Zodiac von mystique (∼ Die etwas andere Art der Rache ∼ KaibaxWheeler) ================================================================================ Kapitel 3: (Scharf)Schütze -------------------------- (Scharf)Schütze Es ging doch nichts über Freitage. Sie kündigten den letzten Tag der Woche an, ließen auf Erlösung hoffen und außerdem bedeuteten sie derzeit das der Sportunterricht kurz bevor stand. Ich hatte die Nacht über vor Aufregung kaum schlafen können. Mein Geist war hellwach und malte sich bereits die möglichen Geschehen des kommenden Tages aus. Ich stellte mir vor, wie Kaiba, bei dem Versuch eine Bahn in der Sporthalle zu laufen, über die Schnürsenkel seiner Turnschuhe stolperte und der Länge nach hinfiel. In einem anderen Szenario hatten wir das Thema Bockspringen und Kaiba legte in meiner Version eine elegante Bruchlandung hin, die sicherlich ziemlich wehtat, landete er doch am Ende voller Eleganz im Spagat. Ich war eigentlich kein Mensch, der jemand anderem etwas Schlechtes wünschte, doch bei Kaiba gingen bei mir alle guten Vorsätze verloren. Dieser Kerl hatte es nicht anders verdient. Sein Ego war übermäßig groß, sein Weltbild bestand aus ihm als Zentrum und allen anderen Dingen am Rand und verdammt noch mal, ich hasste ihn! Gut gelaunt und Last Christmas pfeifend schlenderte ich die letzten Meter zur Schule, meine Tasche geschultert. Meine Laune hätte besser nicht sein können. Dieser Tag würde zweifellos in die Geschichte eingehen. Weiterhin pfeifend durchquerte ich das Schultor. Ein Blick auf die Schuluhr verriet mir, dass ich heute tatsächlich vor dem Klingeln ankam. Ich war pünktlich. Wenn das mal keine Feier wert war. „Joey!“ Ich steuerte meine Schritte nach rechts, peilte dabei die kleine Bank in der hinteren Ecke des Schulhofs an, auf der ich die anderen erspäht hatte. Yugi und Téa saßen auf der Bank, Tristan lehnte seitlich neben ihr und unterhielt sich gerade angeregt mit Duke. Neben ihnen stand Bakura und lächelte leicht belustigt. „Hey Leute.“ Grinsend blieb ich vor der Bank stehen und musterte jeden von ihnen. Duke und Tristan unterbrachen ihre Diskussion, denn sie hatten mich ebenfalls bemerkt. „Joey, Alter.“ Tristan kam auf mich zu. „Seit wann bist du denn pünktlich? Ist etwas passiert?“ Ich winkte ab. „Nein, hab nur beschlossen, heute keine Stunde des wunderbaren Unterrichts zu verpassen. Der Freitag ist viel zu schön, um ihn zu versäumen.“ Die anderen warfen sich viel sagende Blicke zu, dann wandte Tristan sich wieder an mich. Grinsend nahm er mich in den Schwitzkasten. „Ach wirklich? Und das sollen wir dir glauben, nachdem du dich wochenlang nicht darum gekümmert hast, ob Freitag ist oder nicht? Sag schon, bist du krank?“ Ich lachte, versuchte dabei, mich aus seinem Griff zu befreien. „Quatsch, mir geht es ausgezeichnet. Ich hab mich nie besser gefühlt.“ „Tristan“, kam es mahnend von Téa. „Lass Joey los, sonst geht er uns noch ein. Und es ist doch gut, wenn er zur Abwechslung mal pünktlich kommt. Hast du endlich eingesehen, dass ein weiterer Eintrag nicht unbedingt förderlich ist?“ Ich blinzelte und sah sie verpeilt an. „Nö.“ Sie fasste sich an die Stirn. „Was frage ich auch?“ Ich lächelte selig. „Wir haben jetzt Informatik, das ist Grund genug, pünktlich zu sein.“ Die anderen musterten mich skeptisch. Alle, bis auf Duke, der natürlich genau wusste, was mit mir los war. Ich sah, dass er sich ein verdächtiges Lächeln verkniff. „Bist du jetzt auf die Seite der Informatiker gewechselt?“, fragte Yugi freundlich. Ich nickte, warum sollte ich sie belügen? „Ich habe Spaß an dem Fach.“ Und das entsprach voll der Wahrheit. oOo Unruhig betrat ich das Schulgebäude. Es hatte eben geschellt und Yugi und die anderen hatten den anderen Gang genommen. Jetzt lag es an mir. Meine Unruhe stieg, je mehr Zeit verging. Ich kämpfte mich durch Massen von Schülern den Gang entlang. Und je näher ich dem Informatikraum kam, desto schneller schlug mein Herz. Ich hatte bis jetzt nicht gesehen und auch Yugi und die anderen hatten noch nicht das Vergnügen gehabt. Was, wenn er auch heute nicht kam? Nein, das durfte nicht sein. Nicht nach alldem, was ich seinetwegen getan hatte. Diese Stunden der Arbeit zusammen mit Duke durften einfach nicht umsonst gewesen sein. Nervös trat ich von einem Bein aufs andere. Ich wagte es nicht, den Raum zu betreten, aus Angst, Kaiba nicht zu sehen. Wie erbärmlich. „Wheeler, hör mit diesem Gezappel auf. Wenn du zur Toilette musst, dann geh.“ Mein Herz setzte für einen Moment aus, nur um anschließend in doppelter Geschwindigkeit gegen meine Brust zu hämmern. Langsam drehte ich mich um, sah mich mit einer kalten Aura der Arroganz konfrontiert. Mein Herzschlag nahm noch an Geschwindigkeit zu. Dort stand Kaiba. Abweisend wie eh und je, in seiner streng bis oben zugeknöpften Schuluniform, seinen silbernen Koffer in der Hand und sah mich herablassend an. Ich brauchte einige Sekunden, bevor ich in der Lage war, auf seine Worte zu reagieren. Zu sehr hatte mich sein plötzliches Auftauchen verwirrt. „Kaiba.“ „Danke Wheeler, ich weiß, wie ich heiße.“ Um zu zeigen, warum ich Kaiba hasste, musste man nur diese Worte wiederholen, dann war alles geklärt. Seine Art machte mich krank, seine Herablassung brachte mich zur Weißglut und seine spöttischer Ton fraß sich wie Gift in mich, war kurz davor, mich von innen heraus zu zerstören. Grauenvoll. „Das ist schön für dich, Kaiba. Wenigstens etwas kannst du dir merken.