Haunted von RandomThoughts ================================================================================ Kapitel 1: Haunted ------------------ Dolchartige Krallen glitzerten weiß im Mondlicht. Das harte, kalte Licht spiegelte sich unnatürlich in den unmenschlichen Gesichtern der Wesen, die langsam näher kamen. Judith sah sich verzweifelt nach einem Ausweg um, ruckartig den Kopf nach links und nach rechts reißend. Der Blick vor ihren Augen verschwamm. Alles begann ineinander überzulaufen, die unnatürlichen Formen der fremdartigen Kreaturen, die sich ihr mordlüsternd näherten und die dunklen Schatten der demolierten Zäunen, der graffitibeschmierten Straßenlampen und der bröckelnden Betonwänden. Es gab keinen Ausweg. Keinen Ausweg. Keinen. Ausweg! Judiths Puls kletterte auf über zweihundert. Ihr Herzschlag war das einzige, das sie noch deutlich wahrnahm - ihr Herzschlag und das rote Leuchten in den Augen der Kreaturen in der ansonsten farblosen Welt. Ihre Lungen taten bereits weh. Sie atmete viel zu schnell, viel zu hysterisch. Die Krallen kamen immer näher, helle Flecken zwischen dunkleren Flecken, alles ineinander verschwommen. Das einzig Klare waren die roten Augen der Wesen. Die roten Augen. Die Roten Augen. "Aaaahhhhhhh!" Judiths Schrei hallte durch die Nacht, als sie aus dem Schlaf hoch schreckte. Die Knöchel ihrer Finger waren weiß, so fest krallte sie sich in ihre Bettdecke. Sie atmete heftig und schnell. Ihre Augen blickten starr in das Halbdunkel ihres Zimmers, sahen weder die Stofftiere auf dem Fenster, die vom Mondlicht sanft beleuchtet wurden, noch die Poster an den Wänden. Sie sah gar nichts, war noch immer mit den Bildern aus ihrem Traum beschäftigt. Die roten Augen ließen sie nicht mehr los. Das Bild war wie in ihr Bewusstsein eingebrannt. Als sich ihre Atmung langsam wieder beruhigt hatte, löste sie die linke Hand von der Bettdecke, in die sie sich noch immer gekrallt hatte, und presste sie stattdessen auf den Mund. Sie drückte die Hand auf den Mund und das Kinn gegen die Schulter. Sie bemerkte nicht einmal, dass sie es tat. Sie tat es einfach. Ihre andere Hand löste sich dann auch von der Decke, nicht schnell und ruckartig die wie linke, sondern langsam und zögerlich. Sie tastete damit im Dunkeln nach dem Schalter ihrer Nachttischlampe. Nach über einer Minute fand sie ihn schließlich, und das Zimmer wurde in ein warmes, goldenes Licht getaucht. Die Bilder aus ihrem Traum begannen langsam zu verblassen. Einzig und alleine die roten Punkte – sie wusste mittlerweile nicht mehr, was die Punkte bedeuteten; sie wusste nur noch, dass sie Teil etwas schrecklichen waren – ließen sie nicht mehr los. Sie schüttelte sich, eine unbestimmbare Bewegung zwischen einem verkrampften Zittern und einem entschlossenen Kopfschütteln, und stand dann auf. In T-Shirt und Unterhose tapste sie zur Türe, öffnete sie, lief in Richtung Bad. "Alles okay?", fragte Sophie besorgt. Sophie war Judiths jüngere Schwester, die vorsichtig aus der Türe ihres eigenen Zimmers herausspähte. Man konnte nicht viel mehr sehen als ihren Kopf, ihre verstruppelten rotblonden Locken und den Kragen ihres Schlafanzugs. "War nur ein Alptraum", murmelte Judith undeutlich, "geh wieder schlafen!" Sophie blickte sie weiter besorgt an. "Das war schon das dritte mal", sagte sie. "Willst du nicht mit Mama und Papa darüber reden?" "Mir geht’s gut", versicherte Judith, und schloss die Badtüre hinter sich. Dann drehte sie erst einmal das heiße Wasser auf, beugte sich über das Waschbecken, schöpfte mit beiden Händen großzügig und schüttete es sich übers Gesicht. Sie