Ai No Kiseki von Emma_Frost (Wunder der Liebe) ================================================================================ Kapitel 1: Ankunft im Regen --------------------------- [Achtung: Ich hab diese FF geschrieben, da war ich 15 oder so... nuja... *g* Ich bitte trotzdem um Kritik und Lob und Schreie, wenn Fehler oder Ungereihmtheiten auftauchen! Danke!] Die Zugtüren schlossen sich mit einem Quietschen. Dann setzte sich der ICE in Bewegung und verließ den Bahnhof. Haruka Tenô fand sich mit ihren Koffern allein auf Gleis 7 wieder. Ein Angestellter der Bahn, der die Kofferwagen unter eine Überdachung schob, warf ihr einen neugierigen Blick zu. Haruka wußte, daß sie einen recht seltsamen Anblick bot in dieser verhaßten Schuluniform ihres ehemaligen Internates, die sie eigentlich bisher so gut wie nie getragen hatte. Sie mochte keine Kleider und Röcke und sah dementsprechend merkwürdig darin aus. Sicher, manche sagten, sie sei hübsch – aber Haruka fand sich eher nicht so ansehnlich. Besonders dann nicht, wenn sie sich mit den langbeinigen, betont weiblich gekleideten Mitschülerinnen aus dem Internat verglich, die nichts anderes als Frisuren, Schminke und neue Kleider im Kopf hatten. Eigentlich war sie ganz froh, diese albernen Gänse nicht mehr sehen zu müssen. Eine Freundin hatte sie ja doch nicht gehabt, im Grunde hatte sie nie eine Freundin gehabt. Alle hatten sie ihre beste Freundin, der sie die größten Geheimnisse anvertrauten und die sie tröstete, wenn sie Liebeskummer hatten. Nur Haruka war das egal. Sie zog es vor, ihre Geheimnisse mit sich selbst auszumachen und Liebeskummer hatte sie sowieso nie. Wieder warf der Angestellte einen Blick zu ihr hinüber. Haruka fragte sich, wieso die Heimleiterin darauf bestanden hatte, daß sie diese verdammte Uniform anzog. In dieser gräßlichen weißen Spitzenbluse kam sie sich furchtbar vor, und der dunkelblaue Blazer mit den Goldknöpfen und dem aufgestickten Schulwappen ließ sie wie eine dumme Schülerin aussehen, die nicht auf drei Zählen konnte und brav ihre Hausaufgaben machte und strebsam am allgemeinen Unterrichtsgeschehen teilnahm. Na ja, und der dunkelblaue enge knielange Rock, die kratzige Strumpfhose und die Lackschuhe wirkten wie Fremdkörper an ihr. Haruka hatte keine langen, schlanken Beine und eine zierliche, zartgliedrige Gestalt mit schmalen Schultern, wie die meisten Mädchen aus dem Internat für höhere Töchter, wo sie bis jetzt zur Schule gegangen war. Sie war die Größte ihrer Schule gewesen und hatte sogar teilweise die Lehrerinnen überragt. Und als zartgliedrig konnte man die kräftige, muskulöse und sehr männliche Gestalt mit den breiten Schultern auch nicht gerade bezeichnen. Auch ihr Gesicht wirkte nicht wie das eines siebzehn Jahre alten Mädchens, im Gegenteil, sie sah aus wie ein junger Mann mit markanten Gesichtszügen, dunklen Augen und ganz kurzen dunkelblonden Haaren. Kein Wunder also, daß der Mann so auffällig und verwundert herübersah. Am liebsten hätte Haruka ihn gefragt, was es da zum Glotzen gäbe. Aber sie hatte der Heimleiterin hoch und heilig versprochen, keinen Ärger zu machen und keine Prügelei anzufangen. „Wenn mir zu Ohren kommt, daß du dich schlecht betragen hast, wirst du weder dein Auto noch dein Motorrad bekommen, ist das klar?“ hatte sie streng gesagt. Haruka hielt sich dran. Sie hatte nicht umsonst ihren Führerschein im Ausland gemacht, um früher als ihre Mitschülerinnen Auto fahren zu können. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, daß man ihr den Wagen und ihr heißgeliebtes Motorrad, in das sie so viel Geld investiert hatte, vorenthielt. Leider war sie noch nicht volljährig, aber daran war im Moment nichts zu ändern. Wagen und Motorbike würden in einem Transporter gebracht werden, der auch Harukas restliche Sachen und einige ihr gehörende Möbelstücke brachte. Sie ärgerte sich immer noch, weil sie den Zug hatte benutzen müssen. Aber die Tante hatte darauf bestanden. Ja, die Tante... Es fing an zu regnen. Graue Wolken bedeckten den Himmel. Der Wind war kalt. Haruka nahm ihr Gepäck und stellte sich unter die Überdachung. Wo blieb die Tante? Harukas Eltern waren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, als sie zwei Jahre alt war. Zwei Jahre lang hatte sie bei einer Nachbarin gewohnt, bis diese dann geheiratet hatte. Haruka war ein weiteres Jahr lang von einem zum anderen geschoben worden, bis schließlich das Jugendamt eingegriffen und sie in ein Waisenhaus gesteckt hatte. Da war sie geblieben, bis sie zwölf Jahre alt war. Sie war eine Einzelgängerin gewesen, immer schon. Hatte sich mit Jungs geprügelt und den mit ihren Puppen spielenden Mädchen nur ein paar verächtliche Blicke gegönnt. Alles technische zog sie an, und ihr größtes Interesse galt Autos und Motorrädern. Dann hatte sich eines Tages die Schwester ihrers Vaters, Himeko Tenô, gemeldet. Himeko hatte sich nie um Haruka gekümmert. Sie verwaltete lediglich das Vermögen, das die wohlhabenden Eltern ihr hinterlassen hatten. Haruka wußte nur, daß sie eine reiche Geschäftsfrau war, die nie Zeit hatte. Sie lebte alleine in einer großen Villa am Stadtrand von der Hauptstadt Tokio. Himeko hatte bestimmt, daß Haruka ein Internat für Töchter aus wohlhabenden Familien besuchen sollte. Da die Mädchen dort ein Instrument spielen mußten, lernte sie Klavier. Haruka besuchte von da an dieses Internat in Osaka. Eigentlich waren alle nett zu ihr, aber sie hatte keine Freiheit dort. In der Schule war sie so schlecht, daß sie in fast allen Fächern Nachhilfeunterricht brauchte. Ihre erste Tat war, die Klassensprecherin zu verprügeln, als diese sie darauf hinwies, daß die Klasse jedes Mal, wenn Haruka ein Verbot übertrat oder nicht gehorchte, einen Strafpunkt bekam und sich inzwischen bereits über zwanzig Punkte angesammelt hatten. Die Klassenlehrerin ging dazwischen, und Haruka wurde für zwei Tage in den sogenannten »Raum des Nachdenkens« gesperrt. Es wurde aber nicht besser mit ihr. Sie lehnte sich auf, wo sie konnte. Sie übertrat mit voller Absicht Verbote, mißachtete Regeln, fing Prügeleien an und kletterte nachts aus dem Fenster, um in diversen Lokalen an Spielautomaten ihr Glück zu versuchen und danach mit irgendwelchen tätowierten Muskelprotzen ein paar Runden auf dem Motorrad zu drehen. Als das herauskam, hatte Haruka es nur der inständigen Bitte ihrer unbekannten Tante zu verdanken, daß sie bleiben konnte. Die Tante schickte ihr Geld, damit sie während der Sommerferien in die USA in eine Jugendherberge fahren konnte. In Amerika machte Haruka dann auch ihren Auto- und ihren Motorradführerschein. Da sie über genügend Taschengeld verfügte, ein prallgefülltes Sparkonto hatte und praktisch nie Gelegenheit zum Geldausgeben bekam, schaffte sie sich bei der ersten Gelegenheit zum Entsetzen der Heimleiterin ein gebrauchtes Cabriolet und ein nagelneues Motorrad an. Ihr wurde beides weggenommen mit dem Hinweis, daß es Internatsschülerinnen nicht erlaubt sei, derartige Dinge zu besitzen. Aber Haruka bestach den Gärtner, und da dieser einen Schlüssel für die Schulgaragen hatte, schlich sie sich immer öfters heimlich aus der Schule, meist nachts, aber oft auch tagsüber, und preschte mit ihrem Motorrad durch die Straßen oder ließ sich im Cabrio den Wind um die Nase wehen. Ihr Name wurde immer öfters mit den Siegen bei harten Motocross-Rennen in Verbindung gebracht. Natürlich kam alles heraus. Schließlich erhielt sie die Erlaubnis, ab und zu in die Stadt zu fahren. Obwohl ihre Teilnahme an Motocross-Rennen nicht gern gesehen wurden, so stellte sich wieder die fremde Tante schützend vor sie. Offenbar hatten Harukas Eltern in ihrem Testament verfügt, daß ihre einzige Tochter im Falle ihres Todes nicht nur die Alleinerbin sein sollte, sondern auch auf diese Schule gehen sollte und daß ihr dort alle Sonderrechte zustehen sollten. Haruka war das natürlich recht. Daß sie die Schlechteste der Klasse war, kümmerte sie kaum. Sie machte keine Schularbeiten mehr und weigerte sich beim Küchendienst zu helfen. Die Handarbeits- und Hauswirtschaftsstunden schwänzte sie immer. Trotzdem kam sie immer durch und blieb nicht sitzen. Sie lernte bald, daß man mit genügend Geld alles erreichen konnte. Nur in Sport glänzte sie, da war sie die Beste. Es gab kein Mädchen, das besser Basketball spielte oder schneller lief als sie. Sie war in jeder Sportart ein As, wie alle neidlos anerkennen mußten. Auch Computertechnik und Informatik waren Fächer, die ihr lagen. Wenn es einen Computer zu reparieren galt, dann fragte man Haruka. Und man konnte sicher sein, daß sie den Fehler innerhalb kürzester Zeit gefunden hatte. „Sie ist anormal“, hieß es bei den Mitschülerinnen. „So wie die benimmt sich kein normaler Mensch! Mit ihr möchten wir nicht mehr als nötig zu tun haben! Sie ist so arrogant und überheblich!“ Haruka machte sich nichts drauß. Sie war das gewohnt und verschloß sich, ließ keinen an sich heran. Die Lehrerinnen seufzten oft und jammerten, was für ein schwieriges Kind sie doch sei und daß man nur Probleme mit ihr habe. Und jetzt? Vor genau drei Wochen war ein Brief der reichen Tante im Internat eingetroffen. Sie wünschte, daß Haruka zu ihr ziehen würde. Erleichterung unter den Lehrern und Schülerinnen. Haruka wunderte sich zwar, aber ihr war es egal. Hauptsache, mehr Freiheit. Frei sein, Motorrad fahren, am Auto herummontieren, in Spielhallen gehen, Sport betreiben, vielleicht ein eigener Computer... Dinge, die im Internat einfach unmöglich waren, taten sich nun vor Haruka auf. Die Tante war ihr im Grunde gleichgültig. Allerdings, mußte sie zugeben, ein kleines bißchen neugierig war sie ja schon auf die Frau, die ihr Geld gegeben hatte, ohne sie richtig zu kennen und die offenbar die Heimleitung bestochen hatte... Haruka verdrängte die Gedanken an ihre Vergangenheit. Sie drehte sich um. Der Angestellte schien zu zögern. Dann kam er diensteifrig auf sie zu und fragte höflich: „Verzeihen Sie bitte, Miß, kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?“ „Nein, danke!“ antwortete Haruka so abweisend und mit ihrer gewohnt rauhen, männlichen Stimme, daß er erschrocken ein paar Schritte zurückwich, etwas murmelte und mit hochrotem Kopf davonstürzte. Fast hätte Haruka gelacht. Es war zu deutlich: Er hielt sie für einen Mann in Frauenkleidern. Irgendwie schmeichelte ihr das. Sie wäre schon immer lieber ein Junge gewesen. Mädchen hatten es viel schwerer. Diese Erfahrung hatte sie immer wieder machen müssen. „Haruka?“ Eine fremde, geschäftsmäßige Stimme sagte ihren Namen. Haruka drehte sich um. Hinter ihr stand eine Frau Mitte Vierzig. Sie war groß und recht kräftig mit kurzen dunkelblonden Haaren und blauen Augen. Sie trug ein schickes Kostüm und wirkte wie eine knallharte Geschäftsfrau. Alles an ihr, die Kleidung, die Frisur, die Schminke, saß tadellos. „Tante Himeko?“ fragte Haruka. Die Frau nickte. „Genau. Willkommen also in Tokio, Haruka.“ Sie streckte ihrer Nichte förmlich die Hand hin, und Haruka, die sich eigentlich nichts aus Höflichkeitsfloskeln machte, ergriff sie notgedrungen und schüttelte sie. „Ich hoffe, du hattest eine gute Reise“, sagte die Tante. Haruka wollte etwas sagen, aber sie ließ sie überhaupt nicht zu Wort kommen, sondern fuhr, auf das Gepäck deutend, fort: „Ist das alles, was du mit hast?“ „Der Rest kommt per Transporter“, antwortete Haruka. „Auch der Wagen und das Motorrad und ein paar Möbelstücke.“ „Gut. Nimm jetzt deine Koffer und komm mit, wir müssen uns beeilen. Ich habe gleich nachher noch einen äußerst wichtigen Termin!“ Ihre Stimme ließ anmerken, daß sie keinen Widerspruch duldete. Haruka nahm die Koffer und folgte ihrer Tante durch die Unterführung hinaus auf die Straße. Der Regen war schlimmer geworden. Er trommelte auf das Straßenpflaster und bildete kleine Pfützen. Keine besonders tolle Ankunft, dachte Haruka. „Mein Gott, schon wieder Regen!“ schimpfte Himeko, und die Absätze ihrer Pumps klapperten auf dem harten Asphalt. „Das ist ja nicht zum Aushalten! Mein Kostüm wird noch völlig ruiniert werden bei dem Sauwetter!“ Sie drehte sich um und sah Haruka vorwurfsvoll an, so als sei das ihre Schuld. Der Parkplatz lag kaum eine Minute vom Bahnhof entfernt. Dichte Regenwolken bedeckten den Himmel und verfinsterten den Tag. Das Auto der Tante, ein nagelneuer silberner Mercedes mit aufklappbarem Verdeck, war von einer Schar kleiner Jungen umlagert, die staunend mit den Fingern darauf zeigten. Energisch scheuchte Himeko sie zur Seite. „Haut ab! Na los, verschwindet! Gesindel! Ihr habt hier nichts verloren!“ Sie öffnete den Kofferraum und wartete, bis Haruka das Gepäck verstaut hatte. Dann stiegen sie ein. „Was für ein Auto!“ sagte Haruka sichtlich beeindruckt. „Unsinn“, erwiderte Himeko, während sie Gas gab und den Wagen geschickt aus der Parklücke fuhr. „Für Menschen mit gehobenem Lebensstandard ist das nichts Besonderes. Ich benutze ihn für meine Dienstfahrten. In der Freizeit, sofern ich überhaupt welche habe, fahre ich natürlich einen Porsche.“ „Natürlich“, erwiderte Haruka und schluckte erst einmal. „Für dich steht auch ein Zweitwagen in der Garage, leider ohne Verdeck. Aber dazu hast du dein Cabriolet. Ich denke, es wird also keine Probleme geben.“ Verblüfft sah Haruka ihre Tante an. „Was – ich bekomme einen Wagen?“ „Selbstverständlich. Um es von vornherein klarzustellen, ich hatte niemals die Absicht, dich bei mir aufzunehmen, aber es war der letzte Wille deiner Eltern, daß ich mich im Falle ihres Todes um dich kümmere. Jetzt, da ich keine Geldprobleme mehr fürchten muß und meine Existenz gesichert ist, werde ich den Wunsch wohl oder übel erfüllen müssen. Du siehst, ich tue das bei Gott nicht freiwillig! Aber du bist fast achtzehn, du wirst es verstehen. Ich mag keine jungen Leute. Also um es gleich im Voraus zu sagen, erwarte nicht, daß ich mich um dich kümmere! Du machst hier in Tokio die Schule zu Ende und wirst studieren, so wie es deine Eltern gewollt haben. Was du in deiner freien Zeit machst, ist mir gleichgültig. Ich kann mich nicht auch noch darum kümmern.“ Ihre Stimme klang bestimmt, allerdings nicht unfreundlich, als sie dies sagte. „Klar“, sagte Haruka. „Ist schon okay.“ „Du wirst genügend Taschengeld bekommen, also brauchst du dir darum keine Sorgen zu machen“, fuhr Tante Himeko fort. „In der Villa hast du praktisch das gesamte obere Stockwerk für dich. Du kannst immer im Schwimmingpool baden, wann du willst, und die Arbeiten im Haus verrichten das Tagesmädchen und die Putzfrau, die dreimal in der Woche kommt. Wenn ich nicht Zuhause bin, wirst du dir selbst etwas zu Essen richten müssen. Und ich bin sehr selten Zuhause. Wenn nicht, dann bitte das Tagesmädchen, diese Fertigpackungen einzukaufen. Es würde sich nicht lohnen, eine Köchin einzustellen, so wenig wie ich zum Essen da bin.“ „Sicher nicht“, murmelte Haruka, die das alles erst einmal verdauen mußte. Das war wie in einem Film: Von dem engen Zimmer im Internat in eine eigene Wohnung, die in einer riesigen Villa lag, einen Zweitwagen, Schwimmingpool, Personal... es war Wahnsinn! Mrs. Tenô lenkte den Wagen ruhig und sicher durch den Großstadtverkehr in Richtung Stadtrand. Während sie an einer Ampel hielt, zündete sie sich eine Zigarette an. „Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich im Wagen rauche“, sagte sie, doch es hörte sich an, als interessiere sie das eigentlich überhaupt nicht. „Ich bin manchmal etwas nervös und brauche dann eine Zigarette.“ „Ja“, sagte Haruka, während sie insgeheim den Qualm verfluchte, der ihr direkt ins Gesicht blies. Die Ampel schaltete von Rot auf Grün. Mrs. Tenô drückte die Zigarette aus und steckte sie in einen kleinen, oberhalb des Amaturenbrettes angebrachten Aschenbecher. „Na endlich“, murmelte sie. „Das wurde aber auch Zeit! Ich bin ohnehin schon etwas spät dran.“ Den Rest der Fahrt legten sie schweigend zurück, während der Regen gleichmäßig auf das Autodach trommelte. Haruka fand, daß es ein irres Gefühl war, in diesem Mercedes zu fahren. „Gleich haben wir’s geschafft“, brach die Tante erleichtert das Schweigen. „Aber ich muß leider gleich los. Geschäfte, weißt du. Mr. Hayes und Mr. Banks haben für heute abend ein Geschäftsessen mit den Investoren von Leisure Entertainment angesetzt. Ich darf auf keinen Fall zu spät kommen!“ Haruka wußte, daß seine Tante die Vizepräsidentin von Spaulding International, einer berühmten Modefirma war. Sie hatte auch schon von Leisure Entertainment gehört. Diese Firma stellte die tollsten und prächtigsten Stoffe her – wenn man den Modejournalen von Haruka ehemaligen Klassenkameraden glauben konnte. Haruka konnte sich gut vorstellen, wie wichtig es war, daß ihre Tante mit dieser Firma ins Geschäft kam. Sie bogen in eine ruhige Seitenstraße ab, deren riesige Häuser alle samt Reichtum und Eleganz ausstrahlten. In einem großen Garten wirtschaftete ein Gärtner, und auf einem Mauerpfosten eines anderen Hauses thronte eine Perserkatze, die sich gerade die Pfoten leckte. Ansonsten war niemand zu sehen, was sicher nicht zuletzt an dem Regenguß lag. Mrs. Tenô parkte den Wagen in einem großen gepflasterten Hof. „Ich denke, ich lasse den Wagen hier stehen, ich muß doch gleich wieder weg“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Haruka und stieg aus. Auch Haruka kletterte aus dem Wagen. Sie sah sich um. Das Haus ihrer Tante war ohne Zweifel die größte Villa hier. Mit seinem leuchtend weißen Anstrich und dem großen Balkon sah es noch recht neu aus, und dabei wohnte Himeko schon seit vielen Jahren hier. Eine große steinerne Eingangstreppe führte zur Haustür. Haruka nahm ihre Koffer und stieg die Treppe hinauf. Mrs. Tenô folgte ihr und schloß die Tür auf. Im selben Augenblick schoß ein kleines weißes Vieh laut kläffend die Treppe herunter und sprang auf Haruka zu. Es war ein Hund, ein Spitz. „Fiffi!“ befahl Mrs. Tenô. „Aus! Hast du nicht gehört, Fiffi? Aus habe ich gesagt!“ Der kleine Hund hielt inne, beschnupperte Haruka jedoch mißtrauisch, bevor er dann leise zu knurren anfing. Haruka seufzte innerlich. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Sie haßte solche kleinen Kläffer! „Du mußt Fiffi entschuldigen“, sagte Mrs. Tenô, während sie ihren Pelzmantel auszog und an einen Garderobenhaken hängte. „Er ist noch sehr jung und verspielt.“ Verspielt? Haruka betrachtete das knurrende Etwa zu ihren Füßen mit hochgezogenen Augenbrauen und beschloß, dazu lieber keinen Kommentar zu geben. „Ich muß sofort los. Laß mich dir nur noch rasch deine Wohnung zeigen“, sagte die Tante und ging voraus die Marmortreppe hinauf. Haruka folgte mit dem Gepäck, der kleine Hund blieb zu ihrer Erleichterung noch immer knurrend an der Haustür zurück. Der obere Flur war durch eine Glastür geteilt. Mrs. Tenô schob sie auf. „Das sind deine Zimmer“, erklärte sie. „Schlafzimmer, Badezimmer, Küche und Wohnzimmer.“ „Wow“, konnte Haruka nur sagen. Sie war wohl zum ersten Mal in ihrem Leben sprachlos. „Kommst du allein klar?“ fragte Himeko. „Ich muß gehen. Und paß auf, daß Fiffi nicht rausläuft, hörst du!“ Und damit wandte sie sich um und verließ das Zimmer. Kapitel 2: Die Villa -------------------- [Ich sollte vielleicht noch dazufügen, dass das hier eine real-life story ist und keine Sailor Krieger vorkommen^^] Nachdem Haruka den Mercedes wegfahren hörte, löste sich erst ihre Erstarrung und sie fing an, sich interessiert umzusehen. Der Flur, auf dem sie stand, hatte einen Marmorfußboden und an den Wänden hingen irgendwelche alten Gemälde. Auf einer Anrichte standen ein Telefon und eine mit Blumen gefüllte Vase, und darüber hing ein leeres Pinboard. Haruka nahm ihre Koffer und beschloß, sich zuerst das Zimmer anzusehen, das ihr die Tante als ihr Schlafzimmer gezeigt hatte. Außerdem wollte sie sich umziehen. Das Zimmer war groß und etwas länglich. An den Wänden hingen Landschaftsportraits, und unter der Dachschräge stand ein großes, mit weißem Bettbezug bezogenes Bett. Eine Glastür führte hinaus auf den Balkon, von wo aus man den Hof und ein Teil des Parks sehen konnte. Die Tapete in dem Zimmer war leuchtend weiß. An der einen Seite, gegenüber des Bettes, stand ein großer Kleiderschrank. Neben dem Bett befand sich ein kleiner Nachttisch mit einer Lampe, die auf einem Spitzendeckchen stand. Direkt unter dem Dachfenster stand ein moderner Schreibtisch mit ebenfalls einer Lampe und vielen Schubladen. In der Hälfte des Zimmer, in der sich auch die Tür zum Flur befand, konnte Haruka ein paar bequeme Sessel und einen runden Tisch in der Mitte sehen. „Oh je“, murmelte Haruka, sich umschauend. „Ich glaube, hier muß ich zuerst mal ein paar kleine Veränderungen vornehmen... aber das hat Zeit. Ich werd mich jetzt mal umziehen.“ Haruka räumte zuerst ihre Klamotten in den großen Kleiderschrank. Danach zog sie ihre Schuluniform aus und stopfte sie ganz nach unten in einen den Koffer. Das häßliche Ding wollte sie nie mehr anziehen, bestimmt nicht! Statt dessen zog sie Jeans, ein dunkelblaues Hemd und ein Jackett darüber an, außerdem vernünftige Strümpfe und Schuhe. Sie verstaute die Koffer auf dem Schrank und strich sich eine widerspenstige dunkelblonde Haarsträhne aus der Stirn, bevor sie das Zimmer verließ, um sich den Rest ihrer Wohnung und der Villa anzusehen. Das Zimmer neben dem Schlafzimmer war das Bad – und es hatte, wie Haruka entsetzt feststellen mußte, rosarote Kacheln! Nachdem sie festgestellt hatte, daß es dafür allerdings mit allen Schikanen ausgestattet war, ging sie weiter zum nächsten Zimmer, der Küche. Die Küche war relativ klein, aber da Haruka sowieso nicht vorhatte, irgend wann einmal etwas zu kochen, war ihr das egal. Die Tante schien allerdings anderer Meinung zu sein, denn es gab hier einen hochmodernen Herd, einen Backofen und sogar einen Kühlschrank mit Eisfach. Als Haruka ihn öffnete, stellte sie fest, daß er mit Lebensmitteln vollgestopft war. In einem weiteren Küchenschrank fand sie Schokolade, Chips, Salzbrezeln, Kaugummi, Bonbons und noch eine Menge anderer Süßigkeiten, was ihr weitaus mehr zusagte als die ganzen gesunden Diätjoghurts im Kühlschrank. In der Zimmermitte, auf dem Küchentisch, stand eine Schale mit Obst. Haruka nahm sich einen Apfel. Sie merkte plötzlich, daß sie Hunger hatte. Außerdem holte sie sich aus dem Kühlschrank eine Dose eisgekühlter Coke. Schade, daß kein Bier da war. Aber vielleicht gab es ja irgendwo einen Laden hier in der Nähe, wo man selbst welches kaufen konnte. Haruka fiel eine kleine Tür ins Auge. Sie führte in die vollgefüllte Speisekammer. Dort standen außerdem Schrubber, Besen, Kehrschaufeln, ein Staubsauger, ein Teppichklopfer und ein Bügelbrett herum. Haruka war froh, daß das Putzen vom Personal übernommen wurde. Sie hatte saubermachen immer schon gehaßt. Das Wohnzimmer war eindeutig der größte Raum von allen Räumen, die Haruka bis jetzt gesehen hatte. Es war mit einem Teppich ausgelegt. In einer Ecke befanden sich eine Eckbank, mehrere Stühle und ein Tisch in der Mitte. Das war wohl so eine Art Eßecke. Ansonsten gab es hier noch eine riesige Stereoanlage, eine moderne Couch mit Lederbezug, passende Sessel und einen niedrigen Tisch. Auf einem runden Glastisch lagen Modezeitschriften herum, denen Haruka jedoch keinen Blick gönnte. Für Mode hatte sie sich noch nie interessiert. Verschiedene Bilder hingen an den Wänden, auf dem Tisch lag die Tageszeitung. Es gab außerdem noch einen tollen großen Fernseher mit Videorecorder und eine Anrichte mit diversen alkoholischen Getränken plus Gläser darin. Eine gläserne Schiebetür führte auf einen kleinen Balkon, auf dem eine Wäscheleine aufgespannt hing. Haruka nahm einen Bissen von ihrem Apfel und warf einen Blick hinaus. Sie konnte ein Stück der Terrasse, den Park und vor allem aber das große runde Schwimmingpool sehen, das jetzt jedoch mit einer häßlichen dunkelgrünen Plane abgedeckt war. Inzwischen regnete es nur noch leicht, und die Wolken verzogen sich langsam. „Und jetzt der Rest der Villa“, murmelte Haruka. Sie warf den Apfelstumpen in einen blitzblanken Papierkorb und verließ ihre Wohnung, um sich den Rest des Hauses anzusehen. Von den beiden anderen oberen Zimmer, an denen sie vorhin vorbeigekommen war, schien eines eine Art Abstellkammer zu sein, das andere war, wie man unschwer an dem antiken Kosmetiktisch und dem Himmelbett in der Zimmermitte erkennen konnte, das Schlafzimmer von Tante Himeko. Haruka hielt sich nicht lange dort auf, sondern ging nach unten. Eine Treppe führte in den Keller, eine Tür in das Erdgeschoß. Haruka trat ein. Der ebenfalls marmorne Flur war mit einem dicken roten Teppich ausgelegt, und überall hingen diese scheußlichen Bilder. Eine Kommode stand neben einem an der Wand hängenden, teuer aussehenden Wandteppich. Dann gab es noch eine Anrichte mit Telefon und Pinboard. Daran hingen viele kleine weiße Zettel mit Notizen und Telefonnummern. Eine Tür führte in Himekos Arbeitszimmer. Es war hell und freundlich eingerichtet, und die Aktenschränke ordentlich verschlossen. Auf dem Schreibtisch stand ein PC samt Flachbettscanner und Drucker. Aktenmappen stapelten sich in einer Ablage mit der Aufschrift »unerledigt«. Die Ablage mit »erledigt« enthielt nur ein paar Briefe. Haruka verließ das Zimmer wieder und machte die Tür sorgfältig hinter sich zu. Ihre Tante brauchte nicht zu wissen, daß sie sich alles angeschaut hatte. Wer weiß, ob es ihr recht wäre. Ein weiteres Zimmer war das Bad, diesmal mit gräßlich gelben Kacheln, aber auch sehr modern eingerichtet, sogar mit Whirlpool. Die Ablage unter dem Spiegel war vollgestellt mit kleinen und großen Parfümflaschen aller Arten. Eine kleine Tür führte in eine Art Gästeklo. Da gab es nun wirklich nichts besonderes zu sehen. Auf der Fensterbank stand ein weinroter Aschenbecher, der, dem Inhalt und dem Gestank nach zu urteilen, recht oft benutzt wurde. Himeko schien ja öfters »nervös« zu sein. Danach kam die Küche. Hier gab es keinen Tisch und keine Stühle, sondern lediglich die Möbel. Es war eine schicke, sehr moderne Küche mit allem möglichen Krimskrams. Die weißen Schubladen hatten blaue Griffe, und die Spüle hatte zwei Wasserhähne, die mit »warm« und »kalt« beschriftet waren. Überall herrschte eine peinliche Ordnung. Im Eßzimmer stand an der Wand ein riesiger Schrank. In der Mitte des Zimmers befand sich ein großer Tisch mit einer weißen Tischdecke, und darum herum standen mindestens acht Stühle. Himeko schien oft Gäste zu haben. Neben einer Glastür, die ins Freie führte, stand eine riesige Topfpflanze, und daneben befand sich eine große Standuhr, die 17.00 Uhr zeigte. Neben dem Fenster stand ein Schaukelstuhl. Das Wohnzimmer war riesig. Im hinteren Teil des Raumes befand sich ein großer Schrank mit Glastüren, durch die Haruka Porzellan erkennen konnte. Auf einem runden Tischchen stand eine Pflanze. Die großen Fenster waren blitzblank geputzt. Sie hatten dunkelrote Brokatvorhänge. Auf der Fensterbank standen viele Pflanzen, einige hingen auch von der Decke herunter. Die Couchgarnitur, die um den Glastisch herumstand, war aus dunklem Leder. Eine Stehlampe befand sich direkt neben der Couch. Auf dem Tisch lag eine Fernbedienung. In einer Ecke stand ein Fernsehapparat mit Videogerät, in der anderen eine Stereoanlage. Auf dem dicken Teppich lag kein Krümelchen. Der offene Kamin war aus Stein. Auf dem Kaminsims standen alle mögen Vasen und Skulpturen. Ein großes, in einen goldenen Rahmen gefaßtes Bild, hing an der Wand. Wo kein Teppich lag, konnte man den Parkettboden sehen. Haruka verließ das Wohnzimmer wieder und kehrte ins Eßzimmer zurück. