Melancholy Requiem von Flordelis ================================================================================ Kapitel 6: A stray child ------------------------ Sie lief durch den Wald, stets darauf bedacht, kein lautes Geräusch von sich zu geben. Allerdings war das gar nicht so einfach. Es gab keinen richtigen Weg, weswegen sie durch das Unterholz laufen musste. Jedes Mal, wenn ein Ast knisternd unter ihren Füßen nachgab, verharrte sie und lauschte angespannt. Aber niemand außer ihr schien hier zu sein. Anscheinend hatte er die Verfolgung doch noch aufgegeben. Allein bei dem Gedanken an seinen alkoholgeschwängerten Atem oder seine schmutzigen Fingernägel wurde ihr wieder schlecht. Wachsam lief sie weiter und versuchte sich daran zu erinnern, in welche Richtung sie gelaufen war. Es wäre schlimm, wenn sie nur im Kreis gelaufen wäre. Warum konnte ihre Mutter jetzt nicht bei ihr sein? Ihre Mutter wusste immer, was zu tun war. Aber natürlich war sie wieder mal nicht da. Sie war nie da, wenn sie gebraucht wurde. Wie konnte ein solcher Mensch sich Mutter nennen? In ihrer Unachtsamkeit verursachte sie ein lauteres Geräusch als die anderen bisher. Ertappt hielt sie inne, wagte nicht einmal, den Kopf zu wenden, um sich umzusehen. Doch es war bereits zu spät. Ungeschickte Füße bahnten sich gewaltsam einen Weg durch das Unterholz. Eine lallende Stimme hallte durch den Wald: „Ceciiiliaaaaaaaaa! Ble-bleib steheeeen!“ Ohne noch länger zu zögern rannte sie los. Sie hatte nicht vor, ihm noch einmal über den Weg zu laufen. Ihre Mutter hatte sie immer vor ihm gewarnt. Aber warum musste auch gerade sie ihm begegnen? Konnte er sich nicht irgendwo anders aufhalten? Sie rannte immer weiter, achtete nicht mehr auf Geräusche oder ihre Umgebung. Irgendwann musste dieser Wald doch enden. Und er endete – an einem Abgrund. Sie blieb stehen. Vor ihr ging es steil bergab, der Toluca-Lake lag am Fuß dieses Hanges. Sie konnte jetzt springen oder versuchen, sich einen anderen Weg zu suchen. Der See trieb durch den Wind leichte Wellen, welche an das Ufer schwappten. Er schien sie einladen zu wollen, zu ihm zu kommen. Sich in seinem eisigen Wasser für immer zur Ruhe zu betten. Aber das hatte sie nicht vor. Sie wandte sich nach links und folgte dem Weg am Hang. Durch den Blick auf den See und die gegenüberliegende Uferseite, wusste sie, in welche Richtung sie laufen musste, um wieder in die Stadt und auch nach Hause zu kommen. Plötzlich erklang ein Geräusch und er stand vor ihr. Sie schrak zurück. Seine Augen waren rot unterlaufen, er starrte sie an. „Da bissu ja.“ Seine starke Alkoholfahne drehte ihr den Magen um. Ihr Blick ging zum See. Vielleicht war es doch besser, wenn sie sich hineinwarf. Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, griff er blitzartig nach ihren Unterarmen. Sein Griff war so fest wie der eines Schraubstockes. Verzweifelt versuchte sie sich zu befreien, aber sein Griff wurde nur noch fester. Sie stöhnte leise. Er grinste. „Stell dich nicht so an, Cecilia! Oder willst du, dass ich dir wehtue?“ Tränen traten in ihre Augen, aber sie wagte es nicht zu schreien. Sie wusste, dass er sie dann umbringen würde. Sie wollte nicht sterben. Nicht hier und nicht jetzt. Und vor allem nicht so. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, als er sie auf den feuchten Boden nieder zwang. Sie wollte doch nur, dass er sie in Ruhe ließ, dass sie nach Hause gehen konnte... war das zuviel verlangt? Plötzlich sprang er auf und hielt sich den Kopf. Er schrie als würde sein gesamter Körper in Flammen stehen. „Du HEXE!! Was machst du mit mir!?!“ Sie wollte es lieber nicht rausfinden. Hastig stand sie wieder auf und rannte weiter in Richtung Heimat. Er dagegen krümmte sich vor Schmerzen und schrie immer weiter. „Das wirst du noch bereuen!! Das schwöre ich dir!“ Sie bemerkte durch die Tränen in ihren Augen nicht, dass sie an einem Jungen, der sich im Gebüsch versteckt und alles beobachtet hatte, vorbeirannte. Erst als sich die Haustür hinter ihr schloss, wagte sie es, sich zu Boden sinken und den Tränen freien Lauf zu lassen. Sie schluchzte laut und hemmungslos. Heute war sie ihm noch mal entkommen, aber was würde geschehen, wenn er sie doch wieder erwischen würde? Plötzlich hörte sie eine Tür klappern, gefolgt von Schritten und dann einer Stimme: „Cecilia?