EXANIMATIO - Die Angst von gluecklich (Der letzte Schritt: Teil I) ================================================================================ Kapitel 13: Angst ----------------- »Sagt mal, ist euch eigentlich auch die Sache mit unseren Träumen aufgefallen?« Sid runzelte die Stirn. »Was meinst du?« »Unsere Träume«, wiederholte Benny, »über unsere erste Begegnung mit dem Wichser. Ihr wisst schon…« »Ja, klar«, sagte Richie. »Schon kapiert. Was soll uns daran aufgefallen sein?« »Na ja. Sid hatte ihren in der Nacht nach Alecs Tod. Und du hattest deinen nach Lisas Tod. Und meiner war nach Doktor Neveus Tod. Was meint ihr, Zufall?« Richie zuckte mit den Schultern. »Als mein Onkel gestorben ist, hat keiner von uns geträumt, oder?« »Auch wieder wahr…« »Eigentlich ist das doch auch egal«, gähnte Sid. »Es tat im Endeffekt doch nichts zur Sache.« »Na ja, stimmt«, sagte Benny achselzuckend. »Ist mir nur letztens wieder eingefallen.« »Mir wär’s recht, wenn’s mir nie wieder einfallen würde«, murmelte Richie. Es hatte einige Zeit in Anspruch genommen, bis Sid und Benny weit genug verhandelt hatten, um ihn wieder besuchen zu dürfen. Die beiden hatten im Krankenhaus einen heftigen Zusammenstoß mit seiner Mutter erlebt, die sie unter Tränen angebrüllt hatte, ihr Sohn sei pausenlos in Schwierigkeiten, seit er mit ihnen herumzog. Dennoch hatten sie es sich nicht nehmen lassen, ihm kurze, nervöse Besuche abzustatten – und es waren diese Besuche, die ihn endlich zum Sprechen gebracht hatten. Polizisten, Ärzte und Eltern hatten sich die Zähne daran ausgebissen etwas über Täter und Geschehen in Erfahrung zu bringen, doch der junge Richie Jarvis wollte und wollte den Mund nicht aufmachen. Als jedoch den Schwestern aufgefallen war, dass zu den Besucherzeiten leise Gesprächsfetzen aus seinem Zimmer drangen, die nicht von Elternteilen stammen konnten, war Benny und Sid von allen Seiten verziehen worden. Zwar verschwiegen auch sie sämtliche Informationen über die Tat, doch zur Erleichterung aller hatten sie bewiesen, dass Richie weder an Stimm- noch an Gedächtnisverlust litt. Nun war es bereits Monate her, dass man ihn aus dem Krankenhaus entlassen hatte. Als die Schule wieder begonnen hatte, hatte man eilig Sonderunterricht für ihn organisiert und Sid zu Benny in eine Klasse gequetscht. Schon bevor man Lena Neveus Leiche im Hafen gefunden hatte, hatten die Morde aufgehört. In der Stadt war nach und nach wieder Ruhe eingekehrt, nur die Ausgangssperre wollte die Polizei noch aufrecht erhalten, bis sie den Täter gefasst hatte, was die drei Freunde bloß mit einem müden Lächeln in Kenntnis genommen hatten. Sobald Benny und Sid die Erlaubnis bekommen hatten, sich um ihn zu kümmern, hatte Richie sich erstaunlich schnell erholt. Sie verbrachten viel Zeit zu dritt in seinem Zimmer und lasen sich gegenseitig aus Büchern vor, da der Fernseher laut Richies Befehl aus dem Raum verbannt worden war. Es war Samstagvormittag, Benny und Sid lagen nebeneinander auf der Doppelmatratze neben Richies Bett, auf der sie übernachtet hatten; Benny las aus seiner eigenen Geschichte, da unterbrach ihn Richie: »Wart mal gerade.« Er gestikulierte in die Richtung seines Fensters. »Regnet es?« Sid, noch im Halbschlaf, weigerte sich seit Minuten die Augen zu öffnen. »Glaub nicht«, nuschelte sie. »Moooment…« Über Bennys Gesicht zog sich langsam ein breites Grinsen, mit vor Begeisterung glänzenden Augen setzte er sich auf und begann Sid zu rütteln. »Es schneit!« Richie lachte. »Echt?« Nun hob auch Sid den Blick zum Fenster, mit einem Jauchzen riss sie die Arme in die Höhe. »Echt!«, rief sie und sprang gleichzeitig mit Benny auf die Beine. »Das muss gefeiert werden, los, raus mit dir in den Garten!