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt machen sollte. Schließlich beschloß sie, sich den Park anzusehen. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. Sie öffnete die Glastür. Ein frischer Wind wehte herein. Haruka konnte die Terrasse sehen. Auf den Gartenmöbeln befanden sich zu dieser Jahreszeit keine Polster. Auf dem Tisch lag eine zusammengewickelte Hängematte. Ein Grill und eine Badekabine standen in der Ecke. Plötzlich schoß aus einer Ecke der weiße Spitz hervor. Er fing fürchterlich an zu kläffen und umtanzte Harukas Beine. „Halt deine Klappe, du Mistköter!“ schimpfte Haruka. „Hast du nicht gehört? Ruhe!“ Der kleine Hund bellte sich heiser. Er fing an zu knurren. Dann schnellte er vor und schnappte nach Harukas Wade. Sie konnte den Fuß gerade noch wegziehen. „Du blödes Vieh!“ legte sie los. „Wenn du nicht sofort...“ „Wauwauwauwauwau!“ ging es schon wieder los. Dann gewahrte der Hund die offene Tür. Er hörte nicht auf zu bellen, fegte auf die Tür zu und verschwand nach draußen. Einen Augenblick lang war Haruka ganz erschrocken. Schließlich hatte die Tante gesagt, daß sie den Köter nicht rauslassen sollte. „Verdammt!“ knurrte sie. „Jetzt darf ich dieses Mistvieh wieder einfangen! Mir bleibt aber auch gar nichts erspart!“ Kapitel 3: Kaiou Michiru ------------------------ Als Haruka auf die Terrasse trat und von dort aus in den Park ging, war von dem Spitz natürlich keine Spur mehr zu sehen. Man hörte ihn nicht einmal mehr bellen. „Fiffi!“ rief Haruka unwillig. „He, Fiffi, komm wieder her! Fiffi!“ Am liebsten wäre sie hineingegangen und hätte die Tür hinter sich zugeschlagen. Aber wer weiß, wie die Tante reagierte, wenn ihr geliebter Fiffi verschwunden war! „Fiffi! Fiffi!“ lockte Haruka. „Komm schon her! Na wird’s bald! Fiffi! Fiiiffiii!“ Aber kein Fiffi ließ sich blicken. Haruka hoffte insgeheim, daß das Vieh für immer verschwunden war. Der Kläffer war ja schrecklich! Plötzlich ertönte aus dem angrenzenden Garten ein gellender Schrei, und dann rief eine helle Mädchenstimme: „Oh nein, wer hat dieses Mistvieh rausgelassen!“ Haruka grinste. Ganz so weit war es mit Fiffis Beliebtheit bei den Nachbarn wohl nicht her. Sie ging hinüber zu der Hecke, die den Garten vom Nachbargrundstück trennte. Dort gab es ein kleines Tor. „Hallo!“ rief Haruka hinüber. Schritte ertönten. Dann sah sich Haruka einem Mädchen in ihrem Alter gegenüber. Sie war klein und zierlich mit schmalen Schultern und feinen, weichen Gesichtszügen. Ihre meerblauen Augen wirkten verträumt, und sie hatte schulterlange türkisfarbene Locken, die ihr über die Schultern fielen. Sie trug einen langen rosafarbenen Rock, einen weißen Pulli und darüber eine dünne kurze rote Jacke. Die Absätze ihrer Halbschuhe klapperten auf dem geplätteten Gartenweg. „Ja?“ fragte sie und sah Haruka verwundert an. „Ähem, hi“, sagte diese, „hast du nicht eben was von einem Mistköter geschrien?“ Das Mädchen verschränkte die Arme. „Ach“, sagte sie ärgerlich und hob die Augenbrauen, „warst du das etwa, der den Hund freigelassen hat?“ Haruka grinste breit. Das „der“ war ihr nicht entgangen. Sie mochte es, wenn man sie für einen Jungen hielt. Es schmeichelte ihr, und sie tat nichts dazu, um das Mißverständnis aufzuklären. „Tut mir leid“, sagte sie statt dessen. „Ich hab die Tür aufstehen lassen. Wo ist denn Tante Himekos heißgeliebter Fiffi jetzt abgeblieben? Sie bringt mich glatt um, wenn ihm was passiert?“ „Tante Himeko?“ wiederholte das Mädchen. „Ach, ich wußte gar nicht, daß Mrs. Tenô einen Neffen hat! Bist du hier zu Besuch?“ „Falsch“, antwortete Haruka, sich erneut das Lachen verbeißend. „Ich wohne jetzt hier.“ Überrascht sah das Mädchen sie an. „Was? Das glaub ich nicht! Ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, daß ausgerechnet Mrs. Tenô... die ist doch fast nie Zuhause... aber lassen wir das. Dein Hündchen ist irgendwo hier im Garten. Warte, ich mach das Tor auf.“ Sie schob den Riegel zurück, und Haruka kam herüber. „Mein Hündchen wäre wohl etwas übertrieben“, meinte sie. „Ich bin zwar erst vor ungefähr einer Stunde angekommen, aber das Mistvieh und ich werden bestimmt keine Freunde, das kann ich dir jetzt schon sagen!“ „Gratuliere“, lachte das Mädchen. „Genauso geht’s mir auch. Dieser Spitz ist der größte Kläffer, den ich kenne!“ Sie grinste. „Du mußt ihn mal sehen, wenn Mrs. Tenô mit ihm Gassi geht – da hat er so eine Hundeweste an und rosa Schleifchen im Fell...“ „Oh mein Gott!“ stöhnte Haruka. „Ich hoffe nur, ich muß nicht mit dem Vieh Gassi gehen. Dann streike ich nämlich!“ Wütendes Gebell ertönte von irgendwoher. Haruka folgte dem Mädchen in den hinteren Teil des Gartens. Dort war der Spitz gerade dabei, in der Erde zu graben. Sein Fell war verdreckt, und der Weg lag voller Schmutz und Erde. „Oh nein!“ schimpfte das Mädchen. „Schau, was dein Fiffi angerichtet hat! Das war das Salatbeet meiner Mutter!“ Tatsächlich, zwischen all der Erde befanden sich sowas wie Feldsalatblätter. Haruka stöhnte. Ihre Ankunft hier stand ja unter keinem guten Stern. „Komm her, Fiffi!“ befahl sie. „Na wirst du wohl! Komm sofort her! FIFFI!“ Fiffi reagierte nicht. Er grub unbeirrt weiter. „Gib’s auf, der hört nur auf sein Frauchen“, erklärte das Mädchen. Sie sah sich um, schnappte sich eine grüne Gießkanne, die auf einer Regentonne stand und schüttete Fiffi deren Inhalt über den Kopf. Fiffi jaulte entsetzt auf und schüttelte sich, so daß die Tropfen nur so flogen. Dann trottete er auf den Weg zurück. „Na toll!“ kommentierte Haruka sarkastisch. „Jetzt ist er nicht nur völlig verdreckt, sondern auch noch tropfnaß! Meine Tante killt mich, wenn sie ihn so sieht!“ „Hm“, überlegte das Mädchen, „dann müssen wir ihn eben baden.“ Haruka starrte sie an. „W... wie war das? Baden? Einen Hund?“ „Na, deine Tante badet ihn auch immer. Und du willst ihn ja wohl nicht so in die Wohnung lassen! Was meinst du, was deine Tante dir erzählt, wenn ihre sündhaft teuren Perserteppiche hinüber sind!“ Haruka dachte an die blitzsaubere Wohnung und merkte, daß das Mädchen recht hatte. „Na schön“, sagte sie. „Es wird uns wohl gar nichts anderes übrig bleiben.“ Sie bückte sich blitzschnell und packte Fiffi im Genick. Der Spitz jaulte kläglich auf. Die Lust zum Bellen und Knurren war ihm wohl gründlich vergangen. „Was dagegen, wenn ich mitkomme?“ fragte das Mädchen. „Fiffi wird gebadet – den Spaß werde ich mir auf gar keinen Fall entgehen lassen!“ Haruka fragte sich, ob das der einzige Grund war, weshalb sie mitkommen wollte. Vielleicht hing es ja damit zusammen, daß sie Haruka noch immer für einen Jungen hielt. „Klar“, sagte sie. „Wenn du mir sagst, wie man einen Hund badet...“ Sie warf einen hilflosen Blick auf Fiffi. Das Mädchen zuckte die Achseln. „Tja, das weiß ich leider auch nicht, aber wir werden’s schon irgendwie schaffen, ohne daß Fiffi uns hinterher für seine Todfeinde hält!“ Sie hielt inne. „Übrigens, ich heiße Kaiou“, stellte sie sich vor. „Kaiou und wie weiter?“ „Kaiou Michiru.“ „Das heißt »Beherrscherin der See«“, stellte Haruka fest. Michiru Kaiou lachte und strich sich eine türkisfarbene Haarsträhne aus der Stirn. „Das ist richtig. Ich bin auch eine richtige Wasserratte. Und wie heißt du?“ „Tenô Haruka.“ „Tenô Haruka... hm, das bedeutet »Ferner Himmel« oder »König der Lüfte«. Klingt interessant. Magst du denn den Himmel und die Luft?“ Sie lachte. „Tja, weißt du... irgendwie paßt der Name ja schon. Meine Freiheit geht mir nämlich über alles.“ Sie betrachtete den japsenden Fiffi. „Aber wir sollten unser Gespräch verschieben, sonst krepiert Tante Himekos Liebling noch.“ „Was auch nicht sehr schade wäre“, murmelte Michiru bedeutungsvoll. Die beiden gingen nach drüben in die Villa und fanden sich kaum eine Minute später in Mrs. Tenôs Badezimmer wieder. Als wüßte Fiffi, was mit ihm geschehen sollte, jaulte er herzzerreißend. „Er stinkt“, stellte Haruka fest. Sie sah Michiru an. „Also, was nun?“ „Hm...“ Michiru betrachtete stirnrunzelnd die Parfüms auf der Ablage unter dem Spiegel. „Ich habe noch nie so viele Parfümflaschen auf einem Haufen gesehen! Dieses hier kenne ich, und dieses auch, aber dieses...“ „Hey!“ stöhnte Haruka ungeduldig. „Hast du’s jetzt endlich mit deinem Parfüm!“ Ungern wandte sich Michiru von den Düften ab. Am Rande der Badewanne standen verschiedene Flaschen, deren Etiketten sie nun studierte. „Haarwaschmittel... Hautbalsam... Badesalz... Duschgel... milde Spülung... tja, kein Mittel, das irgendwie auf Hunde hinweist.“ Fiffi jaulte weiter und fing an zu zappeln. „Nimm irgend etwas“, schlug Haruka vor. „Es wird schon nicht schaden! Aber mach schnell, Fiffi fängt an zu zappeln!“ Michiru griff kurz entschlossen nach einer weißen Flasche mit der Aufschrift »Pfirsichduft«. „Was ist das?“ fragte Haruka mißtrauisch. „Ein Haarwaschmittel deiner Tante, das nach Pfirsichen duftet“, erwiderte Michiru, während sie den Deckel aufschraubte. Haruka setzte Fiffi in die Badewanne und hielt ihn mit einer Hand fest, während sie sich mit der anderen Hand die Ärmel von Hemd und Jackett hochkrempelte. „Na dann mal los“, murmelte Michiru, nahm den Duschkopf von der Halterung und schaltete das Wasser an. Als der Hund das Geräusch des laufenden Wassers vernahm, bellte er wie verrückt und versuchte aus der Wanne zu springen. Haruka brauchte beide Hände, um ihn festzuhalten. Als das Wasser die richtige Temperatur hatte, richtete Michiru den Strahl auf den Spitz. Der Tier jaulte und versuchte nach Haruka zu schnappen, aber das Wasser durchnäßte sein schmutziges Fell unaufhaltsam. In der gelben Wanne bildete sich eine dreckige Pfütze. Fiffi sah erbärmlich aus, und es roch ganz schrecklich nach Hund. „Beeil dich“, stöhnte Haruka, die bereits ganz naß war. Michiru schaltete das Wasser ab und begann, das Shampoo auf dem Fell zu verteilen. Fiffi schüttelte sich in einem fort, und bald schon waren Michiru und Haruka nicht nur tropfnaß, sondern auch noch voller schaumiger weißer Flecken. Schließlich spülte Michiru das Shampoo wieder herunter. Ein leichter Pfirsichduft lag nun in der Luft. Während Haruka den sich windenden Spitz in das nächstbeste Handtuch wickelte, spülte Michiru die Wanne sauber und stellte das Haarwaschmittel wieder an seinen Platz. „Jetzt müssen wir ihn nur noch trocken kriegen“, meinte Haruka. „Und uns selbst dann vielleicht auch noch.“ Michiru entdeckte auf der Fensterbank einen Plastikbeutel, in dem ein Fön aufbewahrt wurde. Sie nahm ihn heraus, steckte den Stecker in die Steckdose neben dem Waschbecken und richtete den Strahl auf Fiffi. Fiffi hatte jetzt endgültig die Nase voll. Er jaulte noch einmal kurz auf und biß Haruka in die Hand. Als diese ihn mit einem Schreckensschrei losließ, stürzte er wie wild kläffend zur Tür hinaus. „Auuu!“ schrie Haruka. „Du verfluchtes Mistvieh!“ „Tut es sehr weh?“ fragte Michiru erschrocken. „Vielleicht hältst du die Hand besser mal unter kaltes Wasser. Ich geh inzwischen mal nach Fiffi sehen.“ Sie trat auf den Flur und stöhnte entsetzt auf. „Oh nein!“ Haruka stürzte zu ihr. „Was ist denn jetzt schon wieder?“ Und da sah sie es auch schon selbst. Mitten auf dem Flur stand Fiffi und schüttelte sich. Der Hund war zwar wieder sauber, aber dafür zierte den roten Teppich nun ein breiter, dunkler nasser Fleck. „Verdammter Köter!“ schrie Haruka zornig. „Hättest du dich nicht irgendwo anders schütteln können! Mach, daß du mir aus den Augen kommst!“ Im selben Augenblick öffnete sich die Flurtür und auf der Schwelle erschien niemand anders als Mrs. Himeko Tenô, Harukas Tante! Mrs. Tenô starrte Haruka und Michiru sprachlos an, wie sie da naß und voller Shampooflecken auf dem Flur standen, Haruka mit einer Bißwunde an der Hand, Michiru mit dem Fön. Dann gewahrte sie den Fleck auf dem Teppich und schnappte entgeistert nach Luft. „Tante Himeko...“, fing Haruka langsam an, „das tut mir echt leid, wir... wir wollen nur... also Fiffi hat... ist... äh...“ „Das ist alles meine Schuld“, jammerte Michiru. „Ich hab gesagt, wir sollen ihn baden!“ „Baden!?“ fragte Mrs. Tenô fassungslos. „Sie meinen doch nicht etwa meinen kleinen Fiffi!?“ Sie fuhr herum und sah Haruka wütend an. „Haruka, du sagst mir sofort, was hier vor sich geht!! Auf der Stelle!!“ Haruka blieb nichts anderes übrig, als ihrer Tante die ganze Geschichte zu erzählen. Kopfschüttelnd hörte Mrs. Tenô zu, bevor sie dann ins Wohnzimmer stürzte und nach ihrem Fiffi sah, der sich im Hundekorb hinter der Ledercouch verkrochen hatte. „Au weia!“ murmelte Michiru. „Das gibt Ärger!“ Sie gingen ins Badezimmer zurück, und während Michiru den Fön wieder in die Plastiktasche steckte, ließ Haruka das Handtuch unauffällig im Wäschesack verschwinden. Wenigstens war die Wanne einigermaßen sauber. „Wie geht es deiner Wunde?“ fragte Michiru schüchtern. „Tut sie weh? Du mußt sie wirklich unter kaltes Wasser halten, das hilft. Und dann solltest du ein Pflaster drauf tun, damit kein Schmutz und keine Bakterien reinkommen.“ „Danke für den Tip“, sagte Haruka gereizt. Michiru wagte es nicht, noch einmal etwas zu sagen. Wortlos ging sie zu dem Verbandskasten, der an der Wand neben der Dusche hing und kramte darin herum, bis sie eine Salbe und ein Pflaster gefunden hatte. Nachdem Harukas Wunde versorgt war, gingen die beiden kleinlaut ins Eßzimmer, wo Mrs. Tenô mit einer Tasse Kaffee am Tisch saß und ihnen streng entgegensah. Fiffi lag auf ihrem Schoß und zitterte. Er jaulte erschrocken auf, als er die beiden Mädchen erblickte. „Da schaut, was ihr angerichtet habt!“ schimpfte Mrs. Tenô. „Mein armer Liebling! Haruka, ich scheine mich in dir getäuscht zu haben. Ich habe dich eigentlich für ein reifes, vernünftiges Mädchen gehalten, das...“ Sie wurde von Michiru unterbrochen, die nach Luft schnappte und sich nach Haruka umdrehte. „Du... du bist...!?“ stammelte sie mit großen Augen. Haruka grinste breit. „Ich habe nie gesagt, daß ich ein Junge bin, oder?“ lachte sie. Michiru warf ihr einen entsprechend wütenden Blick zu und verschränkte die Arme, sagte jedoch nichts. „Was soll jetzt dieser Unfug schon wieder?“ regte sich Tante Himeko auf. „Und wie bitte seid ihr auf die dumme Idee gekommen, meinen Fiffi zu baden?“ Haruka war nahe dran zu explodieren. „Dein Fiffi war derart schmutzig, daß er gebaden werden mußte, ob es ihm nun gefallen hat oder nicht“, sagte sie ärgerlich. „Mäßige deinen Ton!“ fuhr die Tante auf. „Wie sprichst du denn mit mir! Michiru, was haben Sie dazu zu sagen?“ Michiru räusperte sich umständlich. „Ähem, na ja, Haruka hat recht, der... der Hund war wirklich total dreckig, und da hab ich vorgeschlagen, ihn zu baden...“ Sie brach verlegen ab. „Sie waren das also, die auf diese Schnapsidee gekommen sind!“ donnerte Mrs. Tenô. Dann seufzte sie. „Na ja, geschehen ist geschehen, und wenigstens habt ihr es gut gemeint! Ich hoffe nur, die Putzfrau bekommt den Fleck wieder aus dem Teppich, sonst könnt ihr etwas erleben! Und in Zukunft laßt ihr Fiffi in Ruhe, ist das klar?“ Michiru und Haruka tauschten einen Blick. „Mit dem größten Vergnügen!“ antworteten sie im Chor. „Was soll das jetzt wieder heißen?“ fragte die Tante mißtrauisch und trommelte mit den Fingern auf den Eßtisch. Ärgerlich runzelte sie die Stirn. „Da kommt man nach einem anstrengenden Geschäftsessen müde nach Hause, und dann sowas! Haruka, ich hoffe nicht, daß du vor hast, noch mehr derartige Aktionen zu starten!“ „Nein, sicher nicht“, murmelte Haruka mit einem Blick auf ihre verletzte Hand. „Na dann... übrigens, ich hatte vorhin ein Telefonat mit dem Direktor der Mugen Gakuen Schule. Du kannst morgen dann dort zur Schule gehen.“ Haruka machte kein besonders fröhliches Gesicht, während Michiru überrascht fragte: „Dann gehst du also auch auf das Mugen Gakuen College?“ „Du auch?“ fragte Haruka nicht sehr interessiert. „Ja“, sagte Michiru, und es klang, als freue sie sich wirklich. Mrs. Tenô seufzte. „Leider gibt es schon wieder Probleme, diesmal mit der Schuluniform. Sie hatten keine in deiner Größe, und darum wirst du wohl oder übel die Schuluniform der Jungen tragen müssen.“ Mißbilligend schüttelte sie den Kopf. Haruka sah sie an, und ihre Augen begannen zu funkeln. „Wirklich“, sagte sie vergnügt, „das ist aber sehr ... ärgerlich...“ „Das ist es, aber da kann man nichts machen“, meinte Mrs. Tenô. „Du wirst dich also damit abfinden müssen.“ Michiru sah Haruka an. Diese bemerkte ihren Blick und wandte sich nach ihr um. Michiru lachte und zwinkerte ihr vergnügt zu. Im Gegensatz zur Tante hatte sie sie durchschaut. „Ich werde jetzt einen kleinen Spaziergang mit Fiffi machen“, entschied Mrs. Tenô und trank ihren Kaffee aus. „Zu viele Aufregungen sind nicht gut für meine Verfassung. Wir sehen uns heute abend, Haruka. Auf Wiedersehen, Michiru.“ Mrs. Tenô verschwand im Flur, und die beiden Zurückbleibenden hörten, wie sie nach ihrem Schoßhündchen rief und ihm gut zuredete, sich die Leine anlegen zu lassen. Danach fiel die Haustür ins Schloß. „Ich würde sagen, Glück gehabt“, seufzte Michiru erleichtert und fuhr sich mit der Hand durch die türkisfarbenen Locken. Dann sah sie Haruka mit blitzenden Augen an. „Und jetzt zu dir, meine Liebe! Du wußtest genau, daß ich gedacht habe, du bist ein Junge und...“ „Ja, und ehrlich gesagt, das hat mir geschmeichelt“, lachte Haruka. „Das ist doch ein großes Kompliment! Ich wäre viel lieber ein Junge, um genau zu sein.“ Michiru sah sie verwundert an. „Darf ich auch fragen warum?“ wollte sie wissen. „Das ist einfach. Sieh dir zum Beispiel doch mal die Schule an... ich kenne keine Schule hier in Japan, wo Jungs nicht bevorzugt würden. Oder ich fahre Motocross-Rennen. Da heißt es dann hinterher, ich sei nicht normal, weil ich als einziges Mädchen gegen lauter Jungs gefahren bin. Daß ich gewonnen und mir den Sieg ehrlich erkämpft habe, interessiert keinen. Mädchen werden unterdrückt. Das war schon immer so. Ich habe bis jetzt eine Internatsschule besucht und am eigenen Leib gespürt, wie es ist, »nur« eine Frau zu sein.“ „Das ist wahr“, sagte Michiru überraschenderweise. Sie runzelte die Stirn, schien etwas sagen zu wollen, schwieg jedoch. „Was wolltest du sagen?“ fragte Haruka, die sie beobachtet hatte. Michiru schien zu zögern. Dann lächelte sie. „Ach, nichts weiter. Ich muß jetzt gehen. Wir sehen uns sicher morgen in der Schule. Wetten, daß dich da auch alle für nen Jungen halten?“ Sie zwinkerte Haruka zu. Haruka lachte laut auf. „Ja, das ist natürlich möglich“, schmunzelte sie. „Ich werd jedenfalls keinen Kommentar dazu abgeben. Also, ich muß. Bye!“ Sie öffnete die Glastür und war wenig später wieder in ihrem eigenen Garten. Haruka sah ihr nach. Nettes Mädchen, dachte sie. Nicht so versnobt wie die aus dem Internat, sondern mehr natürlich. An diesem Abend sah Haruka ihre Tante nicht mehr. Sie kam recht spät mit Fiffi von dem Spaziergang zurück, und Haruka, die oben vor dem Fernseher saß, konnte nur hören, wie sie gleich darauf Fiffi das Fressen bereitstellte und dann in ihrem Arbeitszimmer verschwand. Haruka genoß es, den Abend mit Chips und Coke vor dem Fernseher zu verbringen, und sie schaffte es tatsächlich, bis Mitternacht aufzubleiben. Als sie dann aber vor dem Horrorfilm einzuschlafen drohte, siegte die Vernunft. Sie ließ ihre Abfälle liegen – hatte die Tante nicht was von einer Putzfrau gesagt? – und ging ins Bad, um sich zu waschen, die Zähne zu putzen und sich den blauweißgestreiften Schlafanzug anzuziehen, der noch aus Internatsbeständen stammte. Dann ging sie in ihr Schlafzimmer, wo sie sich inzwischen einigermaßen eingerichtet hatte. Die scheußlichen Bilder hatte sie abgehängt und unter ihr Bett geschoben, statt dessen hingen nun überall Poster, die Autos und Motorräder zeigten und die auch sonst irgendwie auf ihr Hobby hinwiesen. Ein paar Sience fiction-Romane und Neon Genesis Evangelion-Mangas lagen auf dem Schreibtisch herum. Haruka nahm sich Persendons Universum mit ins Bett und versuchte noch etwas zu lesen, aber schon nach den ersten fünf Seiten fielen ihr die Augen zu und sie legte das Buch auf den Nachttisch und machte das Licht aus. Der Tag war anstrengend gewesen, und sie brauchte ihren Schlaf, um für die Schule morgen fit zu sein. Es dauerte nicht lange, da war sie eingeschlafen. Kapitel 4: Der erste Schultag ----------------------------- Der Wecker klingelte schrill und alarmierend. Haruka drehte sich auf die andere Seite und preßte ihr Kopfkissen gegen die Ohren. Ihre sandfarbenen Haare standen nach allen Seiten ab, als sie schließlich den Kopf hob und verschlafen in das dunkle Zimmer blinzelte. Sie mußte sich zuerst einen Augenblick lang besinnen, wo sie war, bis ihr einfiel, daß dies ihr erster Tag bei ihrer Tante war und auch ihr erster Schultag an der Mugen Gakuen Schule. Seufzend schaltete sie den Wecker aus. Eine wohltuende Stille breitete sich aus. Gähnend schälte sich Haruka aus ihren Decken und tappte zum Fenster, um das Rollo hochzuziehen. Draußen war es stockdunkel. Es war Haruka schon immer verhaßt gewesen, zu so früher Stunde aufzustehen, und sie überlegte allen Ernstes, ob sie sich nicht weigern und wieder ins Bett liegen sollte. Schließlich lief ihr die Schule ja nicht weg. Aber gerade, als sie darüber nachdachte, klopfte es an die Tür und Mrs. Tenô kam in einem weißen seidenen Morgenmantel und Lockenwicklern im Haar herein. Sie roch nach einem starken Parfüm, so daß Haruka unwillkürlich die Nase rümpfte. „Ich sehe, daß du aufgestanden bist“, bemerkte sie treffend ohne einen guten Morgen zu wünschen. „Nun, wenigstens bist du keine Langschläferin. Ich mag das nicht, wenn jemand ewig lange schläft. Die Nachbarn könnten einen falschen Eindruck bekommen, wenn um neun Uhr noch das Rollo unten ist. Also richte dich am Wochenende bitte daran, spätestens um neun aufzustehen.“ „Sicher“, antwortete Haruka. „Das Tagesmädchen ist schon hier, sie hat dir deine Schuluniform gebügelt und ins Badezimmer gelegt. Beeil dich bitte. Ich werde dich heute zur Schule fahren, wir haben einen Termin bei Direktor Dr. Tomoe, und er legt großen Wert auf Pünktlichkeit.“ Sie rauschte wieder hinaus, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. „Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, liebe Tante“, sagte Haruka säuerlich in Richtung Tür. Sie war von jeher ein Morgenmuffel, und die unterkühlte Art ihrer Tante am Morgen trug nun nicht gerade sehr dazu bei, um ihre Stimmung zu heben. Haruka ging ins Bad hinüber und duschte erst einmal ausgiebig. Als sie sich wusch und sich die Zähne putzte, hörte sie Fiffi unten kläffen und die Tante sagte liebevoll: „Ja, mein Liebling, hier hast du dein Freßchen!“ Fiffi bellte noch einmal, es klang recht munter. Er schien sich gut erholt zu haben. Haruka mußte laut auflachen beim Gedanken daran, wie sie und Michiru den armen Spitz gestern gebadet und mit Tante Himekos Pfirsich-Shampoo gewaschen hatten. Es war zu komisch gewesen! Das würde ihnen Fiffi garantiert nie verzeihen! „Beeil dich!“ rief Tante Himeko ungeduldig aus dem Erdgeschoß, und Fiffi bellte dazu in den höchsten Tönen. „Blödes Vieh“, brummte Haruka, spukte die Zahnpasta in das Waschbecken und antwortete: „Ja, mach ich!“ Sie wandte sich um. An einer in der Wand eingelassenen Halterung hatte das Tagesmädchen die Schuluniform der Mugen Gakuen Schule hingehängt. Dazu gehörten ein weißes Hemd, eine grünschwarz gestreifte Krawatte, ein dunkelrotes Jackett mit aufgesticktem Wappen, eine grünschwarz karierte Stoffhose, weiße Strümpfe und dunkle Halbschuhe. Haruka war froh, daß sie keinen Rock anziehen mußte. Sie haßte Röcke. Harukas Frühstück bestand lediglich aus einem Apfel und einer Banane. Sie hatte so das Gefühl, als würde sich ihr neues Zuhause nicht unbedingt positiv auf ihre gesunde Ernährung auswirken. Wenig später saß sie, ihre schwarze Schulmappe auf dem Schoß, neben ihrer Tante im Mercedes. „Ich hoffe doch sehr, daß du bald dein Auto und dein Motorrad hier hast. Ich kann dich nicht jeden Morgen zur Schule fahren. Heute Nachmittag nimmst du den Bus, hast du verstanden? Informiere dich, wann er fährt. Wenn ich gesehen habe, wie du Auto fährst, kann ich dir dann auch mal den Zweitwagen überlassen... verlier bitte den Haustürschlüssel nicht, hast du verstanden! Haruka, sieh mich an, ich rede mit dir! Und denk daran, immer höflich zu sein! Wehe, du machst mir Schande!“ Die Mugen Gakuen Schule war in einem Hochhaus im Zentrum Tokios untergebracht. Das Gebäude war riesig und sah aus, als könne man sich darin verlaufen. Mrs. Tenô schien sich auszukennen. Sie führte Haruka durch eine große Eingangshalle eine Treppe hinauf bis ins oberste Stockwerk. Haruka hatte das Gefühl, noch nie so eine lange Treppe gegangen zu sein. Während sie sich fragte, wie viele Stockwerke dieses verflixte Haus eigentlich hatte, klopfte Mrs. Tenô bereits an eine Tür mit der Aufschrift »Rektorat«. An einem länglichen Schreibtisch saß eine junge Frau vor einem PC und tippte etwas ein. „Entschuldigen Sie bitte, mein Name ist Tenô. Ich habe einen Termin bei Dr. Tomoe.“ Sie zeigte auf Haruka. „Es geht um meine Nichte.“ Die Sekretärin stand sofort auf und ging auf eine Tür im hinteren Teil des Raumes zu. „Einen Augenblick bitte.“ Sie verschwand hinter der Tür. Gedämpfte Stimmen wurden laut. Dann kam sie wieder heraus und verkündete: „Bitte kommen Sie herein. Dr. Tomoe erwartet sie bereits.