Chrysalis Soul von -Soul_Diver- (Oder: Was passiert, wenn sich vier Verzweifelte begegnen... [NEUES KAPPI IS DA! http://animexx.onlinewelten.com/weblog/benutzer.php?weblog=166198#eintrag321219]) ================================================================================ Kapitel 2: Lettre À Paris ------------------------- -"Das äußere Hören darf nicht weiter eindringen als bis zum Ohr; der Verstand darf kein Sonderdasein führen wollen, so wird die Seele leer und vermag die Welt in sich aufzunehmen."- (Dschuang Dsi) ~~ Freitagnachmittag. Draußen schneite es. In Millionen und Abermillionen rieselten kleine, feinpudrig fallende Schneeflöckchen sanft und lautlos vom taubengrauen Himmel und bedeckten alles und jeden wie eine ebenso seidenweiche wie eiskalte Federdecke. Eine kalte, milchig helle Wintersonne versteckte sich hinter der Schneewolkenwand, die die dünnen Sonnenstrahlen abzufangen schien wie die Maschen eines grob gestrickten grauen Pullovers. Draußen auf der Straße hatten die Mülleimer, Straßenlaternen und Hausdächer allesamt hohe weiße Hauben auf. Eine wunderbare winterliche Stadtidylle. Fast schon ein wenig kitschig. Nur weiß, weiß, weiß und vielleicht auch ein bisschen grau. Grau wie der Teppich unter seinem Rücken. "Sapperdibix", murmelte Fye gedankenverloren zu sich selbst, "Hab ich vielleicht schön geträumt." Mit halbgeschlossenen Augen starrte er in die Luft. Alles um ihn herum war angenehm verschwommen, undeutlich, als würde er in einem riesigen Cocktailglas tauchen und durch die dünnen Glaswände nach draußen gucken. Aber wenn er schon mal in einem Cocktail tauchte, musste es ein Caipirinha sein. Mit Limetten. Und blauen Elefäntchen auf dem Trinkhalm. Hui-ii-iii. Und wie schön er geträumt hatte. Er war auf Urlaub gewesen. In Paris. In einer schönen Wohnung mit Blick auf den Eiffelturm. An der Seine. Zum Träumen. Und Spaßhaben. Baguette und Petit Suisse. Wie wunderschön. Fragte sich nur, ob das richtig war. Fye richtete sich stöhnend auf. Sein ganzer Körper schmerzte und war steif wie ein Brett. Naja. Allerdings seine Schuld, wenn er auf dem Fußboden schlief. Sein Anrufbeantworter blinkte. "Wenn du schon mal zu faul warst, um zur Frühschicht deinen Arsch aus dem Bett zu schwingen, übernimmst du die am Nachmittag! Wenn du nicht pünktlich bist, kill ich dich!" Der Blondling seufzte. Dann machte er sich wohl besser auf den Weg. Shaolan würde auch erst gegen Abend wieder zurückkommen, wenn überhaupt. Er hatte in letzter Zeit wieder gehörige Probleme. Missmutig taperte Fye in den Hausflur und zog sich um. Na, das konnte ja lustig werden. "HATSCHIIII!!!" Das Niesen zerriss die Stille wie eine plötzliche Explosion. Ein Geräusch ertönte, das mehr nach einem Trompetenstoß klang als nach Naseputzen. Unter höchst eindrucksvoller akustischer Begleitung schneuzte sich Kurogane in ein hastig hervorgewühltes Tempo-Taschentuch. Just jenes hatte unter diesem Einfluss gehörig zu leiden, wobei "Einfluss" hier wörtlich zu nehmen war. Verdammt nochmal, hatte er sich jetzt auch noch erkältet? Was war bloß mit ihm los? Das letzte Mal war er vor einem Dreivierteljahr krank gewesen, und da hatte er nur simuliert, um nicht zur Osterfeier mit seinen Kollegen fahren zu müssen. Wahrscheinlich war das eh nur das übliche geschmacklose Herumgeplänkel gewesen- schlechtes Essen, noch schlechterer Wein, schmierige Arbeitsgenossen und unerträglich aufdringliche Nutten, die immer wie bei einer Invasion von allen Seiten kamen, wenn er den Raum betrat. Heute Morgen hatte schon wieder eine an seiner Tür geklingelt. Wasserstoffblond mit einem geradezu ekelhaft unecht aussehenden Pelzmantel. Er hatte ihr nur von seinem Wohnzimmerfenster aus sein Katana gezeigt und mithilfe einer Reihe äußerst eindrucksvoller Pantomimen vorgeführt, was er ihr mit diesem Katana zufügen konnte, worauf sie aus verständlichen Gründen sofort das Weite gesucht hatte. Heulte sich jetzt vermutlich bei O'Connor aus. Kopfschüttelnd warf der schwarzhaarige Killer sein gebrauchtes Tempo-Taschentuch achtlos auf den Asphalt und und beförderte es mit einem Fußkick einige Meter weiter weg, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem zuwandte, wegen dem er schon den ganzen Morgen und jetzt auch den halben Nachmittag hier herumstand wie festgewachsen. Mr. Dimitry Navras hatte sich soeben seinen dritten Espresso mit einem Tütchen Zucker bestellt. Mann, trank diese fossile Brillenschlange denn gar nichts anderes, wenn er seinen knochigen Arsch schon mal hierher schob? Man konnte meinen, er wäre vollends abhängig von dem schwarzen Teufelszeug und würde sonst nervöse Zuckungen zweiten Grades