« Sie hatten keine Zeit sich umzuziehen; kaum eine Minute später standen sie jeweils in Schlafshirt und Boxershorts auf der Terrasse hinter dem Haus, breit grinsend. »Leute?«, machte Benny, nachdem er einige Sekunden lang prüfend mit einem ungebundenen Chuck im dünnen Schnee gescharrt hatte. »Welchen Monat haben wir eigentlich?« Richie und Sid prusteten, verpassten ihm synchron einen Klaps auf den Hinterkopf. »Juli!«, antwortete Sid sarkastisch. »Oktember«, grinste Richie. »Ich mein’s ernst.« Benny schob gespielt schmollend die Unterlippe vor. »Ich hab keine Ahnung.« »Das war uns auch davor schon klar«, sagte Richie feixend. Benny verdrehte die Augen. »Schon gut, ich hab jetzt verstanden, dass ich doof bin. Könnt ihr mir trotzdem sagen…?« »Ich glaube, ab nächstem Mittwoch haben wir Dezember«, sagte Sid, »oder so.« »Du klingst, als hättest du auch nicht viel mehr Schimmer als ich«, grummelte er. »Jaah, aber ich kann das besser verstecken.« In einem gespielten Anflug von Tränen verzog Benny das Gesicht. »Niemand hat mich lieb…« »Ach, Benny, jetzt halt doch mal die Klappe«, lachte Richie. »Sag mir lieber, wie hoch der Schnee steht.« »Blödhammel«, antwortete Benny mit hochgezogenen Brauen. »Klappe halten und reden is’ ganz schlecht, weißt du. Wo hast du nur dein Gehirn?« »Weiß nicht. Kann’s nicht sehen.« Ohne Zögern brachen die drei in erneutes Gelächter aus. Witze über Richies Blindheit waren schon längst kein Problem mehr und selbst wenn er sie eigens machte, war keine Spur von Bitterkeit mehr darin zu entdecken. Bereits im Krankenhaus hatte er verkündet, dass es gar nicht so schlimm war wie erwartet, wenn man versuchte sich daran zu gewöhnen; als Benny und Sid ihm eine dunkle Sonnenbrille mit flammenden Verzierungen an den Bügeln geschenkt hatten, um die Verätzungen zu verdecken, hatte er behauptet, sogar erste »riesige« Vorzüge daran zu entdecken. Mit einem Blick gen Boden zog Sid die Schultern hoch. »Also, hoch liegt er noch nicht, der Schnee. Aaaber … hoch genug, um eine Schneeballschlacht zu beginnen!« Nur wenig später erbot sich Passanten am Gartenzaun der Jarvis’ ein amüsierendes Spektakel. Richie hatte mit seinem Blindenstock einen großen Haufen Schnee zusammengescharrt, den Benny freudig nutzte, um Sid zu bombardieren. Es dauerte nicht lang, bis sie alle drei zitterten und die lachenden Münder von blauen Lippen umrandet waren, standen sie ja alle bloß mit Schlafanzügen und ungebundenen Turnschuhen bekleidet im Garten, doch das störte sie nicht. Sid entwich ein lautes Fiepen, als ein dicker weißer Ball sie im Genick traf, »Benny!«, rief sie strafend und drehte sich um. Doch Benny hob kopfschüttelnd die Hände. »Ich war das nicht. Glaub mir, der Sonnenbrille-im-November-Mann hat dich erwischt.« »Auch ein blindes Huhn trifft mal eine Sid«, grinste Richie, der sich eindeutig selbstgefällig auf seinen Stock gelehnt hatte. »Nein, ehrlich? Also, das interessiert mich jetzt.« Sid sprang zu den Jungen und drückte Richie einen weiteren Schneeball in die Hand. »Der Baum hinter der Gartenmauer, weißt du, wo der steht?« »Sicher.« Richie holte aus. »Hey, klasse, du zielst auf dein Zimmerfenster«, witzelte Sid. »Stimmt doch gar nicht.« Benny tat empört. »Das ist das Nachbarhaus.« »Ihr Möchtegernfieslinge…«, sagte Richie leise. »Ich hab euch etwas meilenweit voraus. Ich hör nämlich den Schnee hinter uns auf die Dächer fallen.« Er holte noch etwas weiter aus und schleuderte den Schneeball dann geradewegs gegen besagten Baumstamm. Benny hob eine Augenbraue. »Nicht schlecht. Ich hör nix.« »Weniger laute Musik, Gartenstuhl«, sagte Richie, hob zwei Hände voll Schnee auf und schob sie unter Bennys Hemd, »und mehr Säure.« Lachend schüttelte Sid den Kopf. »Wir sind krank.