“ Das Büro des Direktors war sehr groß. Der breitschultrige, weißhaarige Mann saß in einem mit dunklem, glatten Leder bezogenen Sessel. Er stand sofort auf, als Mrs. Tenô hereinkam und wechselte ein paar Worte mit ihr. Dann wandte er sich Haruka zu. „Sie sind also Miss Haruka, die Nichte von Mrs. Tenô. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Hoffentlich leben Sie sich hier bald ein. Die Mugen Gakuen Schule gehört zu den exklusivsten Schulen dieses Landes für besonders begabte Schüler. Sie beherbergt alle Ausbildungsstufen von der Grundschule bis zur Universität. Hier wird sehr viel Wert auf die fünf Teilgebiete Kunst, Philosophie, Mathematik, Physik und Technik gelegt. Ich hoffe also, daß Sie sich Mühe geben werden, eine gute Schülerin zu sein.“ „Ja“, antwortete Haruka wortkarg. Die Ausführungen des Direktors hatten sichtlich keinen Eindruck auf sie gemacht. Dr. Tomoe hob die Augenbrauen, sagte aber nichts mehr. Er bat Mrs. Tenô der Formalitäten wegen noch einen Augenblick zu verweilen und übergab Haruka ihre Bücher und was sie sonst noch brauchte. Wenig später stand sie, ihren Stundenplan in der einen, den Bücherstapel in der anderen Hand, etwas ratlos auf dem Flur. Mathematik im Zimmer 435. Na großartig. Vielleicht hätte sie fragen wollen, wo Zimmer 435 war. Aber das hätte den Eindruck gemacht, als interessiere sie sich wirklich dafür. Und genau das tat sie nicht. Im Grunde war es ihr völlig egal. Nach endloser Suche und nachdem sie den Bücherstapel unzählige Male umgeschichtet hatte, stand sie schließlich vor dem gesuchten Raum. Drinnen war eine Frauenstimme zu hören, die etwas zu erklären schien. Kurz entschlossen öffnete Haruka die Tür. Lauter fremde Gesichter, alles Schülerinnen und Schüler des Mathekurses, wandten sich ihr zu und starrten sie an. Die Jungs trugen die gleiche Uniform wie Haruka, die Mädchen trugen die dunkelrote Bluse mit dem schwarzen Matrosenkragen und der grünschwarz karierten Schleife, den knielangen grünschwarz karierten Faltenrock, weiße Söckchen und schwarze Lackschuhe. Die Lehrerin, eine junge Frau mit kurzen dunklen Haaren, runzelte die Stirn. „Ja bitte?“ fragte sie ungehalten. „Können Sie nicht anklopfen? Weshalb kommen Sie einfach so hier herein? Was wollen Sie?“ „Ich bin die neue Schülerin“, antwortete Haruka ruhig. „Soso“, sagte die Lehrerin etwas erstaunt, während sie Haruka von oben bis unten betrachtete, „Sie sind also die neue Schülerin! Sachen gibt’s... wieso tragen Sie nicht die Schuluniform der Mädchen? Hat Ihre seltsame Aufmachung irgendeinen vernünftigen Grund?“ Haruka fing an sich zu ärgern. „Hat sie“, erwiderte sie spitz. „Ihre Schule hatte keine passende Schuluniform für jemanden mit meiner Größe. Sie müssen also mit dieser Uniform vorlieb nehmen, es sei denn, Sie ziehen es vor, mir die Beine abzuhacken, damit ich Sie nicht länger überrage.“ In der Tat war Haruka einen ganzen Kopf größer wie die Lehrerin. Die Schüler brachen in ein lautes Gelächter aus. „Ruhe!“ donnerte die Lehrerin. Sie runzelte die Stirn und sah Haruka wütend an. „Hören Sie mal, Miss, wenn Sie glauben, hier den Klassenclown spielen zu müssen, dann haben Sie sich aber gründlich getäuscht! Mit mir nicht! Und jetzt machen Sie die Tür zu und setzen sich hier in die erste Reihe! SOFORT!“ „Einen Augenblick“, widersprach Haruka. „Da hinten sind genug Plätze frei. Ich ziehe es vor, mich dort hin zu setzen.“ Die Lehrerin schnappte nach Luft. „Sagen Sie mal, was glauben Sie, wer Sie sind!? Wie sprechen Sie denn mit mir! Wenn Sie so weitermachen, sind Sie die längste Zeit Schülerin an der Mugen Gakuen Schule gewesen!“ „Na, das wär ja endlich mal was positives!“ lachte Haruka, ging zur letzten Reihe und warf dort ihre Bücher mit einem Knall auf den Tisch. „Wir sprechen uns noch, Miss!“ zischte die Lehrerin mit hochrotem Gesicht und wandte sich wieder der Tafel zu. Das Mädchen, das am Tisch vor Haruka saß, wandte den Kopf. „Du solltest Mrs. Ishigama nicht so reizen“, warnte sie. „Sie ist im Stande und meldet dich dem Direktor!“ „Von mir aus“, erwiderte Haruka achselzuckend. Das war sie vom Internat her gewohnt. „Du siehst wie ein Junge aus“, kicherte das Mädchen, dessen Interesse an Mathematik offenbar nicht so groß war. Sie unterhielt sich lieber mit Haruka. „Vielleicht solltest du dich als Junge ausgeben und in eine Jungenschule gehen. Da hättest du sicher mehr Beifall bekommen mit deiner Masche!“ „Miss Mikara! Und Sie, Neue! Was fällt Ihnen ein, in meinem Unterricht Privatgespräche zu führen!“ donnerte Mrs. Ishigama. Sie sah Haruka ärgerlich an. „Los, an die Tafel! Lösen Sie doch bitte diese Aufgabe! Ich hoffe für Sie, daß Sie aufgepaßt haben!“ Haruka stand auf. „Nein“, sagte sie, „ich habe nicht aufgepaßt, aber ich weiß trotzdem, wie diese kinderleichte Aufgabe gerechnet wird. Und zwar wie sie richtig gerechnet wird.“ Und damit ging sie nach vorne und schrieb die Aufgabe so an, wie sie es im Internat gelernt hatte. Eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich räusperte sich Mrs. Ishigama. „Nun gut, das ist in der Tat völlig korrekt. Aber in meinem Unterricht werden solche Aufgaben auf meine Art gerechnet. Ich muß Sie also bitten, in Zukunft meine Lösungsweise anzuwenden. Haben Sie das verstanden?“ „Nein, das habe ich nicht“, erwiderte Haruka ruhig. „Ich werde diese Aufgaben so lösen, wie sie richtig sind. Und Sie sollten das vielleicht auch tun. Ich glaube nicht, daß man mit Ihrer Art von Mathematik später mal sehr weit kommt.“ Totenstille im Klassenzimmer. Mrs. Ishigamas Gesicht war knallrot vor Zorn. Sie schmiß die Kreide zornig auf den Fußboden und schlug mit dem Lineal auf die Tischkante ihres Pultes. Es zerbrach in zwei Teile. Die Schüler fuhren alle zusammen. „Raus“, sagte Mrs. Ishigama, um Gelassenheit bemüht. „Das wird ein Nachspiel haben, das sage ich Ihnen! Und jetzt hauen Sie ab! Ich will Sie hier nicht mehr sehen!“ Mit jedem Wort wurde sie lauter. „RAUS!“ tobte sie, und alle fuhren zusammen. Haruka merkte, daß sie zu weit gegangen war. Sie hatte die Lehrerin ja nicht beleidigen wollen. Aber sie war nun mal kein Mensch, der gern ein Blatt vor den Mund nahm. Wortlos ging sie hinaus und machte die Tür leise hinter sich zu, obwohl sie sie am liebsten zugeschlagen hätte. In der Mittagspause wurde Haruka dann in die Direktion bestellt, wo ihr der Direktor sehr deutlich klarmachte, daß sie sich erstens bei Mrs. Ishigama zu entschuldigen und zweitens die Regeln der Schule zu beachten hätte. Da sie Mrs. Tenôs Nichte war, wollte er noch einmal ein Auge zudrücken. Aber Haruka merkte, daß er sehr ärgerlich war. Wahrscheinlich war sie knapp an einem Verweis vorbeigeschlittert – und das am ersten Schultag! Als Haruka die Treppen hinunter in die Halle ging, dachte sie nach. Die Entschuldigung würde ihr leichtfallen. Es tat ihr ja auch ehrlich leid. Die Lehrerin konnte ja nichts dafür. Außerdem war sie zwar ein sehr geradliniger und offenherziger Mensch und sagte, was sie dachte, aber sie war immer fair und eigentlich griff sie nie irgendwen ohne Grund an. Aber die zweite Bedingung des Direktors, die Regeln der Schule zu akzeptieren, paßte ihr nicht in den Kram. Es machte sie wütend. Der Unterricht in der Internatsschule war besser gewesen. „Hey! Haruka!“ Haruka fuhr herum. Sie war so in Gedanken gewesen, daß sie Michiru Kaiou überhaupt nicht bemerkt hatte, die am Fuße der Treppe in der Halle stand und sich über das Geländer zu ihr beugte. Die Schuluniform stand ihr gut, sie sah sehr hübsch darin aus. „Hast du nicht gehört?“ fragte sie. „Ich rufe dich schon eine Weile! Du schaust ja so grimmig... Ärger?“ Haruka grinste. „Seh ich so aus?“ fragte sie. „Wie war’s auf der Direktion?“ wollte Michiru mitfühlend wissen. Überrascht sah Haruka sie an. „Woher weißt du...?“ „Hier spricht sich alles sehr schnell herum“, antwortete Michiru. „Also, was ist passiert? Da gehen ja die reinsten Schauermärchen um, eine Geschichte hört sich schlimmer an als die andere!“ Haruka erzählte ihr, was sich ereignet hatte. Halb hatte sie erwartet, daß Michiru ihr eine Standpauke halten oder ihr den Rücken zukehren und weggehen würde, aber statt dessen mußte sie lachen. „Mein Gott, und das ausgerechnet bei Mrs. Ishigama!“ lachte sie. „Ich wäre zu gerne dabei gewesen! Endlich sagt jemand der blöden Kuh die Meinung! Haruka, du bist großartig!“ Haruka seufzte. Sie setzte sich auf die unterste Treppenstufe, und Michiru setzte sich neben sie. „Weißt du, Michiru, ich fühl mich ehrlich gesagt gar nicht so super“, gestand sie. „Was ich gesagt habe, entsprach zwar der Wahrheit, aber Mrs. Ishigama kann eigentlich nichts dafür. Sie muß nun mal unterrichten, was in ihrem Lehrplan steht und nichts anderes. Es ist nur, ich war so verdammt wütend in diesem Augenblick! Da kommt man herein und wird gleich angemacht, und das am frühen Morgen! Dann wird einfach entschieden wo man sitzen soll und schließlich darf man die Aufgaben nicht mal so rechnen, wie man es gelernt hat und wie sie richtig gehen. Das ist unfair, und es hat mich zum Explodieren gebracht! Ich hasse sowas!“ „Da bist du nicht die Einzige“, seufzte Michiru. „Mrs. Ishigama ist nicht gerade die beliebteste Lehrerin. Ihre Methoden würde ich nicht unbedingt als richtig bezeichnen. Aber was will man machen? Nicht jeder hat eine reiche Tante, die einem den Rücken freihält, wenn man Mist gebaut hat.“ Sie lachte. „Na ja, meine Tante hat...“, begann Haruka, als am anderen Ende der Halle ein großes, schlankes Mädchen mit großen blauen Augen und langen schokoladenbraunen Locken auftauchte und „Hey, hallo, Michie-Chan“ rief. Michiru lächelte. „Nerissa!“ Sie drehte sich zu Haruka um. „Es tut mir leid, aber ich muß gehen. Wir sehen uns sicher bald mal wieder!“ „Komm endlich, Michie!“ rief das Mädchen ungeduldig. Michiru rannte davon, und der grünschwarz karierte Rock flog um ihre schlanken Beine. Sie ging auf das Mädchen zu. Haruka achtete nicht weiter darauf, sondern ging zum Schwarzen Brett hinüber. Als sie kurz aufsah, gingen Michiru und das fremde Mädchen Arm in Arm in die Cafeteria. Haruka seufzte. Diese Michiru mochte ja ganz nett sein, aber alles andere hier, anfangen bei Tante Himeko und Fiffi bis hin zur Mugen Gakuen Schule war nun nicht gerade nach Harukas Geschmack. Sie rief sich den Mathekurs in Erinnerung und seufzte. Mrs. Ishigama... die Mitschüler... überhaupt diese ganze verdammte Schule... sie ballte die Fäuste und kniff die Augen zusammen. „Na wartet“, murmelte sie verbissen. „Ihr sollt mich kennenlernen!“ Kapitel 5: In der City ---------------------- In den nächsten paar Tagen entwickelte sich Haruka zu dem, was man allgemein als »den Schrecken aller Lehrer« bezeichnete. Sie glänzte in Fächern wie Sport, Computertechnik, Mathematik, Physik, Technik, Naturwissenschaften und Chemie, aber sie weigerte sich zum Hauswirtschaftsunterricht oder zur Handarbeitsstunde zu erscheinen, machte ihre Hausaufgaben in Englisch, Französisch und Japanisch entweder gar nicht oder total schlampig, gab keine Antworten, wenn sie aufgerufen wurde, sprach mit niemandem ein Wort, schwänzte die Kunststunde, las in der Musikstunde in ihren Sience fiction-Romanen und kam absichtlich fast jeden Morgen zu spät. Strafarbeiten ignorierte sie und zum Nachsitzen erschien sie erst gar nicht. Sie haßte diese Schule, haßte sie wie die Pest. Oft war sie launisch und gereizt und fing grundlos Schlägereien mit Jungs an. Am meisten vermißte Haruka ihr geliebtes Motorrad. Sie langweilte sich oft so sehr, daß sie sich sogar dazu herabließ, mit Fiffi Gassi zu gehen. Gewöhnlich verbrachte sie ihre Nachmittage damit, für Motocross-Rennen zu trainieren oder an ihrem Wagen herumzubasteln oder einfach so mit dem Motorrad zu fahren. Aber ohne ihr Motorrad war ihr ganz entsetzlich langweilig. Sie übte sogar freiwillig Klavier, obwohl sie das im Internat nicht besonders gemocht hatte. Meist aber lag sie auf ihrem Bett und las Motorradzeitschriften, Mangas oder Sience fiction-Romane, oder sie stellte die Stereoanlage auf volle Lautstärke, so daß die Fensterscheiben bebten, oder sie saß vor dem Fernseher und aß Chips. An einem Samstag morgen lag Haruka mal wieder in der Hängematte. Obwohl es noch recht kühl war, hatte sie es drinnen nicht mehr ausgehalten. So trug sie einen dicken weißen Rollkragenpulli und Jeans. Sie versuchte sich auf ihre Motorradzeitschrift zu konzentrieren, aber irgendwie gelang es ihr nicht. Sie gähnte. Drinnen bellte Fiffi. Die Tante war schon lange unterwegs. Sie hatten heute irgendeine wichtige Tagung in der Firma. Nicht, daß es Haruka interessiert hätte, ob ihre Tante nun hier war oder nicht. Sie kümmerte sich ja doch nicht um sie. Manchmal sah sie sie nur für ein paar Minuten am Tag. Haruka stand auf und wollte ins Haus zurückgehen, um sich irgend etwas im Fernsehen anzusehen, als sie plötzlich stehenblieb und lauschte. Aus dem Nachbargarten ertönte Musik. Jemand spielte auf einer Geige. Es klang wunderschön und tieftraurig. Von Neugierde geplagt, schlüpfte Haruka durch das Tor in den Nachbargarten hinüber und ging den geplätteten Weg entlang, bis sie auf eine riesigen Rasenfläche gelangte, in deren Mitte sich ein großer Schwimmingpool befand. Ein Stück vom Wasser entfernt, zwischen ein paar großen schwarzen Blumentöpfen, in denen Oleander wuchsen, stand Michiru Kaiou. Sie trug einen weißen Pullover und ein violettes Trägerkleid und hatte ein ebensolches Band im Haar. Im Arm hielt sie eine Geige und spielte selbstvergessen diese wunderschöne, aber so sehr traurige Melodie. Ihre Augen waren geschlossen. Haruka lehnte sich gegen eine Hecke und beobachtete sie. Ihre Bewegungen waren anmutig und voller Grazie. Für einen Moment hielt sie mit dem Spiel inne und griff in die Tasche ihres Rockes. Zu Harukas Verwunderung holte sie eine Zitrone hervor, warf sie in die Luft und begann wieder auf der Geige zu spielen, diesmal allerdings ziemlich rasant. Während sie diese schnelle Melodie spielte, drehte sie sich immer um sich selbst. Sie schien eine Art Tanz aufzuführen. Immer, wenn die Zitrone zu Boden fallen wollte, prallte sie dann am Griff der Geige ab. Haruka wunderte sich, wie Michiru mit geschlossenen Augen wissen konnte, wo die Geige herunterfallen würde und wohin sie sich drehen mußte. Aber sie schien keinerlei Probleme zu haben. Ruhig und sicher waren ihre Bewegungen, und sie zeigte auch keinerlei Zögern oder riskierte einen schnellen Blick. Wahnsinn, dachte Haruka, wie macht sie das nur? Das grenzt ja fest schon an Zauberei! Sowas hab ich noch nie gesehen! Im Internat konnten zwar auch einige Mädchen ausgezeichnet Geige spielen, aber... Michiru brach plötzlich mitten in der Melodie ab und ließ die Geige sinken. Während sie langsam die Augen öffnete, fing sie die Zitrone mit der freien Hand auf. Haruka kam nicht darum herum, bewundernd zu klatschen. Erschrocken sah Michiru in ihre Richtung. Als sie Haruka erkannte, lächelte sie. „Hallo“, sagte sie etwas verlegen, „ich wußte gar nicht, daß ich Zuschauer habe! Wie lange bist du schon hier?“ „Ungefähr zwanzig Minuten“, antwortete Haruka und kam näher. „Sag mal, wie machst du das?“ erkundigte sie sich. „Ich meine das mit der Zitrone! Was für ein exzellenter Trick!“ Michiru lachte. „Da ist kein Trick dabei“, versicherte sie. „Einfach nur Begabung... und vor allem aber Übung! Und zwar sehr viel Übung!“ „Ja, das kann ich mir vorstellen“, meinte Haruka. „Ich wußte nicht, daß du ein Instrument spielst.“ Michiru lächelte. „Ich weiß ja auch nicht, ob du ein Instrument spielst.“ „Ich muß eines spielen bzw. mußte. Das war im Internat so Pflicht. Inzwischen bin ich aber aus der Übung.“ „Was spielst du?“ erkundigte sich Michiru interessiert. „Klavier.“ Haruka spürte, daß sie rot wurde. Sie hätte das lieber für sich behalten, um weiterhin als die unberechenbare, unnahbare Außenseiterin zu gelten. Michiru aber schien sich nichts dabei zu denken, daß ausgerechnet jemand wie Haruka Tenô, die mehr ein Junge als ein Mädchen war, Klavier spielte. Im Gegenteil, sie schien sich zu freuen. „Vielleicht können wir mal zusammen spielen“, schlug sie vor. „Du auf dem Klavier und ich auf der Geige. Deine Tante hat doch ein Klavier, oder?“ „Eigentlich ist es ein uralter Flügel, der im Keller steht, aber zur Not würde es gehen. Ich habe ihn vorgestern versucht zu stimmen, aber das einzige Resultat war, daß meine Tante wütend in den Keller kam und mir vorhielt, ich würde absichtlich Lärm machen, wenn sie Besuch hat.“ „Du... äh... verstehst dich nicht besonders mit deiner Tante, oder?“ fragte Michiru vorsichtig. Haruka stöhnte. „Machst du Witze?“ fragte sie. „Wir sehen uns kaum, und wenn wir dann doch mal länger als fünf Minuten im gleichen Raum sind, überhäuft sie mich mit Ermahnungen und Fragen. Gestern behauptete sie doch glatt, ich würde mich zu männlich kleiden für ein Mädchen!“ Sie schnaubte ärgerlich durch die Nase. „Das finde ich nicht“, widersprach Michiru und blickte Haruka mit ihren unergründlichen meerblauen Augen an. „Mir jedenfalls gefällst du, wie du bist. Du hast so eine Art, um die ich dich beneide. Wenn du plötzlich anfangen würdest, Kleider und Röcke zu tragen, das würde nicht zu dir passen.“ Haruka grinste verlegen. „Findest du? Du bist die Erste, die mir sowas sagt. Im Internat habe ich ständig das Gegenteil zu hören bekommen.“ „Die müssen ja alle blind gewesen sein“, behauptete Michiru. Sie ging zum Haus hinüber und betrat den Wintergarten, der die Vorderfront zierte. Dort verstaute sie die Geige in einem Geigenkasten, der dort auf einem Holzbank lag und legte die Zitrone daneben. Dann wandte sie sich wieder nach Haruka um, die ihr gefolgt war und an der Tür lehnte. „Hm, Haruka, wenn du schon mal hier bist...“ Sie warf ihr einen flehenden Blick zu. „Könnten wir dann nicht was zusammen machen? Mir ist nämlich langweilig, weißt du.“ Haruka mußte lachen. „Wem sagst du das“, erwiderte sie. „Du bist nicht die Einzige. Mir ist ziemlich oft langweilig, seit ich hier bin. Eigentlich fast immer.“ „Ich sage jetzt nicht »Wenn du deine Hausaufgaben machen würdest und mehr für die Schule tätest, dann...«... das verkneife ich mir jetzt mal“, kicherte Michiru. Sie strich mit der Hand über den Geigenkasten. „Eigentlich hatte ich vor, heute in die Stadt zu fahren. Ein bißchen bummeln und so. Aber als ich dann an die überfüllten Busse Samstag morgens dachte, verging mir die Lust. Und ich bin nicht so sportlich, um mit dem Rad zu fahren. Vom Stadtrand ins Zentrum, das sind mit dem Rad ganze zwei Stunden.“ Haruka zuckte die Schultern. „Also wenn du magst, ich kann dich fahren“, schlug sie vor. Eine gute Gelegenheit, mal was anderes zu sehen als Tante Himekos Villa, dachte sie insgeheim. Überrascht sah Michiru sie an. „Aber du bist doch noch gar nicht alt genug, um Auto zu fahren!“ wandte sie ein. „Bin ich das nicht?“ grinste Haruka. „Ja, weißt du, ich hab meinen Führerschein im Ausland gemacht, darum.“ Michiru wurde rot. „Ach so“, murmelte sie verlegen. „Das wußte ich nicht. Und du hast einen eigenen Wagen?“ „Ja, aber der wird erst noch gebracht. Solange hat mir Tante Himeko einen Zweitwagen zur Verfügung gestellt. Wir könnten den nehmen.“ Michiru zögerte einen Augenblick, dann nickte sie. Ihre Augen leuchteten. „Au ja, das ist eine gute Idee! Ich muß nur noch rasch andere Schuhe anziehen... und meine Haare kämmen... und meine Handtasche holen... warte hier, ich bin in fünf Minuten zurück!“ Und damit drehte sie sich auf dem Absatz um und stürzte ins Haus. In der Innenstadt von Tokio herrschte wie immer reges Treiben. Haruka mußte zugeben, daß sie so etwas noch nicht erlebt hatte. Überall drängten sich Menschen mit Einkaufstüten, Körben und Taschen, und die Straßencafés waren übervölkert. „Ist das hier immer so?“ fragte sie verwundert. Michiru schlenkerte ihre Handtasche. „Nein, unter der Woche ist es hier ruhiger. Aber ich mag diesen Trubel. Ich liebe es, von Geschäft zu Geschäft zu gehen und mir dort die Waren anzusehen. Manchmal bummle ich nach dem Schwimmtraining oder nach dem Geigenkurs noch ein wenig durch die abendlichen Straßen und sehe mir die hell beleuchteten Schaufenster an.“ Die beiden verbrachten zwei Stunden damit, sich durch die Massen von Geschäft zu Geschäft zu kämpfen. Man konnte nicht gerade sagen, daß Haruka begeistert davon war, sich von Michiru von einer Boutique in die andere schleifen zu schleifen zu lassen, aber andererseits sah Michiru auch nicht besonders begeistert aus, wenn Haruka an keinem Computergeschäft vorbeigehen konnte. „Ich werd mir noch ein paar Mangas holen“, sagte Haruka abschließend. Überrascht blieb Michiru stehen. „Was denn... du stehst auf Mangas?“ fragte sie. „Was dagegen?“ knurrte Haruka. Sie hatte es schon im Internat gehaßt, mit ihrer Leidenschaft für Manga und Anime aufgezogen zu werden. Michiru schüttelte den Kopf und hakte sich überraschenderweise bei ihr ein. „Nein, ganz im Gegenteil! Dann bin ich wenigstens nicht mehr die Einzige! Was für Mangas magst du? EVA?“ Nun war es an Haruka zu staunen. „Du auch? Ehrlich gesagt, das hätte ich nicht gedacht! Und du magst EVA? Hey, davon hab ich alle Bände!“ „Du mußt mir ein paar leihen, ja, bitte!“ rief Michiru aufgeregt. „Ich bin schon wer weiß wie lange hinter den ersten beiden Bänden her, die anderen habe ich ja selbst alle, aber diese beiden scheint es nirgendwo mehr zu geben. Leider bin ich etwas spät auf EVA aufmerksam geworden, sonst hätte ich sie mir gleich gekauft. Hast du auch die Mangas von Cat´s Eye? Oder was hältst du von Devil Hunter Yoko oder Dragonball...“ Haruka lachte und hob abwehrend die Hände. „Langsam, langsam! Da haben wir beide was gemeinsam, würde ich sagen. Weißt du was? Laß uns alles andere vergessen und ein paar Comicläden unsicher machen. Außerdem suche ich ein paar Soundtracks. Vielleicht kannst du mir helfen, du kennst dich ja hier aus.“ „Klar!“ Michiru strahlte. „Frag mich alles, was du wissen willst! Ehrlich gesagt, meine Freundin lacht mich immer aus, wenn ich von Mangas und Animes erzähle. Ich freue mich, daß ich endlich jemanden kennengelernt habe, der mein Interesse teilt. Los, worauf warten wir? Laß uns gehen!“ Zwei weitere Stunden vergingen wie im Flug. Haruka entdeckte in dem riesigen Sortiment der japanischen Comicläden und Kaufhäuser so viele Dinge, die sie unbedingt kaufen mußte, daß sie am Ende nicht einmal alles tragen konnte. Schließlich entschloß sie sich dazu, die Sachen nach Hause liefern zu lassen, auch wenn die Tante sich auf den Kopf stellen würde – Zitat: Was denken die Nachbarn von uns, wenn der Lieferwagen eines Comicfachgeschäftes bei uns parkt! Wie kannst du in deinem Alter nur dieses Zeug lesen! Komisch, dachte Haruka, ich habe zum ersten Mal in Gedanken Tante Himekos Villa als mein Zuhause bezeichnet. Das muß daran liegen, daß es mir einfach gut geht im Moment. Und daß ich glücklich bin und mich nicht langweile. Michiru ist wirklich schwer in Ordnung. Ganz anders als die Mädchen im Internat. Nicht so albern. Und außerdem teilt sie mein Interesse für Mangas und Anime. Ich kann mir nicht helfen, aber ich fühle mich endlich wieder mal total entspannt und glücklich! „Träumst du?“ Michiru stieß sie in die Seite. „Ich hab dich gefragt, ob ich dir mal die Spielhalle zeigen soll?“ Haruka sah sie erstaunt an. „Spielhalle?“ „Ja klar! Das Game Center Crown ist der angesagteste Treffpunkt für alle Schüler der Mugen Gakuen Schule. Komm, ich zeig´s dir – oder magst du keine Spielhallen?“ Haruka lachte. Sie und keine Spielhallen mögen! „Doch, sehr“, grinste sie und folgte Michiru bereitwillig durch das Gedränge auf der Straße. Auf einmal schien das Leben nicht mehr ganz so trist zu sein. Die Spielhalle war im Untergeschoß eines großen Hauses untergebracht. Durch das milchige Glasfenster der Schiebetür, auf der Game Center Crown stand, konnte man nicht nach innen sehen, doch Michiru erzählte, wie es darin aussah: In einer Ecke stand ein großer Greifautomat, und dann, auf der anderen Seite, standen in drei langen Reihen die Spielautomaten. Auf der anderen Seite des Raumes war die Theke, wo ein Schulfreund von Michiru bediente. Die Spielhalle gehörte seinem Vater. Die Schiebetür schwang auf, als Michiru davor trat. Haruka folgte ihr nach drinnen. Es war ziemlich voll, und nur wenige Automaten waren unbesetzt. Vor dem Greiferautomat standen die Leute Schlange. Zigarettenqualm schlug Haruka entgegen. Sie hustete. „Schau mal, der Rennautomat ist gerade frei geworden“, rief Michiru und ließ sich schnell dort auf einen der beiden Sitze gleiten, bevor sich jemand anderes hinsetzen konnte. Haruka setzte sich neben sie. Autorennen am Automaten war auch so eine Leidenschaft von ihr. Sie freute sich schon auf Michirus erstauntes Gesicht und kramte nach ihrem Geldbeutel. „Ich war hier noch nie dran“, erzählte Michiru. „Aber vielleicht kannst du mir das erklären. Du siehst so aus, als würdest du dich auskennen.“ „Tu ich auch“, antwortete Haruka belustigt. „Weißt du was? Fahren wir mal gegeneinander, ja?“ Und als Michiru nickte, fing sie an, ihr die Steuerung zu erklären. „Halt mal die Luft an“, unterbrach Michiru sie mitten im Satz. „Ich versteh kein Wort! Sag mir einfach nur das Nötigste, ja? In der Technik bin ich nicht so bewandert wie du!“ Haruka lachte und tat, wie ihr geheißen. Sie stellte erneut fest, daß sie sich auf einmal richtig gut fühlte. Michirus Gesellschaft schien ihr gut zu tun. Michiru suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Geldbeutel und steckte ein Geldstück in den Einwurfschlitz. Inzwischen hatte auch Haruka ein Geldstück eingeworfen, und auf dem Bildschirm erschienen zwei Wagen. Der eine war pink und gehörte Michiru, der andere hellgrün und gehörte Haruka. On your Mark! Set! Go! erschien auf dem schwarzen Monitor, und die Rennbahn leuchtete auf. Michiru drückte auf den Knopf, den ihr Haruka als Gashebel gezeigt hatte, und der pinke Wagen stob davon. „Ist das meiner?“ fragte sie und sah Haruka verzweifelt an. Haruka lachte. „Ja, das ist deiner“, grinste sie, während ihr Wagen noch immer an der Ziellinie stand. Überrascht sah Michiru hoch. „Das... das Rennen hat angefangen“, bemerkte sie verwundert. „Ich weiß“, erwiderte Haruka gelassen. „Aber eine kleine Chance solltest du schon haben, oder nicht?“ Michiru runzelte die Stirn. „Tu nicht so, als ob du ein Profi wärst!“ schimpfte sie. „Nur weil ich zum ersten Mal hier... ach verflixt, ich hasse dieses Spiel!