“ Es war ihre Mutter! Sie sprang auf und stürzte sich in deren Arme. „Mama!“ Durch ihr Schluchzen erklang das Wort nur undeutlich, aber ihre Mutter hatte es verstanden. „Cecilia, was ist passiert?“ „Mama!“ Das war alles, was sie hervorbrachte. Ihre Mutter strich ihr tröstend über den Rücken und führte sie dann in die Wohnung. *** Sherry öffnete langsam ihre Augen und sah sich verwirrt um. Sie hatte ihr eigenes Apartment erwartet, aber das hier sah mehr aus wie ein Krankenzimmer – ein altes Krankenzimmer. Plötzlich erinnerte sie sich wieder. Sie war nach Silent Hill gefahren und gerade eben war sie noch mit Andrew unterwegs gewesen, bevor sie plötzlich eingeschlafen war... Und dann hatte sie von Cecilia geträumt. Cecilia war Toby Archbolt mehrmals begegnet und er hatte ihr wehgetan... aber warum? War er... einfach böse? Vorsichtig stand Sherry auf und trat ans Fenster. Draußen herrschte wieder dichter Nebel. Aber von dem, was sie erkennen konnte, befand sie sich in der Ridgeview Medical Clinic. Möglicherweise war es auch das Zimmer gewesen, in dem Cecilia das Kind bekommen hatte. Der Treffpunkt im Park fiel ihr wieder ein. Sie sollte sich beeilen, wenn sie nicht wollte, dass Cecilia bereits wieder fort war, wenn sie ankam. Sie verließ das Zimmer und ging den schmutzigen Gang entlang. Viele Türen waren zu sehen, manche schienen in andere Krankenzimmer zu führen und eher wenige führten in Büros oder Behandlungszimmer. Sie kam an einer doppelflügigen Tür vorbei auf der in roten Lettern Operationssaal – Zutritt nur für Angestellte stand. Sie erinnerte sich wieder daran, dass ihr Messer auf der Anderen Seite abgebrochen war. Vielleicht konnte sie sich da drin ja eine neue Waffe besorgen. Behutsam öffnete sie die Tür und sah sich um. Sie stand im Vorbereitungsraum, durch eine Glasscheibe konnte sie in den eigentlichen OP-Raum sehen. Aber das, was sie suchte, glänzte ihr bereits hier von einem Tablett entgegen. Sie nahm das Skalpell in die Hand und betrachtete es genau. Es schien scharf zu sein. Scharf genug, um selbst durch die zäheste Haut zu schneiden. Aber wie sollte sie es transportieren, ohne sich selbst zu verletzen? Die Antwort darauf fiel ihr auch fast sofort ins Auge: Ein lederner Messerhalfter hing an der Wand. Sherry wusste nicht, was dieser hier tat, aber sie war inzwischen lang genug in der Stadt, um zu wissen, dass es hier keine Zufälle gab. Also nahm sie den Halfter und befestigte ihn an ihrem linken Oberschenkel. Schließlich steckte sie das Skalpell hinein. Es passte fast perfekt. Zufrieden fuhr sie herum und verließ schließlich das Gebäude. Da erst dachte sie wieder an Walter. Er war nirgends zu sehen. Sie wollte auch nicht nach ihm rufen, da das Monster hätte anlocken können. Ob er immer noch vor der Tür stand und auf sie wartete? Sie beschloss, es herauszufinden. Cecilia würde bestimmt Verständnis haben. Also lief sie wieder in Richtung der Kreuzung, wo sie ihn stehen gelassen hatte. Schon nach wenigen Schritten konnte sie allerdings einen Schatten im Nebel erkennen. Irgend etwas kam auf sie zu. Ihre Hand glitt zum Skalpell, aber sie brauchte es nicht mehr zu ziehen. „Walter?“ Er blieb einen Moment stehen und kam dann umso schneller wieder auf sie zu. „Sherry, da bist du ja! Ich habe mir Sorgen gemacht. Was ist passiert?“ „Ich... ich war wieder dort drüben und habe dort neben Andrew auch einen Mann namens Toby Archbolt gesehen.“ Sie musterte seine Augen, aber er ließ nicht erkennen, ob ihm der Name bekannt vorkam. „Und?“, fragt er schließlich. „Na ja, dann haben wir Valtiel gesehen und dann wachte ich plötzlich in der Klinik wieder auf.“ Den Traum ließ sie absichtlich weg, sie wollte ihm nicht davon erzählen. Walter nickte. „Okay, wollen wir dann weiter? Hast du irgendeine Spur gefunden, die uns weiterführt?“ „Ja.“ Sie erzählte ihm von dem Zettel und der Bitte um das Treffen im Park. Er nickte verstehend. „Der Rosewater-Park ist auf der westlichen Seite von Silent Hill, wir sind jetzt auf der östlichen. Aber schauen wir doch erst auf die Karte, eine Straße ist ja schon zu.