« Eine Viertelstunde später war sie tatsächlich krank. Schniefend und heiser war sie ins Haus zurückgekehrt, Richies Mutter hatte sich ein fast zufriedenes »Tja« nicht verkneifen können, als sie ihnen warmen Kakao und Decken gebracht hatte. Nun saßen sie im Dreieck auf dem Boden und hörten Musik, Richie trommelte nach eigenen Aussagen zum Takt der Kuhglocke gegen seine Tasse (die anderen beiden konnten nirgends etwas wie eine Kuhglocke heraushören) und Benny rutschte immer weiter an Sid heran. »Huste mich mal an«, forderte er. »Ich muss krank werden, damit ich am Dienstag die Englischarbeit verpassen kann.« »Nichts da«, näselte Sid. »Du gehst da schön hin.« »Ach, und du darfst dann die Streberin spielen und mitschreiben, obwohl du klingst wie ein Elefant mit Asthma?« »Du darfst dann auch von mir abschreiben…« Benny schnaubte. »Das bringt mir doch auch nix.« Während die beiden sich zankten, lehnte Richie sich grinsend in die Kissen zurück. Die guten, alten Zeiten kamen wieder… Tamias hatte alles vorbereitet. Er hatte den Innenraum der Hütte vergrößert und mit schwarzen Kunststoffwänden in drei Teile gespalten. Am entscheidenden Montagnachmittag war längst alles an seinem Platz; die Säure war da, das Wasser war da, die Spinnen waren da. Inferno war nicht da, Exanimatio wartete persönlich unter der Wasseroberfläche. Die Wunden an seinen Beinen waren so gut wie verheilt, nur an seinen Fußknöcheln war noch etwas Schorf übriggeblieben. Zwischen ihm und (seiner Schwester) Exanimatio war Stille eingekehrt, doch die Erinnerung an Lähmung und Schmerz verfolgten ihn noch immer. »Keine Fehler heute«, murmelte er und begab sich auf den direkten Weg zu Benjamin und Sidney. »Kommt her in meine Arme…« Wie geplant fand er sie noch auf dem Nachhauseweg von der Schule, und nahm die gleiche Isolation vor wie bei Lena Neveu. Nach kurzem Prüfen seines Gelingens nickte er. Es konnte beginnen. Er legte ihnen jeweils eine Hand auf die Schulter; synchron drehten sie sich um. Für einige Momente lang herrschte völlige Stille, große Augen starrten zu ihm hoch, Körper begannen langsam zu zittern. »Tamias«, hauchten sie unisono, und direkt darauf: »Scheiße.« »Ihr seid herzlich eingeladen«, grinste Tamias, während er in vollsten Zügen die Angst in ihnen genoss. Zurück im Wald legte er die Bewusstlosen in die für sie vorgesehenen Räume. Er fuhr sich durch die Haare und ließ den Blick kurz schweifen, im Versuch das quälende Gefühl der Selbsthetze abzuschütteln. »Tu einfach, was du am besten kannst«, nuschelte er bitter. »Hol den Blinden ab und mach die Nervensägen fertig.« Richie konzentrierte sich auf die Geräusche. Bis eben war er ohnmächtig gewesen, doch seit seinem Erwachen war es furchtbar laut. Am penetrantesten war das Wummern seines eigenen Herzens, deckungsgleich mit pulsierendem Blut zwischen seinen Schläfen. Er hörte seinen mechanischen Atem, rasselnd, schwer, jeden einzelnen Schritt, den er auf unbekanntem Boden machte. Was war noch da? Rechts von ihm, rechts waren Geräusche. Ein Schaben, ein Trappeln wie von tausend kleinen Beinen, Klicken und Klappern, Klappern und Klicken… Was war das? Wo war das? Mit einem Mal ertönte ein markerschütterndes Brüllen, das Richie sofort zu identifizieren wusste: »Benny!« Augenblicklich spürte er, wie Panik in ihm hochstieg, Benny war hier, Benny hatte Angst und Benny litt, wo war er? Richie streckte die Hände aus, er musste mehr herausfinden, er musste einen Ausweg suchen, er musste helfen! Eine glatte Fläche. Eine glatte Fläche. Seine Finger berührten eine glatte Fläche. Vier Wände, eine aus Holz. Eng an ihm. Er hatte keinen Platz und er wusste nicht, wo er war. Er konnte nichts sehen. Seine Finger berührten eine glatte Fläche, eine glatte Fläche, glatte Fläche… Er musste doch wissen wo er war, er musste es erfühlen können, er musste wissen wo er war! Er konnte nicht herauskriegen wo er sich befand, doch er hatte kaum Platz, er konnte sich nicht bewegen… Richie schrie. Hey!, bellte eine laute, dröhnende Stimme in seinem Kopf, die selbst seine eigene übertönte. Richie verstummte sofort. Halt dich mal zurück, du Weichei. Du kannst Benny nicht helfen, indem du dir die Stimmbänder ruinierst, da sind wir uns doch einig, oder? Du musst handeln, Volltrottel, handeln! »Wie denn?