“ Schwer zu beschreiben, wie Michiru es überhaupt schaffte, den Wagen in Richtung Ziellinie zu bugsieren. Sie stellte sich dabei an wie der erste Mensch. Mal überschlug sich der Wagen, dann brachte sie ihn keinen Millimeter von der Stelle, oder sie fuhr damit quer über den Rasen. Und einmal drehte er sich eine ganze Weile nur um seine eigene Achse. Schließlich kam die Ziellinie in Sicht. Michirus Wagen war nur noch ein paar Zentimeter davon entfernt. „Tja, wie es aussieht, hast du verloren!“ sagte sie triumphierend zu Haruka. „Warum fährst du auch nicht los? Hast du’s verlernt oder was?“ „Du scheinst dir deines Sieges ja sehr sicher zu sein, nicht wahr?“ „Ja, das bin ich!“ Haruka grinste breit. „Na dann paß mal auf!“ lachte sie und gab Gas. Zisch! Das hellgrüne Auto sauste die kurvenreiche Straße entlang, ohne einmal zu stocken und nahm immer mehr an Tempo zu. Fasziniert starrte Michiru darauf hin. Harukas Hände schienen den Steuerknüppel kaum zu berühren. Wahnsinn! Es war unglaublich! Die Vorderräder von Michirus Wagen berührten die Ziellinie, da schoß Harukas Wagen an ihr vorbei und blieb im Ziel stehen. Auf Michirus Monitor spielte eine Melodie, und es erschien GAME OVER. Der Monitor wurde dunkel. Auf Harukas Monitor dagegen dudelte eine fröhliche Siegermelodie, und die erreichte Punktzahl wurde sichtbar. YOU ARE THE CHAMPION leuchtete kurz auf. Michiru starrte Harukas Punktzahl sprachlos an. Noch nie hatte sie gesehen, wie jemand eine derart hohe Punktzahl hatte. „Nicht schlecht“, sagte Haruka feixend. „Du mußt nur ein bißchen trainieren.“ Michiru verschränkte die Arme. „Ach komm, spar dir deine Ironie!“ fauchte sie. „Du hättest mich ruhig vorwarnen können! Wie hätte ich wissen sollen, daß du am Automaten so ein As bist! Hattet ihr eine Spielhalle im Internat oder was?“ „Nein, leider nicht“, schmunzelte Haruka. „Schön wär’s ja gewesen, aber um ehrlich zu sein bin ich immer heimlich nachts aus dem Fenster geklettert und hab mich in Spielhallen rumgetrieben – und die waren nicht so seriös wie diese.“ „Es hat sich aber gelohnt, wie man sieht.“ Michiru mußte lachen. „Bringst du mir das bei?“ bettelte sie dann. Haruka lehnte sich zurück. „Versuch es zuerst selbst. Ich schau dir zu.“ „Aber nicht lachen!“ „Bestimmt nicht! Versprochen!“ Voller Elan setzte sich Michiru an den Rennautomaten und warf ein Geldstück in den Einwurfschlitz. On your Mark! Set! Go! erschien auf den Monitor, und Michiru fing an, den pinken Wagen langsam und bedächtig über die Rennbahn zu steuern. Sie paßte höllisch auf, damit sie nicht wieder ins Schleudern geriet. Es klappte auch eine ganze Weile vorzüglich. Sie kam zwar nur sehr langsam vorwärts, aber dafür überschlug sie sich nicht und fuhr auch nicht über den Rasen. Doch dann knallte der Wagen gegen ein Kilometerschild. GAME OVER! Geduldig warf Michiru noch ein Geldstück ein, und wieder leuchtete On your Mark! Set! Go! auf. Diesmal raste der Wagen quer über den Rasen, geriet ins Schleudern und explodierte. Ein Geldstück nach dem anderen wanderte in den Automaten. Michirus Hände verkrampften sich. Wie viel einfacher war dagegen Geige spielen! Sie startete den Wagen erneut und ließ ihn langsam anfahren. Aber nicht langsam genug. Er schnellte mit einem Satz nach vorne und rammte ein Schild. GAME OVER! „Übung macht den Meister“, kommentierte Haruka. „Aber wenn ich dich wäre, dann würde ich mich nicht so verkrampfen. Damit kommst du nicht weit. Immer locker bleiben.“ „Würde ich ja, wenn ich’s könnte“, seufzte Michiru. Sie lockerte den Griff ihrer Hände um den Joystick, aber jetzt brachte sie den Wagen nicht mal einen Millimeter von der Stelle. „Laß mich mal und schau zu.“ Haruka steckte ein Geldstück in den Schlitz und wenig später schien ihr Wagen über die Piste zu fliegen. Fassungslos beobachtete Michiru ihre Hände. Sie berührte Joystick und Gasknopf überhaupt nicht richtig. „Da ist ein Trick dabei, oder?“ fragte sie zögernd. Haruka schüttelte lachend den Kopf. „Nein, kein Trick. Begabung und Übung, wie du heute morgen so treffend gesagt hast. Wenn du lange genug übst, wirst du es auch bald können.“ „Da streikt mein Geldbeutel“, erwiderte Michiru. Haruka schlug mit der Hand auf die Maschine. „Ist nicht billig, das Ding“, meinte sie, stockte und schüttelte den Kopf, als ihr Blick auf Michirus Hände fiel. „Drück doch nicht so! Dann wird es nichts! Immer schön cool bleiben, Michiru.“ „So?“ fragte Michiru zögernd und hielt ihre Hände ein wenig anders. „Doch nicht so!“ Haruka lachte sie aus. „So wie ich. Mach’s nach!“ Michiru verspielte in dieser einen Stunde ihr gesamtes Kleingeld. Aber sie wurde besser. Nachdem sie gelernt hatte, Harukas Griff anzuwenden, überschlug sich ihr Wagen nicht mehr und schoß auch nicht mehr wie eine Rakete über die Startlinie hinweg. „Na ja“, meinte Haruka schmunzelnd. „Bei den Kurven mußt du noch´n bißchen feilen. Aber sonst geht’s ganz gut, oder?“ „Ja, ich glaub auch“, murmelte Michiru. „Noch eine Runde?“ fragte Haruka herausfordernd. Michiru wagte einen verzagten Blick in ihren Geldbeutel und seufzte. „Geht nicht. Kein Kleingeld mehr. Außerdem müssen wir langsam mal wieder gehen, meinst du nicht auch? Wir belagern hier seit zwei Stunden den Automaten. Außerdem vermißt dich deine Tante sicher schon.“ „Da wär ich mir nicht so sicher“, widersprach Haruka. „Wahrscheinlich ist sie ohnehin nicht Zuhause, und wenn doch, dann verhätschelt sie ihren sowieso schon verzogenen Köter!“ Die beiden standen auf und gingen zur Tür, als ihnen das Mädchen entgegenkam, das Haruka vor ein paar Tagen mit Michiru in der Halle gesehen hatte. „Nerissa!“ Michiru strahlte. Die mit »Nerissa« angeredete fuhr sich mit der Hand durch ihre schokoladenbraunen Locken. „Michie-Chan“, lachte sie. „Warum hast du nicht gesagt, daß du herkommen willst? Ich wär doch auch...“ Sie bemerkte Haruka und stockte. „Das ist Tenô Haruka. Wir sind sozusagen Nachbarn. Sie hat mich in ihrem Wagen mitgenommen“, erzählte Michiru. „Hi“, sagte Haruka. Nerissa kniff die Lippen zusammen und schaute in die andere Richtung. Haruka zuckte die Achseln. Sie war das gewohnt. „Nerissa!“ flüsterte Michiru fast flehentlich. Sie sah Haruka an. „Das ist Goku Nerissa, meine... meine beste, nein, meine allerbeste Freundin...“ Sie sprach den Satz irgendwie komisch aus, so als meinte sie eigentlich etwas anderes. Nerissa sagte immer noch nichts. Sie sah Michiru an, und schließlich meinte sie: „Zu mir hast du gesagt, daß du heute Geige spielen wolltest.“ Nicht zu glauben, dachte Haruka kopfschüttelnd. Klingt ja reichlich besitzergreifend, diese Nerissa Goku. Und dabei bin ich nicht mal mit Michiru befreundet. Wir wohnen nur nebeneinander und haben halt mal was zusammen unternommen, das ist alles. „Ich weiß, was du jetzt denkst“, seufzte Michiru. „Aber ich war gerade dabei, Geige zu spielen, als... warte, laß uns ein bißchen Sailor V spielen, ja? Der Automat ist gerade frei.“ Sie sah Haruka an. „Macht es dir was aus, allein nach Hause zu fahren? Ich glaub, ich bleib noch ein wenig hier.“ Haruka spürte, daß sie unerwünscht war. Sie war fast ein wenig gekränkt. Immerhin hatten Michiru und sie heute so viel Spaß zusammen gehabt, und dann kam diese Nerissa daher und beschlagnahmte Michiru, und die ließ sich das auch noch gefallen. Was will ich eigentlich, fragte Haruka sich. Ich bin nicht mit Michiru befreundet! Und damit basta! „Geht in Ordnung.“ Haruka wandte sich zur Tür. „Viel Spaß noch. Und, Michiru – bei Gelegenheit fahren wir mal wieder ein Rennen am Automaten, ja?“ Michiru lachte, und ihre meerblauen Augen funkelten. „Au ja!“ rief sie begeistert. „Das müssen wir unbedingt mal wieder machen!“ Haruka nickte ihr noch einmal zu, würdigte Nerissa Goku jedoch keines Blickes. Sie verließ die Spielhalle und machte sich auf den Weg zum Parkhaus. Michiru Kaiou, dachte sie bei sich, vielleicht hatte ich ja eben unrecht. Möglicherweise hat sich zwischen uns tatsächlich so etwas wie eine Freundschaft entwickelt. Aber ich kann das nicht beurteilen. Ich hatte nie eine Freundin. Außerdem ist Nerissa schon deine Freundin. Na ja, mal abwarten, wie das weitergeht. Ich jedenfalls würd mich freuen, wenn wir Freundinnen sein könnten! Kapitel 6: Ein Motorradausflug ------------------------------ Eine Woche später kam endlich der erwartete Transporter. Einige Männer schleppten unter Keuchen und Stöhnen Harukas Möbel aus ihrem Zimmer im Internat die Treppe hinauf, und Mrs. Tenô mahnte stets, daß sie gefälligst auf die Wand achtgeben sollten. Haruka interessierte das alles gar nicht. Sie hatte eben stolz und glücklich eine Runde mit ihrem ockergelben Cabriolet gedreht, bevor sie es in die große Garage gefahren hatte. Jetzt stand sie neben ihrem Motorrad und strich mit der Hand darüber. Sie liebte dieses Motorrad. Gerade wollte sie sich auf den Sitz schwingen, als sie angesprochen wurde. „Hallo!“ Michiru stand lächelnd in der Einfahrt. Sie trug einen hellblauen Faltenrock und eine hübsche bestickte Bluse, und der Wind fuhr ihr sanft durch das Haar. Sie sah bezaubernd aus. „Hi“, grüßte Haruka. „Mein Motorrad ist endlich angekommen!“ Sie strahlte. Michiru lachte. „Du siehst jetzt richtig glücklich aus, weißt du das?“ bemerkte sie. „Als hätte dir die ganze Zeit über, die du jetzt schon hier bist, etwas gefehlt.“ „Das hat es auch“, gab Haruka etwas verschämt zu. „Wenn ich mein Motorbike nicht hätte...“ Sie grinste und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Michiru zuckte die Schultern. „Na ja, ich kann das nicht beurteilen. Ich habe noch nie auf einem Motorrad gesessen. Aber wenn man dir glauben darf, muß es einfach wundervoll sein! Ein irres Feeling!“ „Was?“ fragte Haruka verblüfft. „Du hast doch nie auf einem Motorrad gesessen? Noch nie? Das glaube ich nicht! Was zum Teufel machst du dann eigentlich den ganzen Tag!?“ Michiru lachte. „Hör mal, auch wenn du es vielleicht nicht wahrhaben willst, aber es gibt noch andere Dinge als Motorradfahren!“ „Und welche, wenn ich fragen darf?“ „Na ja, ich sammle Kosmetik... ich spiele Geige... ich male... und ich schwimme. Aber daß ich eine Wasserratte bin, habe ich dir ja bereits erzählt und daß ich Geige spiele, dürftest du auch noch wissen. Und dann ist da natürlich meine Manga- und Animesammlung.“ Michiru lachte ein wenig verlegen. „Keine so aufregenden Hobbies, was?“ Haruka gab keinen Kommentar dazu. Sie sah Michiru an. „Willst du mal mitfahren?“ wollte sie wissen und deutete auf das Motorrad. Michiru starrte sie sprachlos an. „W... was? Ich... ich soll... auf dieses Ding steigen? Ich soll auf einem Motorrad fahren? Oh Gott! Meine Mutter bringt mich um, wenn sie das mitkriegt!“ „Muß sie ja nicht, es sei denn, du bindest es ihr auf die Nase. Also, was ist? Hast du Lust? Ich sage dir, es ist ein – wie sagtest du so treffend – irres Feeling!“ Michiru zögerte noch etwas, dann aber gab sie sich einen Ruck. „Okay“, sagte sie. „Ich mach’s. Aber wehe, du fährst zu schnell!“ „Bestimmt nicht“, versprach Haruka. „Aber du mußt noch einen Moment warten, ich ziehe nur rasch meinem Motorradanzug an.“ Haruka ging in ihr Zimmer und zog das weiße Hemd und die Leggins aus. Sie holte den hautengen, weißen Motorradanzug aus dem Schrank. Sie zögerte. Gewöhnlich trug sie bis auf ihren Schlüpfer nichts darunter. Der Motorradanzug gab wärmer, als es den Anschein hatte. Aber wenn Michiru mitfuhr... vielleicht war es ihr peinlich, wenn sie es merkte. „Wenn sie es merkt“, sagte Haruka zu sich selbst. Sie wollte die Freiheit spüren, wenn sie nach so langer Zeit endlich wieder auf ihrem Motorbike saß. Sie wollte sich vorkommen wie ein Teil des Windes. T-Shirt und Hosen zusätzlich noch unter dem Motorradanzug störten sie nur. Michiru war in ein Gespräch mit Mrs. Tenô vertieft. Sie wirkte ziemlich erleichtert, als Haruka endlich kam. Mrs. Tenô betrachtete mißtrauisch das Motorrad. „Sei bitte vorsichtig, wenn Michiru mit dir fährt!“ mahnte sie. „Und denk daran, ich möchte keinen Ärger mit der Polizei, von wegen Geschwindigkeitsübertretung und dergleichen.“ „Ich werd schon auf Haruka aufpassen, Mrs. Tenô“, versicherte Michiru, was ihr einen schiefen Blick von Haruka eintrug. „Was muß ich tun?“ fragte sie. „Zuerst mal“, erklärte Haruka gewichtig, „mußt du aufsteigen.“ Michiru verdrehte die Augen. „Ach nee“, spottete sie, „da wär ich ja von alleine nie drauf gekommen!“ Haruka lachte nur und erklärte kurz, wie Michiru sich mit ihr in die Kurven zu legen hatte und daß sie nicht zu schnell fahren würde. „Keine Angst, ich kann’s“, grinste sie, als sie Michiru einen zweiten Helm reichte. Vorsichtig stieg Michiru hinter Haruka auf das Motorrad. Der Helm drückte. Sie rutschte näher an Haruka heran und schlang die Arme von hinten um sie. „Wohin fahren wir eigentlich?“ erkundigte sie sich. „Ich hab, als ich mit dem Zweitwagen unterwegs war, eine schöne Stelle entdeckt. Laßt dich überraschen.“ „Na da bin ich ja mal gespannt!“ „Gut festhalten“, sagte Haruka und gab Gas. Mrs. Tenô trat entsetzt zur Seite. Das Motorrad verließ die Einfahrt. Haruka lenkte die Maschine in Richtung Innenstadt, gab ein paar Mal Vollgas und reihte sich dann auf dem Highway in den abendlichen Berufsverkehr ein. Michiru schloß die Augen. Am liebsten hätte sie einen lauten Schrei ausgestoßen. Aber sie war so beschäftigt damit, sich an Haruka festzuhalten und sich gegen Lärm und Wind zu behaupten, daß ihr die Stimme wegblieb. Die ersten fünf Minuten waren entsetzlich ... das Röhren des Motors, das Gefühl, daß nichts zwischen ihr und der Straße war ... Michiru klammerte sich an Haruka, als wäre sie die Schwimmweste im stürmischen Ozean. Doch als Haruka das Motorrad auf eine Landstraße lenkte, die auf Umwegen zurück zum Stadtrand führte, fing es an, Michiru zu gefallen. „Gut“, rief sie probeweise Harukas Rücken zu. Aber es war zweifelhaft, ob diese sie durch ihren Helm hören konnte und bei dem kalten Wind fiel es schwer, etwas zu rufen. Haruka fuhr einen Hügel hinauf und hielt das Motorrad auf halber Höhe am Straßenrand an. Sie waren ganz allein, niemand war in der Nähe. Es schien überhaupt keinen Verkehr zu geben hier oben. „Gib zu, daß es dir gefallen hat!“ sagte Haruka, als sie vom Motorrad stieg. Sie warf ihre Arme hoch in die Luft. „Ist das nicht ein irres Gefühl? Mit dem Wind im Gesicht und die Straße saust auf dich zu. Das ist Freiheit.“ „Es war toll. Es war einfach toll“, mußte Michiru zugeben. Haruka lachte und fing an, das Motorrad abzuschließen. Michiru nahm ihren Helm ab und befühlte ihre Wangen. Sie glühten vom Wind. „Dies ist zwar meine erste Fahrt auf einem Motorrad, aber es wird bestimmt nicht meine letzte sein“, rief sie vergnügt. „Komm mit“, forderte Haruka sie auf. Sie führte Michiru an eine kleine Einbuchtung, die mit einem Geländer gesichert war. Von hier aus hatte man einen tollen Blick über die Stadt. Unter ihnen schimmerte das Lichtermeer von Tokio. Die Sonne ging unter, und sie tauchte alles in ein wunderschönes rotgoldenes Licht. Der ganze Hügel, die Stadt, die Umgebung, alles sah plötzlich so unwirklich aus, wie aus einem Traum. Haruka lächelte, als sie bemerkte, wie Michiru vor lauter Glück und Freude den Atem anhielt. Ihr selbst war es ähnlich ergangen, als sie neulich diesen Ort durch Zufall – sie hatte eine Reifenpanne gehabt – entdeckt hatte. Auch sie hatte den Sonnenuntergang miterlebt und die vielen unzähligen Lichter unter sich schimmern sehen und war richtig ins Träumen geraten. Sie hatte eine Seite an sich entdeckt, die sie überhaupt nicht gekannt hatte. Begeistert drehte sich Michiru nach ihr um. „Das ist einfach traumhaft schön“, flüsterte sie ergriffen. „Ich könnte heulen vor Glück. Du hast gewußt, daß mir das gefallen würde, nicht wahr? Ach, ich wünschte, ich hätte meinen Zeichenblock hier! Sowas, das muß man einfach malen!“ „Dann willst du doch bestimmt mal eine berühmte Malerin werden, Michiru, oder?“ fragte Haruka neugierig und lehnte sich gegen das Geländer. Michiru lächelte verlegen. Die Locken hing ihr ins Gesicht. „Vielleicht“, antwortete sie unsicher, „aber eigentlich weiß ich noch nicht genau, was ich später einmal machen möchte.“ „Geht mir genauso“, stimmte Haruka zu. „Aber egal was es ist, es muß etwas mit Autos oder Motorrädern zu tun haben. Früher wollte ich immer Mechanikerin von Rennmotoren werden und mit ihnen internationale Rennen gewinnen. Heute ist es eher der Motorsport selbst, der mich anzieht. Ich liebe Motocross-Rennen.“ Michiru starrte sie an und konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Ein Mädchen, das sich für Autos, Mechanik, Motorräder und Motorradrennen interessierte! „Was guckst du so?“ lachte Haruka. „Ich meine das ganz ernst. Seit meiner Kindheit interessiere ich mich für Autos und Motorräder. Wenn im Internat Ferien waren, hatten wir Mädchen recht viel Freizeit. Einen großen Teil davon habe ich – heimlich natürlich – bei nem Typen, den ich auf meinen nächtlichen Streifzügen in irgend einer Bar kennengelernt habe, in dessen Garage verbracht. Er war Mechaniker von Rennmotoren und hat mir vieles beigebracht. Diesen Ort, diese Garage, umgab die Atmosphäre des Rennsports. Jedenfalls empfand ich das so. Der Wind der Rennstrecken gibt einem das Gefühl der Freiheit.“ „Hast du auch schon Rennen gewonnen?“ fragte Michiru atemlos. „Was dachtest du denn?“ lachte Haruka. „Es ist dann wohl dein größter Traum, einmal eine berühmte Rennfahrerin zu werden, oder?“ fragte Michiru. Haruka schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte sie. „Jetzt nicht mehr, obwohl es einmal so war.“ „Jetzt nicht mehr? Wovon träumst du denn jetzt, Haruka?“ wollte Michiru zaghaft wissen und errötete wegen ihrer Neugierde. Doch Haruka machte das nichts aus. Sie ballte die Fäuste und warf energisch den Kopf zurück. „Dinge zu tun, die niemand außer mir tun kann. Das muß ein unbeschreibliches Gefühl sein. Selbst wenn ich alles dafür geben müßte, es wär mir egal.“ „Das Gefühl kenne ich“, stimmte Michiru nachdenklich zu. Überrascht drehte sich Haruka nach ihr um. „Ja?“ fragte sie überrascht. Michiru nickte. „Ja. Ich habe mir immer schon gewünscht, einmal eine Berühmtheit zu werden. Das ist albern, ich weiß. Aber ich träume seit langem davon.“ „Dann träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum“, meinte Haruka. Nachdenklich sah Michiru auf. „Das klingt schön“, sagte sie. „Und es ist wahr. Ich träume zu viel.“ „Nein, das glaube ich nicht“, widersprach Haruka. „Träumen kann man nie genug. Dein Problem ist, daß du oftmals den Bezug zur Wirklichkeit verlierst.“ „Woher willst du das wissen?“ „Sowas nennt man Menschenkenntnis.“ Haruka grinste. „Nein, im Ernst, wenn du berühmt werden willst – wodurch?“ Michiru strich lächelnd mit der Hand über das Geländer. Es fühlte sich kalt und rauh an. Unter ihnen schimmerten noch immer die vielen Lichter. „Mit der Malerei“, antwortete sie. „Oder mit der Musik. Violistin muß ein Traumberuf sein!“ „Na ja, mit meiner Klavierspielerei könnte ich wohl keinen Penny verdienen“, lachte Haruka. Dann wurde sie wieder ernst. „Hast du schon mal daran gedacht, Mangazeichnerin zu werden? So wie Yuu Watase zum Beispiel, die das mit Ceres gezeichnet hat oder wie die Figur heißt.“ „Ich weiß, was du meinst“, sagte Michiru. Sie zuckte die Achseln. „Aber ich kann nur das sagen, was Dr. Tomoe immer in seinen Ansprachen betont: Einer Schülerin der Mugen Gakuen Schule stehen so viele Möglichkeiten offen. Da fällt die Entscheidung nicht gerade leicht.“ Haruka verzog das Gesicht. „Na, das sagt er bei mir bestimmt nicht“, kommentierte sie. „Vor allem nicht, wenn du dich weiter so benimmst!“ bemerkte Michiru trocken. „Nerissa hat gesagt...“ Sie wurde rot und biß sich auf die Lippen. Offenbar war es gerade kein Kompliment gewesen, was Nerissa gesagt hatte. Haruka beschloß, nicht danach zu fragen. Sie konnte sich denken, was es war. Genau das, was alle sagten. Die Mädchen aus dem Internat und die neuen Mitschüler und Mitschülerinnen auch. „Wir sollten besser wieder zurückfahren“, sagte Haruka ruhig. „Deine Eltern fragen sich sicher, wo du bleibst.“ Michiru zuckte mit den Schultern. „Vielleicht“, antwortete sie vage, „aber um ehrlich zu sein ist unser Verhältnis im Moment eher etwas... na ja, sagen wir mal, gespannt. Meine Mutter hält mir vor, zu viel Zeit mit Nerissa zu verbringen. Sie behauptet, sie hat einen schlechten Einfluß auf mich.“ „Sehr freundlich ist deine Freundin ja nicht gerade“, rutschte es Haruka heraus. Mit blitzenden Augen fuhr Michiru herum. „Was fällt dir ein?“ empörte sie sich. „Laß Nerissa aus dem Spiel, ja! Du kennst sie ja gar nicht richtig! Wie willst du dann wissen, wie sie ist? Na ja, sie war vielleicht nicht besonders nett zu dir, aber... ähem, jeder kann mal schlechte Laune haben, oder? Deshalb muß man ja nicht gleich unfreundlich sein!!“ Auf diese Nerissa läßt sie ja nichts kommen, dachte Haruka. „Entschuldige“, sagte sie. „Das ist mir nur so rausgerutscht. Du hast natürlich recht, ich kenne sie überhaupt nicht richtig. Tut mir leid.“ Im gleichen Augenblick fragte sie sich, warum um Himmels Willen sie sich eigentlich entschuldigte. Immerhin war Nerissa wirklich unfreundlich zu ihr gewesen. „Laß uns fahren“, sagte Michiru nur. Es klang abweisend. „Bist du jetzt sauer?“ fragte Haruka ein wenig hilflos. Michiru wandte sich um. „Nee“, sagte sie ironisch, „warum auch?“ „Fahren wir“, erwiderte Haruka nur. Sie hatte die Erfahrung gemacht, daß Motorradfahren Wunder wirkte, was schlechte Laune betraf. Michiru setzte sich hinter Haruka auf das Motorrad und schlang die Arme um ihre Taille. Sie drückte ihr Gesicht an ihren Rücken und wartete darauf, den Kick, den sie auf der Herfahrt verspürte hatte, wieder zu spüren. Haruka brachte den Motor auf Touren. Bevor sie losfuhren, griff sie mit der Hand nach hinten ohne sich umzudrehen. „Hey, ich krieg so keine Luft“, sagte sie. „Und ganz kann ich nicht darauf verzichten“, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu. Michiru lockerte ihren Griff, rutschte etwas zurück auf dem Sitz und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Haruka gab Gas, und wenig später brauste das Motorrad den Hügel herunter und dann über die Straße zurück zu dem Viertel, in dem Haruka und Michiru wohnten. Es war bereits recht dunkel, als sie ankamen und vom Motorrad stiegen. Haruka schob ihr Bike zur Garage. Michiru folgte ihr. „Hier, dein Helm“, sagte sie schüchtern und reichte ihn Haruka. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, zögerte jedoch. Schließlich aber gab sie sich einen Ruck und murmelte: „Tut mir leid wegen vorhin. Ich hab überreagiert. Ich mag’s nur nicht, wenn jemand schlecht über meine Freunde spricht. Sorry.“ „Schon okay“, antwortete Haruka. Ihr war Nerissa im Grunde völlig egal. Sie kannte sie nicht näher und wollte sie auch nicht näher kennenlernen. „Soll ich dir noch was helfen?“ fragte Michiru, die anscheinend ein schlechtes Gewissen wegen vorhin hatte. „Mit dem Motorrad oder so?“ Haruka schüttelte den Kopf und griff nach dem Reißverschluß ihres Motorradanzuges. „Mir ist heiß“, stöhnte sie und wischte sich über die Stirn. „Hier ist auch eine Affenhitze. Tante Himeko heizt sogar die Garage. In ihrem Arbeitszimmer könnte man glatt Kuchen backen, so heiß ist es da. Ich krieg jedes Mal fast nen Hitzschlag, wenn ich nur dran vorbeigehe. Und wehe, ich öffne ein Fenster! Dann heißt es gleich, ob ich eigentlich wüßte, wie teuer die Heizkosten sind und...“ Sie hielt inne. Michiru hatte sich von ihr abgewandt. Sie trug einen seltsamen Gesichtsausdruck zur Schau, irgendwie verlegen. Ihre Wangen waren gerötet. Haruka war etwas irritiert. Sie hatte den Reißverschluß so weit aufgemacht, daß man gerade mal den Ansatz ihrer Brüste sehen konnte. Na schön, sie trug keinen BH – grundsätzlich nicht -, aber so wie Michiru aussah, mußte man glauben, sie hätte sich ganz ausgezogen. Es war eben sehr heiß hier. „Michiru?“ fragte sie vorsichtig. „Hast du irgend ein Problem damit?“ Michiru sah nicht auf. „Oh, äh, tut mir leid“, stotterte sie, „aber ich geh jetzt besser.“ „Bist du immer so verklemmt?“ wunderte sich Haruka. „Ich hab dich, ehrlich gesagt, für unkomplizierter gehalten. Was stört dich daran? Oder bin ich so häßlich, daß du mich nicht anschauen kannst... ich weiß selbst, ich bin nicht gerade das, was man als attraktive Frau bezeichnet. Aber ich versteh nicht, wie man so verklemmt sein kann.“ „Das hat andere Gründe“, antwortete Michiru knapp. „Weißt du... ich könnte mich in dich verlieben...“ Sie lächelte. Haruka sah sie verblüfft an. „Was soll das jetzt heißen?“ wollte sie wissen. „War das ein Witz?“ „Ja, natürlich war das ein Witz, was dachtest du denn?“ Noch immer drehte sie sich nicht um. Haruka zuckte die Schultern. „Na ja, vielleicht sollte ich das nächste Mal doch einen BH drunter ziehen. Obwohl ich die Dinger hasse. Ich finde, sie engen einen so ein.“ Michiru drehte sich um. Sie schien sich gefangen zu haben. „Danke dafür, daß du mich auf dem Motorrad mitgenommen hast“, sagte sie. Haruka fragte sich, ob sie ablenken wollte. Denn irgend etwas war auf einmal los mit ihr. „Gern geschehen“, erwiderte sie, stellte aber keine Fragen. „Ich muß gehen.“ Michiru ging zur Tür, die aus der Garage führte. Bevor sie hinaus auf den Hof trat, drehte sie sich noch einmal um. „Übrigens, Haruka... ich weiß nicht, was du hast, aber ich denke schon, daß du eine attraktive junge Frau bist. Mehr als du denkst.“ Und damit drehte sie sich um und verschwand in der Dunkelheit. Verblüfft starrte Haruka ihr nach. Komisches Mädchen, dachte sie. Manchmal verstehe ich sie nicht. Zuerst regt sie sich so auf, weil ihr ihre Freundin kritisiere, und jetzt dieses merkwürdige Benehmen... na ja, kann mir ja auch egal sein. Sie strich mit der Hand über ihr Motorrad und machte in Gedanken Pläne, wohin sie in den nächsten Tagen fahren wollte. Ich und mein Motorrad, dachte sie, als sie dann nach oben in ihre Wohnung ging. Ich freu mich, daß ich es wiederhabe. Von jetzt an fahre ich mit dem Motorrad zur Schule, auch wenn sich Tante Himeko auf den Kopf stellt! Kapitel 7: Im Schwimmbad ------------------------ „Machst du eigentlich auch noch was anderes, außer dein Motorrad zu pflegen?“ fragte Michiru fassungslos. Sie sah unheimlich süß aus in ihrem weißen schulterfreien Pulli und dem langen dunklen Rock. Haruka kniete mitten auf dem Hof und werkelte an ihrem Bike herum. Daß ihr grauer Rollkragenpulli und die dunkle Leggins dabei ein paar Ölflecken abbekamen, interessierte sie nicht. „Was soll ich denn deiner Meinung nach tun, hm? Klavier spielen?