Melancholy Requiem von Flordelis ================================================================================ Kapitel 2: Foreordained Awakening --------------------------------- Langsam kamen die Erinnerungen wieder. Und mit den Erinnerungen auch die Schmerzen. Vorsichtig richtete Sherry sich auf. Es war inzwischen Tag, aber dichter Nebel hing in der Luft und schränkte ihre Sicht empfindlich ein. Der Wagen neben ihr war leer, sie erinnerte sich, dass Greg gesagt hatte, dass er vorausgehen würde. Er musste die Fahrertür wieder geschlossen haben, denn sie war zu. Die Beifahrertür war immer noch geöffnet. Sie versuchte, sich zu erinnern, was vor das Auto gelaufen war, aber sie hatte es nicht genau gesehen. Es war größer als ein Kaninchen gewesen. Ob es ein Rehkitz gewesen war? Nein, dafür war es wieder zu klein gewesen. Und es hatte auf zwei Beinen gestanden. Vielleicht ein Kind? Aber jetzt war es nicht mehr zu sehen. Eine Karte lag auf dem Beifahrersitz, eine Filzstiftmarkierung schien ihr anzuzeigen, wo sie hin musste. An der Ecke Neely/Sander Street war ein Pfeil mit der Beschriftung „Neely's“ angebracht. „Gregory... wartest du wirklich auf mich? Oder versuchst du mich nur in die Stadt zu locken?“ Auf ihren Monolog folgten verschiedene Tierlaute aus dem Unterholz. Entschlossen schnappte sie sich die Karte und schloss schließlich die Tür. Mit einem unguten Gefühl im Magen lief sie weiter auf die Stadt zu. Sie bereute es bereits, hierher gekommen zu sein. Sie war dabei, irgend etwas zu wecken, was besser weiterschlafen sollte, so hatte sie das Gefühl. Aber was genau es war fiel ihr einfach nicht ein. Und dieser Nebel war auch nicht normal. Andererseits wusste sie, dass der Toluca See diesen Nebel hervorrief. Als sie hier gewohnt hatte, war es jeden Tag nebelig gewesen. Aber dafür hatte man sich sehr gut verstecken können. Sie hatte man nie gefunden, sie hatte sich einfach zu gut versteckt und deswegen auch nie Ärger bekommen. Im Gegensatz zu den Jungs... Sie schüttelte die Gedanken ab. Wie kam sie darauf? Sie war das einzige Kind in ihrer Nachbarschaft gewesen und sie hatte nie Ärger bekommen. Die Stadt war verlassen, das sah Sherry auf den ersten Blick. Niemand war zu sehen, kein Müll stapelte sich neben den Tonnen. Damals war sie oft durch den Wald in die Stadt gekommen und hatte die Menschen beobachtet. Das normale Leben der Menschen und vor allem Kinder. Ein normales Leben, welches sie in diesem Waisenhaus nie gehabt hat. Schon wieder., fuhr es ihr durch den Kopf. Sie erinnerte sich an ihre Eltern, die inzwischen in Ashfield wohnten. Warum hatte sie immer Erinnerungen an ein Waisenhaus? Niemand war hier. Sherry hatte sich noch nie so allein gefühlt. Überall anders hätte es sie glücklich gemacht, da war es immer ihr einziges Ziel gewesen, aber hier in Silent Hill war es etwas anderes. Am besten war es, wenn sie schnell zu Neely's kam. Sie war nicht gut darin, Karten zu lesen, deswegen wusste sie eigentlich gar nicht, was sie mit der Karte anfangen sollte. Aber sie hatte sich schon lange vorgenommen, das Kartenlesen zu lernen. Und warum nicht gleich jetzt damit anfangen? Sie setzte sich auf die Kante des Bürgersteigs und faltete die Karte auseinander. Dann hob sie den Kopf und blickte auf das Straßenschild. Sie saß an der Ecke Nathan Avenue/Lindsey Street. Laut Karte war sie nicht so sonderlich weit weg von dem vereinbarten Treffpunkt. Es kam nur noch darauf an, dass sie auch dorthin kam. Mit dem Finger fuhr sie die Strecke entlang. „Die Lindsey Street hinunter und an der zweiten Kreuzung links. Dann geradeaus bis zu Neely's an der Ecke. Das müsste ich schaffen können.“ Ein Geräusch ließ Sherry auffahren. Es hatte die Stille wie ein Schuss durchbrochen und ließ diese umso unwirklicher zurück. „Eine Tür...“, murmelte sie. „Hat jemand mit einer Tür geknallt?“ Auf der Karte hatte sie gesehen, dass es in der Nähe noch eine Post und eine Kirche gab. Vielleicht war jemand dort? Vielleicht war es sogar Greg? „Hallo?!