«, flüsterte Richie heiser. »Wie soll ich handeln, was soll ich tun?« Na, das einzige, was du kannst eben. Fein, wir wissen jetzt, dass hier Wände sind, und dass sie verdammt nah sind, wissen wir auch, aber das wird jetzt geflissentlich ignoriert, kapiert? Auch die Geräusche von nebenan. Ich weiß, du hörst ihn immer noch, aber du musst was tun. Du bist doch eben mit dem Fuß irgendwo gegen gestoßen, was war das? Taste doch die Einrichtung ab, wenn du schon an den Wänden nichts findest. Richie bezweifelte, dass dieser Raum überhaupt Einrichtung besaß, doch diese merkwürdige Stimme hatte Recht, irgendetwas musste er versuchen. Erneut streckte er die Hände aus. Und tatsächlich war da etwas, es war ebenfalls glatt, aber anders als die Wände, ein anderes Material… Er tippte auf Glas. Da stand also eine Kommode aus Glas… Warum in aller Welt sollte in einem sonst völlig leeren Raum mittendrin ein hüftgroßer Quader aus Glas stehen? Zerschlag es, wisperte die Stimme. Es ist nicht massiv, es ist fragil, zerschlag es! Vielleicht ist etwas darin. Richie beschloss, nicht weiter nachzufragen. Entweder war es eine Falle, oder sein einziger Ausweg. Wie hatte Benny noch gesagt? Mehr als Sterben kannst du ja nicht. Er zog einen Ärmel über seine Hand und hielt den anderen Arm schützend vor sein Gesicht. Langsam holte er aus, amtete tief durch, schlug zu. Augenblicklich stieg ihm ein beißender, furchtbar vertrauter Geruch in die Nase – Aceton. Richies gesamter Körper verkrampfte sich, er bemühte sich mit aller Macht klar zu denken, Vernunft und Panik lieferten sich ein hektisches Gefecht in seinem Denken, brachten alles andere zum Stillstand. Okay (Säure), dann ist hier also Aceton (Säure) in diesem Raum (mit mir)… In diesem Glaskasten drin (ich hätte mir beim Zerschlagen die ganze Hand zersetzen können), das bedeutet aber nur, dass (er mich weiter verätzen will) ich jetzt seinen Vorteil zum Nachteil machen kann. Ich hab jetzt die Säure, nicht er. Während er vorsichtig Scherben aus seiner Hand zog, überlegte er angestrengt, inwiefern ihn das weiterbringen könnte. Aceton (Säure) konnte (mich blind alles dunkel machen) kein Holz zerstören (aber meine Augen), das wusste er. Aber woraus die anderen Wände bestanden, hatte er nicht ertasten können. War es wirklich möglich, dass das funktionieren konnte, war es intelligent, den Versuch zu wagen? Hast du noch viel Zeit, hast du eine Wahl? Verneinend schüttelte Richie den Kopf. Ein letztes Mal orientierte er sich an der unbekannten, glatten Oberfläche, dann griff er den Glasbehälter von den Überresten der zertrümmerten Anrichte vor ihm und schleuderte dessen Inhalt in die Richtung der Wand. Sid öffnete die Augen. Schloss sie, öffnete sie wieder. Schloss sie. Öffnete sie. Nichts änderte sich. Alles blieb unverändert. Dunkel. Sie tastete mit den Händen den Boden um sie herum ab, bevor sie sich mit aller Vorsicht aufrichtete. Er war glatt und völlig eben, nicht das kleinste Staubkorn war darauf zu spüren. Sid drehte sich einmal um die eigene Achse, jedenfalls hoffte sie, dass es wenigstens halbwegs dreihundertsechzig Grad gewesen waren und sie noch am selben Fleck stand. Sie wartete, dass ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen und Umrisse erkennen würden – vergebens. Zitternd streckte sie die Arme aus, taumelte vorwärts und von rechts nach links, versuchte Wände auszumachen, sich irgendwie zu