheu sich selbst gegenüber, die mich bis ins Mark erschütterte. Dieses Bild, das ich gezeichnet hatte, wirkte mit einem Male wie ein Tor, eine Tür in eine andere Zeit, in meinen Traum, aus dem der junge Mann verzweifelt zu entrinnen versuchte, obwohl er dennoch wissen musste, dass das nicht möglich war. Denn diese Tür, nur sekundenlang geöffnet, war nun wieder geschlossen. Vielleicht für immer. Diese Qual und dieses Leid… Ich konnte kaum atmen. Nie zuvor hatte ich ein solch ausdrucksstarkes Bild gezeichnet. Es LEBTE! Und es sprach zu mir! ER sprach zu mir! Doch er tat es eindeutig mit Gladys Stimme, und das holte mich Gott sei Dank auf den Boden der Tatsachen zurück… „Wolltest du nicht längst beim Kendo-Training sein?“ Mit einer schnellen, Bewegung griff ich nach dem Block und drehte ihn herum. Dann wandte ich mich zu Gladys um. Sie kam jetzt in den Raum hinein, warf ihre Tasche mit gekonntem Schwung auf ihr Bett und hob eine Augenbraue. „Sag bloß, du hast deine Blockade überwunden?“, fragte sie jetzt und machte Anstalten, den Skizzenblock an sich zu nehmen und umzudrehen. Ich legte rasch die Hand darauf. „Du, Gladys, ich probiere noch rum. Das ist nur ne Skizze. Nichts Originelles. Kein weibliches Aktmodel. Also nichts, was dich interessiert.“ Gladys zog mit einem verächtlichen Geräusch die Hand zurück. „Autsch! So bissig heute? Was ist denn passiert? Du siehst ohnehin irgendwie… ungesund aus, Herzchen.“ „Ich hab jetzt keine Zeit…“, begann ich. „Mal wieder…“, fügte Gladys ironisch hinzu und warf ihre rote Lockenpracht zurück über ihre Schultern. Sie trollte sich zu ihrem Bett und warf sich darauf. „Soll mir doch egal sein…“, sagte sie dann. „Hau schon ab!“ Ich machte mich umgehend daran, ihren Worten Taten folgen zu lassen, drehte mich dann aber noch mal herum und klaubte den Block vom Tisch. Ich würde ihn lieber mitnehmen. „Wie lange bleibst du weg?“ Gladys Frage kam so beiläufig, dass sie wirklich alles andere als das sein konnte. „Warum? Hast du Mei Lin heute Abend zu dir eingeladen? Keine Sorge, ich habe nicht vor unverhofft in irgendetwas hineinzuplatzen. Ich werde vorher anklopfen, wenn ich zurückkomme.“ Ich war schon aus der Tür und hatte diese Gott sei Dank auch schon fast geschlossen, als ein Kissen von drinnen gegen sie geschleudert wurde und sie mit Nachdruck ins Schloss geworfen wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)