“, rief sie in den Nebel. „Gregory?!“ Keine Antwort ertönte. Vorsichtig lief sie weiter. Vor dem Eingang des Postgebäudes blieb sie wieder stehen. Der Briefkasten wirkte einsam und verlassen. Früher hatten Touristen hier immer ihre Ansichtskarten für die Verwandten zu Hause eingeworfen. Wäre er ein lebendiges Wesen, dann wäre der Briefkasten bestimmt traurig. Sherry schüttelte heftig ihren Kopf. Was für ein lächerlicher Gedanke. Sie ging die fünf Stufen zum Eingang hinauf und rüttelte an den Türen. Keine davon gab nach. Vielleicht hatte sie es sich auch nur eingebildet. Aber die Seitentür war offen und lediglich angelehnt. Bevor sie hineinging sah sie sich noch einmal aufmerksam um. Niemand war zu sehen, keine Geräusche erklangen. Sie schluckte schwer und ging hinein. Fahles Licht fiel durch die Fensterscheiben, sie stand in einer Art Büroraum. Anhand der Unterlagen auf dem Tisch, konnte sie sehen, dass es jemanden gab, der zumindest ab und zu hier herkam und sich um das Gebäude kümmerte. Neugierig durchsuchte sie die Schubladen des Schreibtisches und fand dabei tatsächlich einen Schlüsselbund. Darunter lag eine Nachricht: Wer zuletzt im Büro ist, trägt die Verantwortung dafür, alles abzuschließen, auch den Sicherheitsraum im Keller. Außerdem muss das Radio dort repariert werden. Es rauscht seit einigen Tagen nur noch. Sherry schloss die Schublade wieder und ging durch die nächste Tür. Sie konnte den Verkaufsraum sehen, hier hatte man die Pakete abgegeben und auch Briefmarken und sonstiges gekauft. Als Kind war sie einmal im Verkaufsraum gewesen, aber nicht lange. Man hatte sie wieder weggeschickt, weil sie nichts hatte kaufen wollen. Außerdem war sie bereits als Kind seltsam gewesen. Selbst die Leute im Waisenhaus hatten sie nicht öfter als nötig angefasst. Sie war... unrein gewesen. Deswegen war sie auch nie bestraft worden, so wie die anderen, die gegen die Regeln verstoßen hatten. Aber sie hatte nie verstanden, was damit gemeint gewesen war. Vorsichtig lief sie in den Raum hinein und sah sich um. Alles sah normal aus, nur die Staubschicht war bereits so dick, dass man das Alter sehen konnte. Doch auch hier gab es Zeichen für Leben. Fußspuren waren im Staub zu sehen, sie führten in den Keller. Die Spuren wirkten seltsam verwischt, die Person musste geschlurft sein. Ein wenig ängstlich folgte Sherry den Spuren. Es war garantiert nicht Greg, der hier entlang gelaufen war. Und wer wusste, was sie dort unten finden würde? Langsam steig sie die schmalen Stufen hinunter, stets darauf bedacht, nicht zu fallen. Am Fuß der Treppe gab es drei Türen. Eine Frauen- und eine Männertoilette und dann eben noch die Tür zum Sicherheitsraum. Die Spuren endeten vor der Sicherheitstür. Sie war nicht aus Holz wie die anderen Türen, sondern aus Metall, mit einem Griff aus Kunststoff. Aber sie war verschlossen. Wie konnte jemand da hineingehen? Gab es noch einen Schlüssel? Sherry drückte ihr Ohr gegen die Tür. Das kalte Metall jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Seltsame Geräusche kamen aus dem Inneren. „Greg?“ Keine Antwort ertönte. Mit zitternden Fingern besah sie sich das Schlüsselbund genauer. Es waren vier Schlüssel an denen handbeschriftete Zettel angebracht waren: Eingang, Büro, Lieferung und Sicherheit. Sie schloss die Tür mit dem Sicherheitsschlüssel auf und öffnete diese dann. Der Sicherheitsraum war klein und quadratisch, eine einfache Glühbirne spendete fahles gelbes Licht. In den Regalen lagen Papierbündel (vermutlich Briefkuverts) und Rollen mit Briefmarken. Eine Kassette in der wohl das Wechselgeld war, lag ebenfalls im Regal – neben einem kleinen grauen Radio. Neugierig trat Sherry näher. Das musste das Radio sein, welches in der Nachricht erwähnt worden war. Ob es wirklich nur noch rauschte, wenn man es einschaltete? Die Antwort kam laut und deutlich. Als sie den Schalter betätigte, erklang ein lautes Kratzen und Rauschen. Sherry