und Wahnvorstellungen bekommen wie all die Psycho-Junkies aus Hollywood. "Oh, lieber Herr Doktor!", hörte Kurogane den Alten zu einem imaginären Psychiater sagen, "Ich habe viel zu viel Espresso getrunken, und weil so missgestaltete alte Säcke wie ich das generell nicht vertragen, sehe ich schon die ganze Zeit unzählige wilde, purpurrote Leoparden, die dort hinter Ihrem Sessel lauern. Wenn sie nicht auf der Stelle von da verschwinden, bringe ich mich um!" Tss, dieser Arschkopf... wobei, wenn der sich wegen den Folgeerscheinungen von exzessivem Espresso-Genuss umbringen würde, hätte er selbst wenigstens nicht mehr ganz so viel Arbeit. Der Schwarzhaarige bezweifelte jedoch, dass der Gewerkschaftsvorsitzende unter Wahnvorstellungen litt, in denen purpurrote Leoparden vorkamen. Mit einem bodenlosen Seufzer mummte sich der Auftragskiller ein wenig fester in seinen schwarzen Wintermantel. Scheiße, war das kalt. Und es schneite schon seit mehreren Stunden. Gottseidank stand er unter einem Dachvorsprung, sonst würde er mittlerweile wohl mehr einem depressiven Schneemann als einem Menschen ähneln. Er atmete mehrmals tief ein und aus und trat dabei von einem Fuß auf den anderen, wobei er sein Opfer jedoch nicht aus den Augen ließ. Diese verkalkte Schnepfe von gestern war auch wieder da. Beim näheren Betrachten wirkten ihre Haare irgendwie wie angeklebt. Vielleicht trug sie ja eine Perücke. Plötzlich verspürte Kurogane den seltsamen Drang hinzurennen, ihr den roten Wisch vom Kopf zu reißen und ihr ihn in den Mund zu stopfen- doch bei dem Gedanken, was unter jenem Wisch zum Vorschein kommen könnte, beherrschte er sich lieber und konzentrierte sich auf den brillentragenden Koffein-Junkie Navras neben ihr. Dieser wurde gerade von einer Kellnerin angesprochen. Er verschränkte die Arme, während er sich zu ihr umdrehte. In Kuroganes zinnoberfarbenen Augen funkelte es lauernd auf. Brustkorb, linke unterste Rippe. Wenn er ihn da hintraf, würde es wohl am leichtesten gehen. Ein Hieb unter die Rippen tötete generell schnell, es würde nur sehr viel Blut geben, weil so ein Manöver stets sehr nah ans Herz führte. Doch wer kümmerte sich schon ums Blut? Es ging um Prinzip. Von ihm aus konnte der Alte bluten, bis man damit ein Freibad versorgen konnte. Und außerdem war es doch eh immer nur um den Aspekt des Aus-Dem-Weg-Schaf---.... "WUUUUAAAAHHHH!!" Plötzlich fanden die Mordfantasien des Killers innerhalb weniger Sekunden ihren Abbruch. Irgendein zerzaustes, langbeiniges Etwas tauchte plötzlich am anderen Ende der Straße auf. Hals über Kopf rauschte es, von einem ohrenbetäubenden Gejohl begleitet, quer über den Bürgersteig und platschte ihm wie ein frisch erlegter Weißbarsch zielgenau vor die blankgeputzten Schuhe. Kurogane fuhr zusammen wie von einem Elektroschock getroffen, und wich hastig vor diesem unbekannten Jemand zurück, wobei er ein Gesicht machte, als hätte er gerade Michael Jackson, das Jesuskind und Al Pacino im Dreierpack auf einem Staubsauger vorbeifliegen sehen. Was in Dreiteufelsnamen--?!! Ein äußerst unangenehmes Schweigen verging, bis sich das blonde, zerrupft wirkende Etwas mit einem munteren "Sapperdibix, schon wieder hingefallen!" wieder vom Boden hochrappelte und dem Killer mit einem breiten Grinsen ins Gesicht sah. "Hallollolööööchen!!" Ein irritierter Blick war die einzige Antwort. Im ersten Moment wusste Kurogane gar nicht, wen er hier vor sich hatte. Bis es ihm plötzlich wieder einfiel und es ihm augenblicklich schwarz vor Augen wurde. Nein. NEIN, BITTE NICHT DER!! "Hey, waren Sie gestern nicht schon mal hier?", fragte jenes blonde Individuum, das da mit blutender Nase vor ihm stand und über beide Ohren hinaufgrinste, sodass es einem schon allein beim Zusehen wehtat. Scheiße! War das nicht dieser unerträgliche Typ, der ihm auch schon gestern so auf die Nüsse gegangen war? Die Antwort ergab sich wie von selbst: ja , er war es eindeutig. Es genügte Kurogane schon, dieses Grinsen zu sehen, und er wusste, wer da vor ihm stand. Offenbar machte es diesem Geistesschwachen nichts aus, dass er hier gerade über die Nase verblutete- er strahlte wie hochprozentiges Polonium. Hirnverqualmtes Arschloch! "Nein, wissen Sie, das war nicht ich, das war mein verschollener Zwillingsbruder von der Insel Tippilulu", giftete der Schwarzhaarige schließlich gereizt und bohrte dem ungebetenen Gast mit einem mörderischen Blick tausend Löcher ins Gesicht. Dieser machte große Augen. "Aber warum wohnt er denn auf der Insel Tippilulu? Will er nicht lieber bei Ihnen wohnen? Oder lebt er lieber im Süden? Ist die Insel Tippilulu denn im Süden? Schneit es dort auch? Und wie ist