orientieren… Schwärze. Undurchdringliche, dunkle, finstere, unheilvolle, bedrohliche Schwärze. Was war vor ihr? Was war neben ihr? Was (wer) war hinter ihr? Wer war hinter ihr? Wer beobachtete sie? Wer streckte kalte, tote, unbarmherzige Hände nach ihr aus? Wer war hinter ihr? Sid schrie. Es war nur ein einzelner Schrei, doch er zog sich in die Länge, bis ihre Stimmbänder nachgaben, zwang sie in die Knie, ließ sie zusammensinken, zu einem winzigen Häufchen Angst in diesem riesigen, grenzenlosen, schwarzen Raum. Wie lang hatte sie es nun geschafft, diesen zur Paranoia mutierten Kinderalptraum zu verdrängen? Es mussten Monate gewesen sein, fast Jahre… Und dennoch hatte sie es immer gewusst, dennoch hatte sie es ewig im Hinterkopf behalten, dennoch hatte sie diese eine festgebrannte Gewissheit nie verbannen können: Jemand lauerte in der Dunkelheit. Sobald das Licht gelöscht wurde, verfolgte sie jemand, auf Schritt und Tritt, überallhin. Sie hatte nie gewusst, ob sie sein einziges Ziel war, doch das war ihr auch egal gewesen. Jemand verfolgte sie im Dunkel. Und jemand war nun wieder bei ihr. Sie war umgeben von dichtem Nichts, es gab kein Licht, keinen Schatten, nicht einmal Geräusche. Es gab nur sie, ihre Furcht vor dem unbekannten Jemand und das quälende, schwer definierbare Gefühl der seltsamen Leere in ihrem Rücken… Das Gefühl, dass dort etwas fehlte, was dort eigentlich hingehörte, oder aber dass dort etwas war, was eben nicht dorthin gehörte – Sid hatte nie vermocht es zu beschreiben. Es war bloß das Gefühl im Rücken. Und es signalisierte ihr, dass die Schwärze sie bedrohte. Dass sie nicht alleine war. Ein Geräusch zerriss die Stille wie Papier. Platschen, ohrenbetäubendes Platschen, wie von Tausenden flachen Entenfüßen, die auf Wasser trafen, es hallte an Wänden, Decke und Boden wider, erfüllte den gesamten Raum. Verschreckt hob Sid den Kopf, in ihren Schläfen machte sich ein regelmäßiges, stechendes Pochen bemerkbar, ihre Eingeweide zogen sich schmerzlich zusammen. Wasser… Hier irgendwo war Wasser und hier irgendwo waren Tiere, war Leben. Nur wo? Verzweifelt versuchte Sid die Quelle der Laute auszumachen, doch sie echoten so dröhnend und verteilt um sie herum, dass es unmöglich schien, sie zu finden. Ohne nachzudenken, vom letzten Funken Hoffnung erfüllt, schob sich Sid auf die Beine, tastete vergebens nach einer Möglichkeit sich abzustützen, und taumelte vorwärts. Tatsächlich kam sie dem stetigen Platschen näher, doch es fiel ihr schwer, sich darauf zu konzentrieren. Viel mehr spürte sie, wie sie nach ihr griffen, wie die Schatten ihre langen, dünnen Arme nach ihr ausstreckten, ihr folgten, sie von allen Seiten bedrängten, sie stolperte wimmernd über ihre eigenen Füße im Versuch ihnen zu entkommen, doch die panische Angst vor den Geheimnissen der Dunkelheit verbot ihr jegliche Flucht. Der Schritt ging ins Leere. Der Boden verschwand unter ihren Füßen. Der Augenblick verging in Zeitlupe. Die Welt hörte auf sich zu drehen. Sids Herz hörte auf zu schlagen. Und im nächsten Moment fiel sie. Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen, Luft wurde aus ihrer Lunge gepresst und konnte nicht mehr eingeatmet werden – Sids Augen erblickten Licht. Salziges Wasser brachte ihnen Tränen und Schmerzen, doch sie wollten nicht geschlossen werden. Zu bizarr war das Bild, was sich ihnen bot. Über ihr schwappte die Oberfläche in reger Bewegung, die Dunkelheit war seit Sids Sturz komplett gewichen. Sie sah deutlich eine Zimmerdecke weit weg, Blumen und Seerosen schwammen auf dem Wasser, ein Kormoran tauchte an ihr vorbei (Hilfe) und (lässt mich ertrinken) sah sie bloß stumm aus schwarzen Augen an (Hilfe), verschwand dann (Hilfe) im dunkelbläulichen Nichts. Dort, wo eigentlich (Hilfe) der Grund hätte sein