Chrysalis Soul von -Soul_Diver- (Oder: Was passiert, wenn sich vier Verzweifelte begegnen... [NEUES KAPPI IS DA! http://animexx.onlinewelten.com/weblog/benutzer.php?weblog=166198#eintrag321219]) ================================================================================ Kapitel 12: Rich Mens' World ---------------------------- -"Eine Seele nährt sich von dem, an dem sie sich erfreut."- (Aurelius Augustinus) ~~ Nacht. Auf dem Flur in Haus Nummer dreiunddreißig herrschte Grabesstille. Im Haus selbst hörte man nur das leise Ticken der Kuckucksuhr im unteren Hausflur. Und als sich das Uhrwerk in Bewegung setzte und fünfmal asthmatisch Kuhh-... huck! quäkte, wurde im ersten Stock ein Geräusch laut. Kurogane zischte einen gotteslästerlichen Fluch zwischen den Zähnen hervor, als der Holzboden vor seinem Zimmer beim Betreten einen quietschenden Schmerzensschrei in die Stille der Wohnung hinauskrächzte. Verdammt noch eins! Dem Haus würde 'ne Generalrenovierung mal guttun! Hoffentlich hatte er jetzt niemanden aufgeweckt! Er wollte nicht schon in der ersten Nacht Probleme mit seinen neuen Mitbewohnern kriegen, noch dazu mit Mitbewohnern, die er nur zum Teil kannte. Das Frühstück heute konnte ja 'ne heitere Nummer werden. Zähneknirschend schlich sich der große Schwarzhaarige auf Zehenspitzen über den Flur und dann die Treppe runter- ein wenig wirkte es, als würde ein Grizzlybär versuchen, mit Spitzenschuhen über ein Drahtseil zu laufen. Okay. Jetzt nur noch im Hausflur Mantel und Schuhe anziehen und dann schnell seinen Jaguar holen gehen. Doch plötzlich wurde der Killer schmerzhaft aus seinen Gedanken gerissen, als er unvermutet mit dem Fuß an ein seltsames, sackähnliches Bündel stieß, das auf der vorletzten Stufe lag, und ins Fallen kam. "UAAARGHHMPFF--..." Sein Gebrüll ging in einem ohrenbetäubenden Rumpeln unter, als er Hals über Kopf die restlichen Stufen hinunterpolterte und platt auf der Nase landete, sodass es ihm in den Ohren klingelte. Mit einem Stöhnen wälzte er sich herum. Als er endlich erkennen konnte, was dieses Bündel auf der Treppe war, blieb ihm für einige Sekunden die Luft weg. "Du?!!" Zwei weit aufgerissene, panisch flackernde Augen starrten ihn statt einer Erwiderung an. Es war der Blondschopf. Sein leichenblasses Gesicht war in Schweiß gebadet, und seine Brust unter dem Bademantel hob und senkte sich, als wäre er spontan einen Marathon gelaufen. Langsam beruhigte er sich wieder. "Du... bist es... Kuro-ne... ?" Schweigen. Als hätte jemand ein lautloses Signal gegeben, schossen beide wieder in die Höhe wie angezündete Knallfrösche. "Was zum Teufel machst du hier mitten in der Nacht?", fragte Kurogane schroff, während er sich den Staub runterklopfte. Fye schlug die Augen nieder. "Ich-... ich glaube, ich war so aufgeregt, dass ich nicht schlafen konnte. Ich wollte auf dich warten." Mit einem Seufzen rieb sich der Killer kräftig über die Nasenwurzel, um sich wieder zu beruhigen. "Du hast also die ganze Nacht damit verbracht, hier auf dieser Treppe herumzusitzen." "Nun ja, nicht ganz, gegen zwei Uhr hab ich noch ein Bad genommen. Hast du gut geschlafen? Ist mein Bett okay?" "Es ist-... noch ungewohnt", ging Kurogane tonlos auf den Themawechsel ein, "Ich hab das letzte Mal vor fünfzehn Jahren freiwillig mit jemandem zusammengewohnt, und-... eh, ich meine, ich muss jetzt zur Arbeit." Fye fiel das Lächeln aus dem Gesicht. "Was? Aber du hast doch noch gar nichts im Magen! Ich mach dir schnell was!" Die Augen des Schwarzhaarigen verengten sich. Er starrte seinen Gastgeber eisig an. "Ich hab dir gestern was gesagt. Spiel mir nichts vor. Du kannst ja kaum mehr aufrecht stehen." Schweigen. Plötzlich wirkten diese glasblauen Augen wächsern wie die eines Toten. "K-... kuroga--..." Ehe sich Kurogane versah, kam sein jüngeres Gegenüber näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie war schneeweiß. Und auf einmal wurde ihm bewusst, wie ausgebrannt Fye sein musste. Er war so müde, dass man unter seinen Augenlidern die Adern hindurchschimmern sehen konnte. Seine bleichen, schmalen Finger zitterten. "Hör mich jetzt an. Ich werd es dir nur einmal sagen, okay? Gestern nacht ist etwas in uns beiden zerbrochen. Wir haben ein, ein-... ein Stück von uns selbst verloren. Und als ich das bemerkt habe--... da habe ich gespürt, dass ich den Rest auch loswerden will." Fyes Kehlmuskeln verkrampften sich, als würde ihm ein steinharter Kloß im Hals stecken. "Ich klinge, als wäre ich auf LSD, ich weiß! Aber du inspirierst mich, Kurogane, verstehst du? Du inspirierst mich, ein besserer Mensch zu werden als bisher! Deine Gegenwart rüttelt mich total auf! Sie ist eine riesige Herausforderung für mich!" Kuroganes rechte Hand zuckte. Ein mächtiges Stechen legte sich auf seine Brust. "Und ich habe gemerkt, dass ich so eine Herausforderung schon viel zu lange gebraucht hab", presste Fye hervor, "Ich bin eine Memme, ich mache kaum etwas richtig, und ich habe nicht einmal genug Kraft, um mit mir selbst zu leben! Aber das bisschen an Kraft, das ich habe-... das will ich benutzen, um mich um dich zu kümmern, Kuro-chii. " Die Augen des Blondlings flackerten. "Und wenn ich dabei verrecke." Schweigen. Ein beklemmendes Gefühl stieg in Kuroganes Magengegend empor. Und plötzlich fühlte er sich hundeelend. Wenn ich ihn jetzt nur anschreien könnte. Wenn ich das bloß könnte. "Würdest du nur verrecken wollen, um mir das zu beweisen?", fragte er ruhig. Fye ließ die Schulter seines neuen Mitbewohners los. Sein Lachen klang mehr nach halblautem Krächzen. "Gott. Was für eine Frage. Darüber sollten wir auch dringend mal eine Oscar-Diskussion halten." Da war er wieder, diese warme Ausdruck in seinen Augen. Ein Lächeln, das von innen kam. Schweigend ging er in die Diele und kam mit Kuroganes Mantel, einem Schal, Mütze und Fäustlingen zurück. "Komm", sagte er leise, "Lass mich dir helfen." Dann nahm er das rechte Handgelenk des Schwarzhaarigen und zog ihm einen der Fäustlinge an. Kurogane sah ihm wortlos dabei zu. "Behalt sie an. Heute nacht hat's draußen ziemlich heftig geschneit, und die Wolle ist richtig schön warm." Kurogane blinzelte, ohne einen blassen Schimmer, was er jetzt denn bloß antworten solle. Fye störte sich nicht daran, sondern stülpte ihm noch die Mütze über die struppigen schwarzen Haare und wickelte ihm den Schal um. "Okay", sagte er und sah mit einem Schmunzeln zu ihm hoch, "Jetzt ist es gut. Lass dich nicht unterkriegen, ja?" "Ist gut", erwiderte der Killer unschlüssig. "Ich-... ich komm schon klar." Der Blondling lächelte. Seine Finger schlossen sich fest um das, was er schon die ganze Nacht über in der Hand gehalten hatte. "Pass auf dich auf..." "... und hier haben wir die einzige Videoaufzeichnung, die uns von ihm gelungen ist. Kaum mehr als fünf Sekunden." "Zeig sie schon her." Mit leeren, glasigen Augen starrte Kurogane auf den kalt glänzenden Überwachungsbildschirm. Die übliche nächtliche Gegend im vordersten