“ spottete sie. Michiru lachte und strich sich eine Haarsträhne zurück. „Nein, natürlich nicht. Aber du könntest mal mit mir ins Schwimmbad gehen. Oder schwimmst du nicht gern?“ „Doch, ich schwimme ganz gern, wenn ich mir auch im Badeanzug lächerlich vorkomme. Die Leute starren mich immer so an.“ „Wieso das denn?“ „Frag mich was leichteres. Anscheinend halten sie mich für einen Jungen oder was weiß ich.“ „Also, ich könnte fragen, ob wir ins oberste Stockwerk gehen können. Dort ist das Becken, wo ich normalerweise Schwimmtraining habe. Da ist dann sonst niemand.“ Haruka sah sie fragend an. „Scheint ja ungeheuer wichtig für dich zu sein, daß ich mitkomme. Aber warum eigentlich? Frag doch eine deiner Freundinnen und laß mich hier in Ruhe weiterarbeiten.“ „Ich... ich würd dich aber gern näher kennenlernen, Haruka“, stotterte Michiru und wurde rot. „Ich meine, wir wohnen nebeneinander und gehen auf die gleiche Schule, da können wir doch auch mal ab und zu was zusammen unternehmen. Oder nicht?“ Haruka hob die Schultern. „Klar. Warum nicht. Ich bin das nur nicht gewohnt, weißt du. Wenn du magst, können wir mit dem Motorrad fahren.“ Michiru strahlte. „Oh ja – bitte!“ rief sie. „Ich find das Feeling so irre! Ich glaube, ich könnte mich an dein Motorrad gewöhnen.“ „Ich sagte doch, daß das ein tolles Gefühl ist“, lachte Haruka. Michiru stürzte sofort los, um ihre Badesachen zu packen. Als sie zurückkam, hatte Haruka bereits den Motorradanzug über die ölverschmierte Kleidung gezogen und ihre Sachen gerichtet. Freudestrahlend kletterte sie hinter Haruka auf das Motorrad und hielt sich an ihr fest. „Sieht mir ganz danach aus, als würdest du mich demnächst fragen, ob es einfach ist, einen Motorradführerschein zu bekommen“, grinste Haruka. Überrascht sah Michiru sie an. „Meinetwegen gern, aber ich hab im Moment genug Stunk mit meinen Eltern, da muß ich ihnen nicht auch noch damit kommen“, antwortete sie. „Halt dich fest“, lachte Haruka. „Ich geb Gas.“ „Warte, da kommt deine Tante.“ Mrs. Tenô fuhr mit ihrem Wagen auf den Parkplatz und stieg aus. „Haruka, ich hatte eben ein äußerst unerfreuliches Gespräch mit deinem Schuldirektor“, sagte sie eisig. „Ich wünsche dich zu sprechen. Sofort!“ „Das geht leider nicht, wir gehen jetzt schwimmen“, erklärte Haruka ruhig, klappte das Visier ihres Helmes herunter und gab Gas. Der Motor röhrte, und Mrs. Tenô wich zurück und runzelte mißbilligend die Stirn. Michiru schlang ihre Arme um Harukas Taille, und das Motorrad verschwand bald aus Mrs. Tenôs Sichtweite. Die Schwimmhalle war ein riesiges, mehrstöckiges Gebäude nahe dem Stadtzentrum von Tokio West. So etwas hatte Haruka noch nie gesehen. Sie stieg vom Motorrad und nahm den Helm ab. „Wow“, meinte sie anerkennend, „das ist ja ein riesiges Gebäude! Darin kann man sich glatt verlaufen!“ „Das stimmt“, gab Michiru zu. „Ich bin meistens im oberen Stockwerk, wo ich Training habe. Unten sind mir zu viele Leute.“ Sie verließen den Parkplatz und gingen durch die gläserne Schwingtür in die Halle. Michiru zeigte der Frau am Empfang ein kleines Plastikkärtchen, woraufhin diese sie passieren ließ. „Ist ja fast wie beim Geheimdienst“, spottete Haruka. „Nicht ganz“, lachte Michiru. „Das hier ist keine NERV-Kennkarte aus „Neon Genesis Evangelion“, sondern lediglich ein Berechtigungsausweis zur Benutzung des Beckens, das sonst nur für Trainingsstunden zugänglich ist.“ Sie fuhren mit dem Lift nach oben und zogen sich in den Umkleidekabinen um. Haruka trug einen blauweißgestreiften Badeanzug, den sie immer beim Sportunterricht im Internat hatte tragen müssen. Michiru hatte einen gelben, weit ausgeschnittenen Badeanzug mit orangenen Rüschen an. Sie trug ihr Haar mit einer roten Schleife zu einem Pferdeschwanz aufgesteckt und sah richtig niedlich aus. Um ihren Hals baumelte eine goldene Kette mit einem Dreizack-Anhänger. „Dann will ich Miß Meisterschwimmerin mal zusehen“, sagte Haruka, als sie durch eine gläserne Tür in die Halle traten. Das Blau des Beckens schimmerte und funkelte. Es war ganz still hier, niemand war da. An der Seite standen ein runder weißer Tisch und zwei weiße Liegestühle. Am hinteren Ende des Beckens gab es ein hohes Sprungbrett und mehrere Sprungtürme. Michiru war über die Leiter ins Becken geklettert und hatte sich abgekühlt. „Das tut gut“, murmelte sie entspannt. „Paß auf, ich springe mal!“ Sie sprang mit einem Satz an den Rand und lief zum Sprungbrett hinüber, das hoch über dem Becken aufragte. Geschickt wie eine Bergziege turnte sie die lange Leiter hinauf, rannte bis nach vorn und sprang ein paar Mal auf und ab, während das Brett hinauf und hinunter federte. „Achtung, ich springe!“ rief sie ausgelassen, schloß die Augen und sprang. Als sie in der Luft war, zog sie die Knie an und preßte den Kopf gegen den Körper. In dieser zusammengekauerten Haltung wirbelte sie durch die Luft. Kurz bevor sie dann die Wasseroberfläche erreichte, entrollte sie sich und tauchte mit einem sauberen und akkuraten Kopfsprung ins Wasser hinein. Sie tauchte die ganze Bahn entlang und wieder zurück, ohne einmal Luft zu holen. Dann schwamm sie an den Rand, hielt sich dort fest und zwang sich dazu, ruhig und gleichmäßig zu atmen. „Du schwimmst gern, nicht wahr?“ fragte Haruka. Michiru nickte. „Ja. Sehr gern.“ Sie sah die Freundin herausfordernd an. „Los, komm rein!“ forderte sie sie auf. „Wie wär’s mit einem Wettschwimmen?“ „Na gut“, sagte Haruka. „Meinetwegen.“ Sie ging zur Leiter und fing an, sich abzukühlen. „Beeil dich!“ rief Michiru ungeduldig und lehnte sich zurück. „Das Wasser ist herrlich! Sei kein Feigling!“ „He!“ Lachend sprang Haruka mit einem kurzen Anlauf ins Becken, und die Wellen schlugen über ihr zusammen. Haruka und Michiru schwammen zum Start hinüber. Michiru sah ihre Freundin an. „100 m Freistil?“ fragte sie. „Bist du einverstanden?“ „Ja!“ erwiderte Haruka energisch. Michiru hob die Hand. „Auf die Plätze! Fertig! Los!“ Zisch! Die beiden schienen durch das Wasser zu fliegen. Die Wellen spritzten hoch hinauf, als sie durch das Becken kraulten. Beide keuchten vor Anstrengung, aber sie waren im Wasser ebenso fix und wendig wie Fische, und so machte das nichts aus. Sie ist schnell, dachte Haruka bewundernd. Ich wußte, daß sie gut ist, dachte Michiru. Aber ich werde mich nicht geschlagen geben! Sie lächelte Haruka zu. Sie lächelt, wunderte sich Haruka. Ich hatte recht, dachte sie, sie ist eine schnelle Schwimmerin! Sie könnte mich besiegen! Haruka keuchte, während sie versuchte, mit Michiru Schritt zu halten. Ihre Arme wurde immer schwerer. Warum strenge ich mich eigentlich so an, fragte sie sich. Weil ich nicht verlieren will? NEIN! Ich will mich ihr stellen! Wenn ich mich nicht anstrenge, ist es wie weglaufen! Ich will den Dingen nicht mehr ausweichen! Ich will mich ihnen stellen! Michiru gewann. Sie erreichte den Rand, zog sich hoch und legte den Kopf keuchend auf die nassen Platten. Ihr Atem kam stoßweise. Sie stöhnte vor Anstrengung. Sie hatte sich völlig verausgabt. Haruka schwang sich an den Rand. Sie war lange nicht so erschöpft wie Michiru, weil sie stärker und durchtrainierter war wie sie. Dennoch - mochte sie besser Motorradrennen fahren - im Schwimmen aber war ihr Michiru Kaiou weit überlegen! „Das war nicht schlecht!“ sagte sie beeindruckt und zog sie aus dem Becken an den Rand. „Du kannst doch noch mehr wie Geige spielen und anderer Leute Hunde baden!“ Michiru hob den Kopf und grinste schwach, konnte aber nicht antworten. Sie war ganz aus der Puste und preßte ihre Hände gegen das Herz, das wie verrückt pochte. „Hier, dein Handtuch.“ Haruka warf es ihr über die Schultern, und sie lächelte sie dankbar an und rieb sich damit das nasse Gesicht ab. „Na, was sagst du? Es ist doch nicht schlecht, sich sportlich zu messen, oder?“ fragte sie keuchend. Haruka lachte. „Ja“, entgegnete sie, überrascht, wieviel Spaß es ihr gemacht hatte. „Vielen Dank!“ „Ich muß mich bedanken! Es hat mir Spaß gemacht!“ sagte Michiru und löste die Schleife in ihrem Haar, so daß es ihr über die Schultern herunterfiel. Jetzt streckte sich Haruka lang auf den Platten aus. „Kommst du oft hierher zum Schwimmen, Michiru?“ „Zum Training ja, aber in der Freizeit habe ich nicht so viel Zeit. Leider. Schwimmen ist ein schöner Sport. Wenn ich wütend bin, kraule ich mit aller Kraft und höre nicht eher auf, bis ich total kaputt und am Ende bin. Dann bin ich hinterher richtig entspannt und fühle mich besser. Wenn ich traurig bin, lasse ich mich im Becken treiben und denke nach. Das hilft ungemein.“ Die beiden schwiegen eine Weile. Michiru setzte sich an den Rand des Beckens und ließ die Füße hineinhängen. Sie sah bezaubernd aus, wie sie da so saß, angestrahlt durch das Licht der untergehenden Sonne, die durch das große Seitenfenster einfiel. Wie ein Gemälde, dachte Haruka und mußte bei dem Gedanken grinsen. Im selben Augenblick wurde die friedliche, fast schon romantische Atmosphäre gestört, als eine dritte Person die Halle betrat. Es war Goku Nerissa, die Freundin von Michiru. Sie hielt ihre langen Locken mit einer lila Schleife aus dem Gesicht und trug einen äußerst knapp geschnittenen rosafarbenen Badeanzug. Überrascht sah Michiru auf. „Nerissa!“ „Deine Mom hat mir gesagt, daß ich dich hier finde“, sagte Nerissa und warf Haruka einen unfreundlichen Blick zu. Offenbar störte sie ihre Anwesenheit. „Schön, daß du gekommen bist“, versuchte Michiru die gespannte Stimmung etwas aufzubessern. „Ich habe Haruka gerade bei einem Wettschwimmen besiegt. 100 Meter Freistil.“ Nerissa warf Haruka einen hochmütigen Blick aus ihren großen blauen Augen zu. „Was zu erwarten gewesen ist“, meinte sie eisig. „Keiner kommt gegen dich an, und schon gar nicht so eine.“ Das war ja nun deutlich genug. Mehr als deutlich. Haruka mußte sich beherrschen, um dieser arroganten Schnepfe nicht eine runterzuhauen. Sie runzelte die Brauen, und ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Nerissa!“ sagte Michiru, und es klang schockiert. „Was soll das denn?“ „Ich sagte doch schon, deine Freundin hat etwas gegen mich“, sagte Haruka gereizt. „Oh ja, nimm sie nur wieder in Schutz, mir ist das völlig egal, ich gehe nämlich jetzt. Wenn du mitwillst, dann sieh zu, daß du dich beeilst, andernfalls mußt du dir eine andere Heimfahrgelegenheit suchen.“ „Wir nehmen ein Taxi“, erklärte Nerissa kühl und schleuderte ihre lange Mähne in den Nacken. Wahrscheinlich kommt sie sich jetzt unheimlich toll vor, dachte Haruka grimmig. Aber ihr arrogantes Getue wird ihr schon noch vergehen! Verdammt, ich muß zusehen, daß ich hier rauskomme, oder ich vergesse mich und hau ihr am Ende doch noch eine rein! Michiru sah verzweifelt aus. „Haruka! Bitte bleib doch noch hier!“ bat sie. „Es war doch gerade so schön! Oder hat’s dir nicht gefallen?“ Haruka hielt es für zwecklos, noch mehr zu sagen. Sie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand durch die Glastür in den Umkleideraum. Als sie in ihrer Kabine stand und den nassen Badeanzug auszog, konnte sie Nerissas laute Stimme hören. „Wie kannst du dich nur mit so einer abgeben, Michie!“ rief sie vorwurfsvoll. Michiru sprach leise wie gewohnt, so daß Haruka nicht verstehen konnte, was sie erwiderte. „So einen Unsinn habe ich ja schon lange nicht mehr gehört!“ fauchte Nerissa. Offenbar hatte Michiru es gewagt, ihr zu widersprechen. „Dieses Mädchen ist nicht ganz richtig im Kopf, sonst würde sie sich anders verhalten! Überleg doch mal, ein Mädchen, das Motorrad fährt! Sie trägt eine Jungenschuluniform und einen Haarschnitt wie ein Junge und hat Muskeln wie einer! Findest du das normal?“ Es war dasselbe. Es war immer dasselbe. Warum verdammt noch mal wollen alle aus mir ein „richtiges“ Mädchen machen? dachte Haruka wutentbrannt und schlug mit der Faust gegen die Wand der Umkleidekabine. Die im Internat, die in der Schule, meine Tante, Nerissa Goku, alle! Michiru... ich weiß es nicht, wie sie darüber denkt. Aber wahrscheinlich denkt sie genauso! Aber das ist mir egal! Haruka biß sich auf die Unterlippe, bis sie blutete. Es ist mir egal, redete sie sich zornig ein. Sowas von egal! Ihr könnt mich doch alle mal! Ich bin nicht auf eure Freundschaft angewiesen! Ich komm allein sowieso viel besser klar! Was wollt ihr nur alle? Ich bin, wie ich bin, und ich finde es richtig so! Und damit stopfte sie ihren Badeanzug und das Handtuch in die Tasche und verließ das Schwimmbad. Kapitel 8: Die Entschuldigung ----------------------------- In den nächsten Tagen ging Haruka allen aus dem Weg. Ihre Tante, die ihr ständig Vorhaltungen wegen ihres Betragens in der Schule machte, ging ihr tierisch auf die Nerven, und sie mied sie, wie sie nur konnte. Meist trieb sie sich nach der Schule bis spät am Abend irgendwo in der Stadt herum oder fuhr mit dem Motorrad ziellos durch die Gegend, nur um Michiru nicht zu begegnen. Sie hatte die Nase gestrichen voll. Natürlich merkte sie, daß Michiru das Gespräch mit ihr suchte, aber viel zu schüchtern war, um sie von sich aus anzusprechen. In der Mittagspause, wenn Haruka allein an einem Ecktisch in der Cafeteria der Mugen Gakuen Schule saß und mißmutig auf ihren Hamburger starrte oder in ihrem Salat herumstocherte, dann konnte es sein, daß Michiru mit ihrem Tablett von der Theke kam und eine Weile zögernd zu ihr herübersah, als wüßte sie nicht, ob sie sich trauen sollte, sich zu ihr zu setzen oder nicht. Haruka verzog keine Miene. Sie war entschlossen, niemanden mehr an sich heranzulassen. Was Freundschaften letzten Endes brachten, hatte sie ja im Schwimmbad gemerkt. Einmal schien Michiru tatsächlich auf sie zugehen zu wollen, als just in diesem Moment Nerissa Goku am anderen Ende der Cafeteria auftauchte und ihrer Freundin winkte, zu ihr zu kommen. Natürlich war Michiru zu Nerissa gegangen, und die beiden hatten sich an einen Fenstertisch gesetzt und sich unterhalten, während sie ihre Pommes gegessen und die Cola getrunken hatten. Haruka machte auch Ausflüge in die nähere Umgebung mit ihrem Wagen, bis sie eines Tages ein Problem mit ihrem Auspuff bekam. Sie versuchte, es selbst zu reparieren, aber als ihre Tante sie in der Garage dabei erwischte, wie sie an dem Auto herumwerkelte, rief diese sofort einen Mechaniker an. Die Firma holte den Wagen ab und nannte Haruka einen Termin, wo sie ihn in Kameda´s Garage in der Stadt abholen konnte. Jack Kameda, dem die Garage gehörte, fand Gefallen an dem jungen Mädchen, das ihm so viele Fragen über die Autos stellte, und so verbrachte Haruka immer öfter ihre Nachmittage in der Werkstatt und ließ sich von Jack zeigen, wie man die großen und kleinen Probleme mit seinem Wagen in den Griff bekam. Sie half, so gut sie konnte, und es war ihr egal, wenn ihre Tante sich aufregte, wenn sie abends schmutzig, verschwitzt und mit lauter Ölflecken auf der Kleidung nach Hause kam. Sie hatte etwas gefunden, das ihr wirklich Spaß machte. Eines Nachmittags war sie wieder auf den Weg zu Kameda´s Garage, diesmal um endlich ihren eigenen Wagen abzuholen. Außerdem wollte sie Jack fragen, ob sie ihn auch weiterhin besuchen kommen und ihm zur Hand gehen durfte. Allerdings hatte sie heute wohl kaum die richtige Kleidung zum Arbeiten an. Da sie mit dem Bus in die Stadt fahren mußte, um dann mit dem Wagen zurückzufahren, hatte sie auf ihre alten Overalls verzichtet und sich für eine weiße Hose, ein schwarzes T-Shirt und ein ockergelbes Sakko entschieden. An einer Kette um ihren Hals hing ein schweres, goldenes Kreuz. In der Stadt traf Haruka auf Michiru und Nerissa, die eben zusammen aus einer Edelbotique kamen. Nerissa zog eine Augenbraue hoch, und ihr rosafarbener Rock schwang beim Gehen leicht um ihre langen, schlanken Beine. Michiru, die einen langen schwarzen Rock und den schulterfreien weißen Rollkragenpullover trug, lächelte schüchtern und fuhr sich mit der Hand durch die türkisfarbenen Locken. „Hallo“, grüßte sie. Nerissa drehte sich nach ihr um und runzelte die Stirn. Eigentlich hatte Haruka vorgehabt, den Gruß zu ignorieren. Aber dann tat ihr Michiru irgendwie leid. Außerdem wollte sie Nerissa ärgern. „Hallo“, sagte sie mit soviel Freundlichkeit, wie sie aufbringen konnte, nickte Michiru kurz zu und ging dann weiter. Sie hörte, wie Nerissa hinter ihrem Rücken etwas unfreundliches über sie sagte, konnte aber nicht verstehen, was. „Da fällt mir ein, ich muß noch ein paar Besorgungen machen... für meine Mom“, sagte Michiru, ohne darauf einzugehen. Haruka hörte, wie Nerissa etwas sagte wie „Ich muß leider gehen, Michie-Chan“, und dann war sie zu weit weg, um noch etwas zu verstehen. Ich habe noch nie so ein eingebildetes Mädchen getroffen wie diese Nerissa, dachte Haruka, während sie in die Seitenstraße abbog, die zur Garage führte. Von Internat her bin ich ja allerlei gewohnt, aber das schlägt dem Faß den Boden aus! Sie überquerte eine kleine Brücke und schlenderte die Straße entlang. Bald schon konnte sie das Schild mit der Aufschrift Kameda´s Garage erkennen. Aber mit einem Mal kam es ihr so vor, als würde sie verfolgt. Sie blieb stehen und wandte sich um, aber da war niemand. Kopfschüttelnd ging sie weiter bis zur Garage. Mr. Kameda, ein stämmiger älterer Mann Mitte Vierzig, lag auf einem Rollbrett unter einem Wagen und schraubte daran herum. „Mr. Kameda?“ fragte Haruka. „Guten Tag!“ Überrascht sah Mr. Kameda auf. „Ach, Sie sind es!“ Er lächelte. Haruka war ihm sichtlich ans Herz gewachsen. „Stör ich gerade?“ „Aber nein! Würden Sie bitte warten, bis ich fertig bin? Es dauert nicht mehr lange!“ „Gut!“ Haruka wandte sich nach einem Wagen um, der in der Nähe der Tür stand. Da bemerkte sie, wie sich seitlich des Tores ein Schatten auf dem Asphalt abzeichnete; so als würde jemand neben dem Torpfosten lehnen. Als sie ein Stück eines langen schwarzes Rockes erkennen konnte, wußte sie, wer es war. Kaiou Michiru. Unwillkürlich mußte Haruka grinsen. Offenbar hatte Michiru beschlossen, Nägel mit Köpfen zu machen und war ihr nachgegangen. Sie trat die Toröffnung, lachte und fragte: „He, du! Wie lange willst du dich eigentlich noch da hinten verstecken?“ Michiru sprang mit einem Satz in die Höhe, als Haruka aus der Garage geschlendert kam. Sie wurde rot und starrte auf ihre Schuhe. „Woher hast du gewußt, daß ich hier bin?“ fragte Haruka, obwohl sie es sich denken konnte. „Ich bin dir nachgegangen“, erwiderte Michiru und ihr hübsches Gesicht verfärbte sich um eine Nuance röter. Unwillkürlich mußte Haruka grinsen. „Das dachte ich mir“, sagte sie. Michiru senkte den Kopf, so daß ihre Locken ihr Gesicht verhüllten. „Haruka, ich... ich wollte... wollte sagen... wegen neulich im Schwimmbad, das mit Nerissa... tut mir leid“, stammelte sie unsicher. Haruka lehnte sich gegen den Torpfosten. „Ach, Michiru“, sagte sie. „Du bist es doch nicht, die sich entschuldigen muß.“ „Aber du bist sauer auf mich, das merke ich doch!“ widersprach Michiru und hob den Kopf. Ihre meerblauen Augen schillerten und funkelten im Sonnenlicht. „Du bist mir die ganze letzte Zeit über aus dem Weg gegangen.“ Haruka nickte. „Ja, stimmt. Ich war auch wütend auf dich. Ich war auf alle wütend. Tut mir leid, wenn ich jetzt wieder so anfange, aber Nerissa und ich werden bestimmt keine Freundinnen werden. Sie ist mir zu arrogant und unverschämt.“ „In Wahrheit ist sie ganz anders“, versicherte Michiru. „Ich weiß auch nicht, was sie gegen dich hat. Zu mir ist sie immer sehr nett. Es tut mir leid, wenn du einen anderen Eindruck von ihr bekommen hast, Haruka. Sie ist manchmal etwas schwierig, das stimmt. Vielleicht liegt es an ihrem Sternzeichen. Sie ist Wassermann, und ihr Aszendent ist Löwe.“ „Das sagt natürlich einiges“, spottete Haruka. „Ich bin auch Wassermann, aber deshalb führe ich mich noch lange nicht so auf.“ „Ach nein?“ fragte Michiru nur. „Na ja, jedenfalls nicht so“, sagte Haruka. „Laß uns nicht darüber streiten, das ist doch sinnlos“, meinte Michiru nur. „Ich wollte mich nur entschuldigen.“ Haruka sah sie an. „Für Nerissa, ja? Kann sie das nicht selbst machen? Du mußt dich nicht entschuldigen. Du hast nichts getan.“ „Doch. Ich hätte dir zu Hilfe kommen müssen. Ich wäre ja auch gerne mit dir zusammen auf dem Motorrad zurück gefahren. Aber ich wollte Nerissa nicht kränken.“ Sie hielt inne. „Dafür hab ich dann dich gekränkt. Und das tut mir leid.“ Sie schien es ernst zu meinen. Haruka sah sie nachdenklich an. Es stimmte, sie hatte sich durch Michirus Verhalten verletzt gefühlt. Immerhin war sie mit Michiru zusammen ins Schwimmbad gegangen, und sie hatten viel Spaß zusammen gehabt. Nerissa hatte sie gestört, hatte sie unterbrochen, war ausfällig und beleidigend geworden. Und trotzdem hatte Michiru zu Nerissa gehalten. Sie war nicht mit Haruka zurückgefahren, sondern war bei ihrer besten Freundin geblieben. Haruka hatte nicht verstanden, warum. Selbst eine Freundschaft hatte doch ihre Grenzen – oder? Nun, sie konnte das natürlich nicht beurteilen. Sie hatte nie Freunde gehabt. Aber allein schon ihr logischer, unbestechlicher Verstand machte ihr klar, daß da was falsch gelaufen war. „Haruka?“ fragte Michiru schüchtern und riß sie aus ihren Gedanken. „Ja?“ „Bist du mir noch böse?“ Es klang reichlich kleinlaut und zurückhaltend. Offenbar war sich Michiru sehr wohl bewußt, daß sie nicht gerade auf die feine Art gehandelt hatte. Normalerweise hätte Haruka sie jetzt zum Teufel geschickt. Sie wäre mit ihr umgegangen wie mit den Mitschülerinnen im Internat oder irgendwelchen anderen Leuten, die vorne herum nett und freundlich taten und von denen sie genau wußte, daß sie hintenherum über sie lästerten. Aber etwas in ihr hinderte sie daran, und sie sagte sich, daß Michiru es eigentlich nicht nötig hätte, sich bei ihr zu entschuldigen. Schließlich hatte sie Nerissa und sicher noch eine Menge anderer Freundinnen. Da könnte es ihr im Grunde völlig egal sein, was mit Haruka war. Aber scheinbar war es ihr nicht egal. Es schien ihr sogar eine Menge daran zu liegen, sich mit Haruka zu versöhnen. „Warum?“ fragte Haruka nur. Michiru sah sie erstaunt an. „Warum was?“ wollte sie wissen. „Warum entschuldigst du dich? Ich meine, es könnte dir doch ganz egal sein, ob ich jetzt sauer bin oder nicht.“ Michiru sah sie an. „War die Frage ernst gemeint?“ erkundigte sie sich fassungslos. „Ja, natürlich“, antwortete Haruka. „Ich verstehe das nicht. Warum machst du das, Michiru?“ „Wie kannst du fragen! Natürlich weil mir an deiner Freundschaft liegt, Ruka!“ rief Michiru aus. Haruka brauchte einen Moment, um damit klarzukommen. Michiru hatte von Freundschaft gesprochen. Und sie hatte sie „Ruka“ genannt. „Was ist?“ fragte Michiru irritiert, als Haruka nichts darauf erwiderte. „Nichts“, murmelte Haruka, die nicht recht wußte, wie sie jetzt reagieren sollte. „Aber hast du das eben wirklich ernst gemeint? Weißt du, so etwas, das hat noch niemand zu mir gesagt. Und „Ruka“ hat mich auch noch niemand genannt.“ Michiru errötete. „Tja, dann bin ich eben die Erste“, lächelte sie verschämt. „Mir ist das nur so rausgerutscht. Tut mir leid, wenn dir das unangenehm ist.“ „Nein, es ist mir nicht unangenehm“, versicherte Haruka. „Nur so ungewohnt. Aber Michiru... was du über die Freundschaft gesagt hast...“ „Magst du denn nicht mit mir befreundet sein?“ fragte Michiru enttäuscht. „Ich hatte immer den Eindruck, daß du gern mit mir zusammen bist. Und daß wir uns gut verstehen.“ Haruka lächelte. „Das tu ich ja auch. Es ist nur ein verdammt komischer Gedanke, auf einmal eine Freundin zu haben. Ich hatte nie eine Freundin.“ „Dann sind wir jetzt also... Freundinnen?“ fragte Michiru schüchtern. „Und du bist mir nicht mehr böse?“ „Nein, ich bin dir nicht mehr böse“, versicherte Haruka. „Und wenn du das wirklich willst, dann können wir auch Freundinnen sein. Aber ich warne dich, ich bin ein schwieriger Mensch.“ „Schon, aber... ich bewundere dich, und zwar gerade deswegen“, widersprach Michiru sofort. „Weißt du, du bist völlig frei und von niemandem abhängig. Und du bist immer ehrlich mit deinen Gefühlen und stehst zu dir selbst.“ „Aber da irrst du dich! Das stimmt nicht! Ich laufe immer vor allem weg!“ „Das glaube ich nicht“, beharrte Michiru. „Du versuchst nur, deinen Traum zu verwirklichen. Ich kann nichts falsches darin sehen.“ Überrascht sah Haruka sie an. Das hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. Alle hatten immer nur an ihr herumgemeckert und versucht, etwas aus ihr zu machen, was sie nicht war. Aber dieses Mädchen hier, Kaiou Michiru, nahm sie so, wie sie war. Sie akzeptierte sie, mochte sie und bewunderte sie. Es erstaunte sie, aber es machte ihr auch Mut und gab ihr Selbstvertrauen. „Danke“, sagte sie rauh. Michiru sah sie an und lächelte. Sie hatte verstanden. Mr. Kameda kam aus der Garage. „Miss Tenô?“ fragte er. „Ihr Wagen ist fertig. Sie können ihn mitnehmen.“ „Danke, Mr. Kameda.“ Haruka zögerte, aber dann gab sie sich einen Ruck und fragte, ob sie nicht ab und zu vorbeikommen und Mr. Kameda zur Hand gehen könne. Der Mechaniker lachte. „Ja, natürlich. Ich freue mich immer, wenn ich Sie sehe. Ich habe noch nie ein Mädchen gekannt, das so viel von Autos, Motoren und Technik verstanden hat wie Sie. Kommen Sie nur immer, wann Sie wollen. Ich kann professionelle Hilfe gut gebrauchen.“ „Danke.“ Haruka grinste ein wenig verlegen. So viele Komplimente hörte sie selten, aber es tat gut. Mr. Kameda schob seine Mütze in den Nacken und blickte Michiru an. „Ihre Freundin?“ fragte er. Haruka wandte sich nach Michiru um und sah sie an. Dann lächelte sie. „Ja“, sagte sie leise. „Meine Freundin.“ Kapitel 9: Michirus Geheimnis ----------------------------- „Haruka, hörst du mir überhaupt zu?“ Mrs. Tenô sah sie ärgerlich an. „Dr. Tomoe hat mir berichtet, daß sich dein Verhalten in der Schule kein bißchen gebessert hat! Das muß sich ändern, hast du verstanden? Dr. Tomoe sagte außerdem...“ „Der Alte kann aber auch nicht dichthalten“, murmelte Haruka gereizt vor sich hin, ohne von ihrem Manga aufzusehen, in dem sie gerade las. Mrs. Tenô schnappte entrüstet nach Luft. „Haruka!“ donnerte sie. „Was ist das für eine Ausdrucksweise! Du hast deinen Direktor gefälligst mit etwas mehr Respekt zu behandeln! Ist das klar?“ Entnervt klappte Haruka den Manga zu und warf ihn auf den Wohnzimmertisch. Sie ging zur Glastür und öffnete sie. „Haruka, was soll das schon wieder?“ schimpfte die Tante ärgerlich. „Und sieh mich an, wenn ich mit dir spreche! Hat man dir im Internat keine Manieren beigebracht! Bleib sofort stehen! Wo willst du hin?