müssen, schien das Wasser (Hilfe) einfach aufzuhören, einen unsichtbaren Rand zu (Hilfe) finden, auf den Sid unweigerlich (hilflos) zusank. Und unter diesem Rand (Hilfe!) stand eine Person (Hilfe HILFE!), sie war vollends (HILFE!) vermummt von einer schwarzen Kutte – mit Entsetzen (Hilfe irgendwer) stellte Sid fest, dass er das sein musste, dass (mir niemand hilft) das dieser Jemand sein musste (irgendwer muss), der sie seit Jahren in der Dunkelheit (mir helfen) verfolgte; nun hatte er sie endlich in seiner Hand (Hil), nun war sie ihm restlos ausgeliefert (fe), er wartete nur noch auf sie (HILFE!) – Sid strampelte und schlug um sich, wollte mit aller Macht zurück an die rettende Wasseroberfläche, sie versuchte vergebens den Atemreflex zurückzuhalten, Wasser strömte in ihre Lunge, farbige Kreise und Formen ploppten vor ihren Augen auf, bevor sie sie schloss. Salz brannte in jeder Pore ihres Körpers, sie erschlaffte mehr und mehr, spürte mit einem letzten Rest dumpfer Panik wie sie herabgezogen wurde, in seine Arme. Ihr rechtes Augenlid flatterte ein letztes Mal hoch, erneut schwammen Kormorane direkt an ihr vorbei; Sid verfluchte sie innigst für ihre Boshaftigkeit, mit der sie sie untergehen ließen, bevor sie das Bewusstsein verlor. Benny war als Erster wieder zu sich gekommen. Eine Stimme hatte ihn geweckt. Mittlerweile saß er zitternd auf dem Boden, den Rücken an eine Wand gedrückt, und starrte hoch zu Tamias, der grinsend über ihm stand. »Du darfst dich geehrt fühlen«, hatte er soeben verkündet. »Du bist der Erste auf meiner Liste.« Bennys Augen weiteten sich in Todesangst, er schluckte schwer. »W-Was… Was hast du… Was wirst du…« Tamias lachte leise. »Beruhige dich«, sagte er. »Ich werde dir erzählen was ich vorhabe, keine Sorge. Ich werde dich töten. Doch zuerst…« Er ging vor Benny in die Hocke, eiskalte Augen bohrten sich in die seinen, das diabolische Züge annehmende Grinsen, das blasse Gesicht kam ihm gefährlich nahe. »Zuerst werde ich dir zeigen was Angst bedeutet, was deine eigene, innere, tiefe Angst bedeutet. Schließe deine Augen, Benjamin.« Einen Moment lang zögerte Benny, doch die immer bedrohlichere Wirkung dieses Blickes ließ ihn jeglichen Widerstand vergessen. Ein Schaudern durchlief seinen gesamten Körper, widerwillig sanken seine Lider. Einige Sekunden lang geschah nichts. Es trat langsam in sein Bewusstsein, das Kribbeln und das Jucken, es schlich sich nur nach und nach in seine Wahrnehmung. Dann jedoch spürte er es deutlich, sie waren an seinen Beinen, seinen Armen, seinem Rücken – er schüttelte sich, kniff die Augen fest zu, lange an seinen Knöchel, sich zu kratzen und hielt im nächsten Moment etwas Kleines, spärlich Behaartes in der Hand. Nun erlaubte er sich selbst wieder Sicht, und zunächst konnte er nichts erkennen – bis sich sein Hosenbein eindeutig bewegte. Und langsam, ganz langsam begriff er. Sein gelähmter Verstand konnte das Wort erst nach mehreren Anläufen bilden, wollte es erst nicht wahrhaben, was das war, was da dieses Kribbeln verursachte, was das war, was sich da unter seiner Kleidung so hastig bewegte, was das war, was sogar hinter ihm an der Wand ohrenbetäubende Geräusche von sich gab: Spinnen. Durch ein Loch im Knie seiner Hose kletterte ein großes, dunkelbraunes Exemplar auf Bennys Oberschenkel. Für Sekundenbruchteile hatte er nur ein entsetztes Starren dafür übrig, dann hob er mit aller Vorsicht seinen spinnenbesetzten Arm, um es zu greifen und so weit wie möglich von sich zu schleudern – Er hielt in der Bewegung inne. Beine. Acht Beine. Acht Beine auf seinem Nacken. Zähne, Beißwerkzeuge. Zähne in seiner Haut, Beißwerkzeuge schabten darum. Gift… Gift … in seinen Adern. Benny schrie. Er kippte auf die Seite und wälzte sich hin und her, versuchte die Tiere einfach zu