“ Es war sicher nicht meine schlagkräftigste Erwiderung, das merkte er auch. Seine Augenbraue schwang in die Höhe. Eine Mimik die ich mehr als alles andere an ihm hasste. Diese Geste schien mir jedes Mal zu sagen: Ich bin immer wieder verwundert, wie jemand wie du es auf eine Schule und vor allem bis in diese Stufe geschafft hat, wo dein Niveau doch weit unter dem einer Schnecke liegt und die ist wenigstens klug genug, ihr eigenes Haus auf dem Rücken zu tragen. So oder zumindest so ähnlich ließ es sich interpretieren. Die Grundaussage jedenfalls blieb dieselbe: Idiot. Ich verengte die Augen und starrte ihn zornig an. Dieser Mistkerl hatte es allemal verdient, was ich mit ihm vorhatte. Ich würde ihm alle Schmähungen, alle Erniedrigungen und herablassende Kommentare doppelt und dreifach zurückzahlen. „Wenn du mich weiterhin so anstarrst, Wheeler, fallen dir noch die Augen aus dem Kopf.“ Dieser ... dieser ... verdammt, mir fehlten mittlerweile sogar die passenden Worte, um ihn zu beschreiben. So großkotzig und ... ach egal: So wie er konnte doch einfach kein normaler Mensch sein! Ich ballte meine Fäuste, bevor ich herumwirbelte und ihm den Rücken kehrte. Ich würde ihm nicht noch die Genugtuung gönnen, mich bereits vor dem Unterricht an die Grenzen meiner Selbstbeherrschung gebracht zu haben. Nicht mit mir. Nicht heute! Heute war mein Tag. oOo Die Stunde verstrich geradezu quälend langsam. Ich saß vor meinem Schulrechner – man hatte es tatsächlich geschafft ihn innerhalb nur eines Tages zu reparieren, ich war regelrecht geschockt vor Erstaunen – und mein Blick wanderte alle paar Sekunden in Richtung Kaiba. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte meinen können Adrenalin würde durch meine Adern fließen, bei dem alleinigen Anblick von Kaibas Rücken vor seinem Monitor. Ich konnte nicht sehen, was er momentan machte, doch vor meinem geistigen Auge spielte sich das Szenario lebensecht ab. Kaiba, der verstohlen die Datei des Abos öffnete. Kaiba, der die Zeilen des Horoskops überflog. Kaiba, der daran glaubte. Eine derartige Befriedigung hatte ich nicht mehr gespürt, seit ich das letzte Mal beinahe Yugi im Duel Monsters geschlagen hatte und selbst diese Begebenheit konnte meinen derzeitigen Gefühlszustand nur ansatzweise beschreiben. Von dem Unterrichtsstoff den wir diese Stunde durchnahmen bekam ich nur am Rande etwas mit, lediglich die Begriffe Tabellenkalkulation und Berechnung drangen bis zu meinem Bewusstsein durch, doch würde man mich später nach ihnen Fragen, hätte ich sie längst wieder vergessen. Doch das war meine geringste Sorge. Die frage, die mir wie ein züngelndes Feuer auf der Seele brannte, war, ob Kaiba tatsächlich der Anweisung in dem Horoskop folgte und mir, einem Wassermann, aus dem Weg ging. Ich wusste, dass er wusste, dass ich Wassermann war. Nur wusste ich außerdem, dass er es wusste und auch, dass er wusste, dass sein Horoskop ihn vor einer Konfrontation mit Wassermännern warnte. Ich wusste geradezu beunruhigend viel ... Meine Hände zitterten geradezu vor Anspannung und mein Blick war die letzten Momente der Stunde wie hypnotisiert auf die kleine digitale Anzeige in der unteren Ecke meines Monitors gerichtet, auf der die Zeit angegeben wurde. Als es endlich klingelte verharrte ich auf meinem Platz. Nie hatte es mich mehr Selbstbeherrschung gekostet, nicht sofort aufzuspringen und Kaiba direkt anzusprechen und zu provozieren – oder besser ausgedrückt, es zu versuchen. Doch ich zwang mich dazu, sitzen zu bleiben, bis der Großteil meiner Mitschüler den Raum bereits verlassen hatte. Nun erhob ich mich ruckartig, packte meine Schultasche und eilte auf die Tür zu. Kaiba hatte sie ebenfalls erreicht und zeitgleich wollten wir den Raum verlassen. Versehentlich stieß ich ihn an. „Kannst du nicht aufpassen Wheeler.“ Er hatte zu sprechen begonnen, bevor er mich angesehen hatte und ich registrierte das kaum merkliche Zögern vor dem Aussprechen meines Namens, als er mich erkannt hatte, mit einem inneren Triumphschrei. [/]Das war es. Mehr Beweise brauchte ich nicht. Kaiba zögerte in meiner Anwesenheit nie, alleine das kurze Aufflackern vor Irritation in seinem Blick hatte mehr als tausend Worte gesagt! Meine Lippen zuckten verräterisch, machten Anstalten, sich zu einem selbstzufriedenen Grinsen zu verziehen, wie Kaiba es normalerweise an den Tag zu legen Pflegte, doch ich zwang mich zur Ruhe, knurrte stattdessen einige wenige unverständliche Worte und rauschte raschen Schrittes an ihm vorbei auf den Flur. Erst als ich einige Gänge, sowie Biegungen zwischen uns gebracht hatte und sicher war, dass er außer Reichweite war, erlaubte ich es mir, stehen zu bleiben und mit einem triumphierenden Ausruf meine geballte Faust in die Luft zu schlagen. Ich ignorierte die verwunderten und skeptischen Blicke einiger Schüler, die in dem Moment an mir vorbeigehen, auch die belustigten Kommentare überging ich, zu sehr begeisterte mich meine Erkenntnis. Kaiba glaubte an Horoskope. Seto Kaiba glaubte an Horoskope. Seto – ‚ich halten nicht einen Cent auf Mutos penetrantes Geschwätz über Schicksal und Bestimmung’ – Kaiba glaubte an Horoskope. Wenn die Hölle in diesem Augenblick nicht zufror, dann würde sie es gewiss niemals tun. oOo „Joey was ist los mit dir?“ Tristan hatte mich in den letzten Minuten der Mittagspause keinen Moment aus den Augen gelassen. „Du grinst seit heute Morgen selig vor sich hin, als hättest du den Himmel auf Erden gesehen.