Kellerareal. Zwei einsame Nachtwächter auf biederen Klappstühlen. Der eine war über seiner Zeitung eingeschlafen, der andere wähnte sich im Begriff, dem Beispiel seines Kollegen zu folgen. Plötzlich ertönte ein Knacken auf dem nur sehr diffus erleuchteten Gang. Wächterlein Nummer zwei fuhr mit einem Grunzen aus seinem Fast-Koma hoch und schwenkte seine Taschenlampe herum. Es passierte unglaublich schnell. Eine schwarz gekleidete Gestalt stürzte ins Bild. Wächterlein Nummer zwei griff bereits nach seinem Schlagstock, doch der Einbrecher war schneller- mit einem verzweifelten Satz warf er sich auf seinen Gegner, rang ihn zu Boden und stieß ihm ein Messer in die Gurgel. Sowohl er als auch sein Kollege gaben ohne großen Sermon den Löffel ab. Der Eindringling jedoch verschwendete keine Zeit- hastig griff er in die Tasche, zog etwas hervor, das wie eine billige Spielzeugpistole aussah, und drückte ab. Ein Strahl aus dickem, schaumig weißem Zeug schoss Richtung Kameralinse. Das Bild wurde schwarz. Kurogane starrte O'Connor teilnahmslos von der Seite an. "Und das war schon alles, oder wie?" Der Ministerialrat seufzte. "Wir mussten weiß Gott wieviele Technikfritzen dransetzen, um die versauten Aufnahmen wieder flott zu kriegen, also beschwer dich nicht! Was kannst du dir daraus entnehmen?" Keine Antwort. "Aber das bisschen an Kraft, das ich habe-... das will ich benutzen, um mich um dich zu kümmern. Das bisschen Kraft. Dieses winzige bisschen Kraft. Was wäre gewesen, wenn er ihn angeschrien hätte? Irritiert merkte der Schwarzhaarige auf, als er O'Connors Hand bemerkte, die vor seinem Gesicht herumfuchtelte. "He! Kurogane! Sag mal, was ist heute eigentlich los mit dir?" "Frag nicht so blöd", fauchte Kurogane zurück und schlug die Hand seines Vorgesetzten weg, "Ich hab genug Sorgen!" Diese Keckheit, die sich sein Vorgesetzter seit kurzem angeeignet hatte, gefiel ihm überhaupt nicht. Etwas war faul in diesem Dezernat- sollte heißen, noch fauler als ohnehin schon. Sein Soldatensinn summte unter seiner Schädeldecke wie ein Wespennest. "Aaah, wen haben wir denn da?", meldete sich plötzlich eine süffisante Stimme von der Tür aus zu Wort. "Mr.Pantoliano!", entfuhr es O'Connor, und er sank automatisch in eine halbe Verbeugung, bei der er wirkte wie ein Buckliger. "Schon gut, Joshua, setzen Sie sich." Die üppigen Augenbrauen des Italieners hoben sich in spöttischer Aufmerksamkeit. "Was für eine exquisite Wintergarderobe! Ist also doch endlich eine Frau in Ihr Leben getreten, hmmh?" In Kuroganes Augen flackerte es gereizt auf. Verdammtes Arschgesicht! "Ich glaube weniger, dass Sie das interessieren dürfte, Mr.Pantoliano", gab er zur Antwort, während er nur sehr mühsam den wilden Drang unterdrückte, seinem Chef die Hände um den Hals zu legen, "Ich nehme an, dass es Ihnen eher um diesen Einbrecher geht." "Schlaues Kerlchen. Also, was haben Sie erkannt?" "Fest steht, dass er körperlich gesehen sehr schwach ist- er hat seine ganze Kraft gebraucht, um die Nachtwächter-Type zu überwältigen. Außerdem hat er keine Ahnung, wie man einen Angriff aufbaut oder eine Waffe führt. Und diese billige Pistole sagt auch genug aus. Es kann nicht mehr als ein sehr mutiger- oder sehr blöder- Laie gewesen sein." Pantoliano stieß ein Seufzen aus. "Old Boy, Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass ich Ihnen das abkaufen kann? Das wäre ja der Knall im All! Sie bringen das schnellstmöglich in Ordnung, haben Sie mich verstanden?" "Ich kann Ihnen nichts versprechen." "Ich dulde keinen Widerspruch, mein Bester! Tun Sie einfach das, was Sie am besten können!" Der Blick des Schwarzhaarigen bekam etwas Eisiges. "Ja? Dann wären Sie jetzt beide tot." Schweigen. Der Ratspräsident wirkte nur für einige wenige Sekunden irritiert, bevor er seinen Faden wieder aufnahm. "Nun bleiben Sie doch auf dem Teppich! So schwer dürfte es auch wieder nicht sein, einen Laien aufzuspüren!" "Wir haben dir auch schon Material besorgt", ergänzte O'Connor, "Im ersten Stock steht alles bereit, was du noch brauchen könntest... eine Kopie des Videos, Beweismaterial, Berichte, die Autopsie der Nachtwächter--..." "... und eine neue Liste", ergänzte Pantoliano und sah seinen Auftragskiller nachdrücklich an. Dieser starrte nicht minder kalt zurück. "Mr.Pantoliano, ist Ihnen überhaupt bewusst, was Sie da verlangen?" "Sechs. Nicht mehr und nicht weniger. Diesmal meistens Vertreter aus konkurrierenden Filmbranchen, zehntausend pro Kopf." "Es wäre Wahnsinn, noch mehr abzuschlachten. Jedenfalls zu diesem Zeitpunkt." Pantoliano machte eine wegwerfende Handbewegung. "Mein Gott, habe ich Ihnen das nicht schon hundertmal gepredigt? Ich habe diese beiden Hornochsen von der Polizei vollstens im Griff!" "Ach ja? Gestern habe ich einen davon getroffen! Die Ermittlungen sind im vollsten Gange!" "Da kennen Sie mich schlecht. Ich habe Mittel, mein Guter- wohl ganz im Gegensatz zu Ihnen." Der Pfeil saß, und man merkte auch, dass Kurogane getroffen war. Der Italiener lächelte zufrieden. "Vor drei Jahren haben Sie eine kluge Entscheidung getroffen, mein Junge. Sie haben sich entschieden, mir Ihren Willen zu unterwerfen, nicht? Also, dann tun Sie einfach, wofür ich Sie bezahle: meucheln. Und nicht denken." Da war er wieder. Der Ausdruck der Bestie, den er vor Jahren schon einmal bei Kurogane hatte beobachten können. Für nur wenige Sekunden flammte er in diesen wilden Augen auf, um nur wenig später einer kalten Resignation Platz zu machen. Aussichtslosigkeit besiegte Wahnsinn. Wie so oft. Wortlos verließ der Killer den Raum und schlug die Tür hinter sich zu, dass die Wände nachzitterten. Nach einer langen Weile des Schweigens warf Pantoliano O'Connor einen mehr als bedeutsamen Blick zu. "Na, das war mal hochinteressant. Ob das wohl unter 'weihnachtlicher Liebeszauber' läuft?" "Sie meinen also, er hat--... ?", fragte der Ministerialrat mit gehobenen Brauen. Seit Kurogane zu einem von Pantolianos persönlichen Todeskandidaten avanciert war, hatte er sein altes Selbstbewusstsein zurückgewonnen. "Joshua, Sie lernen's aber auch nie! Dabei springt es einem doch förmlich ins Gesicht! Bei Gott, welche Sorte Mensch würde ihn denn sonst dazu bringen können, einen Schal anzuziehen? Was für einer könnte das sein außer so einem?" Wieder breitete sich dieser satte, selbstzufriedene Ausdruck auf Pantolianos Gesicht aus. "Es gehört zu meinem Beruf, Menschen einzuschätzen, Joshua, das sollten Sie am besten wissen. Vor einem Jahr wurde dieser Mann zum Tier, Sie haben es selbst gesehen- wir haben ihn zur Bestie gemacht, und er hätte besser daran getan, eine zu bleiben..." O'Connors nickte, immer noch ein wenig skeptisch, während sich der Italiener wie so oft ganz der Beobachtung seiner Fingernägel widmete. Mehrere Minuten vergingen, bevor er wieder zu sprechen anhob. "Wenn unser Kurogane-chan das Gelände verlassen hat, schicken Sie ihm einen Wagen hinterher. Ich will wissen, wer diese Person