wiederholte das noch dreimal, dann ging es ihr besser. Sie nahm das weiße Handtuch vom Halter neben dem Waschbecken, trocknete sich das Gesicht ab und blickte kurz in den Spiegel. Ihre Haare waren genauso unordentlich wie dir ihrer Schwester. Das Problem, das wusste schon länger, waren ihre Locken. Sie hatten beide natürlich gekräuseltes Haar, das viel schwerer zu kämmen und in Ordnung zu halten war als glattes. Darum wünschte sie sich auch so sehr glattes Haar, so wie das ihrer Freundin Johanna, das morgens nicht aussah wie ein kupferroter Wischmob. Sie strich sich ein paar störrische Locken aus der Stirn und verließ das Badezimmer wieder. Sophie stand noch immer in ihrer halb geöffneten Türe. "Komm, geh schlafen", sagte Judith gereizt. "Es war wirklich nur ein Alptraum." Judith antwortete nicht. Sie sah sie nur weiter besorgt misstrauisch an. Sie sagte auch dann nichts, als Judith an ihr vorbeiging, und sie stand noch immer dort, als diese ihre Türe hinter sich schloss. Judith überlegte, ob sie sich wieder hinlegen sollte und versuchen sollte wieder einzuschlafen. Aber sie wusste, dass es keinen Sinn hatte. Sie fühlte sich noch immer aufgeregt und überdreht, und sie bekam das Bild der roten Punkte, die sie verfolgten nicht mehr aus dem Kopf. Schließlich setzte sie sich hin und begann zu zeichnen. *** "Möchtest du auch ein Stück Kuchen?" Es dauerte eine Weile, bis Judith begriff, woher die Stimme kam. Es war die Stimme ihrer Mutter, die neben ihr in ihrem Zimmer stand. Judith hatte sie überhaupt nicht reinkommen hören. Aber sie vergaß generell die Welt um sie herum, sobald sie einmal zu zeichnen begonnen hatte. "Ich will nichts", antwortete sie knapp, unwillens sich ganz aus ihrer Konzentration reißen zu lassen. "Du musst damit aufhören!", sagte ihre Mutter streng. "Womit?", fragte Judith, ohne richtig zuzuhören. Sie wollte das Bild, das sie im Kopf hatte auf keinen Fall verlieren. "Mit dem Malen", antwortete ihre Mutter. "Warum?", fragte Judith mit widerspenstiger Stimme, ohne von ihrem Blatt aufzusehen, oder auch nur einmal den Bleistift bei Seite zu legen. "Warum?!", rief die Mutter aufgebracht. "Weil ich seit fünfzehn Minuten hier stehe und versuche mit dir zu reden, und du es überhaupt nicht mitbekommst! Darum! Du musst endlich aufhören in deinen eigenen Kopf zu leben und wieder in die Realität zurückkommen!" Judith bekam die Hälfte davon schon gar nicht mehr mit. Der Faltenwurf an dem einen Ellbogen war besonders schwer, zumindest wenn sie ihn genauso so hinbekommen wollte, wie sie ihn vor ihrem geistigen Auge sah, und erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Es kostete sie größte Sorgfalt, die Schatten richtig zu zeichnen. Der kleinste Fehler an dieser Stelle konnte das ganze Bild ruinieren. Sie bekam es gar nicht mehr mit, wie ihre Mutter das Zimmer verließ. *** "Hier, was hältst du davon?", fragte Judith, und holte als nächstes das Bild mit der Dame heraus, das sie Samstag Nacht gezeichnet hatte. "Wow!", rief Johanna. "Du wirst ja echt ständig besser! Du musst wirklich Kunst studieren! Wenn du das nicht schaffst, dann keiner!" Judith nahm sich die Zeit, das Bild selbst noch einmal genauer anzusehen. Sie wünschte, sie hätte Johannas Begeisterung teilen können, aber das Bild war voller kleiner und größerer Fehler. Das Motiv war in Ordnung, eine dunkelhaarige Frau in einem roten Kleid. Das ganze Bild war mit Bleistift gezeichnet, bis auf das Kleid. Das hatte sie mit Bundstiften gemalt. Und es war eigentlich auch wirklich nicht schlecht, so ganz objektiv betrachtet, aber sie selbst wusste, wie