“ „Nette Ausdrucksweise, Tristan“, bemerkte Duke und lächelte spöttisch. „Himmel auf Erden? Wo hast du denn diesen Ausdruck aufgeschnappt?“ „Klappe“, gab Tristan zurück und schenkte Duke einen giftigen Blick. „Sag bloß nicht, dass es dir nicht auch aufgefallen ist?“ „Doch, ist es“, gab Duke zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und Joey, willst du uns nicht sagen, was der Anlass für deine überschwänglich gute Laune ist?“ Allen außer mir entging der sarkastische Unterton in seiner Stimme. Er wusste, wieso ich mich so benahm. Er konnte zwischen den Zeilen lesen und in meinem Verhalten lag mehr zwischen den Zeilen, als irgendwo sonst. „Es ist ein wunderbarer Tag“, bemerkte ich und erst Momente später wurde mir klar, dass Tristan Recht hatte und meine Stimme geradezu widerlich selig klang. Genauso, wie ich bis eben ausgesehen haben musste. Peinlich! Ich richtete mich ruckartig auf und das dumme Grinsen verschwand aus meinem Gesicht. Unangenehm berührt hustete ich, ignorierte dabei Téas belustigten Blick, die ihr Gespräch mit Yugi unterbrochen hatte und mich unverschämt lächeln ansah. „Man könnte beinahe meinen, du seiest verliebt, Joey.“ Röte breitete sich auf meinem Gesicht aus und ich brauchte keinen Spiegel um zu wissen, dass ich soeben Anstalten machte, der Farbe von Ryous Cocktailtomaten zu konkurrieren. „Red keinen Unsinn“, nuschelte ich und wandte mich rasch von ihr ab, bevor ihr noch ganz andere haarsträubende Theorien einfielen. Mädchen besaßen die unglaubliche – und gleichsam beunruhigende – Fähigkeit, in den unmöglichsten Momenten die unmöglichsten Thesen aufzustellen. Dies führte in so gut wie allen Fällen nur zu peinlichen Fragen, roten Köpfen und viel zu vielen Zweideutigkeiten. Noch dazu stimmten sie nie. Zumindest bei mir nicht. „Joey hat ’ne Flamme?“, griff Tristan ohne zu zögern Téas Aussage auf und ich unterdrückte den Drang, laut aufzustöhnen. „Nein Tristan, hast du nicht bemerkt, dass Téa wieder eine ihrer Mädchen-und-ihre-Intuitionen-Phasen hat?“, entgegnete ich in einer lächerlichen Geste der Hilflosigkeit, von der ich wusste, dass sie keine Wirkung haben würde. Wenn Tristan erst einmal einen Gedankengang übernommen hatte, war er die nächste halbe Stunde nicht mehr davon abzubringen. Egal was ich nun sagen würde, alles würden sie gegen mich stellen. Von Duke konnte ich keine Hilfe erwarten, genauso wenig von Yugi und Ryou. Am Ende der Pause hatte ich Tristan und Téa zufolge eine blonde Schönheit mit europäischem Namen und einladender Oberweite als Schwarm, die ihn ihrer Freizeit gerne tanzte, modelte und sang, Mitglied beim Tierschutzverband war, sich leidenschaftlich für Delphine einsetzte und sich nichts mehr wünschte, als den baldigen Weltfrieden. „Nimm es nicht so schwer, Joey“, meinte Duke tröstend. „Du musst jetzt nur jemanden finden, der halbwegs auf diese Beschreibung zutrifft und sie den beiden vorstellen, dann sind sie zufrieden und lassen dich in Ruhe. Kein Problem also, findest du nicht auch?“ Wie kam ich an Freunde mit einer derart kranken Phantasie? Ich gab den Versuch auf, nach einer Antwort auf diese Frage zu suchen und konzentrierte mich lieber auf den bevorstehenden Sportunterricht. oOo Nach der hinter mir liegenden Informatikstunde hätte mich nichts mehr überraschen dürfen. Absolut gar nichts. Kaiba glaubte tatsächlich an Horoskope – dies war eine Erkenntnis, die mein Weltbild gleichermaßen zerstörte, wie neu errichtete – doch wie um alles in der Welt hatte ich so blauäugig sein können, anzunehmen, Kaiba könnte trotz allem am Sportunterricht teilnehmen? Während ich mit meinen Freunden quer über den Schulhof in Richtung Sporthalle marschierte wurde ich mir der Tatsache bewusst, dass es unmöglich war, dass Kaiba ausgerechnet heute am Sportunterricht teilnahm. Er hatte in der ersten Stunde das gefälschte Horoskop gelesen - er hatte überhaupt nicht davon ausgehen können, dass es ihm raten würde, sich sportlich zu betätigen. Darum war es genauso abwegig, dass Kaiba seine Sportsachen dabei haben würde, und als Folge dessen – ich mauserte mich zu einem wahren Denker – würde er auch nicht den Sportunterricht mit seiner Teilnahme beglücken. Meine Laune näherte sich dem Nullpunkt und ich spürte die skeptischen Blicke der anderen angesichts meiner plötzlichen Gefühlsschwankungen auf mir, während die Jungenumkleide in mein Sichtfeld rückte und der kümmerliche Rest meiner einstigen Euphorie sprichwörtlich verpuffte. Auch Tristans gemurmeltes „Er benimmt sich so seltsam, wie ein Mädchen, er kann doch unmöglich seine Tage haben?“ trug merklich wenig zur Besserung meiner plötzlich negativen Verfassung bei, sie wirkte vielmehr kontraproduktiv. Unverständliche Flüche von mir gebend stieß ich die Tür auf, und trat – Tristan einen finsteren Blick zuwerfend – ein, warf meine Tasche zusammen mit einer in der kurzen Zeit beträchtlichen Menge angestauter Frustration auf eine der Bänke. Warum konnte in meinem leben nicht ein einziges Mal etwas nach Plan laufen?! Knurrend trat ich gegen das alte Holz. „Du scheinst es darauf anzulegen, wegen Beschädigung des Schuleigentums einen Verweis zu bekommen, was?