schrie erschrocken auf und hielt sich die Ohren zu. Aber da mischte sich bereits ein anderes Geräusch in das Rauschen: Ein unmenschliches Kreischen. Die Frau fuhr herum. Hinter der Tür hatte sich ein seltsames Wesen zusammengekauert. Es sah auf den ersten Blick aus wie ein Mensch, aber es hatte kein Gesicht mehr, der Kopf an sich war deformiert, die Arme waren in einer fleischfarbenen Zwangsjacke vor dem Körper zusammengebunden, es hatte X-Beine. Es hatte keine Ohren und dennoch schien es das Rauschen zu vernehmen. Die Augen und der Mund waren zugenäht und dennoch konnte es schreien und sie anscheinend auch sehen, während sie so im Licht stand. In einer nervösen Bewegung stieß das Wesen die Tür mit der Schulter zu. Sherry wich zurück. Ihr Blick ging panisch hin und her. Das Monster kam langsam näher. Es bewegte sich nur schwerfällig. Sie brauchte eine Waffe. Irgend etwas zur Selbstverteidigung. Schnell! Eine breites Cutter-Messer mit blauem Griff fiel ihr ins Auge. Er lag auf einem anderen Regal. Ohne weiter darüber nachzudenken, griff sie danach. Sie löste die Sicherung und fuhr die Klinge ein paar Zentimeter heraus. Wenn sie überleben wollte, musste sie handeln. Und was immer dieses Ding war, es war nicht menschlich. Mit einem entschlossenen Schrei stieß sie das Messer vor. Dunkelrotes Blut quoll aus der Wunde heraus. Das Wesen schrie ebenfalls und fiel zu Boden. Es wand sich in tiefsten Qualen und wirkte dabei überraschend menschlich. Bevor es sich wieder aufrichten konnte, trat Sherry dem Ding mit Wucht in den Brustkorb, worauf es still liegenblieb. Das Radio verstummte langsam. Die junge Frau kniete sich neben das tote Wesen und betrachtete es genauer. Viel mehr zu sehen als das Offensichtliche gab es nicht. Auf jeden Fall hatte sie so etwas noch nie gesehen, obwohl es entfernt an einen Menschen erinnerte. „Was zur Hölle ist das?“ Sie hatte davon gehört. Leute, welche die Stadt besucht hatten, hatten über Erscheinungen und mysteriöse Gestalten im Nebel berichtet. Also war es wohl doch keine Einbildung der betroffenen Personen gewesen, wie manch einer vermutet hatte. „Greg... bist du okay?“ Sie richtete sich wieder auf. An der Tür hing die Jacke einer Postuniform. Sie breitete die Jacke so gut es ging über dem Wesen aus. Vielleicht war das falsch, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie es tun musste. Und wenn es nur wegen ihrem ersten „Mord“ war. Das Radio fiel ihr wieder ins Auge. Es schien die Anwesenheit dieser Wesen zu „spüren“ und reagierte darauf wohl mit einem Rauschen. Wenn noch mehr von diesen Dingern in der Stadt rumliefen, war es sicher nützlich, ein solches Warngerät mit sich zu führen. Auf dem Regal lag zusätzlich eine Gürteltasche, welche sie sich um die Hüften schnallte. Schließlich verstaute sie das Radio darin, nachdem sie sichergestellt hatte, dass es sich nicht einfach ausschalten konnte, während sie unterwegs war. Dann ging sie wieder durch die Tür und die Treppe hinauf. Der Vorraum lag noch genauso still da wie zuvor. Fast wie ein Traum erschien ihr das Geschehen im Kellerraum. Doch das blutverschmierte Messer in ihrer Hand war der Beweis dafür, dass es tatsächlich passiert war. Jemand musste hier gewesen sein. Auf einer der Türen standen Worte, welche vorhin noch nicht dagewesen waren: Zur Kirche Dazu war ein Pfeil angebracht, der nach links zeigte. Die Kirche neben der Post war ihr bereits auf der Karte aufgefallen. Vielleicht hatte Greg ja beschlossen, dass sie sich doch woanders treffen sollten. Aber wenn er doch wohl wusste, wo sie war, dann hätte er ja hier zu ihr kommen können. Vielleicht hatte er aber bereits Hinweise auf sein Ziel bekommen und wollte nicht warten, so wie nach dem Unfall. Ohne weiter darüber nachzudenken, schloss sie die Tür auf und trat wieder ins Freie. Sie war nicht lange im Gebäude gewesen, aber jetzt kam es ihr vor wie eine Ewigkeit. Mit langsamen Schritten ging sie auf die Kirche zu. Das Gebäude sah aus