ist, die sich auf einmal so liebevoll um ihn kümmert." "Sollen wir sie beseitigen?" Pantoliano stöhnte. "Mein Gott, Joshua, verstehen Sie das denn immer noch nicht? Wir wissen doch noch nicht einmal, ob es sich überhaupt lohnt, diesen Menschen umzubringen! Ich habe keine Lust, mir unnötig Schmutz auf die Hände zu laden!" "Aber es würde um einiges schneller gehen!" "Joshua", sagte der Italiener fast schon in zärtlichem Mitleid, "Beantworten Sie mir eine Frage. Nur eine, ja? Also: stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Müllbeutel in der einen Hand, und Ihre Lieblingskrawatte in der anderen Hand. Wenn ich Ihnen jetzt eines von diesen beiden Dingen wegnehmen würde, über welchen Verlust würden Sie mehr Bedauern empfinden?" "Über-... über den der Lieblingskrawa--... ach so..." Der Italiener grinste gehässig. "Exakt. Mein Lieber, ich bezweifle schwerlich, dass Kuroganes verkrüppelte Seele es überleben würde, noch einmal ans grimmige Tageslicht gezogen zu werden. Aber falls das im Angesicht dieser uns unbekannten Person doch passieren sollte, dann wird das ihr Todesurteil sein. Wie sehr muss es schmerzen, etwas sterben zu sehen, das man liebt?" "Dann warte ich noch." Pantoliano nickte zufrieden. "Sehr gut. Warten Sie in aller Ruhe, bis unser Kurogane-chan ein wenig in den Gefühlstaumel kommt, der süße kleine Schnuddelwutz. Und wenn wir uns ganz sicher sein können, dass dieser Mensch einen gewissen Stellenwert bei ihm hat, dann geben Sie den Befehl. Ach, und sorgen Sie dafür, dass er dabei ist, wenn es passiert." Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Hals, und O'Connor verstand. "Jawohl. Und ansonsten? Keine weiteren Unternehmungen mehr in der Angelegenheit?" "Doch. Beschaffen Sie sich ein Telefon und rufen Sie bei der Bank an. Zeit für ein kleines Spiel." Acht Uhr und sechs Minuten. "Bin da!", rief Kurogane knapp Richtung Diele, wobei er den heißen Salsa-Rhytmus aus dem Wohnzimmer nur schwer übertönte. Augenblicklich wurden in der Küche Stimmen laut. Ein Stuhl rückte. Übermütig trappelnde Schritte näherten sich. "Kuro-chiiiiii!", jubelte Fye schon von weitem, "Kuro-chiiiii! Willkommen zu Hauuuseee!" "Ahm-... ja", erwiderte Kurogane, ein wenig ratlos, weil ihm keine geistreichere Antwort einfiel. "Brrrr, du bist ja ganz kalt! Hat es doll geschneit draußen? Komm, gib mir deinen Mantel! Wie war's auf der Arbeit?" "Ganz gut", meinte er achselzuckend, während sein Gastgeber geschäftig um ihn herumflatterte. "Ich wusste, dass du das packst! Hier, die Hausschuhe hab ich heute morgen für dich besorgt!" Dann brach er plötzlich ab und sah seinen neuen Mitbewohner warm an. "Lass uns diesen verpatzten Start von heute morgen vergessen, ja? Ich freu mich so, dass du wieder da bist." "Naja, ich-... hab mich beeilt." "Du bist wunderbar", sagte Fye gutmütig, "Komm, lass uns in die Küche gehen, hier im Eingang erfrieren wir ja noch, und das Frühstück ist auch fertig! Sakura-chan und Shaolan freuen sich schon!" Zu brummkreiselig im Kopf um Widerstand zu leisten, ließ sich Kurogane von Fye am Handgelenk durch den Hausflur zerren. "Sakura-chaaahaaan! Shaolaaahaaan!", jubilierte der Blondling überglücklich, während er den Schwarzhaarigen hinter sich her in die Küche schleifte, "Ratet mal, wer nach Hause gekommen ist!" "Super, Mann!" "Immer rein mit ihm!" Als sich Kurogane umdrehte, hatte er zwei kumpelig lächelnde Teenagergesichter vor sich. Ein zierliches, hübsches Mädchen mit fuchsfarbenen Haaren und einen aufgeräumt wirkenden Brünetten. "Hallo", sagte er unschlüssig, und die zwei grinsten. "Okay", kündigte Fye erwartungsvoll an und tätschelte übermütig die Schulter seines Gasts, "Shaolan, Sakura-chan, jetzt hab ich endlich das milliontastische Vergnügen, euch Kurogane vorzustellen! Er wird jetzt für die nächste Zeit bei uns wohnen! Kuro-pyon, das sind Sakura Kinomoto und Shaolan Li, meine Mitbewohner!" "Yo! Freut mich, Mann!", kam es von Shaolan, und er schüttelte die Hand seines erwachsenen Gegenübers. "Schön, dich kennenzulernen, Kurogane-san", sagte Sakura freundlich und ergriff kurzerhand die andere Hand des Killers, da Shaolan Hände grundsätzlich sehr gründlich zu schütteln pflegte, "Fye-san hat uns eine ganze Menge von dir erzählt!" "F-freut mich auch", erwiderte Kurogane verdutzt, während er über Kreuz Hände schüttelte. "Na los, setzen wir uns!", sagte Fye, bevor sie sich an dem Tisch niederließen, der sich unter einem Frühstück bog, das alle Kurogane bisher bekannte Rahmen sprengte. Man konnte meinen, Jesus wäre auf die Erde zurückgekehrt. "Aaaalso, hier haben wir Rührei, gebratenen Speck, Toast, selbstgemachte Weizenbrötchen, Marmorkuchen, Honig, Milch, Kakao, und Kaffee!", erklärte Fye fröhlich, "Ein bisschen mehr als sonst, aber heute ist ja auch ein ganz besonderer Tag!" "Na... dann guten", murmelte Kurogane geistesabwesend und wollte sich auch schon einen Teller holen- er war am Verhungern-, als ihm sein blonder Mitbewohner jedoch Einhalt gebietend einen Zeigefinger unter die Nase hielt. "Haaaaalt! Bevor wir essen, wird gebetet! Das ist die Regel!" Der Schwarzhaarige machte Augen wie Pfannkuchen. "Beten?!!" "Ja klar! Du weißt doch! Gott bitten, unser Frühstück zu segnen!" "Man stirbt doch nicht dran, wenn es ungesegnet ist--... ist ja gut, schon okay, dann betet von mir aus", schloss er ächzend, als den dreien schier die Kinnladen runtersacken wollten. "Betest du denn nicht mit, Kurogane-san?" "Ich komm aus Japan", erklärte der Schwarzhaarige nüchtern, "Da beten die nicht." "Aber du hast doch 'Um Gotteswillen' gesagt!", äußerte sich Fye erstaunt. "JA, ABER--..." "Ah, ich hab's, Mann!", fiel Shaolan ein, "Du weißt noch gar nicht, wie wir beten, stimmt's? Dann guck uns doch erst mal zu!" Der Blondschopf ließ seinem neuen Mitbewohner gar nicht erst die Zeit zum Widersprechen, sondern zeigte auf Sakura. "Okay, Sakura-chan, weil heute Dienstag ist, fängst du mit Beten an!" Die drei schlossen feierlich die Augen und falteten die Hände. "Gut. Also: lieber Gott...", begann das Mädchen. "... im Himmel!", ergänzte Fye beschwichtigend. "Achso. Danke. Lieber Gott im Himmel. Wir danken dir für--... eh, für was danken wir ihm heute? Shaolan?" Kurogane fiel es von Sekunde zu Sekunde schwerer, seinen Mund wieder zuzukriegen. Der Teenager richtete sich währenddessen- ganz die personifizierte Ernsthaftigkeit- in seinem Stuhl auf und schwellte die Brust. "Okay, heute bedanken wir uns für mehrere Sachen, Mann. Zum Beispiel für die Erfindung von... Wohngemeinschaften." "Und für die Erfindung von Mathe-Ausgleichsarbeiten", knüpfte Sakura an. "Und für den Willen, sich zu ändern", ergänzte Fye noch mit andächtig geschlossenen Augen, "Und jetzt du, Kuro-rin!" "Was soll das, ich hab keine Ahnung, wie man betet--" "Komm schon, Kurogane-san! Das macht irre Bock, Mann!" "Ja! Es ist ganz leicht! Wir haben's dir doch vorgemacht!" "Schon gut, schon gut, schon gut!! Ich mach's ja!" Völlig am Ende seiner Nerven