dort so das--" "Halten Sie die Klappe!" "Ja, aber, ich--" "Klappe halten!" "Aber Ihr Zwillingsbruder--" "Ich sagte doch, Sie sollten die Klappe halten!" "Und ich dachte noch, die Insel Tippilulu wäre--" "KLAPPE HALTEN!! Das war nur ein Witz, verdammt nochmal!!" Ein erstaunter Blick aus dem Paar hell glasblauer Augen, doch das Lächeln wackelte keine Sekunde. Auf Kuroganes markanten Gesichtszügen hingegen waren bereits sämtliche Zornesadern am Pochen. Bei allen tausend Warzen des Satans, was wollte dieses unerträgliche blonde Etwas bloß? "Ehm-- sind Sie mir böse wegen gerade eben?" "Tsss." "Es tut mir leid, ehrlich!", beteuerte der Blondling sofort, als würde er das undefinierbare Brummen seines Gegenübers als ein "ja" interpretieren. "Ich wollte Sie nicht erschrecken oder so! Wissen Sie, ich falle öfter einfach so schepper-didepper hin, wenn ich in der Stadt bin, das ist normal bei mir--" "Laufen müsste man schon können, was?", knurrte der Killer abfällig und starrte hartnäckig woanders hin. Der Blonde lächelte immer noch. "Sie haben Recht! Die Straßen sind ja total glatt zurzeit! Da kann ich Ihnen ein Liedchen singen, das können Sie mir glau--" "Sind Sie eigentlich taub?! Halten Sie endlich die Omme, verdammt nochmal!" Zwei Sekunden verwundertes Schweigen, dann ein albernes Kichern. "Omme? Woher haben Sie denn dieses Wort?" "Von den Franzacken." "Von den Franzacken? Aus Paris?" Wieder Schweigen. Der fremde Blondling kratzte sich überrascht an seinem gülden beschopften Kopf und sah Kurogane offenbar nachdenklich für einige Sekunden an, bevor er schließlich in die Hände klatschte. "Wissen Sie was, ich habe eine Idee!" "Um Gotteswillen, verschonen Sie mich." "Es wird Ihnen aber ganz sicher gefallen! Sehen Sie, es schneit schon den ganzen Morgen über. Wie wäre es, wenn ich Ihnen einen Kaffee rausbringe? Sie sind ja ganz durchgefroren und zugeschneit von oben bis unten!" "Nein, tatsächlich? Bis jetzt dachte ich, ich wäre im Sonnenstudio." Wieder dieses bescheuerte Kichern. "Stimmt, Sie sind auch so schön braun!" "MAUL HALTEN!!" "Wird kaum möglich sein. Also, wollen Sie jetzt einen Kaffee oder nicht? Ich kenne da ein Geheimrezept!" "Nein." "Wirklich nicht?" Ein entnervtes Seufzen. "Wieso sollte ich Ihr bescheuertes Gesöff trinken?" Der spindeldürre Lehrling lächelte, wobei in seinen glasblauen Augen ein leichter Schalk auffunkelte. "Erinnern Sie sich, was Sie gestern zu mir gesagt haben?" "Häh?" Bedeutungsvoll hielt ihm sein jüngeres Gegenüber einen ausgestreckten Zeigefinger unter die Nase. "Sie haben gestern gesagt: "Die ganze verdammte Welt ist nicht nett". Wissen Sie noch? Aber ich glaube nicht, dass es so ist. Ich möchte gerne ganz viel Nettes tun!" "Ist ja hochinteressant", seufzte Kurogane gelangweilt, "Und wie kommen Sie dazu?" "Ach, einfach so. Ich kann nämlich total nett sein, wissen Sie." Der Schwarzhaarige sah ihn an, als ob er irgendein Insekt wäre, dass er am liebsten zwischen seinen Fingern zu Mus zerquetscht hätte. "Was für den einen "nett" ist, kann für den anderen wieder was ganz anderes sein." "Echt, meinen Sie? Zum Beispiel?" "Zum Beispiel nervtötend. Oder einfach überflüssig. Oder hirnrissig." Mit einem weiteren Lächeln sah der Konditorlehrling zum Himmel hoch, an dem immer noch schwere graue Schneewolken hingen. Entweder nahm er den Tonfall seines gereizten Gegenübers- den man wohl nur noch mit Glasscherben in einem Eiskübel vergleichen konnte- gar nicht wahr, oder er ignorierte ihn gekonnt. "Wenn der andere das für nervtötend oder überflüssig oder hirnrissig hält, was ich ihm Nettes tun will- dann weiß er entweder nicht richtig Bescheid, was ich vorhabe, oder er interpretiert es falsch. Eine Bewertung, bevor man wirklich weiß, was los ist. Das nennt man Vorurteil, glaube ich." Irritiert starrte der Killer den jungen Mann vor sich an. Immer noch klebte ihm getrocknetes Blut unter der Nase, aber er lächelte zuvorkommend wie ein Butler, der sich gerade erkundigte, ob der gnädige Herr vielleicht noch ein Glas Port wünsche. Seltsamerweise fiel ihm beim besten Willen keine Antwort ein. Blieb nur noch die Standard-Lösung. "Ach, Sie können mich doch mal." "Besser nicht. Ich bin kein sexy Bad Boy." "WAS?!!" Der Blonde lachte. "War doch nur ein kleiner Scherz. Warten Sie, okay? Dauert keine Minute!" Fröhlich hüpfte er die Stufen zur Eingang der Konditorei hoch, an der Kurogane bis jetzt gestanden hatte, fummelte einen altertümlich wirkenden Schlüssel aus den Taschen seines hellen Wintermantels hervor und schloss die Tür mit einem Knirschen auf. "HEY!! HALT!! Warten Sie, verdammt nochmal, ich scheiß auf Ihren Kaffee!" "Jajaja, aber