plätten, trieb sich dadurch noch mehr winzige Zähne in die Haut, er strampelte und schlug blind um sich, ersparte sich dadurch in seiner Panik das Bild, das sich nun in der Blockhütte entfachte. Hunderte, Tausende von Spinnen überschwemmten den Holzboden, eine einzige schwarze Masse bewegte sich in konstanten Wellen auf Benny zu, kesselte ihn von allen Seiten ein, Spinnen kamen von den Wänden, Spinnen kamen aus den Schlitzen des Bretterbodens, Spinnen seilten sich von der Decke ab, Spinnen kletterten über Spinnen, nur mit einem Ziel: Benjamin Vince. Sein Schrei brach abrupt ab, als seine Mundhöhle gefüllt war mit kleinen felligen Körpern. Er gab ein röchelndes Würgen von sich, spuckte so viele er konnte wieder aus, krümmte sich, zitterte, brach kraftlos in sich zusammen. Tamias hatte sich während des Schauspiels in den Schatten der Hütte zurückgezogen; nun trat er wieder vor. Unschlüssig musterte er den Jungen am Boden. Er hatte aus Richard Jarvis’ Raum deutlich ein Klirren hören können; war es möglich, dass der Junge absichtlich die Säure freigesetzt hatte? Mit einem Seufzen rieb sich Tamias die Schläfen. Er wusste, er sollte der Sache eigentlich nachgehen, doch zunächst wollte er das mit Vince beenden. Durch einen Wink seiner Hand verschwanden die Spinnen. Ihr Gift war nicht tödlich gewesen, bloß ein leichtes Nervengift, damit Benjamin es in seiner Blutzirkulation hatte spüren können. Sterben würde er viel schneller, durch ein eigens präpariertes Gemisch. Ein paar Schmerzen, Atemstillstand, und es würde vorbei sein. Tamias senkte gerade die Hand in seine Hosentasche, um die entsprechende Spritze zu ziehen, als hinter ihm die Kunststoffwand zersprang. Er wirbelte herum, reflexartig holte er sein Messer aus dem Gürtel hervor. Tatsächlich stieg der blinde Richard Jarvis aus dem Loch in der Wand, eine Hand in ein blutiges Taschentuch gewickelt, das Gesicht ein einziges Gemisch aus Angst und Entschlossenheit. In seiner Linken hielt er den leeren Acetonbehälter. »Richard«, sagte Tamias, so ruhig wie er nur konnte, »Richard, Richard… Ich nehme an du bist hier, um den Retter zu spielen?« »Lass meine Freunde in Ruhe«, sagte Richie leise. Nun senkte auch Tamias die Stimme. »Hältst du das wirklich für klug? Du kannst nichts sehen… Und ich verfüge über Mächte, die du dir kaum ausmalen kannst.« Darauf wusste der Junge offenbar keine Antwort, er schwieg; die gesamte Hütte schien zu vereisen. Er und Tamias standen sich gegenüber wie zwei alte Erzfeinde, beide Köpfe gesenkt, beide Haltungen voller Erwartung bis aufs Äußerste angespannt, beide Atmungen tief und betont ruhig, in beiden Händen drehend die Waffen, die ihnen blieben. Jarvis schien nun endgültig zu zögern, Tamias sah dies als seine Chance. Ein gezielter Schlag und er wäre wieder außer Gefecht; die Säure war weg, sei’s drum – die Kehle würde er ihm trotzdem noch durchschneiden können. Überraschend fest schloss sich Bennys Hand um seinen Fußknöchel. »Hey, Arschloch… Hast du dir wehgetan?« Tamias hatte noch Zeit zu verstehen, dass Vince von dort unten seine Wunden sehen konnte, dann wurde er mit einem Ruck von den Füßen gezogen. Er drehte sich im Fall, landete hart rücklings auf dem Boden. Seine Finger schlossen sich fest um den Messergriff, er machte Anstalten wieder aufzustehen, doch Vince war tatsächlich schneller. Jeweils einen Fuß auf Tamias’ Unterarmen, blickte er auf ihn hinab, eine durch Bisse und Verletzungen verzerrte Maske der Wut. Er atmete schwer, seine teils geschwollenen Lippen verzogen sich zu einem zitternden, humorlosen Grinsen, seine Stimme war rau und verachtend - »Ich könnte dir jetzt ins Gesicht scheißen, Wichser.