es hätte aussehen sollen, und sie sah, was sie alles falsch gemacht hatte. "Unsere beiden Künstler!", erklang da plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Es waren die Jungs aus der Klasse über ihnen, die sie seit Monaten heimsuchten und sie schikanierten. "Kannst du nicht auch was für mich malen? Deine Freundin zum Beispiel. Am Besten nackt!" "Ja, auf allen vielen, wie sie meinen Schwanz lutscht! Ich steh gern Modell!" "Aber zeichne sie am besten von hinten, damit man ihr Gesicht nicht sieht!" *** Die drei Kerzen auf Judiths Fensterbrett reichten kaum aus, um den Block richtig zu sehen. Aber das war Absicht. Es fiel ihr dann leichter, die Bilder in ihrem Kopf auf das Papier zu bringen, denn die gezeichneten Linien vermischten sich im Halbdunkel mit dem, was sie vor ihrem inneren Auge sah. Sie wusste nicht, was das für Wesen waren, die sie gerade zeichnete. Sie waren unmenschlich, das war klar, und sie konnte sie selbst nur undeutlich erkennen, schwarze Schemen in der Dunkelheit, gerade genug um sie zu erahnen. Eine unsichtbare Bedrohung, glitzernde Krallen und unmenschliche Augen von etwas unerkennbaren, fremden. Sie wusste nicht, woher die Bilder kamen, und es interessierte sie auch nicht. Sie wollte sie einfach nur zu Papier bringen – möglicherweise um sie der Welt zeigen zu können, vielleicht aber auch, um sie aus ihrem Kopf zu bekommen und dort zu bannen. Das bedrohlichste an ihnen waren aber ihre Augen, im Dunkeln rot leuchtende Augen. Sie überlegte fieberhaft, ob sie mit Farbstiften malen sollte, oder ob das Bild durch die Farbe nicht kaputt gemacht würde. Ein paar farbige Kleckse in einer Schwarzweiß-Zeichnung, das widerstrebte ihrem gesamten ästhetischem Empfinden. Auf der anderen Seite gehörten die roten Augen aber einfach dazu. Sie waren Teil des Bildes. Aber sie musste irgend einen weg finden, sie in das Gesamtbild zu integrieren. Sie konnte die Farbe nicht einfach einfügen, sie musste Teil des gesamten Bildes werden. Irgendwie. Auf diese Weise zermarterte sie sich den Kopf, während ihre Hand unentwegt weiterzeichnete. Die Dunkelheit nahm langsam Gestalt an. Sie wusste genau, dass sie erst die Dunkelheit brauchte, bevor sie die Gestalten zeichnen konnte, die sich darin verbargen. Ohne die Dunkelheit konnten die Wesen nicht existieren, denn es war Teil ihrer Natur im Dunkeln versteckt zu sein, und sie konnte sie anders gar nicht zeichnen. Abder das war sowieso unwichtig, denn die Dunkelheit musste einfach zuerst da sein. Ansonsten wäre es keine echte Dunkelheit gewesen, wären es keine echten Schatten gewesen, sondern nur schwarze Farbe, die die freien Stellen bedeckte. Die Dunkelheit war nun fertig, und sie konnte dazu übergehen die Wesen zu zeichnen. Ihre Panik wurde immer größer, denn die Augen kamen nun immer näher, und sie wusste noch immer nicht, wie sie die rote Farbe in das Bild bringen sollte. Da geschah es von alleine. Sie strafvierte einfach über die Stellen hinweg, an denen die Augen sein sollten, und sie wurden Rot. Sie hatte einen gewöhnlichen Bleistift, das war sicher, aber die Augen mussten einfach rot sein, und sie wurden es auch. Sie konnte die Farbe klar und deutlich im Licht der drei Kerzen sehen. *** "Das ist ja noch viel besser!", rief Johanna begeistert. "Wie hast du das gemacht? Das ist doch kein Farbstift, oder? Und auch kein Aquarell! Wie hast du diese Augen gemacht?!" "Willst du es wirklich wissen?", fragte Judith verschwörerisch. "Ja natürlich!" betonte Johanna. "Ich hab so eine Farbe noch nie vorher gesehen! Was ist das?" "Das ist Bleistift", offenbarte Judith