sicher!", trällerte es fröhlich zurück. Der Killer stieß in Gedanken einen unflätigen Fluch aus. Na wunderbar. Jetzt hatte er für den Rest des Nachmittags diesen nervötenden blonden Wischmopp am Hals. Da half entweder nur ignorieren oder totschlagen. Aus Gründen der Diskretion tendierte Kurogane eher zu ersterem. Wenigstens fehlten ihm nicht mehr viele Informationen, die er brauchte, um Navras sauber kaltzumachen. Dieser trank gerade seinen vierten Espresso. Die verkalkte Schnepfe rückte ihre Perücke zurecht. "Hey, wollen Sie Zucker in Ihren Kaffee oder nicht?" Der Schwarzhaarige erschrak halb zu Tode, als sich der schlaksige Blondling plötzlich unvermutet aus dem Fenster neben seinem Kopf lehnte. "WAHH!!" "Oh je, hab ich Sie wieder erschreckt? Das wollte ich nicht, ehrlich!" "LECKEN SIE MICH!!" Der Blondling kicherte kokett. "Sie schmeicheln mir, aber ich bin wie gesagt nicht besonders sexy." "Himmel, Arsch und Zwirn, das meinte ich doch gar nicht!!" "Dann vielleicht den Knacker von gestern? Haben Sie den etwa schon wieder abgeschrieben? Er sah doch ganz schick aus! So unglaublich attraktive Falten, so eine sexy Warzennase... und dann diese heiße Hornbrille! Also echt!" "DAS AUCH NICHT!!" "Was meinten Sie dann?" "Dass-- dass ich-- ach, vergessen Sie's doch, Sie hirntoter Körperträger." "Ich weiß, was Sie meinen. Kaffee ist übrigens gleich fertig." Wenige Minuten später kam der Blondling auch schon wieder nach draußen getrippelt, mit zwei großen Pappbechern dampfend heißem Kaffee in den Händen. "Vorsichtig trinken, er ist noch heiß!", ermahnte er sein schwarzhaariges Gegenüber und drückte ihm einen Becher in die Hand. Kurogane bekam nicht schlechte Lust, ihm das Teufelszeug einfach über den Kopf zu schütten. Dennoch nahm er es- denn, hey, wenn man schon mal etwas umsonst bekam, sollte man zugreifen, solange es gratis war. Kritisch beäugte der Killer das hellbraune Gesöff in dem Becher. Der Blondling, der seinem Blick gefolgt war, grinste breit. "Keine Angst. Es ist nur Cappuccino-Puder, ein wenig Kaffeepulver, Schokoflocken, Milch, Zucker und Wasser drin. Ich nenne ihn "Papa D.'s Aufsteh-Kaffee"!" Kurogane beäugte sein jüngeres Gegenüber nur, als ob dieser eine aufrecht gehende Kakerlake wäre. "Ja?" "Jaha!" Ein Schweigen machte sich breit. Die beiden Männer standen wortlos nebeneinander und tranken ihren Kaffee. Während Kurogane das- wie fast alles andere- völlig lautlos absolvierte, veranstaltete Fye ein eifriges Schlürfen, Schmatzen und Prusten, und schaffte es dabei innerhalb weniger Sekunden, sich einen prächtigen Schnauzbart aus Milchschaum zuzulegen. "Jamm!" "Sagen Sie, müssen Sie mir sogar beim Trinken auf den Geist gehen?!" "Wie? Oh, 'tschuldigung. Ist so 'ne Angewohnheit von mir. Wissen Sie, mein Chef liegt gerade betrunken im Hinterzimmer, da kann ich es mir auch mal leisten, einen Morgenkaffee zu trinken. Kommt öfter vor." "Ah." Mittlerweile so gut wie völlig am Ende seiner Nerven verzog der Schwarzhaarige seine Augenbrauen. Mann, wär ich heute Morgen nur daheim geblieben. "Echt? Warum denn?" Überrumpelt fuhr Kurogane zusammen. Scheiße. Anscheinend hatte er nicht nur in Gedanken Selbstgespräche geführt. "Dreimal dürfen Sie raten, elende Nervensäge." "Hmm", meinte der Blondling mit einem Lächeln, "Gehen Sie denn nicht gerne außer Haus?" "Geht Sie 'nen Dreck an." "Na, wenn Sie das sagen. Ich zum Beispiel würde gerne mal in Frankreich Urlaub machen, in Paris oder so." "Schreiben Sie den Franzacken doch einen Brief. Hier wird Sie niemand vermissen." "Kann sein. Aber denken Sie, das wäre richtig?" "Häh?!" Der Konditorlehrling drehte den Kopf ein wenig und lächelte seinen unfreiwilligen Gesprächspartner von der Seite her an. "Na, dass ich einfach wegfahre und alles zurücklasse." Oh nein. Kein Psychogequatsche jetzt. "Wär das nicht die beste Lösung?", knurrte er schließlich, um überhaupt etwas zu antworten. "Einfach weggehen, meinen Sie? Guadeloupe wäre auch nicht schlecht. Träumen und Spaßhaben. Mögen Sie das auch?" "Ich mag es, lästige Idioten eiskalt umzulegen." "Ehrlich? Naja, jeder braucht sein Hobby. Kann man jemanden eigentlich auch 'brandheiß' umlegen?" "Was soll denn der Quatsch?!!" "Na, weil Sie gerade gesagt haben 'eiskalt' umlegen. Wie geht eiskalt?" "Liegt das nicht auf der Hand? Unauffällig und ohne Gnade, zum Teufel!" "Wäre dann jemanden 'brandheiß umlegen' auffällig und mit Gnade?" "Sie sind reif für die Klapse." "Stimmt. Ich habe nur Angst, dass das unverantwortlich sein könnte. Wegfahren meine ich. Mein Vergnügen meinen Freunden vorzuziehen. Oder meinen Pflichten." Kurogane seufzte. "Verdammt nochmal, wir leben hier in