“ „Raus“, fauchte Haruka kurzangebunden. „Hier kotzt mich alles an!“ „Haruka!“ tobte Himeko Tenô, aber Haruka knallte die Glastür hinter sich zu und verschwand aus dem Sichtfeld ihrer Tante. Draußen blieb sie einen Moment lang stehen. Es dunkelte bereits. Und es war kühl. Haruka fröstelte leicht. Sie trug nur eine blaugrüne Hose, ein dunkelblaues Hemd und ein blaugrünes Sakko. Ihr Blick fiel auf das große Nachbarhaus, wo die Kaious lebten. Es brannte Licht im Wohnzimmer. Kurz entschlossen ging Haruka in den Nachbargarten hinüber. Vielleicht konnte sie ja bei Michiru bleiben, bis sich ihre Tante wieder einigermaßen beruhigt hatte. Mrs. Tenô betonte stets, daß sie es für sehr gut hielt, daß Haruka und Michiru sich angefreundet hatten. Sie pflegte zu sagen, daß Michiru einen guten Einfluß auf Haruka ausübte. Damit ging sie Haruka nicht nur tierisch auf die Nerven, sie hatte auch unrecht. Michiru war recht angetan von Haruka Freiheitsdrang und ihrer burschikosen Art, und sie hätte niemals etwas dagegen gesagt. Sie liebte es, wenn Haruka sie auf dem Motorrad mitnahm, und sie genoß es, wenn Haruka sie nach der Schule mit dem Cabriolet nach Hause fuhr. Natürlich, sehr oft war das nicht gerade. Dafür sorgte schon Nerissa mit ihrer besitzergreifenden Art. Sie sorgte überhaupt dafür, daß Haruka und Michiru sich nicht allzu oft sahen. Manchmal, wenn Michiru nicht gerade Geigenunterricht oder ihre Zeichenstunde oder ihr Schwimmtraining hatte, kam sie kurz vorbei, jedoch nur selten und nie für länger als eine halbe Stunde. Erstens war sie fast täglich mit Nerissa zusammen, und dann schien sie Harukas Freiheitsdrang und ihren Wunsch, alleine zu sein, zu respektieren. Ansonsten hatte Haruka kaum Kontakt mit jemandem. Die Mädchen aus der Schule mieden sie, und wenn es ihre Nachmittage in Kameda´s Garage nicht gegeben hätte, wäre sie wohl völlig vereinsamt. Der Wintergarten der Kaious war offen; Haruka brauchte nur hineinzugehen und an die Schiebetür des Wohnzimmers klopfen. Eine Frau in Mrs. Tenôs Alter saß auf einem Sessel mit hoher Rückenlehne und stand auf, als sie das Klopfen hörte. Haruka sah sofort, daß es Michirus Mutter war. Mrs. Kaiou war eine kleine und zierliche Frau mit großen meerblauen Augen und langen türkisfarbenen Locken. Sie trug eine einfache schwarze Stoffhose und einen weißen Pullover. „Ja, bitte?“ fragte sie, nachdem sie die Schiebetür geöffnet hatte. Fragend sah sie Haruka an. Haruka räusperte sich. „Entschuldigen Sie bitte, ich bin Tenô Haruka, die Nichte von Mrs. Tenô. Ich wollte zu Michiru.“ „Michiru ist nicht Zuhause“, sagte Mrs. Kaiou. Sie seufzte und bat Haruka herein. „Bitte, nehmen Sie doch Platz. Kann ich Ihnen etwas anbieten?“ Haruka setzte sich auf die gepolsterte Bank vor dem grünen Kachelofen. „Nein, danke“, sagte sie. „Wenn Michiru nicht da ist, gehe ich besser wieder. Ich wollte Sie nicht stören.“ „Ach, das macht nichts.“ Michirus Mutter setzte sich neben sie. „Wissen Sie, Michiru spricht viel von Ihnen, und ich freue mich, daß sie sich angefreundet haben. Michirus Freundschaft mit dieser Goku Nerissa ist mir schon lange ein Dorn im Auge. Miss Goku übt einen schlechten Einfluß auf meine Tochter aus.“ Haruka stöhnte innerlich. Sie war nicht hierhergekommen, um sich jetzt auch von Mrs. Kaiou die guten Seiten ihrer Freundschaft mit Kaiou Michiru aufzählen zu lassen. „Aber ich mache mir etwas Sorgen“, fuhr Mrs. Kaiou bedrückt fort. „Sie müssen wissen, daß Michiru eine sehr gute Schülerin ist, und daß ihr kein Fach Probleme bereitet. Aber in letzter Zeit hat sie überhaupt nicht gelernt, sondern all ihre freie Zeit mit Miss Goku verbracht. Daher sind ihre schulischen Leistungen stark zurückgegangen. Dr. Tomoe hat angerufen und uns mitgeteilt, daß unsere Tochter neuerdings recht schlechte Leistungen im Unterricht erbringt und ihre Zensuren in einigen Fächern in Richtung ausreichend und befriedigend tendieren.“ „Der Alte kann’s halt nicht lassen“, murmelte Haruka beim Gedanken an Dr. Tomoe. Überrascht sah Michirus Mutter sie an. „Was haben Sie gesagt?“ „Ach, nichts wichtiges.“ „Na ja, als Michiru heute von ihrem Schwimmtraining nach Hause kam, hatten sie und mein Mann deswegen einen schlimmen Streit. Er hat ihr verboten, Miss Goku weiterhin zu treffen, sollten ihre Leistungen in der Schule nicht besser werden. Die beiden hatten einen schrecklichen Streit. Dabei ist ihrem Vater die Hand ausgerutscht. Und dann... dann ist Michiru weggelaufen und noch nicht wieder zurückgekommen.“ Haruka war einen Moment lang sprachlos. Sie hatte immer gedacht, sie sei die Einzige, der laufend sowas passierte. „Wie lange ist sie schon weg?“ fragte sie. Mrs. Kaiou warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Zwei, drei Stunden. Ich mache mir langsam wirklich Sorgen. So ist sie doch sonst nicht! Mein Mann ist sie suchen gegangen, aber bisher ohne Erfolg.“ „Und Sie haben wirklich keine Ahnung, wo sie sein könnte?“ „Leider nicht. Sie hat ihren Zeichenblock mitgenommen. Vielleicht wollte sie wieder einen Sonnenuntergang malen. In letzter Zeit ist sie häufiger abends weggegangen, um an ihrem neuen Bild weiterzuzeichnen. Es ist ein sehr schönes, aber auch trauriges Bild. Ich habe es gesehen. Die Sonne geht unter, und man sieht die hellen Lichter einer Stadt aufleuchten...“ Sie schluckte und man sah ihr an, daß sie am liebsten geweint hätte. Sonnenuntergang... die Lichter einer Stadt... Harukas Gedanken jagten sich. Sie runzelte die Stirn. Sie wußte jetzt, wohin Michiru gegangen war. „Ich glaube, ich weiß jetzt, wo sie ist“, sagte Haruka und stand auf. „Machen Sie sich bitte keine Sorgen mehr, Mrs. Kaiou. Ich werd gleich mal nachsehen gehen.“ Hoffnungsvoll begleitet Mrs. Kaiou sie zur Tür. „Ich hoffe, Sie finden sie!“ sagte sie. „Bestimmt“, versicherte Haruka. Sie ließ Mrs. Kaiou zurück und ging, um ihr Motorrad zu holen. Wenig später befand sie sich auf dem Weg zu der Stelle, an der sie Michiru vermutete: Dem Hügel, von dem aus sie vor ein paar Wochen gemeinsam den Sonnenuntergang betrachtet hatten. Michiru selbst wirkte wie ein Teil eines Gemäldes. Sie lehnte an dem Geländer, und die untergehende Sonne strahlte sie mit ihrem rotgoldenen Lichtschein an. Ihre Wangen wiesen deutlich die Spuren von Tränen auf, und sie hielt ihren Zeichenblock im Schoß. Sie trug ein langes, violettes T-Shirt, einen langen orangenen Rock und ein dunkles Sakko. Haruka hatte das Motorrad etwas entfernt abgestellt. Sie trat langsam näher an Michiru an und legte ihr die Hand auf die Schulter. Erschrocken hob Michiru den Kopf. „Ssschhht“, machte Haruka beruhigend. „Ich bin’s nur.“ Michiru sah sie nur hilflos mit Tränen in den Augen an und schwieg. „Deine Mutter hat mir erzählt, was passiert ist“, sagte Haruka. „Sie macht sich große Sorgen um dich. Und dein Vater sucht dich schon überall.“ „So?“ sagte Michiru nur. „Sie sollen endlich aufhören, sich in mein Leben einzumischen! Dann müssen sie sich auch keine Sorgen machen! Eigentlich ist ja nur Dr. Tomoe schuld daran. Wenn er nicht meinen Vater angerufen hätte...“ „Tomoe“, knurrte Haruka, „hör mir mit dem auf! Der Alte hat jetzt schon mindestens zum fünften Mal meine Tante angerufen und sich über mich beschwert! Ich halt es kaum mehr aus Zuhause, mit jedem zweiten Wort macht sie mir Vorwürfe!“ „Gut, daß ich nicht die Einzige bin“, erwiderte Michiru lakonisch. Haruka zwang sie, ihr in die Augen zu sehen. „Was ist los?“ wollte sie wissen. „So bist du doch sonst nicht! Hast du irgendwie die Kontrolle verloren, Michiru?“ „Haruka, hast du eigentlich keinen festen Freund?“ fragte Michiru plötzlich. Überrascht sah Haruka sie an. „Nein, das... weißt du doch.“ „Aber es gibt doch bestimmt jemanden, den du sehr gern hast?“ „Hm...“ „Wie sieht er aus? Was ist das für ein Junge, der so eine begabte Rennfahrerin wie dich liebt? Ist er wie du? Hat er auch eine... besondere Begabung, Haruka?“ Haruka sah ihr in die Augen. „Warum willst du das so genau wissen?“ „Hast du nicht... auch manchmal den Wunsch, einfach nur ein ganz normales Mädchen zu sein wie die anderen? Sehnst du dich nicht auch manchmal danach, einfach nur glücklich sein zu können?“ fragte Michiru traurig. „Willst du damit sagen, daß du aus irgendeinem Grund nicht einfach nur glücklich sein kannst?“ Michiru seufzte. „Nein!“ „Ich weiß nicht, was du damit meinst, ganz normal zu sein wie die anderen. Aber ich habe schon das Gefühl, daß ich ganz normal und glücklich bin. Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich bin, wie ich bin. Das ist meine Art. Weißt du, Motorradfahren bedeutet alles für mich. Ich kann mir nichts anderes in meinem Leben mehr vorstellen. Außerdem... gibt es für mich wichtigeres als einfach nur glücklich zu sein.“ Überrascht sah Michiru auf. „Etwas wichtigeres? Was denn?“ Haruka kniff die Augen zusammen. „Entschuldige, aber das ist meine Privatangelegenheit“, erwiderte sie schroff. Wie hätte sie Michiru erklären sollen, was sie meinte? Wie hätte sie ihr erklären sollen, daß sie im Grunde ihres Herzens mehr am Glück der Menschen interessiert war, die sie liebte, als an ihrem eigenen. Sie wollte es niemandem sagen. Für sie war es ein Zeichen an Schwäche, so etwas zuzugeben. „Natürlich“, flüsterte Michiru mit hochroten Wangen. „Das war eine dumme Frage von mir, tut mir leid.“ „Nein, kein Problem. Ist schon in Ordnung, Michiru.“ Michiru schlang die Arme um ihren Körper, um sich zu wärmen. Sie zitterte leicht. „Mir ist kalt“, flüsterte sie. Haruka nahm sie in den Arm. Sie spürte, daß da noch etwas anderes war, was Michiru bedrückte. „Was ist los?“ fragte sie leise. „Du hast doch was!“ Michiru klammerte sich an sie. „Haruka, bitte... Ruka... ich muß dir etwas sagen. Bitte, hör mir zu und sag mir, was ich machen soll!“ Haruka zog sie mit sich auf eine kleine hölzerne Bank, die im Schatten eines Baumes stand. „Na dann erzähl mal“, sagte sie. Michiru hob den Kopf und ließ Haruka los, um ihre Frisur in Ordnung zu bringen. Ihre Augen glitten über die wunderschöne Landschaft hinweg. „Vielleicht hat dir meine Mutter ja erzählt, daß mein Vater mir verbieten wollte, Nerissa wiederzusehen“, fing sie zögernd an. „Ja, hat sie.“ „Na ja, aber... ah, Mist, ich hätt’s dir schon viel eher sagen sollen!“ „Was hättest du mir schon viel eher sagen sollen?“ „Wie Nerissa und ich wirklich zueinander stehen“, murmelte Michiru ohne aufzusehen. „Das verstehe ich nicht“, wunderte sich Haruka. Michiru hob den Kopf. Wieder standen Tränen in ihren ausdrucksvollen meerblauen Augen. „Nerissa und ich sind mehr als nur sehr gute Freundinnen, verstehst du? Wir... wir sind zusammen.“ „Wie „zusammen“?“ fragte Haruka verständnislos. Verzweifelt sah Michiru sie an. „Hm, wir... sind ein Liebespaar“, sagte sie verlegen und drehte den Kopf weh, um die Freundin nicht ansehen zu müssen. Haruka brauchte einen Moment, um das zu verstehen. Dann breitete sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht auf. „Ah, deswegen“, lachte sie. „Was deswegen?“ fragte Michiru ohne sie anzusehen. „Deswegen mag Nerissa mich nicht. Sie ist eifersüchtig. Und das ausgerechnet auf mich!“ Haruka konnte nicht anders, sie mußte einfach lachen. Michiru reagierte nicht. Sie starrte auf das blauweiß gestreifte Deckblatt ihrer Zeichenmappe. Haruka packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich herum. „Hattest du deshalb diesen Krach heute mit deinen Eltern?“ fragte sie. „Ja und nein“, antwortete Michiru, ihrem Blick ausweichend. Sie war rot geworden. „Ich war wütend, weil mein Vater mir den Umgang mit Nerissa verboten hat. Ich liebe sie. Nur wußte ich nicht, wie ich das meinen Eltern beibringen sollte.“ „Sie wissen es gar nicht?“ fragte Haruka überrascht. „Sie wissen nicht, daß du... daß du lesbisch bist?“ „Nein“, seufzte Michiru. „Sie wissen es nicht.“ Haruka dachte daran, wie ihre Tante in so einem Fall wohl reagieren würde und mußte zugeben, daß Michiru vielleicht sogar recht hatte, wenn sie ihren Eltern nichts darüber verriet, was sie wirklich mit Nerissa Goku verband. Sie sah Michiru von der Seite an. Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich etwas verunsichert durch das plötzliche Geständnis der Freundin. Aber andererseits fand sie es auch wieder verdammt mutig, sowas zuzugeben. Sie wußte nicht, ob sie selbst den Mut dazu gehabt hätte. „Haruka“, sagte Michiru in ihre Gedanken hinein, „hast du ein Problem damit?“ Haruka blickte hinauf in den dunklen Nachthimmel, an dem vereinzelt helle Sterne blinkten. Hatte sie ein Problem damit? Sie konnte es nicht sofort sagen. Aber dann erinnerte sie sich daran, daß Michiru eigentlich die Erste war, die richtig nett zu ihr gewesen war. Und die sie verstanden und nicht ständig versucht hatte, sie zu ändern. Und sie wußte, sie hatte kein Problem damit. „Nein“, antwortete sie, „hab ich nicht. Ich seh nur alles aus einer anderen Perspektive jetzt. Nerissas abweisendes Verhalten, und dein merkwürdiges Benehmen neulich nach dem Motorradausflug.“ Michiru nickte, lächelte und sah ihr zum ersten Mal wieder richtig in die Augen. „Danke, Ruka“, sagte sie schlicht. Haruka gähnte. „Hör mal, ich bin müde“, sagte sie. „Können wir morgen weitersprechen?“ „Ja“, antwortete Michiru und stand auf. Sie sah aus, als ginge es ihr schon wieder besser. „Ich sollte besser auch nach Hause gehen und mich bei meinen Eltern entschuldigen. Bist du mit dem Motorrad gekommen? Nimmst du mich mit zurück?“ „Klar“, lachte Haruka. Sie gingen nebeneinander zum Motorrad. Haruka, die einen ganzen Kopf größer war als Michiru, sah auf sie hinunter. Es macht mir nichts aus, daß du auf Frauen stehst, Michie, dachte sie. Du bleibst trotzdem meine Freundin, und ich mag dich, wie du bist. Kapitel 10: Aussprache ---------------------- Obwohl ihre Tante unbedingt wissen wollte, was mit Michiru los gewesen war – offenbar hatte Mrs. Kaiou bei ihr angerufen und ihr erzählt, was für eine hilfsbereite Nichte sie doch habe – erzählte Haruka nichts. Sie hatte Michiru versprechen müssen, zu schweigen, und wenn Haruka etwas versprach, dann hielt sie es auch. Sie mochte ein schwieriger, dickköpfiger und launischer Mensch sein, aber immer aufrichtig und fair. Am Tag nachdem Michiru Haruka ihr Geheimnis gestanden hatte, kam sie sie am Nachmittag besuchen. Haruka, die sich ohnehin gelangweilt hatte, freute sich darüber. Sie erklärte Michiru ein Computerspiel, das Lemmings hieß. Es war recht warm draußen, allmählich wurde es Frühling. Michiru trug einen engen, kurzen roten Rock, ein weißes T-Shirt mit einer leuchtend gelben Sonne als Aufdruck und eine rote kurze Jacke. Haruka selbst hatte ein weißes T-Shirt und Jeans an. „Waren deine Eltern sehr wütend auf dich?“ fragte Haruka, während sie sich auf die Kante ihres Schreibtisches setzte und zusah, wie Michiru die kleinen Lemminge über den Bildschirm laufen ließ. Michiru lächelte und schüttelte den Kopf. „Nein, zum Glück nicht“, sagte sie. „Auch über Nerissa haben wir nicht mehr gesprochen. Ich glaube, sie waren einfach froh, daß ich wieder heimgekommen bin. Und im Nachhinein schäme ich mich auch dafür, daß ich einfach weggerannt bin. Ich hab mich ziemlich albern benommen.“ Sie grinste. „Und ich hoffe, daß sie nie rauskriegen, daß ich dich besucht habe, anstatt in meinen Kunstunterricht zu gehen. Aber ich mußte einfach kommen. Ich wollte mich noch mal bedanken wegen gestern abend.“ „Kein Problem“, sagte Haruka, und dann: „He! Paß auf, was du machst! Deine Lemminge fallen ja alle ins Wasser! Du kannst das nicht, laß mich mal!“ Sie nahm Michiru ungeduldig den Joystick aus der Hand und steuerte die kleinen Wichte sicher über eine wacklige Hängebrücke ans andere Ufer. „Siehst du, so muß man das machen.“ „Danke für den Tip, aber so schlau bin ich auch“, sagte Michiru und nahm den Joystick wieder an sich. „Ich war nur abgelenkt, weil ich mich mit dir unterhalten habe. ... Ah, was ist das!? Wie soll ich über diese Mauer kommen!?“ „Sprengen, Michiru, sprengen“, erklärte Haruka geduldig. „Schau, du drückst hier auf diese Taste, dann wählst du den Sprengstoff aus, klickst auf einen Lemming und läßt ihn die Mauer sprengen, damit du vorbei kannst.“ Mißmutig tat Michiru wie ihr geheißen. „Was soll das!“ schimpfte sie. „Wieso ist jetzt Game Over?“ „Du Dummchen!“ grinste Haruka. „Du hast nicht auf das Symbol für Sprengen, sondern für Selbstzerstörung gedrückt!“ Fassungslos sah Michiru zu, wie die Lemminge einer nach dem anderen explodierten. Das Spiel war beendet. „Ich weiß schon, warum ich Computerspiele nicht mag“, murmelte sie. Haruka stellte ihr das Spiel wieder ein. „Stimmt das eigentlich, was ich gestern vermutet habe?“ fragte sie. „Ich meine, daß Nerissa die ganze Zeit eifersüchtig auf mich war?“ Michiru lächelte ein wenig. „Ja, das kann man so sagen. Ich hab ihr gesagt, daß das albern ist und daß du nicht lesbisch bist, aber sie hat einen ziemlichen Dickschädel. Aber... zu mir ist sie immer sehr lieb und zärtlich.“ Sie grinste. „Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß sie zur Abwechslung auch mal nett ist, aber wenn du es sagst, glaube ich dir das“, sagte Haruka. „Ich geb ja zu, daß sie schwierig ist, aber ich mag sie so wie sie ist“, meinte Michiru. Sie stockte, dachte eine Weile nach und sagte dann: „Nerissa ist ein Jahr älter als ich. Wir haben uns kennengelernt, als sie von der Schirakawa High an die Mugen Gakuen Schule gewechselt hat und wir zusammen den jüngeren Schülern aus der Mugen Gakuen Elementary School Schwimmunterricht gegeben haben. Wir hatten viel Spaß zusammen und haben uns gleich auf Anhieb echt prima verstanden. Natürlich hatte ich keine Ahnung, daß sich daraus später „mehr“ entwickeln würde. Aber Nerissa, sie hat es gespürt.“ „Weil sie in dich verliebt war?“ „Ja, auch. Sie sagt, daß sie mit der Zeit ein Gespür dafür bekommen hat, wer lesbisch ist.“ „Und sie hatte recht“, bemerkte Haruka. Michiru lächelte. „Na ja, so kann man das nicht sagen. Ich war fünfzehn damals, und wenn ich behaupten wollte, ich hätte gewußt, daß ich auf Frauen stehe, wäre das gelogen. Ich fand Frauen zwar schon immer irgendwie attraktiver und anziehender als Männer, aber trotzdem wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, daß ich lesbisch sein könnte. Aber dann...“ „... dann hast du dich in Nerissa verliebt, richtig?“ fragte Haruka belustigt. „Genau“, sagte Michiru. „Ich fühlte mich zu ihr hingezogen auf eine ganz seltsame Art und Weise. Bis ich gemerkt habe, daß ich sie liebe, hat es eine Weile gedauert. Sie hat mir zuerst gesagt, was sie empfindet. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Es ist, als wäre es gestern gewesen. Wir waren auf dem Nachhauseweg von der Schule, als es angefangen hat zu regnen. Nerissa kannte einen Pavillon im Kayuzu-Park, wo wir uns unterstellen konnten. Das war vielleicht romantisch! Der weiße Pavillon war umrankt von Rosen, und während der Regen auf das Dach prasselte, saßen wir nebeneinander auf der weißen Bank. Und plötzlich sah Nerissa mich an und sagte zu mir: Michie, ich muß dir was sagen. Ich hab mich in dich verliebt. Zuerst wußte ich nicht, was ich denken sollte. Ich war total durcheinander und hab sie nur sprachlos angesehen. Da hat sie sich zu mir gebeugt und mir einen Kuß gegeben. Und in diesem Augenblick habe ich gemerkt, daß ich sie auch liebe.“ Sie schwieg, in Erinnerungen versunken, während die Lemminge wieder mal alle ins Wasser purzelten und ertranken. Haruka lachte. „Eigentlich mach ich mir nichts aus romantischen Geschichten, aber die gefällt mir“, meinte sie. „Dann findest du also nichts dabei, daß ein Mädchen ein Mädchen liebt?“ fragte Michiru zögernd, fast ängstlich. Haruka sah sie an. „Was ist dein Problem?“ fragte sie. „Na ja, zugegeben, zuerst war mir der Gedanke etwas ungewohnt und fremd, aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt.“ „Dann findest du es also nicht anormal?“ fragte Michiru weiter. „Ich kenne einige, die so denken.“ „Anormal...“, überlegte Haruka, „na schön, ich würd vielleicht nicht gerade sagen, daß es was normales, alltägliches ist, aber anormal, nein. Wenn, dann bin eher ich anormal. Sagt jedenfalls Tante Himeko.“ Sie grinste. Michiru schüttelte heftig den Kopf. „Nein, du bist ganz sicher nicht anormal! Ich mag dich, wie du bist. Wenn du anders wärst, dann wärst du nicht Tenô Haruka.“ „Das stimmt allerdings“, mußte Haruka zugeben, und sie mußten beide lachen. Es klopfte an die Tür und Sakura, das Tagesmädchen, kam herein. „Verzeihung, Miss Tenô“, sagte sie, „aber Ihre Tante hat mich angewiesen, hier sauberzumachen.“ Haruka schaltete den Computer ab. „Ist gut, Sakura, Sie können anfangen“, meinte sie und folgte Michiru auf den Flur hinaus. „Jetzt wird man sogar aus seinem eigenen Zimmer geschmissen!“ „Wollen wir nicht in die Stadt fahren? Mit dem Motorrad?“ bettelte Michiru. „Mein Motorrad scheint es dir ja angetan zu haben! Also gut, gehen wir. Ich hab ohnehin keine Lust, noch länger hier herumzustehen, sonst kommt am Ende noch Tante Himeko und hält mir wegen irgendwas eine Strafpredigt.“ „Ich kenne eine gemütliche Teestube in der Stadt, laß uns da eine Tasse Tee trinken und ein Stück Kuchen essen. Die haben die besten Torten, die du dir vorstellen kannst!“ Haruka fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Torten“, murmelte sie. „Ah, ich sehe, du hast mich durchschaut. Ich habe eine Schwäche für sowas!“ „Na, dann sind wir ja schon zwei! Los, worauf warten wir, laß uns gehen!“ Die Teestube lag in der Fußgängerzone, so daß sie das Motorrad auf einem Parkplatz abstellen und zu Fuß gehen mußten. Als sie sich an einen Tisch gesetzt und bestellt hatten, lehnte sich Michiru aufatmend zurück. „Puh“, meinte sie, „jetzt kann ich mir mal wieder so richtig den Bauch vollschlagen“, seufzte sie. „Wetten, daß ich hinterher mindestens drei Kilo zugenommen habe?“ Haruka warf einen Blick auf die dicken Tortenstücke mit der Schlagsahne, die die Bedienung eben zu ihrem Tisch brachte. „Ich glaube, wenn ich das gegessen habe, kannst du mich nach Hause rollen“, stöhnte sie. „Diese Sahnetorten sahen alle so lecker aus, da hab ich mir von jeder gleich ein Stück bestellt. Ich würde sagen, das war ein Fehler.“ „Ich hätte dich vorwarnen sollen“, meinte Michiru und schmunzelte. „Aber ich habe auch zu viel bestellt, als ich das erste Mal hier war. Ich glaube, das geht jedem so.“ Sie warteten, bis die Bedienung ihnen den Tee eingeschenkt hatte und fingen dann an zu essen. „Lecker“, murmelte Michiru mit vollem Mund. „Köstlich“, stimmte Haruka zu und schob sich ein großes Stück Sahnetorte in den Mund. Sie aßen schweigend, ganz versunken in den Anblick all der leckeren Kuchen- und Tortenstücke auf der Servierplatte. Daher ließ es sich nicht vermeiden, daß sie ein Gespräch mitbekamen, das am Nachbartisch geführt wurde, an dem zwei ungefähr vierzehn oder fünfzehn Jahre alte Mädchen saßen. „Hä?“ schrie eines der Mädchen. „Ob ich ihn geküßt habe?“ Ihre Freundin sprang entsetzt auf. „Serena! Mußt du denn so schreien! Sei doch leise!“ zischte sie. „Also, was ist? Hast du Darrien nun geküßt oder nicht?“ „Äh... wie soll ich sagen... äh... ähem...“ Die Freundin lachte. „Schon klar. Du bist viel zu verlegen. Und das bedeutet, du hast ihn nicht geküßt! Hab ich recht?“ „Na ja, also, äh...“ „Natürlich nicht. Das wäre auch zu früh. Du bist schließlich noch viel zu jung. Außerdem hast du Prüfungen und mußt bestimmt viel lernen.“ Serena grinste. „Ja, ich hab Prüfungen... und muß viel lernen... was ist mit dir, Lita? Du bist doch schon älter als ich. Hast du denn schon jemanden geküßt?“ Lita zögerte. „Versprichst du mir, daß du es niemandem erzählst?“ „Hm.“ „Also ganz ehrlich?“ „Hm.“ „Es gibt da einen Jungen, in den ich ganz fürchterlich verliebt bin“, flüsterte das Mädchen namens Lita. „Aber geküßt hab ich ihn bis jetzt noch nicht.“ Serena starrte sie an. „Was? Warum nicht? Wenn du ihn so fürchterlich gern hast, warum küßt du ihn dann nicht?“ „Ganz einfach“, antwortete Lita mit leuchtenden Augen. „Weil es ein schönes romantisches Erlebnis sein soll. Man will seinen Geliebten küssen! Zur richtigen Zeit, am richtigen Ort! Und dann will man ihn sein ganzes Leben lang in Erinnerung behalten. Das ist ganz normal. Jedes Mädchen denkt so.“ Als Lita die letzten Sätze gesagt hatte, verfinsterte sich Michirus Gesicht, und sie ließ ihre Gabel sinken und starrte auf den halb aufgegessenen Käsekuchen auf ihrem Teller. Haruka beobachtete sie aufmerksam. Sie hatte sehr wohl gemerkt, was mit ihr los war. Um die Situation zu entspannen, beugte sie sich zu den Mädchen hinüber und meinte scherzend: „Hört sich etwas kindisch an, vom Küssen zu träumen!“ Die beiden Mädchen sprangen auf und wurden rot. Sie runzelten die Stirn und blickten sie feindselig an. „Ich finde es unglaublich romantisch!“ schaltete sich jetzt Michiru ein und warf Haruka einen dankbaren Blick zu. Lita lächelte ihr zu. „Jaaa“, flüsterte sie andächtig, „das denke ich auch!“ „Habt ihr schon mal... vom allerersten Kuß in der Geschichte gehört?“ fragte Michiru amüsiert. „Die ersten Menschen auf der Welt, die sich geküßt haben, waren Adam und Eva.“ Haruka grinste. „Es gibt verschiedene Arten von Küssen. Ein Kuß auf die Hand bedeutet Respekt, ein Kuß auf die Wange Freundschaft. Ein Kuß auf den Mund bedeutet Liebe“, erklärte sie. Serena starrte sie an. „Oh! Sie wissen aber eine Menge!“ „In Italien hat es einmal ein Gesetz gegeben, das besagte, daß ein Paar, das sich geküßt hatte, heiraten mußte“, fügte Michiru hinzu. „Das war im 15. Jahrhundert.“ „Ziemlich streng“, bemerkte Lita stirnrunzelnd. Michiru seufzte. „Seinen ersten Kuß... muß man in seinem Herzen bewahren...“ Sie sprach nicht zu Ende, sondern schwieg. Und Haruka ahnte, daß sie jetzt an Nerissa dachte. Sie wandten sich wieder ihren Kuchen zu. Während Michiru verträumt vor sich hin starrte, hörte Haruka, wie Serena bewundernd und fast sogar ehrfürchtig zu ihrer Freundin bemerkte: „Sie sind schon richtig erwachsen, nicht wahr?“ Erwachsen – vielleicht. Aber im Grunde war es Haruka ganz egal, ob sie erwachsen war oder nicht. Ich bin, wie ich bin, sagte sie sich wieder einmal. Und das ist gut so. Als Haruka und Michiru die Teestube wenig später verließen, mußte Haruka lachen. „Die beiden waren richtig süß, was?“ grinste sie. „Ja“, antwortete Michiru einsilbig. „Weißt du, ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie beneide ich diese unschuldige Jugend!“ „Hm.