faltete der Killer seine Hände, als wolle er jemanden erwürgen und atmete einmal kurz durch. "Okay, also. Lieber Gott im Himmel, der du da bist, obwohl dich kein Mensch sehen kann. Ich muss dir was sagen. Aber meinen Namen muss ich dir wohl nicht verraten, denn du bist ja allmächtig und weißt ihn sicher schon." "Wow, er ist gut!", raunte Fye seinen beiden Mitbewohnern zu und erntete eifriges Kopfnicken. "... und ich will dir heute Dank sagen für... ehh-..." "Du musst ihm für etwas danken, das bei dir eine Rolle spielt!", gab der Blondling flüsternd Hilfestellung. Kurogane blinzelte ein wenig. Das bei mir eine Rolle spielt. Mhm. Sein Blick wurde geistesabwesend. "Dann danke ich dir für die Erfindung vom Katana. Schusswaffen-... sind scheiße." "Wunderbar!", trällerte Fye, "Also, für all diese Sachen bedanken wir uns heute bei dir. Und wir bitten dich, dass du uns für dieses farbmittel- und konservierungsstofffreie Frühstück deinen Segen gibst. Das wäre nett. Amen!" "Amen, Mann! Das war mal ein geiles Gebet!", grinste Shaolan, und Sakura nickte fröhlich. "Ganz meine Rede! Okay, dann lasst es euch mal schmecken!" "Dankeee gleiiichfaaalls!", krähten die beiden Teenies einträchtig im Chor und schnappten sich jeweils einen Teller. "Greift tüchtig zu! Ach, übrigens, habt ihr Yuuko-san gestern nacht auch brüllen gehört?", quasselte der Blondling munter, während er sich ebenfalls einen Teller nahm, um auf ihm eine Mount Everest-Miniatur aus Frühstückszutaten anzuhäufen, "Ich hatte jedenfalls den Eindruck! Und um halb vier haben James und Soledad eine Einladung zu ihrem nächsten philosophischen Vorlesen bei uns eingeworfen: Lebensweisheiten aus Der Traum des Propheten von Khalil Gibran! Wollen wir hin?" "Aber klar, Mann! Lebensweisheiten rocken! Und ich glaub, Yuuko-san hab ich auch gehört... Yuuko Ichihara-san", erklärte er auf Kuroganes fragenden Blick hin, "Eigentlich ist sie Anwältin, aber sie ist schon seit Jahren arbeitslos. Wenn sie getrunken hat, hält sie sich immer für eine tragische Vertreterin der Weltgeschichte. Ich glaube, letzte Nacht war's Johanna von Orléans." Mit diesen Worten setzte er den nahezu überladenen Teller vor Kurogane ab. Dieser starrte ihn ungläubig an. "Das ist doch viel zuvie--" "Komm schon, du warst so früh auf der Arbeit, jetzt kannst du dir doch auch mal ein ordentliches Frühstück gönnen!" "Wo arbeitest du denn, Kurogane-san?", erkundigte sich Sakura, während sie ihr Toast mit Marmelade bestrich. "Im Dezernat für nationale Sicherheit", ergab sich der Schwarzhaarige in sein Schicksal und schenkte sich Kaffee ein. "Boah!", japsten die beiden Teenager einstimmig, "Im Ernst jetzt?" "Ich meine immer alles ernst..." "Und wie lange?" "Knappe fünf Jahre." "Und warum?" "Ich will was für die Sicherheit tun." "Hey ihr zwei, jetzt fragt ihm doch keine Löcher in den Bauch!", kicherte der Blondschopf belustigt und kratzte mit antrainierter Präzision die Rinde von seiner Brotscheibe, "Schließlich müssen wir uns alle noch aneinander gewöhnen, nicht? Und vor allem müssen wir eine ganze Riesenmenge planen! Vor Weihnachten gibt es noch viel zu tun! Ich würde sagen, das Sternchenthema ist unser Weihnachtsfest! Und die Weihnachtseinkäufe! Und der Weihnachtsbaum! Und die Beichte! Ach ja, und wir müssen auch noch besprechen, wie wir das mit der Arbeitseinteilung im Haus machen! Shaolan, Sakura-chan, seid ihr heute abend da?" "Jepp, Mann. Sollen wir uns ums Abendessen kümmern?" "Das wäre toll! Wok?" "Mhm, zu aufwändig für vier Personen. Spaghetti?" "Hatten wir schon letzte Woche. Pizza mit Sardellen und Artischocken?" "Gebongt, Mann." "Prima! Dann machen Kuro-wan und ich morgen das Mittagessen! Wie steht's mit dem Müll?" "Hab ihn gestern rausgebracht!", meldete sich Sakura stolz, und Fye strahlte. Kurogane stützte sein Kinn in den linken Handteller und hörte wortlos zu, wie seine drei neuen Mitbewohner so glücklich über Haushaltspflichten und anfallende Termine debattierten, als würden sie eine Weltreise planen. Fast, als ob sie dieses alltägliche Leben als eine Art Geschenk ansahen. Wie einfach und-... ja, wie zerstreuend sowas sein musste. Tröstlich. Der Schwarzhaarige merkte ein wenig auf, als er spürte, wie ruhig ihm auf einmal zumute war. Er senkte den Blick. "... auch noch einige wichtige Sachen erledigen!", erklärte Fye soeben hochmotiviert und tätschelte seine Schulter, "Zur Bank zum Beispiel, das wollen wir gleich heute machen! Wie wär's, wenn wir dann übermorgen alle gemeinsam in die Kirche gehen?" "Klar, Mann! Aber willst du nicht noch mit Mayonès sprechen? Der wird dich kreuzigen, wenn du noch länger fehlst!" "Ich weiß", sagte Fye mit einem breiten Grinsen und klatschte unternehmungslustig in die Hände, "Aber darüber mach ich mir jetzt keine Sorgen! Ihr zwei müsst gleich zur Schule und wir in die Stadt, also lasst uns essen!" Die Zeit schien zu drängen, denn die beiden Teenies stürzten sich auf ihre Teller wie hungrige Krähen. Gegen seinen Willen verzerrten sich die Mundwinkel des Schwarzhaarigen zu einem schwachen Grinsen. Als er unvermutet eine Hand vorsichtig auf seinem Arm fühlte, hob er verwundert den Blick und sah in Fyes Gesicht. Er lächelte ihn an und nickte ihm zu, leicht nur und kurz- doch er verstand. Gedankenverloren nickte er zurück. Scheint wohl nicht nur für die drei tröstlich zu sein. "Na, wie findest du ihn?" "Hmh", überlegte Sakura mit gerunzelter Stirn und kickte einen erfrorenen Zweig über den Bürgersteig, der sie zur Schule führen sollte, "Er ist ungewöhnlich. Wie Fye-san gesagt hat." "Anders als die anderen?" "Anders als die anderen." Nachdenklich warf der braunhaarige Junge einen Blick zum immer noch dunklen, schneewolkenverhangenen Himmel empor. "Hast du dieses-... Etwas in seinen Augen gesehen?", fragte er halblaut, und seine Freundin nickte. "Er gibt sich Mühe, es zu verbergen, aber es ist da. Und es sticht raus." "Jepp. Wie Glasscherben. Als ob er Schmerzen gehabt hätte. " Schweigen. Die beiden hoben zaghaft den Blick und sahen sich einander in die Augen, bevor Sakura mit einem kleinen gequälten Lächeln das aussprach, was sie beide dachten. "Dann passt er perfekt zu uns." "Na, wie findest du sie?" "Eh?", fragte Kurogane verständnislos, "Ist das so 'ne Art Fangfrage, oder was?" "Das war keine Fangfrage!", erklärte Fye beschwichtigend, während sie den Zebrastreifen über die Hauptverkehrsader Richtung Johannesplatz überquerten, "Eine Fangfrage wäre zum Beispiel: 'Was war in dem Karton, den du im Eingang abgestellt hast?' " Augenblicklich wirbelte der Schwarzhaarige herum. "Wieso interessiert dich das, häh?!!" "Siehst du", meinte dieser achselzuckend, "So reagiert man auf eine Fangfrage, deswegen stelle ich dir keine. Ich weiß es übrigens ohnehin schon, es waren eine Videokassette, ein Ordner mit jeder Menge Blättern und eine Dose mit komischem Zeug drin." "Du hast einfach reinges-... du bist ja abgefeimt!", stieß Kurogane fassungslos hervor, und Fye