einem freien Land. Wenn Sie träumen wollen, dann träumen Sie eben. Wenn Sie Spaß haben wollen, dann haben Sie eben Spaß! Niemand hat das Recht, Ihnen dreinzureden, kapiert?" Der Blondling sah ihn aus großen, hellblauen Augen verwundert an. Plötzlich sahen diese aufdringlichen Glotzer wie Glas aus. "Was haben Sie denn jetzt schon wieder?" "Ach...", meinte der Lehrling nur und starrte geistesabwesend auf den Boden, "Sie erinnern mich gerade an jemanden, den ich mal kannte." Dann lächelte er wieder. "Aber meinen Sie denn nicht, das, was mir Spaß macht, könnte anderen Unglück bereiten?" Kurogane zuckte die Achseln. "Kommt drauf an. Verstehen Sie unter Spaß Menschen töten oder foltern?" "Nein. Und Sie?" Diese direkte Frage irritierte den Killer ein wenig, und er musste sich beherrschen, damit er nicht einfach 'ja' sagte. Geringschätzig starrte er den blonden Hilfswicht an, wie er weiter seinen Kaffee schlürfte und zum Zeitvertreib Navras im Jardin D'Hiver ein wenig aufs Korn nahm. Was war das bloß für ein Absonderling, der da neben ihm stand? Kurogane hatte in seinem Leben schon einige Bekloppte getroffen, aber der hier knackte den Highscore eindeutig. "Ihr Knacker dort drüben-- Sie haben gesagt, Sie wollen Ihn töten. Wann, wenn ich fragen darf?" "Heute nacht", gab der Schwarzhaarige eiskalt zurück. Für Diskretion fehlten ihm momentan einfach die Nerven. "Oh. Dann gutes Gelingen." Der Blondling drehte seinen Kopf und lächelte sein Gegenüber fröhlich an. Bis plötzlich ein heiserer Brüller aus dem Inneren der Konditorei hinter ihnen ertönte. "BILL!!" "Schon zur Stelle, Chef! Ich hab nur draußen gefegt!", tönte der Lehrling automatisch zurück. Dann sah er Kurogane verschmitzt an. "Tja. Mein Chef ist aus dem Suff aufgewacht, ich muss dann mal. Hat Ihnen mein Kaffee geschmeckt?" "Zum Kotzen." "Gerngeschehen!" Der Hilfswicht wollte sich schon umdrehen und in den Laden zurücklaufen, als ihm plötzlich noch etwas einzufallen schien und er abrupt stehenblieb, als wäre er geradewegs gegen ein Stoppschild gerannt. "Ach-- bevor ich's vergesse... danke für gerade eben." "Häh?" "Na, für das Gespräch! War gut. Ich bin schon versucht zu sagen, es war 'nett', hm?", meinte der Blondling mit einem augenzwinkernden Lächeln. "Und viel Spaß heute nacht. Tschauiiiii!" "Jaja, hauen Sie schon ab." Und das war es, was der Lehrling tat. Fröhlich hopste er die Stufen hoch und zog die Tür der Konditorei hinter sich zu. Herablassend starrte Kurogane ihm nach. Ein Verrückter, der von brandheißen Morden, Frankreich, Verantwortung und Träumen schwätzte. Eindeutig nicht mehr zu retten. Sie haben sich geirrt, Delauney. Ich bin nicht der einzige hoffnungslose Fall hier in Kingstonville. Wie hatte sein Chef ihn genannt? Bill? Seltsam. Man konnte meinen, dieser Bill hatte nichts besseres zu tun, als über Dinge wie Träume oder Verantwortung nachzudenken. Und dann dieser komische Ausdruck in seinen Augen. Man sah es Kurogane vielleicht nicht an, aber wenn man einen Beruf wie seinen länger ausübte, erwarb man eine gewisse Menschenkenntnis, oder besser gesagt: ein Gespür dafür, die Menschen einzuschätzen. Und immer noch hatte er den Verdacht, diesen flapsigen Kerl vor längerer Zeit irgendwo schon mal gesehen zu haben. Aber wo... ? Und unter welchen Umständen? Naja. Auch egal. Ging ihn ja nichts an. Dann würde er eben auch heute abend wieder einen über den Durst trinken, um diese Scheißgeschichte schnell zu vergessen. Schon wesentlich beruhigter wandte sich Kurogane wieder seinem Opfer zu, das gerade seinen fünften Espresso bestellte. Lange hast du nicht mehr zu leben, Navras. Heute abend würde es soweit sein. Kurogane dachte an sein Katana, das griffbereit wie stets neben seinem Wohnzimmerfenster lehnte. Sein Herzschlag beschleunigte sich automatisch. Nicht mehr lange... Zweiundzwanzig Uhr neununddreißig am Abend. Draußen stand eine bleiche Mondsichel am nachtschwarzen Himmel und tauchte die Welt unter sich in gespenstisches, seltsam unwirklich wirkendes Licht. Es verlieh dem Schnee, der immer noch dicht und hoch auf den Zweigen der Bäume, den Fenstern, Dächern und Straßen lag, einen kalten Glanz und ließ jede lautlos durch das Industrieviertel von Kingstonville eilende Gestalt zu einer schattigen Silhouette zusammenschmelzen. In den wenigen Häusern, die hier und dort zwischen all den Fabrik- und Konzerngebäuden eingezwängt standen und etwa so sehr ins Bild passten wie eine römische Villa auf eine Müllhalde, brannte kaum mehr Licht. Die meisten Gutbürger lagen längst friedlich in ihren Bettchen und träumten von Reichtum, willigen Geschlechtspartnern oder am Galgen zappelnden Vorgesetzten. Was