“ Haruka seufzte und blieb stehen. „Michiru! Du machst dir Gedanken darüber, was Lita gesagt hat, stimmt’s? Daß jedes Mädchen so denkt?“ „Ja“, nickte Michiru. „Ich weiß, es ist albern, aber ich...“ „Es stimmt nicht, was das Mädchen gesagt hat!“ sagte Haruka heftig. „Ich habe nie so gedacht. Küssen... na, ich weiß nicht. Liebe hat nicht immer was mit Gefühlen zu tun.“ Michiru starrte sie an. „Du meinst... Sex?“ „Hm, ja. Du kannst Sex haben, ohne daß du verliebt bist. Ich kenne das.“ „Dann hast du...?“ „Ja. Ich hab dir ja erzählt, daß ich manchmal nachts aus dem Internat abgehauen bin. Da waren diese Bars, und da waren diese Typen. Ich habe mich amüsiert und Alkohol getrunken und bin mir wer weiß wie erwachsen vorgekommen. Manchmal bin ich dann mit einem von ihnen ins Bett gegangen. Für unheimlich cool hab ich mich gehalten. Ich hab auf meine Mitschülerinnen herabgesehen, weil sie noch keine Erfahrungen hatten und immer von der großen Liebe gesprochen haben. Bin mir wahnsinnig toll vorgekommen, wenn mich die Männer angemacht und mir nen Drink spendiert oder mir ne Zigarette angeboten haben. Aber das ist keine Liebe.“ Michiru sah schockiert aus. „Das hätte ich niemals gekonnt!“ rief sie heftig aus. „Ich weiß. Du bist anders als ich. Und ehrlich gesagt würd ich es auch nicht wieder tun, selbst wenn ich Gelegenheit dazu hätte. Aber damals...“ Sie brach ab. Michiru sah sie an. Dann hakte sie sich bei ihr ein. „Manchmal“, meinte sie versonnen, „ist es ganz schön kompliziert mit der Liebe und den Gefühlen, was?“ meinte sie lachend. Haruka grinste. „Ja“, gab sie zu, „da hast du recht!“ Kapitel 11: Dunkle Vergangenheit -------------------------------- „Hast du dich schon für die Ballsportwettkämpfe eingetragen?“ fragte Haruka, als sie und Michiru zusammen im Park der Mugen Gakuen Schule unter einem schattigen Baum im Gras saßen. Entgeistert sah Michiru sie an. „Bist du verrückt?“ lachte sie. „Ich und Ballsport... oh je! Weißt du, eigentlich ist das Schwimmen der einzige Sport, der mir zusagt.“ Sie grinste ein wenig verlegen. „Aber du mußt dich irgendwo eintragen“, meinte Haruka. „Die Teilnahme ist Pflicht.“ „Das weiß ich auch“, entgegnete Michiru ärgerlich. „Ich hab nur keine Ahnung wo. Ich bin überall gleich schlecht.“ „Du könntest mit mir in der Softballmannschaft spielen.“ „Softball? Ich dachte, du wolltest beim Basketball mitmachen?“ fragte Michiru erstaunt. Haruka rümpfte die Nase und fing an, die Sportlehrerin nachzuäffen, in dem sie mit näselnder Stimme sagte: „Es tut mir sehr leid, Miss Tenô, aber für die Basketballmannschaft sind keine Mädchen vorgesehen. Aber Sie finden bestimmt einen anderen schönen Sport, für den Sie sich begeistern können.“ „Das ist hart“, meinte Michiru mitleidig, die wußte, wie gern Haruka Basketball spielte. „Aber warum hast du’s dann nicht mit Fußball oder American Football versucht?“ „Aus dem gleichen Grund, warum es mit dem Basketball nicht geklappt hat“, knurrte Haruka. „Aber wenn Mrs. Teikerati jetzt denkt, daß ich freiwillig einen Volleyballplatz oder einen Hockeyplatz betrete, hat sie sich getäuscht. Ich hab mich bei Softball eingetragen.“ Zweifelnd sah Michiru sie an. „Aber Haruka, ich kann nicht Softball spielen“, wandte sie ein. „Ich sollte vielleicht doch besser mit Nerissa zusammen beim Volleyball mitmachen. Wenn das Baggern nur nicht immer so weh tun würde!“ „Beim Softball mußt du nicht baggern“, meinte Haruka. „Wenn du willst, bringe ich es dir bei. Es ist wirklich einfach!“ Michiru sah immer noch nicht sehr begeistert aus, nickte aber. „Na was soll’s, ob ich mich jetzt beim Volleyball blamiere oder beim Softball, ist ja auch egal“, kommentierte sie. Haruka sah sie an. „Du wirst dich nicht blamieren“, versicherte sie. „Dafür werde ich schon sorgen. Wir fangen gleich heute mit dem Training an.“ Und Haruka hielt Wort. Statt nach dem Unterricht gleich nach Hause zu gehen, zogen sie und Michiru in der Umkleidekabine ihre Sportsachen an und trafen sich auf dem Sportplatz der Mugen Gakuen Schule. Haruka trug ein weißes, ärmelloses Shirt und eine kurze, gelbe Hose. Die Sachen hatte sie getragen, wenn sie früher am 800 Meter-Lauf teilgenommen hatte. Michiru trug die Sportkleidung für Schülerinnen der Mugen Gakuen Schule; den kurzen grünschwarz karierten Rock und das dunkelrote T-Shirt. Sie hatte sich die Haare mit einer roten Schleife zu einem Pferdeschwanz aufgesteckt, damit sie ihr nicht ins Gesicht hingen. „Wir versuchen´s zuerst mit dem Fangen“, erklärte Haruka und hielt ihrer Freundin einen Handschuh hin. Sie selbst schwang unternehmungslustig ihren Schläger. „Fangen?“ echote Michiru verzweifelt. „Aber ich hab noch nie irgendwas gefangen, und schon gar nicht beim Softball!“ Haruka grinste. „Dann lernst du es eben. Paß auf, ich fange an!“ Sie warf den kleinen Ball hoch in die Luft und holte mit ihrem Schläger aus. Der Ball sauste auf Michiru zu. „Los, das schaffst du!“ rief Haruka aufmunternd. Der Meinung war Michiru aber ganz und gar nicht. Sie haßte Ballsport. Schließlich hatte sie aber keine andere Wahl, stellte sich in Position, hielt ihre Hand hoch und hoffte, daß der Ball in den Handschuh treffen würde. Jedoch sauste er darüber hinweg und landete im Sand. Michiru verdrehte die Augen, während sie loslief, um ihn zu holen. Haruka lachte. „Nicht schlecht“, spottete sie. „Nur fangen solltest du den Ball vielleicht schon.“ „Ach nee, danke für den Tip“, fauchte Michiru und warf Haruka den Ball zu. „Paß auf, es geht weiter!“ Haruka schlug mit ganzer Kraft auf, und der Ball flog pfeilschnell in Michirus Richtung. Michiru stürzte los, verfehlte den Ball jedoch wieder um ein paar Zentimeter. Das gleiche Spiel wiederholte sich die nächsten fünf Mal. Schließlich ließ Haruka den Schläger sinken. „Mädchen“, sagte sie mit einer Stimme, wie eine Mutter zu ihrem törichten kleinen Kind spricht, „ich sagte fangen! F – a – n – g – e – n! Du kannst nicht stehenbleiben, bis der Ball dir zufällig mal in den Handschuh fällt. Du mußt ihm nachlaufen oder ihm entgegenlaufen oder hochspringen... versuch´s einfach mal!“ Zweifelnd sah Michiru sie an, wartete, bis Haruka den Ball geschlagen hatte, und rannte ihm dann hinter. Da sie aber die ganze Zeit auf den Ball sah und nicht auf den Weg, stolperte sie über einen Stein und fiel der Länge nach in den Dreck. Ihre Frisur löste sich auf, und als sie den Kopf hob, zierten Flecken ihr hübsches Gesicht, und ihre Kleidung sah auch nicht viel besser auf. Zudem hatte sie sich das Knie aufgeschlagen und Kratzer an Armen und Beinen. „Bist du okay?“ fragte Haruka erschrocken, ließ den Schläger fallen und stürzte zu ihr hinüber, um ihr aufzuhelfen. Statt einer Antwort stöhnte Michiru nur und rieb sich die schmerzenden Stellen. „Michiru, alles in Ordnung?“ fragte Haruka besorgt und sah sie an. „Ich hasse Ballsport!“ schimpfte sie statt einer Erwiderung. „Ich bin über die Sporttage krank!“ Haruka kniff ein Auge zu. „Ah, dir scheint´s ja schon wieder gut zu gehen, hm?“ grinste sie, und der Schalk blitzte in ihren dunklen Augen auf. „Sehr komisch“, sagte Michiru gereizt, während sie sich mit einem Taschentuch über das Gesicht wischte. Haruka sah sie an. „Michiru“, bemerkte sie ernst, „du hast vorher noch nie Softball gespielt, nicht wahr? Warum hast du mir das nicht gesagt?“ „Oh doch, ich habe schon mal gespielt“, erwiderte Michiru seufzend. „Zwangsläufig, im Sportunterricht. Aber... aber ich hab... vergessen, wie’s geht!“ „Oh nein!“ stöhnte Haruka. Sie zog Michiru hob und drückte ihr den Handschuh in die Hand. „Okay, auf geht’s, machen wir weiter!“ „Muß das sein?“ murrte Michiru, während sie ihre Haare ordnete, die alle durcheinander hingen. „Ja, das muß sein! Oder willst du etwa verlieren beim Wettkampf?“ Haruka sah sie streng an. Michiru zuckte die Schultern. „Ach, das ist mir doch ganz egal, ob meine Mannschaft verliert oder nicht! Hauptsache, es ist bald vorbei!“ Haruka stemmte die Arme in die Hüften. „Was ist das für eine Einstellung?“ schimpfte sie. „Hast du denn kein bißchen Ehrgeiz? Los doch, machen wir weiter, damit wir gewinnen können! Streng dich an, als hinge dein Leben davon ab, und du wirst sehen, es macht mehr Spaß als du denkst!“ „Mir bleibt ja gar nichts anderes übrig“, murmelte Michiru. „Sklaventreiberin!“ Sie stellte sich in Position und schwang unternehmungslustig ihren Handschuh. Haruka schlug auf – der Ball ging daneben. Dann bekam sie ihn an den Kopf, und dann fiel sie wieder in den Sand. „Ich mag nicht mehr!“ jammerte sie eine Stunde später. Es dunkelte bereits am Horizont. „Oh doch, du magst“, sagte Haruka nur. „Wenn du nicht den Ehrgeiz hast zu gewinnen, dann kannst du mir nur leid tun!“ „Aber es ist doch nicht wichtig, wer gewinnt“, widersprach Michiru. „Wichtig allein ist doch, daß es Spaß macht!“ „Eben“, sagte Haruka und hielt mit dem Aufschlagen inne. „Aber es kann ja wohl keinen Spaß machen, wenn man von vornherein sagt, man verliert. Meinst du nicht auch? Sport sollte sowas wie ein fairer Kampf sein, und der Bessere sollte gewinnen. Den Ehrgeiz sollte man dazu haben, aber auch die Fähigkeit, sich mit dem Verlierer zu freuen.“ Überrascht sah Michiru auf. „Woher hast du die Weisheit?“ fragte sie. „Zitat meiner alten Sportlehrerin aus dem Internat“, grinste Haruka. Sie klopfte mit dem Schläger in den Sand. „Na los, Michiru, streng dich an! Du kannst es! Weißt du, ich würd schon gerne gewinnen. Und eigentlich erzählt man sich doch auch über dich, daß du nicht verlieren kannst.“ „Ja, aber doch nicht im Ballsport!“ wendete Michiru belustigt ein. „Damit kannst du mich jagen!“ „Ich will dich aber nicht jagen. Ich will, daß du dich anstrengst. Und trotzdem Spaß dabei hast. Willst du denn, daß dich am Ende alle Zuschauer auslachen? Das ist demütigend. Hab Mut und spiel einfach! Ich weiß, daß du es kannst!“ Michiru schwieg und starrte in den Sand. Inzwischen war es noch dunkler geworden; die Sonne ging unter. „Na schön“, seufzte Haruka ergeben. „Dann laß uns aufhören. Es ist deine Entscheidung. Melde dich von mir aus beim Sporttag krank. Ich werd dich schon nicht verpfeifen.“ Michiru schüttelte den Kopf. „Nein, Ruka, warte. Laß... laß uns weitermachen. Ich muß sagen, ich hab immer noch keine Lust und es ist mir immer noch egal, ob wir gewinnen oder verlieren, aber du hast dir den ganzen Nachmittag soviel Mühe mit mir gegeben – ich werde dir beweisen, daß das nicht umsonst war. Schließlich... weiß ich genau, daß du lieber Mr. Kameda in seiner Werkstatt geholfen hättest als einem unfähigen Mädchen Softball beizubringen.“ Sie lächelte schwach. „Da hast du allerdings recht“, pflichtete ihr Haruka bei. Ursprünglich hatte sie wirklich vorgehabt, diesen Nachmittag bei Jack Kameda in der Garage zu verbringen. Jack wußte über alle Rennen Bescheid, die jemals gefahren worden waren, und er hatte Haruka versprochen, ihr davon zu erzählen, während sie die Autos reparierten. „Dann laß uns anfangen“, sagte Michiru ruhig, und so etwas wie Verbissenheit zeigte sich in ihren Augen. Während der folgenden Stunde lernte Haruka Michiru in einer Weise kennen, die ihr deutlich klarmachte, warum manche an der Schule behaupteten, sie könne nicht verlieren. Sicher, sie spielte nach wie vor schlecht, aber – sie jammerte nicht mehr, sondern sie kämpfte. Mit zusammengekniffenen Augen und gerunzelten Brauen kämpfte sie sich stöhnend aus dem Dreck, wenn sie mal wieder hingefallen war, oder ignorierte ihre Wunden. Wenn sie hinfiel, stand sie wieder auf. Sie keuchte, wenn sie dem Ball nachlief. Und ihre Augen trugen einen Ausdruck von verbissenem Ehrgeiz und gnadenloser Selbstkontrolle zur Schau. Natürlich war es schlichtweg unmöglich, von einem Tag auf den anderen eine Spitzensoftballspielerin zu werden, aber Michiru kämpfte und strengte sich an. „Es ist schon fast ganz dunkel“, meinte Haruka nach einer Weile. „Wollen wir für heute nicht aufhören?“ Michiru schüttelte ihre Locken. „Noch zehn Minuten“, bettelte sie. „Ich will den Ball noch ein einziges Mal fangen!“ „Ist das so wichtig?“ gähnte Haruka. „Ich find’s ja schön und gut, daß du plötzlich so ehrgeizig bist, aber alles hat doch seine Grenzen.“ Michiru wich ihrem Blick aus. „Ruka, weißt du... ich hab dir nicht alles erzählt. Früher, bevor ich Nerissa kannte und gemerkt habe, daß ich lesbisch bin, da... ist etwas Schreckliches geschehen. Ich war eines morgens ganz früh zum Schwimmen am Strand, obwohl meine Mutter mir immer gesagt hat, daß das gefährlich ist. Da war dieser Mann... ich möchte nicht weiter darüber sprechen, aber damals habe ich mir geschworen, daß ich von jetzt an niemanden mehr an mich heranlassen würde. In der Öffentlichkeit glich mein Gesicht seit dem einer Maske, denn meine Selbstkontrolle verbot mir jegliches Gefühl zu zeigen. Ich war hart zu mir selbst, und dabei litt ich doch selbst am meisten darunter. Ich wollte überall die Beste sein, es allen zeigen, nicht verlieren. Ich lernte nur noch, bis ich in allen Fächern die Beste war. Meiner Sandkastenfreundin Seiyutsu erklärte ich, daß ich von nun an keine Zeit mehr für sie haben würde. Ich isolierte mich von allen und baute eine Mauer um mich herum auf.“ Sie sah noch immer nicht auf, aber Haruka war sich sicher, daß sie weinte. „Und ich hab dich um dein Glück beneidet“, sagte sie schockiert. „Michiru, dieser Mann... hat er dich vergewaltigt?“ „Ruka, das... ist schon so lange her. Ich war dreizehn damals. Das ist doch heute nicht mehr wichtig. Nerissa war es, die mir die Augen geöffnet hat. Und ich bin ihr dankbar deshalb. Sie war die Erste, der ich nach so langer Zeit wieder richtig vertraut habe, und sie hat die Mauer um mich herum zum Einsturz gebracht. Aber vergessen konnte ich das niemals, auch wenn ich so getan habe. Du und Nerissa, ihr seid die einzigen, die von der Sache wissen. Bitte, versprich mir, nichts zu verraten! Weißt du, ich... ich halt’s nicht mehr aus, ich... immer diese gekünstelte Fröhlichkeit... das ist doch alles nur Fassade! Selbst Nerissa gegenüber hab ich mir nie etwas anmerken lassen. Sie denkt, ich habe es längst vergessen. Aber das kann man nicht einfach... vergessen!“ Sie schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Ruhig trat Haruka neben sie und nahm sie in Arm. Sie standen lange dort, und es wurde bald so dunkel, daß sie nicht einmal mehr die Umrisse der Schule in der Ferne erkennen konnten. Michiru weinte, und Haruka hielt sie einfach nur fest. Ihr Instinkt sagte ihr, daß das das Einzige war, was sie im Moment für ihre Freundin tun konnte. Schließlich hob Michiru den Kopf und wischte sich die Tränenspuren aus dem Gesicht. „Entschuldige“, flüsterte sie. „Ich... ich konnte einfach nicht mehr. Ich hab es wohl zu lange unterdrückt. Ich hab mich nicht getraut, es jemandem zu sagen. Außer später Nerissa, und jetzt dir. Weißt du, es... tat so weh und ich war so hilflos, und so allein... ich hab geschrien und mich gewehrt, aber da war niemand, der mir geholfen und der mich beschützt hat. Und dadurch hab ich... jegliches Vertrauen in andere verloren. Bis ich Nerissa kennenlernte und mich in sie verliebt habe. Und ich habe gemerkt, daß es vielleicht doch noch Menschen gibt, die für einen da sind und die einen gern haben.“ Schockiert hielt Haruka sie in ihren Armen. Sie konnte Michiru nicht ansehen. Das alles klang so schrecklich! Sie stellte sich das kleine, zierliche Mädchen vor, wie sie von diesem Fremden am Strand vergewaltigt wurde, alleingelassen von allen Menschen, an die sie geglaubt hatte, und auf einmal fühlte sie einen unbändigen Haß auf diese Welt und die Menschen, die anderen so etwas antaten. „Versprich mir, daß du niemandem was sagst“, flüsterte Michiru. „Ich... ich schäme mich so!“ „Wenn sich hier jemand schämen muß, dann dieser widerliche Mistkerl!“ knurrte Haruka. Schweigend gingen sie in die Umkleideräume und zogen sich um. Dann fuhren sie gemeinsam nach Hause. Haruka schwieg; sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Auch Michiru schien in Gedanken versunken zu sein. Aber plötzlich hob sie den Kopf, und sie sagte: „Haruka?“ „Ja?“ „Wann hast du morgen aus?“ „Ich? Um vier, warum?“ Sie lächelte. „Ich würd gerne weiter trainieren. Nicht aus lauter Ehrgeiz. Sondern weil´s mir am Schluß sogar Spaß gemacht hat. Treffen wir uns um halb fünf vor der Sporthalle?“ Haruka sah sie überrascht an. Dann lächelte sie. „Es ist mir ein Vergnügen“, sagte sie. Die beiden trainierten nun eine Woche lang jeden Tag zusammen, und mit der Zeit wurde Michiru immer besser. Natürlich war sie nicht gleich eine hervorragende Spielerin – aber sie war gut, und sie strengte sich an. Man konnte ihr auch ansehen, daß sie sich etwas besser fühlte. Sicher, die Vergangenheit konnte sie nicht vergessen, aber sie konnte versuchen, darüber hinwegzukommen. Natürlich nicht von heute auf morgen, aber sie würde es schaffen, irgendwann... Wie das Softballspiel ausging? Nun, die Mannschaft von Haruka und Michiru gewann, wenn auch nur mit einem Punkt Unterschied, aber das war nicht wirklich wichtig. Wichtig war, daß alle ihr Bestes gegeben und Spaß gehabt hatten. Und daß es Michiru gewesen war, die den letzten Punkt geholt hatte, wurde von allen Zuschauern als ein Wunder angesehen. Aber Haruka wußte, daß es kein Wunder war. Während sie Michiru im Kreis herumwirbelte und sich mit ihr freute, erkannte sie, daß es vielleicht auch ein klein wenig ihr Verdienst war. Nicht, weil sie die Freundin trainiert hatte, sondern weil sie ihr Mut gemacht und ihr Vertrauen gewonnen hatte. Aber das meiste hatte Michiru aus eigener Kraft geschafft, mit ihrem Willen, ihrem Glauben an sich selbst und ihrem Können, und als sie hörte, wie die Zuschauer ihr zujubelten und ihren Namen riefen, fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig frei und glücklich! Kapitel 12: Eine kleine Modenschau ---------------------------------- Die Tage vergingen wie im Flug. Es wurde wärmer, die Tage wurden länger, und Michiru sprach beinahe jeden Tag davon, bald im Pool baden zu können. Eines Tages, als Haruka am Morgen zur Schule kam, standen Michiru und Nerissa vor dem Schwarzen Brett in der Halle und studierten einen interessanten Anschlag. Michiru grüßte freundlich wie gewöhnlich, aber für Nerissa Goku war Haruka wie gewöhnlich Luft. „Haruka, hast du das schon gelesen?“ fragte Michiru aufgeregt. Neugierig trat Haruka näher und studierte das große Plakat. Es handelte von einem bevorstehenden Schulball am Karfreitag, der sich offenbar schon in den Jahren zuvor einer großen Beliebtheit erfreut hatte. „Der Ball ist klasse“, erzählte Michiru eifrig. „Die ganzen oberen Klassen kommen zusammen, und es herrscht tolle Stimmung, und die Musik ist schön romantisch... ich liebe den Osterball, mußt du wissen.“ Sie sah Nerissa an. „Du doch auch, oder?“ „Natürlich“, antwortete Nerissa. „Wir gehen doch zusammen hin, nicht wahr?“ Michiru nickte. „Klar. Wie jedes Jahr.“ Haruka war sich sicher, daß Nerissa das nur gefragt hatte, um ihr klarzumachen, daß sie erst gar nicht auf die Idee kommen sollte, daß Michiru vielleicht mit ihr zum Ball ginge. Dabei war das wirklich das Letzte, was Haruka vorgehabt hatte. Sie konnte tanzen – das hatte sie im Internat lernen müssen – aber sie hatte keine Lust, sich auslachen zu lassen. Und das war sie gewohnt. Alle lachten sie aus, wenn sie Kleider trug. Das paßte nicht zu ihrer maskulinen Erscheinung. „Mit wem gehst du auf den Ball, Tenô Haruka?“ fragte Nerissa spitz. „Stell dir vor“, gab Haruka ebenso spitz zurück, „ich habe keine Lust, meine Zeit auf diese Weise zu vergeuden. Es ist nicht jeder verrückt nach Bällen.“ „Was man ja verstehen kann“, bemerkte Nerissa dreist und musterte Haruka abschätzig von oben bis unten. Vorwurfsvoll sah Michiru sie an. „Nerissa, du hattest mir doch versprochen...“, begann sie, als Nerissa ihr ins Wort fiel: „Jaja, ich weiß. Komm, laß uns gehen.“ Haruka starrte sie böse an, sagte jedoch nichts. „Ich finde, du solltest auf den Ball gehen, Ruka“, meinte Michiru im Weggehen. „Sonst verpaßt du was.“ „Mal sehen“, murmelte Haruka. Die beiden entfernten sich, und Haruka bekam nur noch mit, wie Nerissa mit hochgezogener Augenbraue fragte: „Ruka!?“ Wie albern, dachte sie. Ihr Blick fiel auf das Plakat. Sie erinnerte sich, wie sie im Internat oftmals mit einem Smoking zur Tanzstunde aufgekreuzt war und die Lehrerin regelmäßig einen Wutanfall bekommen hatte. Und sie überlegte, ob sie das hier nicht auch machen sollte. Andererseits vielleicht eher nicht, schließlich hatte sie keine Lust, sich wochenlang die Vorwürfe ihrer Tante anzuhören, die darüber bestimmt von Dr. Tomoe in Kenntnis gesetzt werden würde. Als sie dies am Nachmittag Michiru gegenüber erwähnte, lachte diese. „Das wäre mal was anderes“, grinste sie. „Ich würde zu gern Tomoes Gesicht sehen, wenn eine seiner Schülerinnen im Smoking kommt! Obwohl, bei dir würde er es wahrscheinlich gar nicht bemerken. Du siehst ja sowieso aus wie ein Junge.“ „Danke“, lachte Haruka gutgelaunt, „das nehm ich als Kompliment.“ „So war es auch gemeint. Aber im Ernst, vielleicht solltest du es wirklich lassen. Sowie ich deine Tante kenne, reibt sie dir das noch Monate später unter die Nase. Aber ich helf dir gern, wenn du nicht weißt, was du anziehen sollst.“ Haruka schüttelte den Kopf. „Danke, das ist nicht nötig“, erklärte sie kurzangebunden. „Ich gehe nämlich ohnehin nicht.“ „Wie bitte?“ „Wieso, das hab ich doch schon heute morgen zu Nerissa gesagt.“ „Ja, aber ich dachte, du sagst das, um sie zu ärgern oder so“, wunderte sich Michiru. „Ich kenne niemanden, der sich einen Ball wie diesen entgehenlassen würde.“ Haruka lehnte sich mit verschränkten Armen gegen ihren Kleiderschrank. „Schön, dann bin ich eben die Erste“, erklärte sie schroff. „Es macht nichts, wenn du alleine hingehst“, versuchte Michiru sie weiter zu überzeugen. „Die meisten gehen alleine hin. Und niemand verlangt von dir, daß du tanzt. Hauptsache, du bist dabei. Es macht irre Spaß, du wirst schon sehen.“ „Es geht nicht darum, daß ich niemanden habe, der mit mir hingeht. Ich komme gut allein klar. Ich hab erstens keine Lust auf solchen Mist und zweitens denke ich nicht daran, mich in einem der Kleider lächerlich zu machen, die meine Tante mir die ganze Zeit schenkt. Wenn ich nur schon an die gräßlichen Fummel denke, wird mir schlecht.“ Michiru lachte. „Keine Lust laß ich nicht gelten! Und wegen der Kleider... zeig mal her.“ Wortlos trat Haruka zur Seite, und Michiru öffnete den Kleiderschrank. Darin herrschte ein heilloses Durcheinander, aber schließlich fand Michiru, wonach sie gesucht hatte. „Na jaaa“, sagte sie gedehnt. „Nicht schlecht, aber über Geschmack läßt sich bekanntlich streiten.“ Sie betrachtete das enge, schwarze Kleid mit dem kurzen Rock und das kurze, bunte Minikleid seufzend. „Meine Rede“, pflichtete ihr Haruka bei, „damit kann ich auf keinen Fall gehen.“ „Komm mal mit“, entschied Michiru und hängt die Kleider in den Schrank zurück. „Wohin?“ fragte Haruka erstaunt, aber Michiru antwortete nicht und führte sie ins Nachbarhaus in ihr Zimmer. Haruka war das erste Mal auf Michirus Zimmer. Normalerweise kam Michiru immer zu ihr hinüber. Das Zimmer war größer und heller als Harukas. Es hatte zwei große Fenster und war modern eingerichtet. Auf einem kleinen Glastischchen stand ein Laptop, der farblich genau auf die übrige Einrichtung abgestimmt war. An den Wänden hingen Bilder, die Michiru gezeichnet hatte. Es gab eine tolle Stereoanlage und einen Fernseh mit Videorecorder, und in einer Ecke stand ein Notenständer, und daneben lag die kostbare Geige auf einem Ständer. Auf dem Schreibtisch lag ein kleines Handy. Der Boden war mit Parkett ausgelegt. Es roch irgendwie elegant, und dazu lag noch ein Hauch eines betörenden Parfüms in der Luft. „Warte, laß mich mal sehen“, murmelte Michiru, öffnete ihren großen Kleiderschrank und begann darin herumzukramen. „Hm, dieses türkisfarbene ziehe ich an. Es steht mir am Besten, findet Nerissa. Ich hab nicht viel, das dir passen könnte, aber manchmal vererbt mir meine Patentante was, und da dürftest du gerade noch reinpassen.“ Haruka sah an sich herunter. Wenn die Patentante die gleiche zierliche Statur hatte wie Michiru und deren Mutter, dann bezweifelte sie das. Michiru lachte, als sie ihren skeptischen Blick bemerkte. „Meine Tante ist dir von der Größe her ebenbürtig“, erzählte sie. „Wenn sie nicht das Haar lang tragen würde, könnte man sie – mit etwas Phantasie allerdings – auch für nen Jungen halten.“ Sie fischte ein paar Kleider aus ihrem Schrank. „Los, anprobieren!“ befahl sie. „Ich dreh mich solange auch um.“ Während Haruka aus Hose, T-Shirt und Sakko schlüpfte, tat Michiru, als wäre sie intensiv damit beschäftigt, nicht existierende Falten aus ihrem langen rosa Rock zu streichen. Haruka zwängte sich zuerst in ein sehr enges, schwarzes Kleid – das allerdings so kurz war, daß man kaum noch Kleid dazu sagen konnte. „Verdammt, ist das vielleicht eng! Da kriegt man ja kaum Luft!“ stöhnte sie. Michiru wandte sich um. Sie starrte Haruka an. „Wahnsinn“, sagte sie überrascht, „daß dieses Kleid steht dir besser als mir. Es bringt deine tolle Figur erst richtig zur Geltung.“ Bewundernd ging sie um die Freundin herum. Haruka fühlte sich entsetzlich eingeengt. Alles zwickte und juckte, und am liebsten hätte sie sich überall gekratzt. Sie fühlte sich furchtbar unbehaglich und unbeholfen, ihre ganze Selbstsicherheit war verschwunden. „Es ist so verdammt eng!“ jammerte sie und versuchte ihren Rock weiter herunterzuzerren, der ihr nur bis knapp über den Po ging. „Laß das, das gehört so“, sagte Michiru. Dann schüttelte sie den Kopf. „Aber du hast recht, es ist erstens zu eng, und zweitens bewegst du dich darin wie... nein, das sage ich jetzt besser nicht. Außerdem ist so ein kurzes Kleid wohl doch nicht das Richtige für den Ball. Nimm dieses hier.“ Sie reichte ihr ein weiteres Kleid. Als nächstes probierte Haruka ein langes, gelbes Kleid, das einen weiten Ausschnitt hatte. Es war zwar wesentlich bequemer, aber Haruka fand die Farbe entsetzlich. Das nächste Kleid war hellblau und ähnlich geschnitten wie das gelbe, aber viel zu weit, wie Michiru fand. Und zu lang, dachte Haruka bei sich, als sie zum dritten Mal auf den Saum getreten und beinahe gestolpert war. Dann hatte ihr Michiru ein weiteres Kleid bereitgelegt, aber obwohl Haruka der schlichte Schnitt und das dezente Weiß zusagten, war es ihr oben herum viel zu eng und unten zu kurz. Laut Michiru sollte es bis an die Knöchel reichen – Haruka ging es lediglich bis an die Knie. Und ein anderes Kleid lehnte Haruka gleich von vornherein ab, da es sie zu sehr an ein Ballkleid aus „Die Schöne und das Biest“ erinnerte. „Das war’s dann wohl“, bemerkte Haruka erleichtert, und Michiru nickte und räumte seufzend die Kleider wieder in ihren Schrank. Mrs. Kaiou kam herein. Als sie Haruka sah, blieb sie überrascht stehen. „Ach, ich wußte gar nicht, daß du Besuch hast, Liebling! Grüß Gott, Miss Tenô! Ich habe mich ja noch gar nicht bei Ihnen bedankt, daß Sie sich so nett um Michie-Chan gekümmert haben, als wir neulich den Streit hatten.