“ Ich wirbelte herum. Mein Blick fiel auf Kaiba, der am anderen Ende des Raumes auf einer anderen Bank saß, die Beine übereinander geschlagen, die Arme verschränkt und mich gleichsam skeptisch wie abfällig musterte. Nur er schaffte es, diese beiden Ausdrücke zu vereinen es mir zu präsentieren. Ich atmete hörbar ein und aus und öffnete den Mund, bevor ich ihn wieder schloss und stattdessen die Prozedur mangels Beherrschung zu wiederholen. Eine Hand legte sich auf meine Schulter und aus den Augenwinkeln sah ich Tristan, der dicht hinter mir stand und den Kopf schüttelte, obwohl er sich noch nicht einmal sicher sein Konnte, dass ich diese Geste bewusst wahrnahm. Normalerweise hätte ich sie nicht wahrgenommen, weil ich viel zu sehr auf Kaiba konzentriert gewesen wäre, doch heute liefen sämtliche Handlungen gegen die gewohnten Abläufe. „Joey, nicht aufregen.“ Tristans Worte waren leise, dennoch eindringlich. Es wunderte mich, doch sie erzielten tatsächlich Wirkung. Ich atmete zischend aus und mein Blick richtete sich auf Kaiba, der zwar momentan noch schwieg, mich aber weiterhin mit demselben Blick taxierte und den Eindruck erweckte, als läge ihm ein Konter für jede meiner Erwiderungen bereits auf der Zunge. Wie konnte ein einzelner Mensch – ein Junge! - nur derartige Überlegenheit ausstrahlen, obwohl er mit übereinander geschlagenen Beinen vor mir saß? Jeder andere an seiner Stelle sähe beschämend lächerlich aus, nur er nicht. War das fair? Ich zwang mich zu einem misslungenen Grinsen. „Was denn Kaiba, du hier? Kein wichtiges Meeting? Kein Auslandsbesuch? Wie kommt es, wo du dem Sportunterricht doch in der Regel so abgeneigt bist? Hat man dich bekehrt?“ Ich wusste, dass ich mit dem Feuer spielte, doch wie ich in den letzten Jahren bereits mehrfach festgestellt hatte, schien es eine Neigung von mir zu sein, mich darauf einzulassen. Mochte die Gefahr, mich zu verbrennen auch noch so groß sein, wenn man sich nur nicht davon stören ließ und bereit war, Risiken einzugehen, störte es wenig. „Ach nein, wie dumm von mir.“ Ich hatte weiter gesprochen, bevor er überhaupt die Chance gehabt hatte, etwas zu erwidern. „Bekehrt werden ja nur diejenigen, die sich ihrer Makel bewusst sind.“ Tristans Hand auf meiner Schulter schien an gewicht zu gewinnen. „Bist du verrückt geworden, Joey?“, hörte ich seine Stimme dicht an meinem Ohr, doch ich reagierte nicht. Viel mehr verwirrte mich Kaibas Schweigen. Obwohl es mich eigentlich weniger hätte verwirren sollen, hatte ich doch selbst für diese Reaktion gesorgt, in dem ich sein Horoskop manipuliert hatte, doch zu wissen, dass er sich tatsächlich über längeren Zeitraum daran hielt, war befremdlich. Befriedigend und dennoch befremdlich. Kaibas folgende Handlung war unerwartet. Er löste den Blickkontakt und erhob sich. Erst jetzt fiel mir auf, dass er nicht mehr seine Schuluniform trug. Meine Augen weiteten sich, während Kaiba sich aufrichtete und seinen Blick gelangweilt durch die Jungenumkleide schweifen ließ, in der es – wie mir ebenfalls erst jetzt auffiel – unnatürlich still war. „Eine Bekehrung würde ich es nicht nennen, Wheeler“ – er sah mich weiterhin nicht direkt an – „viel mehr eine Einsicht, zu der ich gelangt bin.“ Ich starrte ihn fassungslos an, brauchte Sekunden, vielleicht sogar Minuten, um den Anblick, welchen mir die Sportkleidung bot, zu realisieren. Kaiba trug Sportkleidung. Sündhaft teure Designer-Sportsachen. Shirt, Hose, Schuhe. Woher diese kamen war mir ein Rätsel. Hatte er sie sich tatsächlich bringen lassen? Nebensächlich, viel wichtiger war: Kaiba trug Sportsachen! Ich war nicht der einzige, den dieser Anblick zu schockieren schien. Vielmehr schien dieser Schock der Urheber für die Stille in der Umkleide zu sein. Und während Kaiba mit einem abfälligen Kommentar den Raum verließ und die Sporthalle aufsuchte, brauchten siebzehn Jungen – einschließlich mir (und Yugi) – Minuten, um zu begreifen, dass soeben ein bedeutender Umschwung stattgefunden hatte, dessen Auswirkungen bis dahin noch unbekannt waren. oOo Ich konnte mein Glück kaum fassen. Duke schien mein leise geflüstertes „Ich fass es nicht, es hat tatsächlich geklappt“, welches ich wie ein Mantra die letzten fünf Minuten zu wiederholen pflegte, während mein Blick dabei ununterbrochen auf Kaiba gerichtet war, der abseits saß und sich desinteressiert gab (und nebenbei bemerkt versuchte, die irritierten, schockierten und teilweise auch schmachtenden Blicke der Mädchen zu ignorieren). „Es reicht langsam, Joey“, bemerkte er gereizt, gepaart mit einem scherzhaften Stoß in meine Rippen. „Noch länger und man könnte meinen, Kaibas Anblick hätte dich in den Wahnsinn getrieben.“ Wahnsinn traf nicht ganz zu, Euphorie und Hochgefühl beschrieben es eher. Ich konnte es nicht erwarten, mit dem Unterricht zu beginnen. Ich wollte Kaiba sehen, während ihm beim Warmlaufen die Luft fehlte. Ich wollte ihn sehen, wie er über die Schnürsenkel seiner übertriebenen Markensportschuhe stolperte und sich vor der gesamten Klasse bloßstellte, so wie er mich mit seinen Kommentaren zu demütigen suchte. Ich wollte Kaiba sehen – „Joey, es reicht!