ihr. "Bleistift?", fragte ihre blonde Freundin entgeistert. "Aber doch kein Bleistift. Ich kann doch klar und deutlich die Farbe sehen!" Und dann wurde sie still. Sie musterte die Augen im Bild ganz genau, hielt es so nahe vor ihre Augen, dass sie das Papier schon fast mit ihrer Nasenspitze berührte. "Es ist Bleistift...", sagte sie schließlich mit leiser, ungläubiger Stimme. *** Judiths Schritte hallten im leeren Korridor der Schulgebäudes wieder. Es war unheimlich, wie verlassen alles während der Unterrichtsstunden wirkte. Sie war auf dem Weg zurück von der Toilette. Ihre Periode hatte eingesetzt, und sie hatte eine neue Binde einlegen müssen. Da öffnete sich unerwartet eine Türe vor ihr. Einer der jungen aus der Klasse über ihr kam heraus. Einer der Jungen, der sie und Johanna immer schikanierten. Judith mochte ihn. Irgendwie. Er hatte ein schlankes Gesicht und kurze schwarze Haare, und sie hatte immer das Gefühl, dass er nur wegen seinen Freunden mitmachte. In Wirklichkeit war er mit Sicherheit nett und freundlich. "Unsere Künstlerin", sagte er mit hämischer Stimme, als er Judith entdeckte. "Wo hast den denn heute dein hässliches Modell gelassen? Oder ist sie überhaupt dein Modell, oder bloß dein Groupie? Schläfst du mit ihr, so wie alle Künstler?" Judith kämpfte schon den ganzen Morgen mit Bauchkrämpfen. Jetzt hatte sie das Gefühl, als müsse sie sich jeden Moment übergeben. Sie antwortete nicht und lief an ihm vorbei, ihrem Klassenzimmer entgegen. Aber er ließ sie nicht vorbei. Er streckte einen Arm zur Seite aus und versperrte ihr damit den Weg. "Hey, Künstlerin", schnauzte er sie an. "Ich bin wohl zu gut für dich? Du bildest dir wohl ein, du brauchst nicht mit uns zu reden, oder was? Bist wohl was besseres, du blöde Lesbenschlampe!" Dann packte er sie und stieß sie, so dass sie stolperte und hinfiel. "Ich zeig dir, was du bist", sagte er, während er sich zu ihr runterbeugte, "du und deine Bilder. Dreck, so wie der hier." Während er das sagte packte er sie an den Haaren und drückte ihren Kopf auf den Boden und wischte ihn hin und her. In diesem Moment wurden die Bauchkrämpfe besonders stark, und Judith begann sich vor Krämpfen zu winden. Er hatte offenbar genug von ihr, denn er stand auf und ging. Im letzten Moment sah Judith seine Augen noch einmal, und sie sah das rote Leuchten, das für einen kurzen Moment darin aufblitzte. *** "Ich hab gestern den ganzen Nachmittag vergeblich versucht, nochmal den selben Effekt wie bei den Augen hinzubekommen", teilte Judith ihrer Freundin mit. "Welchen Effekt?", fragte Johanna interessiert. "Das Rote. Mit Bleistift Farbe zu zeichnen." Johanna sah sie unverständig an. "Wovon redest du?", fragte sie dann. "Wie willst du das machen, mit Bleistift Farben zu zeichnen?" "Aber ich hab dir doch gestern das Bild gezeigt", sagte Judith irritiert. "Das Bild mit den Wesen, und den roten Augen..." "Was für ein Bild meinst du?", fragte Johanna. Judith war irritiert. Ihre Freundin konnte das doch unmöglich schon wieder vergessen haben. "Das Bild meine ich", sagte sie schließlich, als sie es in ihrer Mappe gefunden hatte. "Ja klar, das Bild kenn ich", erwiderte Johanna, "aber wo siehst du hier Farben?" *** "Das kann so nicht weitergehen", sagte Judiths Mutter, als diese nach Hause kam. "Dein Vater und ich machen uns echte Sorgen, und wir haben beschlossen, dass wir etwas tun müssen." Judith sah sie entgeistert an. Was bedeutete das? "Du verbringst seine gesamte freie Zeit mit zeichnen", erklärte die Mutter. "Das ist nicht normal. Du zeichnest, zeichnest, zeichnest, und bekommst es meistens