lachte. "Tja, ich bin eben ein schlimmer Finger! Aber jetzt sag, wie findest du sie?" "Nhm. Ich hab mir euer-... Zusammenleben irgendwie anders vorgestellt. Heißt die Kleine wirklich Kinomoto?" "Ja, wieso?" Er starrte sein blondes Gegenüber ernst an. "Einer der beiden Bullen von gestern hieß auch so." "... J-ja, das stimmt schon. Ich-... hatte nur keine Gelegenheit, sie danach zu fragen." "Lüg mich nicht an." Es flackerte in diesen eisblauen Augen. "Es fällt mir eben schwer, Fragen auf diesem Gebiet zu stellen, Kurogane! Sakura-chan würde es sicher kaum witzig finden, wenn ich zu ihr sage 'Hey, Sakura-chan, ich glaub, ich hab gestern deinen Bruder getroffen!' " Kurogane seufzte. Hier würde er nicht weit kommen, das erkannte er sofort. Dieser Blondschopf war stur wie ein Bock. "Wieso konnten wir nicht zuerst zur Feuerwehr gehen?", wechselte er schließlich das Thema. "Geld ist 'ne wichtige Sache, vor allem, wenn ein Unfall passiert ist!", beschwichtigte Fye seinen missgelaunten Kompagnon, "Es ist nötig, dass man es richtig verwaltet, für den Fall, dass die Versicherung-... ah! Guck mal, da vorne ist es schon!"" Mit diesen Worten deutete er nach vorne auf ein stattliches, zur Hälfte verglastes Marmorgebäude. Auf dem dreieckigen Giebel über dem Portal war der große, vergoldete Schriftzug 'Kingstonville City Deposit' eingelassen. "Also, dann wollen wir mal! Ich glaube, es wäre gut, etwas Asche abzuheben, falls Schadensersatz-Rechnungen anfallen!" "Du kennst dich ja aus." "Fernsehen", erklärte der Blondling verschmitzt, während sie nebeneinander die Treppe hochstiegen, "In Krimis erfährt man das meiste, vor allem, wenn schon jemand gestorben ist, und-- huuuuuuuuch!" Letzteres stieß der junge Mann überrascht hervor, als plötzlich ein untersetztes, pummeliges Etwas vom Eingang der Bank herangesaust kam und volle Kanone mit ihm zusammenprallte, sodass es ihn beinahe kopfüber die Stufen hinunterfetzte. "Aaahhh aha aha aha!!", keuchte er und schaffte es gerade noch, sich an Kuroganes Jackenkragen festzuhalten, sodass dieser augenblicklich von dem Gewicht nach unten gezogen wurde. "ARGH!! Pass doch auf, du Depp--" Sein Wegbegleiter jedoch antwortete nicht- er starrte mit einem fragenden Blick auf die Gestalt, die sie soeben fast umgerannt hätte. Es war ein pummeliges, schmächtig anmutendes Männlein mit Halbglatze und einer schweren Tasche auf dem Rücken. Er keuchte und glotzte die beiden, die da immer noch in dieser zweifelhaften Halsklammer-Pose vor ihm standen, skeptisch an. "Ähh-... äh-- 'tschuldigung!" "Was sind Sie denn?", gab Kurogane nur schnaubend zurück, während er sich seinen Mitbewohner vom Hals schüttelte. "Ahhh... j-ja also, mein Name ist Kazuki Eishaki", stotterte das Dickerchen sichtlich nervös zurück. "Ray Flückiger", erwiderte Fye automatisch, "Und das hier ist Kurogane, doch er will immer nur Kuro-ron genannt we--" "Nein, das will er nicht", setzte Kurogane nachdrücklich hinzu, "Und ich hab Sie nicht nach Ihrem Namen gefragt." "Ähh, ähh--..." "Du bist so unhöflich, Kuro-chii!", empörte sich der Konditorlehrling, "Was soll man denn auf die Frage, was man ist, antworten? Soll man seine Hautfarbe sagen? Sein Geschlecht? Seine Gattung? Seinen Beruf?" "Such dir halt was aus, Blödian!", feuerte der Schwarzhaarige zurück, während Eishaki leicht irritiert blinzelte. "Okay! Der Beruf! Was machen Sie, Eishaki-san?", fragte Fye freundlich. "Es ist mir furchtbar peinlich, aber ich bin Coproduzent bei Masterpiece Pictures." "Waaaaaas?", stieß Fye sofort mit ungläubig aufgerissenen Augen hervor, "Sie sind ein Coproduzent?? D-das-... ist ja oberscharf! Wie lange sind Sie schon Coproduzent?? Bei welchen Filmen haben Sie mitgemacht?? Haben Sie schon Preise gewonnen??" Das pummelige Männlein machte ein Gesicht wie ein Ochsenfrosch. Offenbar überforderte ihn eine Begeisterung diesen Grades. "N-nun ja... vielleicht haben Sie in letzter Zeit ferngesehen... dort müsste jetzt eigentlich schon die Vorschau von dem Film laufen... es ist die Verfilmung von dem Bestseller Baltasar, Fritz und ich." "Aahh huuuuuuuuh! Ich glaub das ja nicht!", trällerte Fye entzückt, "Baltasar, Fritz und ich ist mein absolutes Lieblingsbuch! Ich liiiiebe das! All die Abenteuer, und vor allem diese mit Missverständnissen und versteckter Leidenschaft gewürzte Liebesgeschichte! Schade, dass die Hauptfiguren nie Sex miteinander hatten, bevor sie starben! Ein echter Page-Turner!" "Aah--... ?", erwiderte der Geschäftsmann mit einer Art hilflosem Amüsement und warf Kurogane einen fragenden Blick zu. "Bevor Sie fragen, ich kenne ihn nicht", erwiderte dieser eisig. "Hören Sie gar nicht auf den, Eishaki-san!", fuhr ihm der Blondling fröhlich in die Parade, "Der ist immer so schmolllippig!" "DEPP!! Nimm lieber deine Anti-Idiotika!", war die gefauchte Antwort. "Eh, also... wenn Sie das unter sich ausmachen wollen, kann ich auch gehen-..." "Wieso sind Sie dann überhaupt hergekommen, wenn Sie doch sehen, dass wir gerade streiten, häh?!!" Auf diese doch ein wenig rüde formulierte Frage sah sich Eishaki ein wenig nervös nach allen Seiten um, bevor er weiterredete. "Nun ja, es ist folgendermaßen-... ich bin auf der Suche nach Gesellschaft... jetzt gucken Sie mich doch bitte nicht so an, es ist dringend! Es ist so, dass ich gerade fast alle Filmrollen von der Endfassung der Kinoversion bei mir habe... ich muss sie in einer knappen Stunde bei meinem Vorgesetzten abliefern! Und ich wurde schon vorhin von einigen Schlägern verfolgt!" Er hielt für einige Sekunden inne, um das Gesagte sacken zu lassen. "Ach du heiliger Bimbam!", sagte Fye vollends überwältigt, "Im Ernst? Oh jemine! Kuro-chuu! Wir müssen unbedingt etwas unternehmen! Eishaki-san, können wir Ihnen irgendwie helfen?" "In der Tat, das können Sie", sagte der Coproduzent sichtlich hoffnungsvoll, "Sehen Sie, diese Rowdies sind letztendlich doch alle gleich: sie trauen sich nur an einen ran, wenn dieser allein ist! Also, eh-... es würde mir daher schon reichen, wenn ich für fünf Minuten Ihr Anhängsel sein darf, ich hab nämlich das ungute Gefühl, diese Kerle sind noch hier irgendwo--..." "Aber gar keine Frage!", trällerte der Blondling überschwänglich und klopfte dem schmächtigen Geschäftsmann auf die Schultern, "Fühlen Sie sich ganz willkommen! Wenn man sich helfen kann, dann soll man sich auch helfen, stimmt's, Kuro-nyan?" Der Geschäftsmann sah Fye aus ungläubigen Augen an, während Kurogane nur etwas Unverständliches brummte. "Aber wehe, Sie nerven mich ebenso sehr wie dieser ewig quatschende blonde Springfloh da!" "Keiiiin Problem, keiiiiiiiin Problem", versicherte Eishaki eilends, bevor er sich den beiden anschloss und ihnen die Treppe zum Bankportal hochfolgte, "Ich finde es wunderbar, noch Menschen zu treffen, die einem helfen wollen!" Sie betraten nun zu dritt den Hauptraum des Kingstonville City Deposit, eine weitläufige Halle, die größtenteils mit großen, marmornen Fliesen ausgelegt war. Es herrschte