für eine wunderbare Großstadtidylle. So echt wie falsches Geld. Missmutig stopfte sich Dimitry Navras einen Diät-Vollkorn-Mandelkeks in den Mund, bevor er sich unter akrobatischen Verrenkungen aus seinem lausgrauen Jackett schälte. Ein wenig erweckte es den Eindruck, als würde sich eine Banane aus ihrer Schale freikämpfen wollen, doch dem Gewerkschaftsvorsitzenden war dieser Fakt im Moment herzlich egal. Unter einer Reihe unterschwelliger Seufzer hängte der Endvierziger sein Jackett an den ersten Haken, der ihm über den Weg lief, bevor er schließlich unschlüssig in sein Wohnzimmer taperte und sich auf seinen zwar nicht zum restlichen Raum passenden, aber wunderbar bequemen Diwan sinken ließ. Unter einer weiteren Serie von missgelaunten Ächzern rieb sich der ebenso missgelaunte Oldie die krumme Adlernase, um sich ein wenig zu beruhigen. Vor allem jedoch, um zu räsonieren. Na wunderbar. Der Abend war mal wieder aufs Hervorragendste verdorben. War es eigentlich das Basis-Schicksal eines erfolgreichen Gewerkschaftsvorsitzenden, dass er im ewigen Clinch mit seiner Ehefrau lag-das hieß, sofern er denn eine hatte? Einfach kaum zu glauben. In seinem Konzern schien er der einzige mit solchen Privatproblemen zu sein. Oder seine Kollegen redeten einfach nicht drüber, das war auch eine reelle Möglichkeit- denn immer, wenn er das Gesprächsthema in diese Richtung lenkte, starrten ihn seine Arbeitsgenossen an, als ob er gerade behauptet hätte, dass er der neue Messias und der neue Elvis Presley in einer Person sei. Tolle Kombination. Gedankenverloren kratzte Navras seine faltige Stirn und suchte derweil mit den Augen nach der Fernbedienung. Als er heute von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte er sich zunächst gar nicht getraut, über die Schwelle zu treten. Im ersten Moment hatte er geglaubt, dass ein just aus dem Mittelalter herbeigehopster Hausdrache dort im Türrahmen stand, bewaffnet mit einem Nudelwalker und kampfbereit bis in die Spitzen der Fingerspitzen. Er hätte mit der Yamazawa was verbrochen, so ein Unsinn! Er hatte sofort beim Augenlicht seiner Großmutter geschworen, dass er bezüglich Nobuhiko-San nie Hintergedanken gehegt hatte. Zwar glatt gelogen, doch besser, als in einem Küchengerät-Attentat ums Leben zu kommen. Doch das liebe Schicksal hatte wohl gewollt, dass er auf die Schnauze flog. Kaum, dass er sich wenige Minuten nach der offiziellen Versöhnung seinen rotgelb karierten Pullunder über den Kopf gezogen hatte, war ein Zettel aus der Brusttasche seines Polohemds gefallen. Der Zettel, der ihn geradewegs in die Scheiße geritten hatte. "Dimitry, du hast da was fallen gelassen. Warte, ich heb's dir auf." Der Gewerkschaftsvorsitzende hatte nur mit hängenden Armen und offenstehendem Mund zusehen können, wie seine Frau Gemahlin den Zettel aufgehoben und ihn selbstverständlich auch gelesen hatte. Nur ein einziges, nicht gerade stubenreines Wort war ihm in jenem Moment in fett gedruckten Buchstaben durch sein Hirn gewandert. F-U-C-K. Er hatte förmlich beobachten können, wie in den Augen seiner Frau erst Überraschung, dann Verwirrung und zum Schluss Wut aufflammte. Hey, Mr.Navras ;-)... ich erwarte Sie heute abend bei mir. Meine Adresse kennen Sie ja, nicht? Ach, und... vergessen Sie die Flasche Armagnac nicht... Mfg: N.Y. ;-)) Um es kurz zu machen: viel war nicht mehr passiert. Eine versuchte Erklärung, dass es sich nur um ein harmloses Geschäftstreffen gehandelt hatte und nicht etwa um ein Rendezvous, als Antwort genau eine Ohrfeige pro Wange und dann der furiose Abgang mit dem Versprechen, schon am nächsten Morgen die Scheidungspapiere an sein Postfach zu schicken. "Gertrud! WARTE!! Was wäre, wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte?!" , hatte er ihr noch nachgeschrien. "Ich würde einen Freudentanz aufführen und dann sofort neu heiraten, Flachwichser!" , war es zurückgekommen. Dann nur noch eine zuschlagende Taxitür und quietschende Reifen. Wie gesagt- ein typischer Tag im Leben eines Gewerkschaftsvorsitzenden. Dann würde er sich halt scheiden lassen. Nur schade, dass Nobuhiko-San tot war. So einen heißen Feger fand man nicht oft. Kopfschüttelnd angelte sich Navras die Fernbedienung und schaltete seinen Plasmafernseher ein. Es liefen gerade Nachrichten. "Die Polizei von Kingstonville ermittelt nach wie vor im Fall Nobuhiko Yamazawa. Dass es sich bei der vierundzwanzigjährigen Geschäftsfrau um eine gewaltsame Todesursache handelt, ist mittlerweile klargestellt. Gerichtsmediziner berichten von einem etwa sieben Zentimeter breiten Einstich in Herzhöhe, hervorgerufen durch einen langen, scharfkantigen Gegenstand, welcher