“ Hastig holte Sherry die Karte hervor und faltete sie auseinander. Gemeinsam beugten sie sich darüber. „Also, der nördliche Teil der Neely Street ist unpassierbar“, sagte Walter. „Wir könnten es mal probieren, wenn wir die Katz Street nach Westen laufen, am Woodside Apartment vorbei. Die Straße haben wir noch nicht ausprobiert.“ Sherry nickte. „Machen wir das.“ Sie steckte die Karte wieder ein. Gemeinsam liefen sie die Straße entlang. Mit Walter zusammen fühlte Sherry sich unbesiegbar, obwohl er sie in das Loch hatte schubsen wollen. Woran das wohl lag? Ob das Liebe war? Sie verwarf diesen Gedanken wieder. Es gab wichtigere Dinge auf die sie sich konzentrieren musste. Sämtliche Schatten im Nebel, welche in der Entfernung ein Monster zu sein schienen, entpuppten sich beim Näherkommen lediglich als harmlose Laternen oder Mülltonnen. Sherry mochte diese Stadt nicht, sie wollte wieder nach Hause, zurück in ihr Apartment. Aber irgendwie wusste sie genau, dass das inzwischen nicht mehr so einfach möglich war. Entgegen ihrer Erwartungen war die Straße tatsächlich frei und sie kamen bis zu der Kreuzung mit der Munson Street. In südlicher Richtung war die Straße ebenfalls aufgerissen, aber sie mussten ohnehin nach Norden. Schon nach wenigen Metern konnte Sherry ein großes Gebäude erkennen, welches sie als Jack's Inn wieder erkannte. Es war eines der billigen Hotels in der Stadt, in welchem keine Touristen wohnten. Meistens hatten sich Leute, welche vorübergehend zum Arbeiten in der Stadt gewohnt hatten, hier einquartiert. Auch heute standen noch Autos im Hof. Eine der Zimmertüren stand offen und schien sie zu sich locken zu wollen. Sie blieb stehen. „Walter?“ Er blieb stehen und sah sie fragend an. „Was ist los?“ Stumm deutete sie auf die offene Tür. Er verstand und nickte. „Lass uns nachschauen.“ Wachsam liefen sie hinüber. Niemand war zu sehen, nichts außer ihren Schritten war zu hören. An der Tür angekommen, blieben sie wieder stehen. Das Licht im Inneren war an, aber auf den ersten Blick war niemand zu sehen, also gingen sie hinein. Zwei Betten standen unberührt im Raum, auf dem durchgesessenen Sofa lag eine Jacke, ein Koffer stand daneben. Während Sherry im Zimmer wartete, sah Walter im Bad nach. Irgendwie kam ihr die hier herrschende Atmosphäre bekannt vor, ja, es war genau die selbe, welche sie auch in Cecilias Wohnung gespürt hatte. Ob dies Cecilias Zimmer war? Kopfschüttelnd kam er wieder. „Hier ist niemand. Vielleicht hat der Einwohner dieses Zimmers einfach nur vergessen, die Tür zu schließen. Gehen wir weiter?“ Sherry nickte. „Ja, gehen wir.“ Sie gingen wieder hinaus und weiter in Richtung Park. „Weißt du, warum er Rosewater heißt?“, fragte Walter plötzlich. Sherry schüttelte den Kopf, er fuhr fort: „In der Mitte des 19. Jahrhunderts haben Christen die junge Jennifer Carroll getötet, indem sie sie in den See geworfen haben. Darum Rosewater, Rosenwasser.“ „Aber warum haben sie das getan?“ „Jennifer war die Gründerin des Ordens. Und du kannst dir vorstellen, dass Christen so etwas nicht gerne sehen. In deren Augen waren sie Teufelsanbeter.“ „Vielleicht sind sie das auch....“, murmelte Sherry. Walter sah sie stumm an, stellte aber keine Fragen. Schließlich wandte er den Blick wieder nach vorne. Sie betraten den Park und liefen hindurch. Bis auf das Wasser, welches an das Ufer schwappte, war alles ruhig. Langsam fragte Sherry sich, warum sie keinem dieser Wesen begegnete, wenn Walter dabei war. Bildete sie sich diese Dinge wirklich nur ein? Oder steckte da noch etwas hinter diesem Mann? Plötzlich blieb er stehen und sah nach rechts. Eine Statue war im Nebel zu erkennen und davor stand eine Gestalt. Walter sah Sherry auffordernd an. Sie nickte und trommelte noch einmal ihr letztes bisschen Mut zusammen. Mit weichen Beinen, die jederzeit unter ihr wegzubrechen drohten, ging sie auf die Statue zu. Die Gestalt davor nahm immer mehr Konturen an. Es war eine Frau, sie trug einen Schleier und hielt den Kopf gesenkt. Sherry schluckte noch einmal. „Cecilia?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)