emsiges Treiben, Leute kamen und gingen, und vor vielen der etwa zwanzig Bankschalter standen lange Schlangen von diversen Politburschen, sparsamen Bürgerlein und allen Arten von Businesshaien. Als sie im Nordende der Halle angekommen waren, drehte sich Kurogane mit einem Schnauben zu seinen Begleitern um. "Okay. Ihr beiden wartet jetzt hier, kapiert?! Genau hier! Und ihr wartet, bis ich mit dem Geld zurück bin!" "Geht klar", sagte der Blondling brav, was seinem neuen Mitbewohner jedoch nur ein entnervtes Ächzen entlockte. "Was führt Sie hierher ins City Deposit?", fragte der Coproduzent interessiert, nachdem er Kurogane außer Hörweite wähnte. "Ach, vor einigen Tagen gab es bei Kurogane einen Zwischenfall, und wir haben uns entschieden, kurz nach seinen finanziellen Anlagen zu sehen, nur für den Fall. Und Sie?" "Naja, offen gestanden wollte ich mich hier nur vor diesen Schlägern verstecken." Er reckte ein wenig den faltigen Hals. "Sagen Sie, ist er Ihr Freund? Oder Ihr Bruder? " "Ohoohohoooh", kicherte der junge Mann amüsiert, "Sehen wir uns denn so ähnlich?" Eishaki schüttelte den Kopf. "Nein, Sie sehen sich nicht ähnlich- Sie gleichen sich. Auf gewisse Weise. Das sind zwei Paar Stiefel." Die Pupillen des Blondlings wurden rund. "Wir-... gleichen uns?" Sein älteres Gegenüber lächelte entschuldigend. "Ach, verzeihen Sie mir, es-... überkam mich eben einfach so. Wissen Sie, als alter Hase im Filmgeschäft entwickelt man ein geschultes Auge für das Verhalten von Gefährten." "Gefährten... ?" "Na klar! Sind sie etwa keine?" "Er vertraut mir kein Stück weit, wissen Sie", erklärte Fye fröhlich. "Ohhh-... achso. Schade! Dabei dachte ich, ich hätte immer noch dieses Augenmerk--" Der Coproduzent wurde in seinen Worten abrupt unterbrochen, als in der Halle plötzlich ein Krachen laut wurde. "AAARRGH-- neiiin!! Hören Sie auf, bitte, ich-... was hab ich denn-..." "MAUL HALTEN!!" Fye schaltete sofort. Wortlos wirbelte er herum und rannte los, sodass Eishaki nur mühsam Schritt halten konnte. Es war nicht schwer, die Quelle des Krachs ausfindig zu machen- es hatte sich bereits eine Menschentraube darum gebildet. Und als sich der Blondling und der Geschäftsmann einen Weg hindurchgewühlt hatten, sahen sie, was es war- es war Kurogane, der einen völlig hilflosen Bankangestellten am Kragen gepackt und über den Thresen gezerrt hatte, und ihn nun in die Luft hielt wie eine Katze, der jeden Moment das Genick gebrochen werden sollte. "WAS SOLL DAS HEISSEN, KONTO GELÖSCHT?!!", brüllte er sein Opfer an, das wie ein halb zerquetschtes Insekt zwischen seinen Pranken hing und den Tränen nahe nach Luft japste. Offenbar hatte er bereits einen Faustschlag von dem aufgebrachten Schwarzhaarigen einstecken müssen, denn sein rechtes Auge war blutunterlaufen und begann bereits anzuschwellen. "Kurogane, was-... was tust du da?!!", stieß Fye fassungslos hervor und stürzte nach vorne, "Lass ihn los!" Er versuchte, den Ellenbogen seines Gefährten zu greifen, dieser entriss ihm jedoch mitleidlos seinen Arm und stieß ihn von sich. "Dieser Bastard sagt, mein Konto wäre gelöscht!!" "Es ist doch aber auch wahr!", keuchte der wehrlose Mann und riss seine Arme hoch, als Kurogane wieder ausholen wollte, "Sie sind es selbst gewesen! Sie haben-... angerufen, und haben uns aufgetragen, Ihren Bankbetrag unter Vertraulichkeit umzuleiten, und-... nein! Nicht schlagen, bitte, schlagen Sie mich nicht--" "Ich schlag Sie so oft, wie ich das wi-..." "Lass den Mann sofort los, Kurogane!!" Der Killer hielt irritiert inne. Dann wandte er sich um. In Fyes Augen flackerte es. Seine Fäuste waren geballt. "Lass ihn los", wiederholte er leise, wobei er jedes einzelne Wort zwischen den Zähnen hervorpresste. Wie konnte eine Stimme, die sonst immer nur am Glucksen und Kichern war, ihn so--... Wortlos lockerte Kurogane seinen Griff, sodass der Kragen des Bankbeamten zwischen seinen Fingern hindurchglitt, und der vor Angst völlig gelähmte Mann hart auf dem Boden aufkam. Sofort kroch er hastig außer Reichweite des schwarzen Ungetüms. In den Augen der Zuschauer spiegelte sich das Entsetzen. Niemand von ihnen wusste, ob dieser Mann ein Mensch oder ein Tier war. Ich könnte der Nächste sein. Und diese Erkenntnis war es, die sie in Bewegung setzte. Man rannte blindlings durcheinander, stieß sich an, machte, dass man wegkam, weg von diesem Ungeheuer, weg von diesem Tier-- Fye jedoch blieb regungslos. Die Stille zwischen ihm und Kurogane war ohrenbetäubend, ein bleiernes Schweigen, das nur vom unterdrückten Wimmern des Bankangestellten durchbrochen wurde. Bis plötzlich Eishaki-san vortrat. Er sah blass und elend aus, und er schien sich überwinden zu müssen, näher zu treten. Doch dann legte er Fye eine Hand auf die Schulter und nickte Richtung Ausgang. "Kommen Sie. Wir müssen reden." Der Espressoautomat zischte. "Ihre Bestellung, mein Herr." "Haben Sie vielen Dank", sagte Eishaki mit einem flüchtigen Lächeln zu der Kellnerin, die soeben eine große Tasse Cafè con leche auf einen der Dreiertische im Jardin D'Hiver abgesetzt hatte, bevor sie sich bescheidentlich wieder von dannen machte. "Sie sind viel zu freundlich, Eishaki-san", sagte Fye und bemühte sich vergeblich, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. "Lassen Sie's gut sein", erwiderte der Coproduzent achselzuckend, "Sie haben mir vorhin geholfen, also helfe ich jetzt Ihnen. Was hat der junge Mann von vorhin gesagt? Konnten Sie ihn aushorchen?" "E-er... hat gemeint, Kurogane hätte heute morgen persönlich beim City Deposit angerufen, um sein Konto aufzulösen", berichtete Fye tonlos, "Und er hätte ihn unter Vertraulichkeit an ein anderes Konto weitergeleitet. Das bedeutet, die Bank steht unter Schweigepflicht, an wen der Betrag übermittelt wurde. Und ich-... ich konnte ihn davon abbringen, uns anzuzeigen." Mit einem glasigen Ausdruck in den Augen verschränkte der Blondling seine Hände auf dem Tisch. Dann wandte er seinen Blick Kurogane zu, der die letzte Viertelstunde über kein Wort gesagt hatte und teilnahmslos ins Nichts starrte. Man konnte förmlich sehen, wie hinter seiner Stirn alle Rädchen am Rumoren waren. Wer hat das getan? Eishaki seufzte. "Ich weiß, es ist hart. Aber alles, was ich Ihnen geben kann, sind Informationen." "Informationen? Wir brauchen den Täter, und keine zweitklassigen Kontoratschläge", kam es verächtlich von Kurogane. "Kurogane!", sagte Fye schockiert, "Wie kannst du nur so etwas sagen? Eishaki-san will uns helfen!" Schweigen. Der Coproduzent starrte den besorgten jungen Mann vor sich für einige Momente perplex an. "Ahh-...", sagte er dann unvermutet und patschte sich eine Hand vor die Stirn, "Was bin ich doch blöd! Mr. Flückiger, hören Sie- würde es Ihnen was ausmachen, schnell an der Kasse nachzuschauen, ob dort mein Geldbeutel liegt? Ich muss ihn vergessen haben!" Der Blondling wirkte verwundert, dennoch nickte er. "Okay, ich geh nachsehen." Schweigen. Nachdem sein Kompagnon