den Herzmuskel und die Aorta zerstörte und die Hauptschlagadern kollabieren ließ. Die Suche nach Hinweisen auf einen etwaigen Mörder vor Ort laufen auch weiterhin. Sachdienliche Hinweise auf verdächtige Vorkommnisse vonseiten der Bevölkerung sind erwünscht. Kommissar Fullright und der Vorsitzende des Dezernats für nationale Sicherheit, Joshua O'Connor, bestätigen, dass--" Mit einem weiteren Seufzen schaltete Navras die Kiste wieder aus. Irgendwie war ihm die Lust aufs Fernsehen vergangen. Man konnte meinen, die ganzen Bullen vom Stadtkommissariat waren nur zum Schickimickimachen am Tatort. Sie hätten doch schon längst irgendeinen Hinweis finden müssen! Entweder waren sie verdammt blöd- oder der Killer verdammt gut. So einem Kerl wollte er nicht nachts auf der Straße begegnen. Womöglich ein desillusionierter Psychopath ohne moralische Wertvorstellungen. Naja, egal. Solange er nicht davon betroffen war, sollte es ihm recht sein. Missmutig entschied sich der Endvierziger schließlich für die angenehmste Variante, zumindest was den Rest des Abends anbelangte: noch etwas essen und dann schlafen gehen. Schließlich wartete morgen eine Menge Arbeit auf ihn. Ächzend erhob sich der Gewerkschaftsvorsitzende von dem Diwan und wollte sich gerade in Bewegung setzen, um zur Küche zu gelangen. Doch plötzlich ging das Licht aus. Erschrocken zuckte der Oldie zusammen, als im ganzen Haus eine Glühbirne nach der anderen entweder aus der Halterung sprang oder durchbrannte. Der Kühlschrank und die Heizungen gaben den Geist auf. Der Anrufbeantworter schaltete sich aus. Navras warf einen stirnrunzelnden Blick Richtung Deckenlampe, deren Draht gerade durchgebrannt war. Was war los, war etwa die Sicherung rausgeflogen? Was würde heute abend denn noch alles passieren? Diese plötzliche Dunkelheit, die sich an allem und jedem festzusaugen schien wie ein fetter, schwarzer Blutegel, verunsicherte ihn. Das einzige Licht, das noch von draußen hereinkam, war das ferne Leuchten des Mondes. Sollte er nachsehen gehen? Oder sollte er lieber bis morgen warten und dann einen Elektriker rufen? Der Sicherungskasten war im Keller. Wenn nicht einmal dort das Licht funktionierte, würde er ja doch eher zu letzterem tendieren. Nichts für ungut, aber er hasste den Keller. Schon seit frühester Kindheit hegte er eine angeborene Abscheu vor kalten, finsteren Orten aller Art. Ein leichtes Geräusch ließ den Endvierziger aus seinen zweifelnden Gedanken aufmerken. Es kam aus dem Hausflur. Klang fast, als würde sich jemand mit einem Schlüssel oder einem anderen metallenen Gegenstand am Türschloss zu schaffen machen. Mit einem triumphierenden Blick überwand Navras das Herzklopfen, das ihn überkommen wollte, und machte sich unverzüglich auf den Weg Richtung Eingang. Aha, Gertrud! Gibst du also doch klein bei! Wer ist denn jetzt der Beharrlichere von uns beiden, hm? Um seinen Sieg vollends auskosten zu können, verharrte er im Türrahmen, halb zwischen Flur und Wohnzimmer. Er wollte den Anblick seiner Ehefrau, wie sie keuchend und reumütig im Eingang erschien und sofort seinen Namen rief, um um Entschuldigung zu bitten, in allen Details auskosten. Ganz schön gehässig, aber die Genugtuung wollte er sich jetzt gönnen. Aufgeregt fixierte er den kleinen Knauf unterhalb der Klinke, der sich langsam hin- und herbewegte und dabei leise knirschte. Na mach schon, wird's bald? Mehrere Minuten vergingen, und mit jeder verstreichenden Sekunde schwand auch Navras' Triumphgefühl. Ihm wurde zusehends unwohler in seiner Haut. Was war denn nun schon wieder los, dass seine Frau so lange zum Aufschließen brauchte? Hatte sie etwa keinen passenden Schlüssel eingesteckt? Unwillkürlich wich der Endvierziger ein wenig nach hinten zurück, sodass er nun um den Türrahmen herumschielen musste, um weiterhin den Eingang erkennen zu können. Von der Tür ertönte gerade ein kaum hörbares Quietschen. Offenbar war der Schlüssel eingerastet. Mit starrem Blick beobachtete Navras, wie sich der Türknauf langsam in die ursprüngliche Position zurückdrehte. Wie in Zeitlupe wurde die Türklinke heruntergedrückt. Wieder wich der Gewerkschaftsvorsitzende zwei Schritte zurück. Mit pochendem Herzen verfolgte er, wie sich die Tür lautlos auftat. Ein massiger, dunkler Schatten kroch über die Fliesen im Flur. Pechschwarz. Lang. Zu lang, um zu seiner Frau gehören zu können. Kaum hörbare Schritte machten sich im Gang breit. Atemzüge. Ein Klirren. "G-... gertrud? Bist du das?", krächzte Navras mit zaghafter Stimme in die Dunkelheit hinein. Seine Worte stürzten wie Steine in die Stille. Der Schatten auf dem Flur zuckte ein wenig und schien für