“ Ein besonders schmerzhafter Rippenstoß riss mich unsanft aus meinem Tagtraum. Duke sah mich strafend an, wobei es vielmehr an mir gelegen hätte, ihm für seine ruppige Art Vorwürfe zu machen, doch ein Kopfnicken in Richtung der anderen ließ mich zu dem Schluss kommen, dass er recht hatte. Tristan, Yugi und Téa waren schon verwirrt genug angesichts meines wechselhaften Verhaltens - ich sollte sie nicht noch unnötig argwöhnisch machen. Meinem Hochgefühl sollte bald bittere Ernüchterung folgen. Spätestens beim Aufwärmen wurde mir klar, dass Kaiba zu meinem Leidwesen nicht halb so unsportlich war, wie angenommen. Zugegeben war er weitaus sportlicher, als angenommen. Es war zum verrückt werden! Warum konnte er nicht wenigstens konditionslos sein, warum musste er die zehn Runden zum Warmmachen mit einer Lässigkeit laufen, bei der die meisten von uns Jungen geradezu neidvoll hinterher sahen? (Nicht, dass ich zu denjenigen gehörte, die ihm hinterher sahen. Ich war vermutlich der einzige, der mit seinen Blicken nicht unablässig an Kaiba hing. Zugegeben ... ein oder zwei Mal schon, aber nur um ihn innerlich zu verfluchen und das dritte und vierte Mal auch nur, weil er drauf und dran war, uns zu überrunden und beim fünften Mal hatte ich ihm ein Bein stellen wollen, was allerdings nicht ganz geglückt war - hatte Tristan doch an seiner Stelle einen eleganten Tiefflug hingelegt – und das sechste Mal – das absolut letzte Mal – hatte ich nur zu Kaiba gesehen, um ihm eine wüste Beschimpfung hinterher zu rufen. Aber wie gesagt, sechs Mal bedeuteten keinesfalls ‚unablässig’.) Alles in allem lief absolut nichts nach Plan. Erst, als nach dem Aufwärmen bekannt wurde, dass wir die erste Stunde mit Baseball – oder auch nur einer Abwandlung dessen – verbringen würden, hob sich meine Stimmung wieder etwas an. Baseball – oder auch nur eine Abwandlung dessen – barg viele Tücken und es gab selbst für Kaiba genügend Fettnäpfchen, in die er treten konnte. Noch viel besser wurde es, als sich herausstellte, dass wir in gegnerischen Teams waren. (Man musste sich lediglich beim Abzählen richtig hinstellen – oder sich, wie in meinem Fall, zwischen Duke und Tristan drängen – dann war man umgehend in der Mannschaft, in der Kaiba nicht war.) Baseball gehörte in Japan zur beliebtesten Sportart schlechthin, darum war es nicht verwunderlich, dass es in der Schule auf dem lehrplan war, doch wer immer für diesen Witz einer Abwandlung – geschaffen, um auch in einer kleinen Sporthalle spielen zu dürfen – verantwortlich war, hatte entweder vom Original wenig Ahnung gehabt, oder es darauf angelegt, unschuldige Oberschüler für dumm zu verkaufen. Das Spiel bekam einen Spitznamen aus Europa, Brennball – wer nannte ein Spiel bitte Brennball?! Europäer waren ein seltsames Volk – und während die eine Mannschaft sich in einer Reihe aufstellte, um sich nach und nach gegenseitig mit dem Baseballschläger – ja, er war zu meiner eigenen Überraschung tatsächlich echt – niederzuschlagen, weil keiner von ihnen den richtigen Umgang mit dem Schlagholz beherrschte, verteilte sich die andere Mannschaft wahllos im Rest der Halle. Mädchen bildeten – natürlich – Grüppchen (wie hätte es auch bei Mädchen anders sein können?) während die Jungen wenigstens versuchten einen halbwegs professionellen Eindruck zu vermitteln. Das Spiel konnte beginnen. Und es war interessanter, als angenommen. Zugegeben, es hatte etwas, zu beobachten, wie Tristan im Versuch den Ball mit dem Schläger zu treffen, Duke beinahe den Kopf abgeschlagen hätte, wenn dieser sich nicht geistesgegenwärtig zur Seite geschmissen und dabei den armen Ryou mit sich gerissen hätte. Und es war ebenfalls amüsant zu sehen, wie Yugi mit dem Gewicht des Holzes - das beinahe so lang war, wie er groß war – zu kämpfen hatte, doch all diese Szenerien waren vergessen, als ich mit Werfen an der Reihe war und Kaiba den Schläger hielt. Es wurde Still in der Halle. Die Irritation, die Kaibas plötzliche Bereitschaft, am Sportunterricht teilzunehmen, ausgelöst hatte, hatten die meisten Schüler während den vergangenen zwanzig Minuten überwunden – wenn man davon absah, dass ein Teil der Mädchen ihn weiterhin auf Ekel erregende, peinliche Art und Weise hinterher starrten, doch nun wo Kaiba und ich uns gegenüberstanden schien alles wieder zurück zu kehren. Verwirrte Blicke wurden gewechselt und aus dem Schweigen kämpfte sich ein penetrantes Tuscheln in den Vordergrund. Ich fühlte mich, wie in einem schlechten Roman. Kaiba hatte die Stunde über kein Wort von sich gegeben. Er hatte beharrlich geschwiegen und auch meine Bemerkungen weitgehend ignoriert, doch nun musste er mich beachten. Er hatte überhaupt keine andere Wahl. Der kleine Ball in meiner Hand schien von Sekunde zu Sekunde leichter zu werden und ein Grinsen verzog meine Lippen, während ich Kaiba nicht aus den Augen ließ. Wäre dies ein Film gewesen, wir hätten uns gegenüber gestanden mit je einer Waffe in der Hand, darauf wartend, dass einer von uns den ersten Schritt täte. (Ich sollte mir weniger Western ansehen ...) „Worauf wartest du, Wheeler?“ Seine Worte, gepaart mit einem provozierenden Schwingen des Schlägers wirkten auf mich wie ein Startschuss. Ich holte aus, zielte, und warf. Er hätte den Ball niemals treffen dürfen. Physikalisch gesehen war es überhaupt nicht möglich, dass er diesen Ball auf irgendeine Art und Weise hätte treffen können, denn ich hatte auf sein Gesicht gezielt. Wie er es dennoch schaffte, das Leder des Balles mit dem Holz des Schlägers zu treffen, ist mir ein Rätsel. Wie er es noch dazu geschafft hatte, Ryou, der unmittelbar neben ihm und dadurch automatisch in der Bahn des Schlägers gestanden hatte, nicht zu treffen, war ein noch viel größeres Mysterium. Tatsache war jedoch, dass es ein Geräusch gab, welches mir durch Mark und Bein ging, als er den Ball perfekt traf und perfekt durch die Halle schoss. Er verfing sich in dem Kabel-Lampen-Gestell unterhalb der Hallendecke und wunde somit zu einem Fünf-Punkte-Homerun für Kaiba. Dieser elende Bastard! Meine Fäuste zitterten vor unterdrückter Wut, als Kaiba mit einem widerlich süffisanten Lächeln auf den Lippen gemächlich seine