einigermaßen außer Hörweite war, starrte Kurogane Eishaki eisig an. "Was sollte die Nummer denn?" Der Coproduzent legte einen Zeigefinger auf den Mund. "Still jetzt. Dass ich ihn weggeschickt habe, hat seinen guten Grund." Kuroganes Augen verengten sich. "Warum zum Teufel sollte ich Ihnen vertrauen, häh?" Eishaki lächelte ein wenig. "Stimmt, wieso sollten Sie das? Ich bin ein Wildfremder, der dazu noch von sich behauptet, Ihnen helfen zu wollen- Ihr Misstrauen ist ausreichend begründet." Er reckte ein wenig den Hals, wie um zu sehen, ob sie eventuell beobachtet wurden, und zuckte ein wenig mit den Schultern. "Aber es ist nun einmal wahr, ich will Ihnen wirklich nur helfen. Lassen Sie mich Ihnen also sagen, was ich weiß. Hören Sie, ist Ihnen auch schon vorher etwas Vergleichbares passiert? Ich meine, Dinge wie Diebstahl? Unfälle ohne plausible Erklärungen?" Unfälle ohne plausible Erklärungen. Der Schwarzhaarige spürte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog. "Nun ja. Vor zwei Tagen wurde mein Haus abgebrannt, ohne dass die Feuerwehr reagiert hat. Nun wurde mein Konto gelöscht...", seine dunklen Brauen senkten sich tief über seine Augen, "... und auf dem Rückweg von der Arbeit ist mir ein fremder Wagen gefolgt. Er hat sich Mühe gegeben, Abstand zu halten, aber-... es war zu offensichtlich. Er verhielt sich zu auffällig." Eishaki starrte nachdenklich in Kuroganes markant geformtes Gesicht. "Verstehe. Haben Sie schon in Erwägung gezogen, dass da möglicherweise eine Art-... Intention dahintersteckt? Eventuell von jemandem, den Sie kennen?" Das Gesicht des Killers verriet keinerlei Regung. Die Luft zwischen den beiden Männern war zum Zerreißen gespannt. "Sie glauben also, jemand hat es auf mein Leben abgesehen." "Nicht nur auf Ihres, mein Bester." Der Coproduzent wandte den Blick ab, bevor er weiterredete. "Diese Art von 'Unfällen', wie Sie Ihnen widerfahren sein könnten, halten sich mit der Zeit nicht mehr nur an Geld oder Besitz. Sondern an wirklich wertvolle Dinge." Kurogane schluckte. Als er dem Blick des Geschäftsmannes folgte, sah er, dass er zu Fye hinübersah, der gerade unter den verwirrten Blicken der Kellnerinnen den gesamten Kassierschalter nach Eishakis Geldbörse absuchte. Und er verstand. Das Etwas in ihm verkrampfte sich noch mehr. "So?" Eishaki starrte auf seine Hände. "Ich hoffe, Sie verstehen nun, warum ich Ihren Freund weggeschickt habe." "Er ist nicht mein--..." "Wie nett! Ist das ein Freund von dir, Fye-kun?" "Ja!" "... W-was schlagen Sie dann vor?" "Gehen Sie zur Polizei und melden Sie diese Vorfälle. Und vor allem: besorgen Sie sich einen Anwalt." "Wie soll das gehen? Finanziell sind uns jedenfalls die Hände gebunden." "Das ist kein Problem, ich leihe Ihnen etwas. Nein, Sie brauchen jetzt nicht den Kopf zu schütteln! Die Welt, in der wir heute leben, ist eine Welt der Reichen. Frei nach Charles Darwin- nur die Reichsten werden überleben. Traurig, das." Noch während des Sprechens wurstelte Eishaki unter dem Tisch herum und hielt Kurogane schließlich einen dezenten weißen Umschlag unter die Nase. "Ich bitte Sie herzlich, es anzunehmen. Wenn der Film in die Kinos kommt, ersäuft meine Abteilung sowieso wieder im Geld." Als der Killer keine Anstalten machte, den Umschlag an sich zu nehmen, legte Eishaki ihn kurzerhand auf die Tischplatte. "Und was sagt Ihre Frau zu sowas?" Eishaki musste lachen. "Frau? Ich habe weder Frau noch Kinder. Die Welt weiß nicht, dass ich da bin. Aber jetzt wird mir diese Eigenschaft zugute kommen. Ich werde sehen, was ich an Informationen im Archiv unserer rechtlichen Fälle finde, dann kontaktiere ich Sie, und dann werden wir weitersehen. Und jetzt fragen Sie nicht schon wieder warum. Das bringt Unglück", erklärte er freundlich, während er sich von seinem Platz erhob. "Sie gehen?" "Wir werden voneinander hören." "Sie wissen, dass wir uns niemals revanchieren können." Eishaki warf einen kurzen Blick Richtung Thresen. Offenbar hatte Fye sein Suchrevier Richtung Toilette ausgeweitet. "Es ist mir Revanche genug, wenn Sie sich um die wertvollen Dinge kümmern, Kurogane. Er ist froh, Sie zu haben, falls Sie's noch nicht bemerkt haben. So, und jetzt muss ich diese Filmrollen abliefern..." "Was soll-...", setzte der Schwarzhaarige noch an, der Coproduzent war jedoch schneller- er nahm einfach seine Tasche hoch und rauschte für seine pummelige Gestalt erstaunlich behende von dannen. Mit zusammengebissenen Zähnen sah ihm Kurogane nach, sodass er erst spät bemerkte, dass Fye wieder an den Tisch zurückkam. "Oh nein! Ist er etwa weggegangen?", fragte er mit blassem Gesicht, "Dabei ist sein Geldbeutel--..." "Er war noch in seiner Tasche." Mit einem seltsam müde anmutenden Gesichtsausdruck ließ sich der Blondling neben ihn auf seinen Platz sinken. "Hat er was gesagt?" "Er wird uns kontaktieren." "Und-... und was machen wir jetzt?" Der Blick der zinnoberroten Augen wurde geistesabwesend. Er ist froh, Sie zu haben, falls Sie's noch nicht bemerkt haben. "Keine Ahnung." Das Schweigen zwischen den beiden jungen Männern lastete tonnenschwer. Bis Fye schließlich ein wenig seufzte und wieder von seinem Stuhl aufstand. "Gehen wir." Genau eine Minute nach halb neun am Abend. In Haus Nummer dreiunddreißig fiel die Tür krachend ins Schloss. "Oh Gott, was für ein Tag", ächzte Kurogane zwischen gefletschten Zähnen hervor. Mehr ohnmächtig als bei Sinnen stampfte er in die nur schwach erleuchtete Küche und ließ sich auf den erstbesten Stuhl fallen, der ihm über den Weg lief. Das ist nicht wahr. Das ist alles nicht wahr. Er merkte gereizt auf, als Fye verunsichert in die Küche geschlichen kam wie ein geprügelter Hund. "K-kuro-chii... ich--" "WAS?!!", blaffte der Schwarzhaarige wütend und starrte den Blondling wild an, "Lass mich jetzt bloß in Frieden, kapiert?!!" Aus dem Gesicht des Blondlings wich jegliche Farbe. "Aber-... aber ich wollte nur sagen, dass es mir lei--" "Halt's Maul!! Ich will jetzt keine Mitleidsbezeugungen hören, kapiert?!", fiel ihm der Killer respektlos fauchend ins Wort, "Ich kann es schon nicht mehr hören! Damit eins klar ist, ich brauch dein verdammtes Mitleid nicht!!" "Aber--" "NICHTS ABER!!! HALT EINFACH DEIN MAUL!!" Fyes Hände bebten wie von einem Krampf durchzogen. "Schrei mich nicht an", stieß er hilflos hervor und starrte Kurogane aus gequälten Augen an. Seine Hand krallte sich wie besessen am Ärmel von seinem Pullover fest. Der Killer fixierte sein jüngeres Gegenüber irritiert. Dann stieß er ein bodenloses Stöhnen aus und stützte seine Stirn auf seine Handfläche. "Okay, okay, ist ja schon gut... was willst du jetzt dafür hören?" Fye sagte nichts. Er hatte seine Finger so fest in Kuroganes Ärmel vergraben, dass dieser eine halbe Ewigkeit brauchte, um seine helle Hand wieder aus dem schwarzen Stoff zu lösen, ohne ihm dabei die Finger brechen zu müssen. "Was ist los?", fragte er in möglichst beherrschtem Tonfall. Der Blondling senkte den