nicht mal mehr mit, wenn man mit dir redet. Das kann so einfach nicht weitergehen. Jedenfalls hab ich heute deine ganzen Farben und Stifte und Blöcke zusammengesammelt und weggesperrt, und wenn das nicht besser wird, dann gehen wir mit dir zum Psychologen. Irgendwas stimmt doch nicht mit dir, Kind!" Judith sah sie mit leerem Blick an. Sie verstand nicht, was das alles sollte, hatte das Gefühl nur daneben zu stehen, als ginge es gar nicht um sie. "Und jetzt komm erst mal essen!", befahl die Mutter. "Sophie ist auch schon da und es gibt Lasagne." Judith nickte und folgte ihr mit tauben Schritten, wie in Trance. Judith wusste selbst nicht genau, wie der Nachmittag eigentlich vorbei ging. Sie machte ihre Hausaufgaben – außer Kunst. Das hatte ihre Mutter ihr verboten. Judith machte sich echte Sorgen, was Frau Brühl sagen würde. Sie mochte Judith sehr gerne – vielleicht war sie sogar ihre Lieblingsschülerin – und sie betonte immer wie talentiert sie war, und dass bestimmt mal Kunst studieren sollte. Judith freute sich darüber jedes mal, denn das Malen und das Zeichnen waren ihre große Leidenschaft, waren ihr Lebensinhalt. Und nun hatte ihre Mutter sie komplett davon getrennt. Der eine Nachmittag kam ihr schon unendlich lang vor, und gegen fünf Uhr begann Judith sich leer zu fühlen. Sie empfand einfach gar nichts, keine Freude, keine Trauer, war einfach nur leer. Sie wollte nicht einmal mehr zeichnen, selbst wenn sie gedurft hätte. Sie fühlte sich beinahe wie tot. Draußen wurde es langsam dunkel. Es war Ende November, und die Tage waren nicht sehr lang. Judith saß regungslos im Wohnzimmer, hörte ihre Mutter durch den offenen Durchgang zur Küche hin mit Geschirr klappern, und blieb regungslos sitzen, während die Dunkelheit sich langsam über den Raum legte. Aber es war keine einfach Dunkelheit. Das konnte sie spüren. Irgendetwas war in der Dunkelheit, irgendetwas gefährliches, hungriges. Aber sie blieb weiterhin sitzen, war zu träge, um sich zu erheben, um irgendetwas gegen den Hunger zu tun, der langsam in den Raum schlich. "Was tust du denn hier im Dunkeln, Kind!", rief ihre Mutter entsetzt, als sie hereinkam. "Mach doch Licht!" Die Aufforderung war mittlerweile überflüssig, denn das hatte sie bereits getan, als sie hereingekommen war, noch ehe sie Judith gesehen hatte. Als Judith nicht reagierte setzte sie sich zu ihr aufs Sofa, drückte sie an sich und fragte besorgt: "Was ist denn nur los mit dir Kind, was können wir nur für dich tun!" "Ich will doch nur Malen", antwortete Judith mit emotionsloser Stimme. "Meine Lehrerin und alle anderen sagen, ich bin so talentiert, und ich kann bestimmt Kunst studieren, und ich will doch nur malen." Ihre Mutter drückte sie noch fester an sich. Judith erwiderte die Umarmung nicht, blieb ganz regungslos, passiv. Irgendetwas nasses berührte ihre Wange. Mit einem Mal hatte sie das Gesicht einer weinenden Frau vor sich, eine geheimnisvolle Frau, in Zwielicht getaucht, mysteriös und schön. Sie konnte das Bild ganz genau sehen, jede Linie, jeden Strick. "Bitte lass mich zeichnen", sagte sie mit einer Stimme, die kaum mehr Emotionen aufwies als zuvor. "Wenn dich das glücklich macht, Kind!", rief ihre Mutter, und Judith spürte noch mehr Tränen auf ihre Wange tropfen. Es waren die Tränen ihrer Mutter, nicht ihre eigenen. Sie selbst weinte nicht. Dann sprang die Mutter auf, lief in ihr Schlafzimmer und kam kurz darauf mit einer Kiste zurück, in der Judiths gesamte Malsachen lagen. Ohne irgend eine Emotion zu zeigen griff Judith nach ihrem Block und ihrem Skizzenbleistift und begann zu zeichnen. Sie