einige Momente zu lauschen. Dann setzte er sich wieder in Bewegung und wandte sich nach rechts. Zur Wohnzimmertür. Automatisch stolperte Navras wieder mehrere Schritte zurück, Richtung Diwan. "Gertrud? Komm schon, Gertrud, hör auf damit. Du weißt genau, dass es mir leidtut!", stammelte er. Der Schatten- beziehungsweise sein Besitzer- antwortete nicht. Langsam und stetig kroch er über den Boden ins Wohnzimmer. Immer näher. Und näher. Und näher... "Hier, halten Sie hier an!" Bremsen quietschten. "Das macht dann fünfundzwanzig Dollar und dreiunddreißig Ce--" Die leicht bieder wirkende Frau mit den mahagonifarbenen Haaren machte sich keine Mühe, den Taxifahrer ausreden zu lassen, sondern riss sofort die Tür auf und spurtete den mit Terracotta-Steinen ausgelegten Weg hoch, der zu dem stattlichen Haus ihres Manns führte. "Zeche geprellt, was?", rief ihr der Taxifahrer beleidigt nach, doch sie hörte es gar nicht. Ein Teil in ihr verstand zwar immer noch nicht, warum sie zu diesem verdammten, untreuen Schwein zurückkehrte- doch der andere Teil wollte sich verrückterweise bei ihm entschuldigen. Es hatte doch jeder mal Hintergedanken, wenn er mit bestimmten Personen zu tun hatte. Außerdem gab man eine zweiundzwanzigjährige Ehe doch nicht einfach auf, verdammt nochmal! Mit bebenden Händen wollte Gertrud Navras bereits ihren Hausschlüssel aus der Tasche ihres Pelzmantels hervorwühlen, während sie mit klappernden Bleistiftabsätzen Richtung Tür spurtete- doch irgendetwas an diesem Bild des nächtlichen Hausfriedens stimmte nicht, das spürte sie sofort, als sie nahe genug gekommen war. Vermutlich weibliche Intuition. Und nach einer Weile sah sie auch, was so fehl am Platze wirkte. Ihr Herz machte einen Satz. Die Eingangstür. Sie stand sperrangelweit offen. Verwirrt blieb die Frau in den Frühvierzigern mitten auf dem Weg stehen. Was sollte das denn? War Dimitry etwa einfach ins Blaue getürmt? Nein, das konnte nicht sein, dazu war er ein viel zu solider Mensch. Die Lichter in der Wohnung waren ebenfalls alle aus. Anscheinend war er schon zu Bett gegangen. Beunruhigt setzte sich Gertrud wieder in Bewegung und trat über die Hausschwelle. Tiefe Finsternis empfing sie, und Grabesstille. Aha. Die übliche Macho-Tour. Der Mann wollte der Frau mit allen möglichen billigen Spezial-Effekten Angst einjagen, um ihr schneller das 'Es tut mir leid, ich tu's auch nie wieder!' zu entlocken. "Dimitry?", rief sie entschlossen, während sie ihre Pömps kurzerhand von den Füßen schleuderte, weil ihr schon seit geraumer Zeit die Fersen von diesen Modedingern schmerzten wie verrückt. "Dimitry, bist du da? Hör zu, ich weiß, ich war ungerecht zu dir-- Dimitry?" Keine Antwort. Zögerlich nahm Gertrud noch einmal die Tür in Augenschein. Ihr Herz setzte für zwei Schläge aus, als sie bemerkte, wie malträtiert der Schlossknauf unterhalb der Klinke aussah. Fast, als wäre sie aufgebrochen worden. Vollends alarmiert machte sich die Frühvierzigerin auf die Suche nach ihrem Mann. "Dimitry? Hallo, Dimitry! Wo bist du?" Weder im Schlafzimmer noch in der Küche wurde sie fündig, auch nicht in Bad oder Toilette. Ratlos sah sie sich in der stockdunklen Wohnung um- bis sie plötzlich ein seltsames Geräusch hörte. Es kam aus dem Wohnzimmer. Plitsch. Plitsch. Plitsch. "Dimitry?", rief sie sofort und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer, "Dimitry, mein Lieber, bist du hier?" Ihr Blick wanderte suchend über alle Winkel des Raumes, bis er schließlich auf eine dunkel glänzende Spur am Boden fiel. Sie schien sich bis ins Unendliche zu ziehen und endete hinter dem Diwan. Ein seltsames Etwas ragte hinter dem golden bestickten Stoff hervor. Es war eine Hand, deren Finger sich jammervoll gen Himmel zu krümmen schienen. Mit einem leisen Aufschrei hastete Gertrud zu dem kunstvollen alten Sofa. Und blickte in Augen ihres Mannes. Ausdruckslos und glasig schienen sie ins Nichts zu starren. Unterhalb der linken Hälfte seines Brustkorbs war ein riesiges Einschlagloch. Immer noch sickerte Blut daraus hervor und tropfte in einem endlosen Rhytmus auf den Boden. Plitsch. Plitsch. Plitsch. Eine grässliche Stille breitete sich aus. Alles wurde leer in Gertrud. Leer, leer, leer. "Gertrud! WARTE!! Was wäre, wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte?!" "Ich würde einen Freudentanz aufführen und dann sofort neu heiraten, Flachwichser!" Der faulige Gestank des geronnenen Blutes fraß sich in ihre Atemwege. Metallisch. Anklagend. Etwas ironischeres und grausameres als das Schicksal würde es niemals geben. Weinend brach Gertrud über ihrem Mann zusammen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)