Runde drehte. Das gab Rache! Ich sollte sie bekommen. Anders als vorgesehen. Wir hatten die Seiten gewechselt und nun stand meine Mannschaft in einer Reihe und schlug den Ball. Kaibas Mannschaft (ich hatte sie gedanklich so benannt, genauso wie ich meine Mannschaft als Meine Mannschaft betitelte) führte und endlich, nachdem seit Kaibas Homerun weitere zwanzig Minuten vergangen waren und das Ende der ersten Sportstunde in greifbare Nähe rückte, standen wir uns wieder gegenüber. Es war kein Zufall, ich hatte persönlich dafür gesorgt, dass ich schlagen musste, sobald er werfen würde. Ich war fest entschlossen, ihm diese Schmach von vorhin zurückzuzahlen. Ich würde einen Homerun schaffen, der den seinen um Längen in den Schatten stellen würde. (Ich wusste zwar noch nicht, wie ich das erreichen wollte, aber Spontanität war noch nie etwas Schlechtes gewesen.) Ich festigte meinen Griff um den Schläger, holte probehalber damit aus (verfehlte Téa dabei nur um Zentimeter, was sie mir hoffentlich nicht übel nahm) und starrte Kaiba angriffslustig an. „Na los, trau dich.“ Der Satz war überflüssig, die Worte falsch gewählt und wie ich im Nachhinein feststellen würde auch noch anders zu interpretieren, als beabsichtigt. Kaiba schenkte mir einen herablassenden Blick, gepaart mit einem spöttischen verziehen der Lippen, bevor er warf. Ich holte aus, schlug und traf nicht. Ich fluchte und stierte Kaiba finster an. „Du hast falsch geworfen!“ Ich wusste, dass er vollkommen richtig geworfen hatte, genauso wie er es auch wusste und wahrscheinlich jeder andere in dieser Halle ebenfalls, doch ich war nicht bereit, es einzusehen. „Mach dich nicht lächerlich, Wheeler“, entgegnete er und verschränkte die Arme. „Du hast falsch geworfen!“, beharrte ich standfest. Ich konnte nicht so gegen ihn verlieren. „Alles an diesem Wurf war korrekt“, bemerkte er sachlich und musterte mich eisig. „Willst du etwa meine Urteilskraft infrage stellen?“ „Ja, wenn du nicht einmal in der Lage bist, einen falschen von einem richtigen Wurf zu unterscheiden!“ „Wheeler.“ Sein Blick verdüsterte sich, sein Mund war nur noch ein schmaler Strich. Horoskop hin oder her, er machte nicht den Eindruck, als würde er einer Auseinandersetzung mit mir weiterhin aus dem Weg gehen. „Ich verlange eine Wiederholung“, forderte ich ohne ihm Zeit für weitere Worte zu lassen. „Wirf noch mal, aber richtig.“ „Mein Wurf war nicht falsch.“ Er betonte jedes Wort, als wäre es ein Satz. „Wirf einfach noch mal.“ „Nur weil du zu inkompetent bist, einen Ball zu treffen, heißt es nicht, dass ich einen Fehler gemacht habe.“ „Wirf noch mal, Kaiba!“ Ich wollte diesen Homerun. Ich brauchte diesen Homerun! „Nein.“ „Kaiba!“ „Nein.“ Wirf, oder dein Horoskop wird dir raten, am Montag imit magentafarbenem Mantel in der Schule zu erscheinen!, wollte ich ihm entgegen rufen, doch ich besann mich rechtzeitig eines besseren. Es wäre mehr als nur unklug, ihm die einzige Waffe zu offenbaren, die ich gegen ihn hatte. „Ich schwöre, den nächsten werde ich treffen.“ „Du würdest ihn nicht einmal treffen, wenn er vor dir in der Luft stehen bliebe.“ „Wollen wir wetten?“ „Lass es nicht drauf ankommen, du wirst nur nicht mit der Realität klarkommen, Wheeler.“ „Hast du etwa Angst?“ „Denkst du ernsthaft, du könntest mich provozieren?“ „Also hast du Angst.“ „Du bist noch primitiver, als ich angenommen habe. Erbärmlich.“ „Angst, das Schicksal könnte es nicht so gut mit dir meinen, wie beim ersten Wurf?“ Ich hatte nicht damit gerechnet, dass meine Worte tatsächlich Wirkung erzielen würden. Doch sie taten es, denn seine Haltung versteifte sich. „Ich glaube nicht an das Schicksal, Wheeler.“ Und er warf. Aber an Horoskope, nicht wahr Kaiba?, schoss es mir durch den Kopf. Und ich schlug. Und traf. Nämlich Kaiba. Durch die Wucht meines Schlages zurückgeschleudert, gewann der kleine Ball rasch an Geschwindigkeit. Der Winkel jedoch war denkbar ungünstig. Hätte ich den Schläger nur ein kleines Stück höher oder tiefer gehalten, es wäre nie etwas passiert. Doch so schlug der Ball die eine bestimmte Flugbahn ein, war nicht gewillt, sie zu verändern und traf Kaiba frontal im Gesicht. In Filmen und Büchern ist in ähnlichen oder vergleichbaren Situationen immer von einer Verlangsamung der Zeit die Rede. Die Getroffenen fallen in Zeitlupe, sodass immer noch die Möglichkeit besteht, geistesgegenwärtig zu handeln und sie vielleicht sogar aufzufangen, bevor sie den Boden erreichen. Ich bemerkte davon nichts. Kaiba fiel bemerkenswert schnell. Und das Geräusch, welches sein Aufprall auf den Hallenboden verursachte war auch nicht dumpf, sondern überraschend hohl. Überhaupt hatte sich an der Situation nichts Merkliches geändert. Ich hielt den Schläger in den Händen, ließ ihn langsam sinken. Alle Blicke waren auf Kaiba gerichtet, welcher am Boden lag, die Augen geweitet, den Blick gen Hallendecke gerichtet, während Blut aus seiner Nase lief. Meter entfernt lag der Ball auf dem Boden, unbewegt und unschuldig, als habe er nichts mit dem paradoxen Bild zu tun, welches sich uns bot. Es wunderte mich, dass keines der Mädchen mit einem verzweifelten Aufschrei auf Kaiba zustürzte. Auch keiner der Jungen machte Anstalten, sich zu rühren. Von unserem Lehrer war nichts zu sehen, er hatte sich wahrscheinlich schon vor Minuten in den kleinen Raum zurückgezogen, in dem sich die Sportlehrer trafen, während ihre Schüler sich selbst beschäftigten. Natürlich fehlten die Lehrkräfte immer, wenn sie am meisten gebraucht wurden. Ich drehte den Kopf nach links und rechts, doch mir begegneten ratlose Gesichter. Niemand, wusste, was zu tun war, selbst Yugi schien auf perfide Art und Weise überfordert. Nun kam ich mir tatsächlich vor, wie in einem sehr sehr schlechten Film. „Kaiba?