Blick. "Eishaki-san hat es dir gesagt, nicht wahr?" Entgeistert merkte der Killer auf. "W-... was soll er mir gesagt haben?" "Dass es möglicherweise jemand auf dich abgesehen hat. Der Geldbeutel-Trick ist steinalt", fügte er leise hinzu. "Und was wäre, wenn er das zu mir gesagt hat?" Die hellen Brauen des jungen Mannes zogen sich zusammen. "Dann könnte ich es nicht glauben. Du bist ein guter Mensch." Da war er schon wieder, dieser Schmerz. Kurogane schluckte. "Bist du wirklich so naiv?", fragte er tonlos, "Ich bin noch nie ein guter Mensch gewesen. Ich habe mehr als genug Feinde." "Du glaubst es also?" "Alles, was ich glaube, ist, dass ich euer verdammtes Todesurteil sein werde! Kapierst du das denn nicht?" Fyes Kinnmuskeln traten hart hervor, als er die Zähne aufeinander biss. "Erzähl mir nichts über den Tod! Der Tod war in diesem Haus schon öfter zu Gast, als ich Finger habe!" Kuroganes Puls unternahm einen kurzen Höhenflug, als er die Bitterkeit aus der Stimme seines Gegenübers heraushörte. "Also schließ Shaolan, Sakura und mich nicht aus. Und Eishaki-san auch nicht. Er hat uns sogar Geld gegeben! Er will helfen!" "Wieso bist du dir nur so sicher, dass uns dieser Produzentenwichtel helfen will?" "Hast du es denn nicht gesehen? Er ist einsam, Kurogane. Er war uns so dankbar, dass er fünf Minuten bei uns sein konnte! Wahrscheinlich wäre er sogar bereit gewesen, uns Christus vom Kreuz zu kaufen!" Schweigen. Der Schwarzhaarige ließ mit einem unterdrückten Ächzen seinen Kopf nach hinten sinken. "Ihr seid alle miteinander so-... so... ich hab mir die Leute hier so anders vorgestellt." "Ach ja, und wie?" "Dümmer. Ich weiß nicht, wie die das alle machen, aber-... irgendwie verstehen sie." Er hob den Blick und sah Fye bewegungslos an. "Ebenso wie du." Der junge Mann lächelte ein wenig. "Hast du gestern nacht nicht gesagt, du seist kaputt? Vielleicht verstehen wir nur, weil wir ebenso kaputt sind." Kurogane musterte seinen neuen Weggefährten misstrauisch. "Ach ja? Und was hat euch kaputt gemacht?" "Dasselbe, das dich kaputt gemacht hat, Kurogane." Schon wieder dieser Ausdruck in seinen glasblauen Augen. Ich verstehe dich, denn meine Seele ist ebenso hässlich wie deine. Kurogane spürte, wie sich seine Kehle zusammenkrampfte. "Und wieso, bitteschön, wollt ihr mir alle helfen?" "Das ist das Gute an diesem Viertel, glaube ich. Hier leben keine großen Geister. Jeder hat Zeit für den anderen. Und vor allem musst du dich hier nicht schämen, wenn du bereits was auf dem Kerbholz hast, denn hier gibt es keinen einzigen Heiligen. Mister und Missis Robinson zum Beispiel sind Kriegsflüchtlinge. Claire Leeds- du weißt ja, das Mädchen von gestern- hat bereits eine Fehlgeburt hinter sich. Sakura-chan und Shaolan verstecken sich hier vor ihren Eltern, weil sie einfach in Ruhe gelassen werden wollen." Na hervorragend. Ein Viertel voller Krimineller. "... Und deswegen versucht hier jeder noch einmal einen Neustart, und jeder hilft jedem dabei, denn er weiß, dass er nicht unschuldiger, besser oder wertvoller als der andere ist. Hier glaubt man an die zweite Chance." Kurogane sah sein jüngeres Gegenüber ruhig an. "Und du?", fragte er, "Glaubst du an die zweite Chance?" "Tja", sagte Fye leise und streifte seinen Mitbewohner mit einem weichen Seitenblick, "Seit kurzem schon." Der Schwarzhaarige schluckte schwer. Sein Herz flatterte wie ein verletzter Vogel, und er hörte irritiert das Blut in seinen Ohren rauschen, als der Jüngere auf ihn zukam und ihm die Hände auf die Schultern legte. Komisch. Seine Hände sind ganz warm, obwohl er vorhin noch so--... "T-tut mir leid, das von eben", presste er schnell hervor und wandte hastig den Blick ab. Er blinzelte irritiert, als er statt einer Antwort plötzlich einen Zeigefinger des Blondlings auf seinem Nasenbein spürte. "Vor langer Zeit kannte ich mal jemanden ", sagte Fye leise, "Und wir hatten einander sehr gern. Immer, wenn wir traurig waren, haben wir uns gesagt: 'Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist.' Damals hab ich das für leeren Optimismus gehalten." "Und heute?" "Heute denke ich, sie hatte Recht. Was auch passiert, halte die Nase in den Wind und lächle! Das hat sie mir immer gesagt." "Sie? War es ein Mädchen?" "Ja. Sie hieß Chi." "Wo ist sie jetzt?" "Sie ist tot." Schweigen. Schweigend beobachtete Kurogane die Mimik seines jüngeren Gegenübers. Fixierte mit wortloser Aufmerksamkeit, wie dieses kleine Schmunzeln für den Bruchteil eines einzigen Augenblicks leicht bebte. Ein Augenblick, in dem der Teich dieser eisblauen Iriden von einem Zittern erfüllt wurde, und der Schmerz aus ihnen emportauchte wie eine Perle- eine Perle, die weiß und unberührt war, aber gleichzeitig mit ihrem stechenden Schein in den Augen schmerzte. Ein Schein, der alles in das Nichts auflöste. Die Gesetze der Zeit galten nicht mehr. Ein Lidschlag wurde zu einer Ewigkeit. Auf einmal fanden sich Fyes Fingerspitzen in Kuroganes Nackenhaar wieder. Dieser zuckte zusammen. "Bemitleidest du mich jetzt, Kuro-chan?", fragte der Blondling leise, er flüsterte es beinahe, "Bin ich bemitleidenswert?" Der Schwarzhaarige schluckte. Sie kribbelten, diese schmalgliedrigen Finger in seinem Nacken. Kitzelten. Wärmten. "Nein", erwiderte er mit kaum hörbarer Stimme, "Kein Leben sollte auf diese Weise beurteilt werden." "Hat man deins auf diese Weise beurteilt?" "... Früher. Aber deins wohl auch?" Die Finger seines Mitbewohners verkrampften sich auf diese Frage, und das war Kurogane Hinweis genug. "Deins also auch." Fye schmunzelte ein wenig und nahm seine Hände von den Schultern seines Mitbewohners. "Ich glaube, wenn ich dich nicht so mögen würde, würde ich dich hassen." Kurogane merkte auf und hob irritiert den Blick. "Wie--...?" Die Antwort jedoch sollte wohl nie kommen, denn just in diesem Moment erklang vom Flur her ein lautes Johlen und Türklopfen. "OY!! Fye-san, Kurogane-san!!" Wie auf Knopfdruck wirbelte Fye fröhlich herum. "Jahaaaa?? Sakura-chan, Shaolan, seid ihr's?" "Wer sonst, Mann? Mach uns auf, Mann, wir haben was bombiges fürs Abendessen besorgt!" "He, verdammt! Ich will gefälligst 'ne Antwort!", äußerte sich Kurogane empört, als der Blondling in den Flur abrauschte. "Papperlapapp! Du bist doch ein heller Kopf?", kam es wohlgemut trällernd zurück, "Das Abendessen geht vor!" "Aber--" "Keine Widerrede! Denk daran, was Eishaki-san gesagt hat! Wir sind ihm was schuldig! Morgen hauen wir rein!" "Aber--" "Sei doch so gut und deck schon mal den Tiiiihiiiiiiiiiisch!" "ARGH!!!" Wütend haute der Killer mit der flachen Hand auf den Tisch. Nichts zu machen. Einfach nichts zu machen. Er stieß ein lang gezogenes Ächzen aus, während im Eingang bereits fröhliche Stimmen und Gelächter laut wurden. Wieso gibt mir dieser Kerl nur so viele Rätsel auf? Ein langes Schweigen verging, bevor er sich schließlich erhob und das Besteck suchen ging. Das Abendessen geht vor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)