« Tamias schenkte ihm ein kurzes, sarkastisches Lächeln, holte aus ihn von sich zu treten, da splitterte der Glasbehälter an seinen Schienbeinen. Mit aller Macht unterdrückte er einen Schmerzensschrei, erblickte Richie Jarvis – den Jungen, der durch seine Hand erblindet war – schief grinsend auf ihn zuschlendern. Erneut ertönte Bennys erschöpfte Stimme über ihm, ein minimales Lachen war darin zu hören. »Wir haben mit ihm Werfen geübt, weißt du, Wichser… Er ist der beste blinde Schneeballwerfer des gesamten Universums. Deine blöde Säure hat nichts bewegt, Wichser. Nichts.« Sein Kopf schaltete quälend langsam, er war noch auf der Suche nach einer bissigen Antwort, als wiederholt ein brennender Schmerz durch seine Beine raste. Der blinde Junge war auf seine Knie gesprungen. »Ups«, machte Richard leise, bewegte seine Füße dabei malmend hin und her. »Das wollte ich nicht, hab ich dich etwa getroffen? Tut mir furchtbar leid, aber ich kann mich ohne Augen so schlecht koordinieren.« Benjamin Vince lachte heiser. »Sowas Dummes. Aber warum liegst du auch so im Weg, Wichser?« Tamias’ Atem ging schwerer, er zwang sich selbst, klar zu denken. Er brauchte (Beine) eine Bestandsaufnahme. Die beiden (Beine) Jungen waren (zerstört) frei, aber beide verwundet (meine Beine)… So sehr er sich bemühte, über mehr kam er nicht heraus, während dieser Junge unaufhörlich auf seine wohlgehütetsten Heiligtümer einprügelte, drehte sich sein resignierender Verstand bloß stumpf und panisch im Kreis: Meine Beine schmerzen – meine Beine sind verletzt – sie haben meine Beine verletzt – sie schmerzen – meine Beine schmerzen – ich kann sie nicht bewegen – ich kann mich nicht bewegen (warum nicht?) – ich schaff es nicht (warum wehrst du dich nicht?) – Exanimatio – Angst (Tamias warum) – ich habe Angst – ich kann nicht mehr arbeiten – Angst – aufgeben – Strafe – sie wird mir Inferno nehmen (also wehr dich) – sie wird mir alles nehmen – ich habe verloren – nicht mehr Herr der Sache – Ich gebe auf. Tamias schloss die Augen. Es war vorbei, er hatte die Kontrolle verloren. Er wusste es und Exanimatio wusste es auch. Jeglicher Kampf hatte keinen Sinn mehr. Zum ersten und letzten Mal öffnete der den Mund und stieß aus voller Kehle einen markerschütternden Schmerzensschrei aus. Richies Tritt ging ins Leere. Bennys Füße kamen auf dem Boden auf. Aus dem Nebenzimmer ertönte ein dumpfer Schlag. Ratlos hob Richie den Kopf, setzte an zu fragen, doch Benny kam ihm zuvor. Er las laut, was mit SEINEM Verschwinden auf dem Boden unter seinen Sohlen erschienen war: »Von Angst zerfressen.« *** Krachend fielen die Wände innerhalb der Hütte nieder. Sid lag bäuchlings auf dem Boden, ihr Atem ging flach. Als sie ihr Bewusstsein wiedererlangte, setzten in Benny Zuckungen und Krämpfe ein, durch das Gift der Spinnen. Schwach wankte sie zu den Jungen, schaffte es schließlich Richie zu beruhigen, der krampfhaft versucht hatte zu verstehen, was geschah, und hielt dann minutenlang mit ihm Benny in den Armen, gemeinsam schützten sie ihn vor Aufprallen auf dem Holz, sprachen so gut es ging mit ihm, bis die Wirkung abflaute. Er schwamm bloß zwischen Wachsein und Ohnmacht, als sie ihn zusammen aus der Blockhütte und dem Sperrgebiet trugen, am Waldrand gaben schlussendlich alle Beine nach. Ein Aufseher fand sie kurz darauf im Halbschlaf im Gras liegen, weckte sie erst mürrisch, bis er auf ihre Verfassung aufmerksam wurde. Er rief einen Krankenwagen und ließ sie abtransportieren. Es war ähnlich wie Monate vorher, die ganze Welt schien wissen zu wollen, was ihnen passiert war, doch das Trio schwieg beharrlich. Untereinander hatten sie längst von ihren Erlebnissen berichtet – und danach kein Wort mehr darüber verloren. Wann immer sie an die Geschehnisse erinnert wurden, taten sie den Gedanken einstimmig mit einem Lächeln ab. Sie hatten es geschafft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)