“ Meine eigene Stimme wirkte falsch in einer Situation wie dieser. Dennoch erzielte das Wort Wirkung. Kaiba schien aus seiner Starre zu erwachen. Er blinzelte, hob die Hand und betastete seine Nase. Anschließend hob er die Hand vor seine Augen und betrachtete das Blut auf seinen Fingerkuppen. Dann, vollkommen unvermittelt, richtete sich sein Blick auf mich und ich schluckte schwer. „Wheeler.“ Im Gegensatz zu meiner Stimme, wirkte seine alles andere als falsch. Sie klang sogar mehr als nur richtig und zwar insofern, als dass sie berechtigterweise voller Schärfe und unterdrücktem Zorn war. Er ballte die Hand zur Faust und richtete sich auf. Als er aufrecht saß schien die Blutung seiner Nase nur an Stärke zuzunehmen. Ich hatte wirklich perfekt getroffen. Ob seine Nase gebrochen war? Ich sah von einer Seite zur anderen. Noch immer rührte sich niemand. Ich konnte es verstehen – einen blutenden Kaiba bekam man nicht alle Tage zu sehen – dennoch hatten sie lange genug Zeit gehabt, um sich mit diesem Anblick abzufinden. Mein Blick wanderte zurück zu Kaiba, welcher sich nun eine Hand auf die Nase presste, in einem sinnlosen Versuch, die Blutung zu stoppen. Ich konnte nicht glauben, es tat mir irgendwie leid, dass ich ihn getroffen hatte. Ich war einfach zu gutmütig – und das auch noch bei Kaiba! „Hat einer hier zufällig ein Taschentuch?“ Achtundzwanzig Augenpaare (Kaiba mitgezählt) richteten sich auf mich. Dennoch rührte sich niemand. Nun wurde ich ungeduldig. „Ein Taschentuch! Es wird doch irgendjemand ein verdammtes Taschentuch haben!“ „Äh ...ja.“ Tea wühlte unbeholfen in einer Tasche ihrer Sporthose herum, bevor sie ein rosafarbenes Stofftaschentuch hervorholte. Ich packte es im Vorbeigehen und war mit wenigen Schritten bei Kaiba. In seinem Blick lag Argwohn, als ich mich neben ihn hockte, doch offen gestanden konnte ich es ihm nicht verübeln, hatte ich ihn doch vor wenigen Momenten mit einem Baseball beinahe ausgeknockt. „Hier.“ Ich hielt ihm das Stück Stoff entgegen und seine Augen pendelten zwischen mir und meiner Hand hin und her, während er, die Hand noch immer auf der Nase, undeutliche Worte knurrte. Ob es daran lag, dass das Taschentuch rosa war, oder daran, dass ich es war, der es ihm hinhielt, wusste ich nicht, doch ich wurde unruhiger, je länger er nichts tat, sondern mich einfach nur finster anstarrte. „Verdammt Kaiba, damit ist dir auch nicht geholfen“, zischte ich, packte die Hand, mit der er seine Nase bedeckte und zog sich ruckartig nach unten, während ich ihm mit meiner anderen Hand das Taschentuch auf die Nase drückte. Als er zusammenzuckte wurde mir klar, dass ich ihm möglicherweise wehtat, doch im nächsten Moment war es mir egal. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben, reicher Pinkel. Du hättest es ja selbst machen können, aber nein, der Herr ist sich ja zu fein –“ Bevor ich den Satz beenden konnte, hatte er meine Hand beiseite geschlagen und hielt sich nun selbst das Taschentuch vor die blutende Nase. (Wie er es geschafft hatte, ohne dass das Taschentuch runter fiel, war mir selbst ein Rätsel.) Ein dunkler roter Fleck breitete sich langsam darauf aus. Ich ließ meine Hand sinken. „Ich könnte dich wegen Körperverletzung anzeigen.“ Seine Stimme war leise und durch das Tuch auf seiner Nase irgendwie dumpf, dennoch waren die Worte schärfer als ein Messer. Ich blinzelte irritiert, bevor ich seinen Blick erwiderte. „Das glaubst du doch selber nicht, Kaiba. Das hier ist Schulsport, da kannst du niemanden zu Rechenschaft ziehen, wenn du dich verletzt.“ Die Hand, mit welcher er das sich immer dunkler verfärbende Taschentuch festhielt, zitterte kaum merklich, während seine Augenbrauen sich weiter zusammenzogen. „Du hast mich absichtlich getroffen. In dem Fall kann ich dich wegen vorsätzlicher Körperverletzung anzeigen, Wheeler.“ „Absichtlich?“, echote ich und lachte humorlos. „Na sicher Kaiba, das war volle Absicht. Ich wollte dich natürlich treffen, wie konnte es auch anders sein? Willst du mich verarschen?“ Ich sah ihn wütend an. „Denkst du echt, das hätte ich nötig?“ „Selbst wenn es keine Absicht war“, knurrte er, „hast du es drauf angelegt.“ Meine Geduld war am Ende. Hinzu kam, dass alle anderen sich zwar wieder rührten, jedoch keine Anstalten machten, irgendwie einzugreifen. Wo waren wir denn hier? Ich packte Kaiba kurzerhand am Arm und zog ihn hoch. Er protestierte und versuchte, sich aus meinem Griff zu lösen, doch mit nur einer Hand erwies sich dieses Unterfangen als unmöglich. „Ich hab es satt, mir deine Vorwürfe anzuhören. Dann hättest du eben nicht am Sportunterricht teilnehmen dürfen.“ Ich ignorierte die Tatsache, dass ich dafür verantwortlich war. „Wir gehen zur Krankenschwester, die gibt dem armen armen Kaiba ein Pflaster und dann ist die Welt wieder in Ordnung.“ „Es wird nicht bei einer Anzeige bleiben Wheeler“, zischte Kaiba, während ich ihn aus der Sporthalle zerrte und uns die Blicke meiner Mitschüler folgten. „Ich verklage dich außerdem wegen Rufmord und sollte ich wegen deiner Inkompetenz einen Gesichtchirurgen aufsuchen müssen, fordere ich Schmerzensgeld.