wie eine christliche Kirche, Sherry kannte sie noch von früher. Man hatte ihr eingeschärft, nicht zu nahe zu gehen. Die Christen hassten die Andersgläubigen und sie als Bewohnerin des Waisenhaus gehörte zu den Andersgläubigen... auch wenn sie nie ganz verstanden hatte, weswegen eigentlich. Vielleicht hätte sie einmal einen christlichen Gottesdienst besuchen müssen. Mit einem mulmigen Gefühl betrat sie die Kirche. Die Atmosphäre war angespannt, dabei war niemand hier. Niemand, bis auf die Person vor dem Altar. Sie kniete scheinbar betend davor. Sherry näherte sich vorsichtig und steckte das Messer weg. „Entschuldigung?“ Die Frau stand auf und drehte sich zu ihr um. Sie war groß, hatte braunes langes Haar. Ihr erdbrauner Rock floss wie Wasser ihre Beine hinunter zu ihren nackten Füßen. Ihr teils schwarzes, teils grünes gemustertes Oberteil harmonierte mit dem Rock. Das weinrote Tuch, welches sie um ihre Arme geschlungen hatte, verlief hinter ihrem Rücken. Um den Hals der Frau war eine lange goldene Kette mit einem ebenso goldenen Anhänger daran. Der Funken des Wiedererkennens trat in die grauen Augen. „Cecilia?“ „Wer? Tut mir Leid, Sie müssen mich mit jemandem verwechseln. Mein Name ist Sherry Blossem. Ich bin auf der Suche nach einem Freund von mir. Sein Name ist...“ „Walter Sullivan.“, unterbrach die Frau sie. „Er ist wieder zurückgekehrt und damit ist Ihre Wiedergeburt nicht mehr fern.“ Sherry griff sich an die Stirn. „Nein, nicht Walter. Gregory Sullivan, nein, ich meine Walter House, nein, ich meine... ach, vergessen Sie es. Haben Sie ihn gesehen?“ Die Frau hob ihre Arme in die Luft und warf den Kopf zurück. „Ihre Wiedergeburt wird uns den Zugang zum Paradies öffnen. Die Menschheit wird endlich von ihren Qualen erlöst werden.“ Irgendwoher kannte Sherry das. Aber schon wieder verweigerte das Gehirn ihr die Information. „Okay, okay, also haben Sie ihn nicht gesehen. Können Sie mir wenigstens sagen, wie Sie heißen?“ Die Frau ließ ihre Arme wieder sinken. „Ich bin Reue. Aber sobald das Paradies auf Erden weilt und alle Menschen erlöst sind, werde ich meinen alten Namen wieder annehmen können. Ich werde beweisen, dass nicht St. Alessa die einzig auserwählte Mutter Gottes ist.“ St. Alessa? Mutter Gottes? Sherry kam all das bekannt vor, aber warum nur? „Verdammt!“, entfuhr es ihr. „Wovon reden Sie eigentlich?“ „Du musst das jetzt noch nicht wissen. Folge Walter in die Stadt hinein. Wenn die 21 Sakramente vollständig sind, wird Sie auf die Erde zurückkehren.“ „Sie... Sie sprechen von Gott?“ Reue sah sie zufrieden an. „Das ist richtig. Du erinnerst dich also?“ Sherry schüttelte ihren Kopf. „Nicht so ganz.“ Die religiöse Frau ging um den Altar herum und holte etwas darunter hervor, was sie dann oben drauf legte. Sherry erkannte es sofort: Es war die silberne, dünne Taschenlampe aus ihrem Traum. „Folge Walters Spur.“, sagte Reue. „Folge ihm in die Stadt, er wird die 21 Sakramente vervollständigen und Sie erwecken.“ „Aber ich...“ Reue hörte ihr nicht weiter zu, sondern lief davon und durch eine Tür. Kaum war sie hindurch, hörte man wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Sherry seufzte und ging auf den Altar zu. Neben der Taschenlampe lag noch ein kleiner Zettel: Pass mit dem Licht auf. Sie können es sehen. Sie nahm die Taschenlampe in die Hand und verließ nach einem eingehenden Blick die Kirche wieder. Schnelle Schritte rannten von der Kirche nach links weg. „Greg?!“ Plötzlich begann eine Alarmsirene zu heulen. Sherry sah sich fragend um. „Was ist das?“ Dunkelheit zog langsam über den Himmel, kroch aus den Schatten hervor und verschlang die Stadt. Wie angewurzelt stand Sherry da und starrte auf die sich ausbreitende Finsternis. Die Fassade bröckelte von den umliegenden Gebäuden ab, Bretter erschienen vor den Fenstern. Schließlich kam die Dunkelheit auch bei Sherry an, sie versank darin. Alles wurde schwarz... und still. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)