hatte das Bild der geheimnisvollen weinenden Frau genau im Kopf, und es musste heraus. Sie vergas alles andere und zeichnete nur noch, mit Herz und Seele. Langsam aber sicher nahm das Bild Gestalt an. Der schlanke Hals der Frau wuchs aus einer Vielzahl winziger Straffuren heraus, leicht gedreht, schlank, verletzlich. Weitere Linien wurden zu Haaren, zu einer Frisur, sorgsam hochgesteckt, mit viel Mühe. Wangenkochen entstanden, ein Mund, klein und zart, Augen, traurig und irgendwie leer. Schließlich kam das schwerste am ganzen Bild: Die einzelne Träne, die die Wange herunterlief. Judith wusste, dass sie Träne nicht einfach grau sein durfte. Sie war silbern, mit einem leichten Blauschimmer. Sie konnte es genau sehen, vor ihrem inneren Auge. Sie musste die Farbe nur noch einfangen und mit dem Bleistift zu Papier bringen. Sie begann zu straffieren und gegenzustraffieren, und langsam aber sicher kristallisierte sich eine Farbe heraus. Aber es war nicht das gewünschte Silberblau, sondern Rot. Blutrot. Sie erschrak, ob des Blutstropfens, den sie im Begriff war zu zeichnen und ließ den Skizzenblock erschrocken sinken. Als sie sich ihrer Umgebung bewusst wurde sah sie ihre Eltern und Sophie um sie herum sitzen, sprachlos, voller Sorge in ihren Augen. Die Uhr an der Wand zeigte neun. Die Lichter an der Decke brannten uns tauchten den Raum in ein helles Weißgelb. Aber in den Ecken war es dunkel. Judith konnte die Dunkelheit genau sehen. Und sie sau auch, wie sie langsam daraus hervorquoll, wallende schwarze Wolken, wie dunkler Nebel. Und dann sah sie die Kreaturen, die in der Dunkelheit existierten. Sie sah die rot glühenden Punkte, die ihre Augen markierten und die scharf glitzernden Krallen, die sich aus der wogenden Dunkelheit zu schälen begannen. "Helft mir!", schrie Judith, während sie aufsprang, mit dem Finger wild in Richtung der ihr nächsten Kreatur wedelnd. "Sie wollen mich verschlingen!", rief sie. "So helft mir doch!" Aber ihre Familie reagiert nicht. Als sie sie ansah verstand sie auch warum. Auch ihre Augen leuchteten nun blutrot. Da begannen die ersten Krallen sich in ihren Arm zu bohren. *** "Was ist denn los?", fragte Hermann besorgt, als er das Gesicht seiner Frau sah. Sie war leichenblass und blickte verstört in die Luft. Der Telefonhörer hing wie vergessen in ihrer Hand, ein leises Tuten Beweiß dass ihr Gesprächspartner ausgelegt hatte. "Ich hab dir doch von Judith erzählt", sagte sie dann mit tonloser Stimme, "der Schülerin von mir, die so gut ist." Er nickte. "Die von der du glaubst, dass sie ein Naturtalent ist?" "Genau die." "Was ist mit ihr?", fragte er, nachdem sie von sich aus nicht mehr sagte. "Sie hat heute in Gegenwart ihrer ganzen Familie einen hysterischen Anfall bekommen, sie ist aufgesprungen, hat unverständliches Zeug gebrüllt und sich schließlich mit ihren eigenen Fingernägeln die Arme und das Gesicht blutig gekratzt." *** Judith Hennberg befindet sich seit fünf Jahren in einer geschlossenen psychischen Anstalt. Es ist unwahrscheinlich, dass sie jemals ein normales Leben wird führen können. Ihr letztes Bild, ein nahezu perfektes Selbstportrait, wurde auf Drängen ihrer Kunstlehrerin hin zum Landesweiten Leemann-Wettbewerb der Kunsthochschulen eingereicht, wo es den ersten Platz gewann. Judiths Familie wurden seitdem mehrere Angebote für das Bild gemacht, alle im fünfstelligen Bereich. Das Bild hängt heute in dem kleinen Studentenzimmer von Sophie Hennberg. Bevor sie zu Bett geht zündet Sophie Hennberg jede Nacht eine Kerze vor dem Bild an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)