“ „Als ob du nicht genug Geld hättest“, entgegnete ich unbeeindruckt, als wir nach draußen traten. Kaiba strafte mich den ganzen weiteren Weg zur Krankenschwester mit Nichtachtung. Und ich hatte es tatsächlich bereut, ihn mit dem Ball getroffen zu haben? Ich muss einen Kurzschluss gehabt haben, als ich das gedacht hatte. oOo „Ich finde, du solltest seine Worte nicht auf die leichte Schulter nehmen.“ „Duke, Kaiba würde mich nie verklagen.“ „Wie kannst du dir da so sicher sein?“ Das Telefon klemmte zwischen meinem Ohr und meiner Schulter, während ich auf einem Bein versuchte, an das oberste Buch auf meinem Schrank zu kommen, welcher bis beinahe unter die Decke reichte. Es kam nicht selten vor, dass ich derart seltsame Verrenkungen ausführte, denn Objekte in meinem Zimmer entwickelten gerne ein Eigenleben und fanden sich an den entlegensten Winkeln – in diesem Fall auf meinem Kleiderschrank – wieder. „Ganz einfach, Kaiba weiß, dass es bei mir nichts zu holen gibt und im Endeffekt wäre es für ihn weitaus teurer, als für mich. Darum wird er es nicht tun.“ Am anderen Ende der Leitung seufzte Duke. „Echt Joey, deine Nerven möchte ich haben.“ Meine Finger tasteten nach dem Buch und streiften es. Ich streckte mich weiter. „War seine Nase gebrochen?“ „Natürlich nicht. Aber er wird einen netten blauen Fleck bekommen und seine Schuluniform ist voller Blut. Aber wie ich ihn kenne, hat er einen Schrank voll davon.“ „Ich an deiner Stelle wäre vorsichtig, Joey. Wenn das mit dem blauen Fleck stimmt, darfst du dich bei Kaiba auf etwas gefasst machen. Er kann sehr nachtragend sein.“ „Wem sagst du das?“ Ich verengte die Augen und biss mir konzentriert auf die Lippen, meinen Blick auf das Buch gerichtet. „Aber ich mache mir keine allzu großen Sorgen. Schlimmer als es schon ist, kann es ohnehin nicht mehr werden. Aber ich sag dir, du hättest das Gesicht der Krankenschwester sehen müssen, als wir vor ihr standen. Hätte ich den Baseballschläger noch in der Hand gehabt, ich glaube, sie wäre ohnmächtig geworden.“ „Kann ich mir vorstellen. Wenn du sagst, Kaibas Uniform sei voller Blut gewesen ...“ „Total. Sah aus, als hätte man eine Blutkonserve darüber geleert. Teas Taschentuch hat überhaupt nichts gebracht.“ „Joey.“ „Doch Duke, ich meine es ernst.“ „Du bist makaber.“ „Tze, und wenn schon. Im ersten Moment tat es mir irgendwie Leid, dass ich Kaiba getroffen habe, aber spätestens, als er mir die Klage angedroht hat, war es vorbei mit dem Mitgefühl. Er hat es verdammt noch mal verdient.“ „Ich kann nicht glauben, dass ich indirekt mitverantwortlich bin“, seufzte Duke. „Nimm es nicht so schwer, Duke.“ Meine Hand ertastete das Buch endlich ganz und ich zog es vorm Schrank. Zu meinem Leidwesen schien das Buch Anhang gefunden zu haben und zwar in Form einiger anderer Bücher, eines verstaubten Teddybären und diverser alten Spielfiguren, die bereits vor Jahren auf den Schrank verbannt worden waren. Mit einem Poltern fielen mir die Sachen entgegen und ich fand mich Sekunden später in einem Haufen Gerümpel, umgeben von einer dicken Staubwolke, wieder. „Joey?“ Dukes Stimme klang dumpf und weit entfernt zu mir vor und mit einem Fluchen realisierte ich, dass ich das Telefon verloren hatte und es sich nun irgendwo inmitten des Haufens befand. „Äh Duke, Moment, ich hab dich gerade ... verloren.“ „Joey?“ „Kleinen Moment, Alter, ich habe dich gleich gefunden ... sobald ich wieder sehe, versteht sich ...“ Ich begann blind in dem Haufen zu kramen. „Duke? Sprich mit mir, du bist gerade verschollen?“ „Ich bin was?!“ „Genau so, rede mit mir. Wo bist du?“ „Woher soll ich das wissen?“ „Das war rhetorisch gemeint.“ „Was du nicht sagst.“ Eine Hand ertastete das Telefon und seufzend hielt ich es mir wieder ans Ohr. „Duke? Sorry, hatte gerade einen kleinen Unfall in Form einer Gerümpellawine.“ „Deine Probleme hätte ich gerne.“ „Du hättest vieles von mir gerne, kann das sein?“ Wieder klemmte ich mir das Telefon zwischen Ohr und Schulter, während ich den Gerümpelhaufen durchwühlte, alte Duel Monsters Figuren beiseite schob. „Ich ersticke in einem Berg von Arbeit und du vergnügst dich mit deinem Gerümpel, noch dazu lassen dich Drohungen jeglicher Art von Kaiba vollkommen kalt. Ja, ich muss zugeben, dass sind Dinge, dich ich momentan gerne auch von mir behaupten würde.“ „Danke für die Lorbeeren.“ „Kein Problem. Schon Pläne für dein Wochenende?“ „Abgesehen davon, Kaiba zu terrorisieren, meinst du?“ „Du ziehst das echt voll durch, was?“ „Worauf du dich verlassen kannst.“ „Ich muss zugeben, ich bin von dir beeindruckt, Joey.“ „Das aus deinem Mund, Duke? Ist denn schon Weihnachten?“ Endlich ertastete meine Hand das gesuchte Buch. „Weißt du denn schon, was du als nächstes mit ihm vorhast?“ „Ich arbeite an etwas. Der heutige Tag hat mich inspiriert.“ „Du willst ihm doch nicht etwa wieder einen Ball ins Gesicht schmettern?“ „Nicht direkt.“ „Joey, Körperverletzung ist strafbar.“ „Das brauchst du mir nicht sagen. Außerdem war das heute ein Unfall. Ich hatte nicht vor, ihm beinahe die Nase zu brechen.“ „Das ist beruhigend.“ Ich wischte über den verstaubten Buchdeckel, legte dadurch Blick auf den Titel frei. Meine Lippen verzogen sich zu einem vorfreudigen Grinsen. „Ich muss ihn nicht unbedingt mit einem Baseball beinahe bewusstlos schlagen, um an meine Rache zu kommen. Es gibt noch unzählige andere Möglichkeiten.“ Mein Blick überflog die Lettern, die den Buchdeckel zierten. „Besser Möglichkeiten. Gemeinere Möglichkeiten.“ Grimms Märchen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)