“ „Mama“, murmelte Michiru und wurde rot. Offensichtlich war ihr das peinlich. „Was macht ihr denn?“ fragte Mrs. Kaiou mit einem Blick auf das weiße Kleid, das Michiru gerade in den Schrank hängen wollte. Michiru erzählte von Harukas „Kleiderproblem“, wie sie es nannte. „Weißt du nicht ein Kleid, in dem Haruka nicht allzu feminin, aber auch nicht zu maskulin wirkt und das nicht zu eng, zu weit, zu lang und zu kurz ist und an den richtigen Stellen perfekt sitzt?“ fragte sie. „Ich glaube, ich wüßte da etwas“, überlegte Mrs. Kaiou und ging hinaus. Wenig später kam sie mit einem violetten Kleid zurück. „Ziehen Sie’s an“, forderte sie Haruka auf. Michiru wandte sich sofort dem Schrank zu und fing an, ihre Kleider ordentlich aufzuhängen. Mrs. Kaiou begutachtete derweil das Kleid, das Michiru sich für den Ball ausgesucht hatte. „Darin siehst du sicher bezaubernd aus, Michie-Chan“, sagte sie liebevoll und strich ihrer Tochter über das Haar. „Es paßt perfekt zu dem Kleid, das ich Miss Tenô gegeben habe. Ihr werdet beide die Stars des Osterballes sein, und die Jungen werden sich darum prügeln, mit euch zu tanzen. Hab ich nicht recht?“ „Sicher“, murmelte Michiru nur. Haruka, die sich gerade in das Kleid zwängte, warf ihr einen schnellen Blick zu. Ihre Eltern wußten also noch immer nichts. „Ich freue mich, daß du mit Miss Tenô auf den Ball gehst und nicht mit Miss Goku“, fuhr Mrs. Kaiou ahnungslos fort. Offenbar hatte sie das Ganze gründlich mißverstanden. Haruka hätte ihr wohl nicht widersprochen, wenn sie an Michirus Stelle gewesen wäre. Aber Michiru war zu ehrlich, um ihre Mutter im Glauben zu lassen, sie würde gemeinsam mit Haruka zum Ball gehen. „Ich gehe natürlich mit Nerissa hin“, sagte sie und preßte die Lippen aufeinander. „So“, erwiderte Mrs. Kaiou nur, aber ihr mißmutiges Gesicht sprach Bände, was sie davon hielt. „Ich bin soweit“, brachte sich Haruka wieder in Erinnerung. Michiru und ihre Mutter wandten sich um, dankbar für die Unterbrechung. Beide sahen sie Haruka zuerst sprachlos an, dann pfiff Michiru durch die Zähne. „Wow“, meinte sie anerkennend, „das Kleid sieht spitze an dir aus! Wenn du damit immer noch nicht zum Ball gehen willst, ist dir auch nicht mehr zu helfen!“ „Wirklich außerordentlich, wie dieses Kleid an Ihnen zur Geltung kommt, Miss Tenô!“ pflichtete Mrs. Kaiou ihr bei. Haruka betrachtete sich in Michirus großem Wandspiegel. Sie erschrak fast, so fremd kam sie sich vor. Das Kleid betonte ihre Figur ungemein. Es war eng geschnitten und knöchellang. Eine Schulter war frei, über die andere verlief der Stoff des Kleides wie bei einer Schärpe. „Du siehst klasse aus“, rief Michiru begeistert. „Aber warte, da fehlt noch etwas.“ Sie kramte in einer Schublade und förderte etwas daraus zu Tage, das sie Haruka um den Hals hängte. Es war ein länglich geformter Bernstein, der an einem schwarzen Band hing. „Aber Michiru“, sagte Haruka verlegen. „Das willst du doch sicher selbst tragen, oder?“ „Nein, ich hab ein anderes. Du bist Wassermann, und das heißt, dein Schutzedelstein ist der Bernstein. Aber ich als Fischemädchen muß einen Aquamarin tragen“, erklärte sie lächelnd. „Trotzdem kann ich es nicht annehmen.“ Die Freundlichkeit der Kaious machte Haruka schon richtig verlegen. Michiru lächelte sie an. „Doch, das kannst du, Ruka. Ich schenke es dir. Das Kleid auch. Du weißt schon, warum.“ „Sie sollten das Kleid in Ehren halten“, meinte Mrs. Kaiou freundlich. „Es steht Ihnen großartig! Viel besser als mir oder meiner Tochter.“ „Ja, das... werd ich machen“, murmelte Haruka. „Es läßt dich weiblicher aussehen“, grinste Michiru und zwinkerte ihr zu. Haruka verdrehte die Augen. „Die Bemerkung war wirklich nötig, Michiru“, knurrte sie. Aber sie war ihr nicht böse. Wenn Kleider auch nicht gerade ihr Ding waren, so würde sie wenigstens nicht ausgelacht werden auf dem Ball. Und sie konnte sich nicht helfen, sie freute sich darauf! Kapitel 13: Der Osterball ------------------------- Der Osterball am Karfreitag war das Ereignis an der Mugen Gakuen Schule, und alle diskutierten nur noch darüber. Haruka konnte nur den Kopf schütteln, wenn sie auf den Tischen der Cafeteria liegengebliebene Modemagazine entdeckte oder im Unterricht mitbekam, wie ihre Mitschülerinnen über Kleidung, Schmuck, Frisuren und Schminke tuschelten. „Also kommst du?“ fragte Michiru, als sie am Tag vor dem Ball mit Haruka in deren Cabriolet von der Schule nach Hause fuhr. „Klar. Bei dem Kleid kann ich einfach nicht nein sagen“, grinste Haruka. „Außerdem beflügelt mich die Aussicht auf die zwei Wochen Osterferien danach.“ Michiru lachte. „Das stimmt“, gab sie zu. Als Haruka am Abend das Haus verlassen wollte, kam ihre Tante gerade die Kellertreppe hoch. Sie starrte Haruka an. „Du... du siehst irgendwie verändert aus“, stellte sie verwirrt fest. „Klar“, antwortete Haruka, die solche dämlichen Fragen nicht ausstehen konnte, gereizt. „Ich hab ja auch ein Kleid an. Wiedersehen, Tante Himeko.“ Sie öffnete die Haustür. „Ich wünsche dir einen schönen Abend“, sagte die Tante überraschenderweise, und in der Wohnung bellte wie auf Kommando Fiffi. Haruka war erstaunt. Was war in die Tante gefahren? Sie murmelte etwas wie „dir auch, Tante“ und machte, daß sie wegkam. Der Parkplatz auf dem Campus der Mugen Gakuen Schule war total überfüllt. Haruka parkte – verbotenerweise – auf dem Lehrerparkplatz und hoffte nur, daß es a) nicht gerade der Parkplatz von Mrs. Ishigama oder Dr. Tomoe war und b) daß die Lehrkräfte es an einem Tag wie diesem nicht ganz so genau nehmen würden mit der Schulordnung. Der Ball fand in der riesigen Turnhalle statt, die auf dem Geländer der Mugen Gakuen Schule lag und gleichzeitig als Festhalle benutzt wurde. Jetzt hingen dort riesige Kronleuchter mit vielen brennenden Kerzen an der Decke, und an einer Seitenwand war ein langes Büfett aufgestellt. In einer Ecke stand eine große Anlage, und überall hingen Lautsprecherboxen. Es gab eine richtige Bar mit Theke und Barhockern. Haruka fühlte sich unbehaglich. Sie spürte, daß alle, an denen sie vorüber ging, zu ihr hin schauten. Sie hatten wohl nicht damit gerechnet, sie hier zu sehen – und dann noch in einem Kleid. „Schau mal“, hörte sie jemanden in ihrer Nähe flüstern, „ist das nicht Tenô Haruka? Du weißt schon, die, die sich immer so unmöglich benimmt und mehr ein Mann als ne Frau ist. Sie trägt normalerweise immer die Jungenschuluniform.“ „Ach, die...“, lautete die gedehnte Antwort. „Ist das nicht die, die so ein As im Basketball ist? Sie soll Autorennen und Motorradrennen fahren und immer Männerklamotten tragen.“ „Man gibt sich besser nicht mit ihr ab. Mit so einer! Die ist so anders!“ „Hätte nicht gedacht, daß sie kommt! Schau mal, in einem Kleid! Sieht sie nicht süüüüß aus?“ Die beiden Mädchen fingen an zu kichern. Haruka ging mit steinernem Gesicht weiter. Nur nicht aufregen, sagte sie sich. Sonst haben diese dummen Hühner noch mehr zum Gackern. „Ruka, hi!“ Auf einmal tauchte Michiru von irgendwo auf. Haruka starrte sie an. Sie sah einfach toll aus! Ihr türkisfarbenes Kleid reichte ihr bis an die Knöchel und hatte einen langen Schlitz hinten. Oben war es ebenfalls sehr eng geschnitten. Es hatte keine Ärmel und war rückenfrei. Der Ansatz ihrer Brüste schimmerte im Mondlicht, das durch ein Fenster hereinflutete. Um den Hals trug sie ein weißes Band, an dem ein tropfenförmiger Aquamarin hing. „Was gibt’s da zu schauen?“ lächelte Michiru. „Ich weiß, daß ich gut aussehe. Das haben mir heute mindestens schon fünf Leute gesagt, einschließlich Nerissa.“ Haruka grinste. „Dann muß ich es dir ja nicht noch mal sagen. Wo ist Nerissa übrigens?“ „Nachdem wir zwei-, dreimal getanzt haben, ist sie raus gegangen, zum Rauchen.“ „Sie raucht?“ Haruka staunte nicht schlecht. Gut, sie selbst hatte auch schon mal hin und wieder geraucht, um vor irgendwelchen Typen in irgendwelchen anrüchigen Bars „cool“ zu wirken, aber Nerissa mit ihrer Modelfigur und ihrer langen Mähne hatte das doch bestimmt nicht nötig. „Das ist eine ihrer schlechten Angewohnheiten, die ihr leider nicht abzugewöhnen ist“, seufzte Michiru. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Da kommt sie!“ Nerissa Goku hatte sich ihre Haare aufgesteckt. Sie trug ein schlichtes rosa Kleid und ihr einziges Schmuckstück war ein goldener Armreif. Offenbar war sie doch nicht ganz so affektiert, wie Haruka gedacht hatte. „Ach ne“, sagte sie und zog eine Augenbraue hoch, als sie Haruka neben Michiru stehen sah. Sie wollte noch mehr sagen, als aus den Lautsprecherboxen romantische Walzerklänge erklangen. „Laß uns tanzen, Neri-Chan“, rief Michiru und nahm ihren Arm. Nerissas blaue Augen funkelten, sie nickte und ging Arm in Arm mit ihrer Freundin zur Tanzfläche. An einem Tag wie diesem kam das keinem irgendwie sonderbar vor. Trotzdem konnte Haruka nicht verstehen, warum die beiden so offen miteinander tanzten, wenn ihre Beziehung geheim bleiben sollte. Das macht wohl die Liebe, dachte sie, als sie den verzückten Ausdruck auf Michirus Gesicht bemerkte. Sie kam sich dämlich vor, am Rand der Tanzfläche zu stehen und ging zur Bar. „Was darf es sein?“ fragte das Mädchen dort geschäftig. Haruka kannte sie vom Sehen. Sie hieß Saori und war die Vorsitzende des Debatierclubs der Mugen Gakuen. „Ein Glas Sekt vielleicht?“ schlug Saori hilfreich vor, als Haruka nicht gleich antwortete. „Oder eine Coke? Wir haben auch Wein und Limo. Und Mineralwasser. Und...“ „Ein Bier“, fiel ihr Haruka ungeduldig ins Wort. Saori starrte sie an. „Wie? Ein Bier? Jetzt?“ „Natürlich, wann denn sonst?“ Ungeduldig wartete sie, bis das Mädchen sich am Zapfhahn zu schaffen machte und ihr schließlich einen Bierkrug vor die Nase stellte. Sie bezahlte und nahm einen großen Schluck, als sie angesprochen wurde. Der pickelige Jüngling, der vor ihr stand, war mindestens zwei Köpfe kleiner als sie, trug eine dicke Nickelbrille und sein Smoking sah aus, als wäre es mindestens zwei Nummern zu groß. Sein Gesicht war knallrot. „Äh... äh... äh...“, stammelte er, offenbar außerstande, einen vernünftigen Ton hervorzubringen. „Äh“, erwiderte Haruka höflich, aber um ihre Mundwinkel zuckte es verräterisch. Der Jüngling faßte sich ans Herz und trat einen Schritt vor. Er hatte Mundgeruch und sein After Shave roch bzw. stank gräßlich. „Ähem, Miss Tenô, Verehrteste, würden Sie mir die Ehre... äh... äh... erwiesen, h, erweisen, mit mir zu tanzen... äh, ja, hm.“ Haruka hätte fast laut losgelacht. „Verzieh dich, Pickelgesicht“, sagte sie in ihrem übellaunigsten Ton, „oder muß ich dir dabei helfen?“ „Aber... aber...“, stotterte der Jüngling verlegen und wußte nicht, wohin er schauen sollte, so peinlich war ihm das. „Hau ab, oder ich verpaß dir nen Fußtritt in deinen Allerwertesten!“ schnauzte Haruka ihn an. Er starrte sie ganz entsetzt an, drehte sich um und ergriff die Flucht, wobei er mit mehreren Leuten zusammenstieß, die ihm wütend hinterherschimpften. „Miss Tenô, ich will mich ja nicht einmischen, aber hätten Sie das dem armen Gendo nicht schonender beibringen können?“ warf Saori ein. „Ich meine, er ist vielleicht nicht gerade der Typ, auf den die Frauen abfahren, aber dafür kann er doch nicht, und...“ Genervt drehte Haruka sich um. „Und du solltest auch besser die Klappe halten, sonst blüht dir nämlich das Gleiche“, fauchte sie. Beleidigt drehte sich Saori um und fing an, ein paar Gläser zu polieren. Ein paar muskulöse Typen in Lederjacken kamen an die Theke und verlangten grölend ein paar Gläser Schnaps von „Saori-Mausi“, wie sie Saori nannten. Aus den Augenwinkeln konnte Haruka beobachten, wie Saori sich zu den Typen hinüberbeugte und mit ihnen flüsterte. Dann sahen alle wie auf Kommando zu Haruka hinüber und lachten schallend. „Ist wohl zu schüchtern, die Kleine“, sagte einer so laut, daß Haruka es deutlich hören konnte. Sie ballte die Fäuste. Es fehlte nicht viel, und sie hätte sich auf die Typen gestürzt und sie alle samt verprügelt. Aber da legte sich ihr eine Hand auf die Schulter, und als sie sich umwandte, blickte sie in Michirus meerblaue Augen. „Hast du Lust, mit mir zu tanzen?“ fragte Michiru, nahm ihrer Freundin den Bierkrug aus der Hand und trank einen kräftigen Schluck. „Ach?“ fragte Haruka spöttisch. „Macht Miss Nerissa wieder ihre Raucherpause oder was?“ Michiru lachte. „So kann man´s sagen. Es dauert bei ihr immer ewig. Komm, laß uns tanzen, ich bin gerade so richtig in der Stimmung dafür.“ Haruka warf den Typen am Tresen und „Saori-Mausi“ noch einen letzten Blick zu, bevor sie dann zu Michiru sagte: „Einverstanden. Wenn ich länger hier bleibe, gibt’s noch ein paar Verletzte.“ „Oh, du meinst die Rocker?“ fragte Michiru. „Na, um die ist’s nicht sehr schade. Aber jetzt komm, bevor Nerissa wiederkommt und hier Stunk macht. Sie ist ziemlich besitzergreifend, weißt du.“ Die beiden Mädchen gingen zusammen auf die Tanzfläche. Haruka seufzte. „Ich bin nicht gerade die beste Tänzerin, mußt du wissen“, gestand sie. „Mach einfach, was ich mache“, riet Michiru. „Es wird schon gehen. Sicher hast du im Internat tanzen gelernt, oder?“ „Das schon.“ Tatsächlich ging es leichter, als Haruka gedacht hatte. Sie paßte sich Michirus Rhythmus und ihren Schritten an, und bald schon schwebten die beiden über die Tanzfläche. „Na also“, lächelte Michiru. „Das ist doch gar nicht schlecht, oder?“ Die Musik verklang, und eine neue CD wurde eingelegt. Es war ein sehr langsames Lied, das enges Tanzen erforderlich machte. Haruka wollte sich von der Tanzfläche verdrücken, aber Michiru hielt sie fest. „Ach, bitte noch der eine Tanz!“ bettelte sie. Ergeben blieb Haruka stehen. Michiru umfaßte sie und zog sie zu sich heran. Es war ein merkwürdiges Gefühl, fand Haruka, so eng mit ihr zu tanzen. Sie roch angenehm nach Ambergris. Plötzlich aber fühlte Haruka noch etwas anderes. Sie konnte selbst nicht so genau sagen, was es war. Es war wie so eine Art seltsamer Beklemmung. Aber warum? fragte sie sich. Was ist denn auf einmal los? Lag es daran, daß sie so eng mit einem Mädchen tanzte? Nein, sicher nicht. Aber was hatte das zu bedeuten? Haruka sah auf, direkt in Michirus meerblaue Augen. Michiru erwiderte ihren Blick, und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie zog Haruka enger zu sich heran und gab sich ganz dem Tanzen hin. Haruka sah in diese wunderschönen, ausdrucksvollen meerblauen Augen und mußte sich zusammennehmen. Sie glaubte fast, in diesen Augen zu ertrinken. Irgend etwas war los, irgend etwas hatte sich verändert – aber was? Auf einmal fühlte Haruka, daß sie es nicht länger aushielt, in diese Augen zu sehen. Sie glaubte, die Kontrolle über sich zu verlieren. Ihre Gefühle waren in Bewegung geraten und steuerten auf das totale Chaos zu. Aber sie konnte den Blick einfach nicht abwenden. Diese Augen zogen sie unweigerlich mehr und mehr in ihren Bann. Das leuchtende Meergrün schimmerte und funkelte in dem matten Licht, das in der Halle herrschte. Doch Haruka hielt es nicht mehr aus. Sie fragte sich, ob auch Michiru wie sie empfand, und ob auch sie diese Spannung zwischen ihnen spürte. Verdammt, dachte sie, wenn ich noch länger mit ihr tanze, habe ich bald keine Kontrolle mehr über mich. Was ist das nur? Ich halt das nicht aus! Haruka haßte es, wenn sie die Dinge nicht mehr kontrollieren konnte. Es verunsicherte sie, wenn ihre Gefühle verrückt spielten. Mit einem Ruck riß sie sich von Michiru los und stürzte zwischen den tanzenden Paaren hindurch zu der gläsernen Schiebetür, die in den Park führte. Im Park war es stockdunkel. Am Himmel blinkten vereinzelte Sterne, und eine schmale Mondsichel beleuchtete die Umgebung. Haruka atmete tief durch. Die Luft war frisch und kühlte ihr erhitztes Gesicht. Es ging ihr wieder besser. Sie hatte sich wieder vollkommen unter Kontrolle. Langsam schlenderte sie ein wenig auf und ab, bevor sie sich dann auf eine Bank setzte. Was war nur eben mit mir los? fragte sie sich. Wie konnte ich so reagieren? Ich habe mich gefühlt, als hätte jemand anderes die Kontrolle über mich gewonnen. Es hat mir Angst gemacht. Schritte näherten sich. Jemand blieb zögernd stehen. Ohne aufzusehen wußte Haruka, daß es Michiru war. Sie wirkte verwirrt. „Haruka“, fing sie zögernd an, „was ist los? Hab ich was falsch gemacht? Oder war es dir unangenehm, so eng mit mir zu tanzen?“ „Laß mich in Ruhe!“ fauchte Haruka, aber im gleichen Augenblick tat es ihr leid, die Freundin so angeschrien zu haben. Erstens konnte Michiru nichts dafür, und zweitens hatte sie es nur gut gemeint. Michiru stand hilflos neben der Bank und schien nicht so recht zu wissen, was sie jetzt tun sollte. Haruka sah auf. „Hat irgend jemand gesagt, daß du stehenbleiben mußt?“ fragte sie und deutete auf den Platz neben sich. Michiru setzte sich gehorsam, sagte aber immer noch nichts. „Tut mir leid wegen eben“, seufzte Haruka. „Ich weiß auch nicht... mir wurde auf einmal schwindelig.“ Das war eine Lüge, aber wenn Haruka selbst nicht einmal wußte, was losgewesen war, wie sollte sie es dann Michiru erklären? „Ach so“, murmelte Michiru. „Geht’s dir jetzt wieder besser?“ „Schon, aber ich glaube, ich gehe lieber nach Hause“, sagte Haruka schnell. Michiru sah sie aufmerksam an. „Und es lag wirklich nicht an mir oder am Tanzen?“ fragte sie. „Nein“, sagte Haruka ungeduldig. „Wahrscheinlich war die Luft da drinnen einfach zu schlecht.“ Sie stand auf. „Ich sollte jetzt besser gehen.“ Michiru nickte, sie sah traurig aus. „Schade“, meinte sie leise. „Mir hat das Tanzen mit dir Spaß gemacht.“ „Mir auch“, gab Haruka zu, und das entsprach der Wahrheit. „Hoffentlich geht es dir bald wieder besser“, sagte Michiru besorgt. „Ich will nicht, daß es dir schlecht geht. Du bist doch meine beste, meine allerbeste Freundin, Ruka!“ „Ach?“ bemerkte Haruka. „Ich dachte, das wäre Nerissa.“ „Nein“, antwortete Michiru fröhlich. „Nerissa ist meine Geliebte. Du bist meine allerbeste Freundin. Und da gibt’s einen Unterschied.“ Haruka lachte und verabschiedete sich von Michiru. Sie ging zu ihrem Wagen und fuhr nach Hause. Während sie die Haustür aufschloß, hoffte sie, daß ihre Tante schon schlafen gegangen war. Sie wollte auf keinen Fall unangenehme Fragen wegen ihrer frühen Rückkehr beantworten müssen. Aber Fiffi, dieses kleine Ungetüm, machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Als sie am Schlafzimmer ihrer Tante vorbei schlich, kläffte der Spitz in den höchsten Tönen los, und wenig später öffnete sich die Schlafzimmertür und Mrs. Tenô erschien in ihrem langen seidenen Morgenmantel auf der Schwelle. Selbst um diese Tages- oder vielmehr Nachtzeit saß ihre Frisur tadellos. „Ach, du bist es“, sagte sie erleichtert. „Ich dachte schon, es sei ein Einbrecher. Warum bist du denn schon zurück?“ Gereizt ging Haruka zu der Tür, die in ihre Wohnung führte. „Mir ist nicht gut“, fauchte sie und knallte die Tür hinter sich zu. In ihrem Schlafzimmer warf sich Haruka ohne sich umzuziehen auf ihr Bett und versuchte nachzudenken. Sie wollte unbedingt wissen, was vorhin mit ihr losgewesen war. Was war das nur für ein merkwürdiges Gefühl gewesen! Aber noch während sie darüber nachdachte, schlief sie ein. Kapitel 14: Das Motocross-Rennen -------------------------------- Während der Osterferien fuhr Michiru mit ihren Eltern zum Skifahren in die Berge. In manchen Gebieten lag das ganze Jahr über Schnee, und das war ideal für Wintersport, wie Michiru sagte. Haruka war das ganz recht so. Sie wollte versuchen, etwas Abstand zu gewinnen und aufhören, ständig an diese meerblauen Augen zu denken, denen sie beim Osterball so nahe gewesen war... Mrs. Tenô hatte – wie immer – auch kaum Zeit für ihre Nichte. Sie mußte Konferenzen und Meetings vorbereiten, brütete stundenlang über Akten und Papieren und hetzte von einem Termin zum nächsten. Das einzige, für das sie sich Zeit nahm, war, von ihren Frisörterminen und der Maniküre mal abgesehen, Fiffi. Haruka wußte sich aber ganz gut alleine zu helfen. Sie stand jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe auf und machte zuerst mal einen zweistündigen Waldlauf, um sich fit zu halten. Dann verdrückte sie sich meist zu Jack Kameda in dessen Garage, oder sie ging schwimmen. Michiru hatte ihr ihre Membership-Card für das Hallenbad dagelassen, und das nutzte sie natürlich aus. Auch ihren Mangas widmete sie eine Menge Zeit, und natürlich ihrem Wagen und ihrem Motorrad. Sie hatte angefangen, an Motorradrennen teilzunehmen und bereits mehrmals den ersten Platz belegt. Trotz allem fehlte ihr Michirus angenehme, wohltuende Gesellschaft. Sie war gespannt, was die Freundin zu ihren Siegen beim Motocross sagen würde. Zwei Tage vor Ende der Osterferien kam Michiru braungebrannt und fröhlich aus ihrem Skiurlaub zurück. Sie erzählte, daß sie einen Preis bei einer Slalomabfahrt gewonnen hatte und beim Langlauf Zweite geworden war. „Und du?“ fragte sie. „Was hast du die ganze Zeit gemacht?“ Haruka reagierte nicht gleich. Sie betrachtete Michiru, wie sie vor ihr auf dem Rasen stand: Das türkisfarbene Haar wurde durch ein breites Band aus dem Gesicht gehalten, und sie trug Sandalen und ein schlichtes, hellblaues Sommerkleid. Ihre meerblauen Augen leuchteten aus dem braungebrannten Gesicht. „Was ist, ich hab dich was gefragt!“ brachte sich Michiru wieder in Erinnerung. „Entschuldige. Ich war ganz in Gedanken.“ „Also, was hast du in den zwei Wochen gemacht?“ „Willst du das wirklich wissen?“ „Ja, warum?“ Haruka, der die schwarze Leggins und das weiße Hemd gut standen, lächelte. „Dann komm morgen zum Motocross-Gelände, und du wirst sehen, womit ich die ganzen zwei Wochen zugebracht habe.“ „Zum Motocross-Gelände?“ wunderte sich Michiru. „Was soll ich denn da? – Ah, sag nicht, du... du hast wieder damit angefangen, Rennen zu fahren?“ „Gratulation, die Kandidatin hat 100 Punkte“, lächelte Haruka. Michiru umarmte sie spontan. „Das freut mich für dich“, rief sie aufgeregt. „Ich komme ganz bestimmt! Versprochen!“ Und Haruka freute sich darauf, Michiru zeigen zu können, wie gut sie wirklich Motorradfahren konnte. Denn Motocross-Rennen war ziemlich hart, man mußte mit dem Motorrad über ein schwieriges Gelände fahren. Doch Haruka war gut genug, um das mit links zu meistern. Der Schlamm spritzte auf, Motoren brummten. Dann raste das Motorrad von Haruka über die Ziellinie, knapp gefolgt von dem Motorrad des Rennprofis Yamada. Haruka bremste scharf und nahm ihren Helm ab. Eine widerspenstige Haarsträhne fiel ihr in die Stirn. Das Publikum tobte vor Begeisterung und jubelte ihr zu. Haruka war die einzige Frau in ganz Japan, die Motocross-Rennen fuhr und sie war inzwischen sowas wie ein Geheimtip für alle Fans des Motorsports. Michiru lehnte am Geländer der Tribüne und sah lächelnd zu Haruka hinunter. Haruka bemerkte ihren Blick und lächelte zurück. Sie freute sich, daß Michiru ihr Versprechen wahr gemacht hatte und gekommen war. „Super!“ rief ein Mädchen neben Michiru. „Tenô Haruka hat das Rennen gewonnen, habt ihr gesehen?“ „Ich muß sagen, sie ist wirklich geschickt“, bemerkte ein junger Mann bewundernd. Eine junge Frau nickte. „Wenn man bedenkt, daß sie nur gegen Jungs gefahren ist und trotzdem gewonnen hat, ist sie sogar ein Genie auf dem Motorrad!“ meinte sie. Michiru lächelte vor sich hin und verließ die Tribüne, um sich auf die Suche nach Haruka zu machen. Sie fand ihre Freundin hinter einem großen Lastwagen vor, wo sie dabei war, ihr Motorrad von dem Schlamm zu säubern. Der Schweiß lief ihr über die Stirn. Michiru zog ihr Taschentuch aus der Tasche ihrer roten Jeansjacke und reichte es ihr. „Hier.“ Überrascht sah Haruka auf. Dann lächelte und sie nahm das Taschentuch, um sich damit über die Stirn zu wischen. „Vielen Dank, Michiru.“ „Du warst super“, sagte Michiru anerkennend. „Hast du’s gesehen?“ fragte Haruka und bückte sich, um die Schutzbleche zu reinigen. Das Tuch und ihre Finger waren starr vor Schmutz. Michiru lachte. „Klar. Was dachtest du denn? Das laß ich mir doch nicht entgehen!“ Plötzlich erschienen zwei Männer. Sie sahen aus wie zwei wandelnde Kleiderschränke, groß, kräftig und muskulös. Sie trugen Rennfahreranzüge, Gasmasken im Gesicht und in den Händen hielten sie große Schlagstöcke. „He, Haruka Tenô!“ riefen sie. „Seit wann gewinnen Frauen ein Motorradrennen?“ Haruka, deren gute Figur durch den hautengen, weißen Motorradanzug betont wurde, wandte sich ihnen zu. „Es ist egal, ob man ein Mann oder eine Frau ist“, erklärte sie kühl. „Der Schnellste gewinnt. Ganz einfach.“ „Was hast du gesagt?“ Drohend kamen sie näher und schwangen ihre Schlagstöcke. Ihre Augen unter den Masken waren zu schmalen Schlitzen verengt. Michiru schrie auf. „Hört auf, sie zu bedrohen!“ rief sie wütend. „Das ist nicht fair!“ Die Männer drehten sich nach ihr um. „Wer hat das gesagt? Willst du uns Angst machen, Prinzessin?“ Sie lachten dröhnend. „Wenn ihr nicht sofort verschwindet, wird euch das schlecht bekommen!“ fauchte Haruka und wollte sich auf den ersten von ihnen stürzen, als ein großer, breitschultriger Mann auf der Bildfläche erschien. Die Angreifer fuhren herum. „Yamada!“ riefen sie. „Beim nächsten Rennen werde ich gewinnen“, sagte Yamada eisig zu Haruka. Er winkte seinen Leuten. „Kommt jetzt.“ Die Männer wandten sich zum Gehen. Einer von ihnen sah Haruka noch einmal drohend an. „Ich würde in nächster Zeit sehr gut auf mich aufpassen“, sagte er grimmig. Dann folgte er den anderen. Michiru starrte den Typen nach. „Wer war denn das?“ fragte sie verwundert. „Das war Yamada“, erklärte Haruka. „Er hat gegen mich verloren und ist nur zweiter geworden. In seinem Herzen lebt nur die Leidenschaft für Motocross-Rennen. Nur dafür lebt er.“ Michiru staunte. Dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich muß gehen, ich hab nachher noch ein Date mit Nerissa“, sagte sie entschuldigend zu Haruka. Haruka nickte, verabschiedete sich und wandte sich wieder ihrem Motorrad zu. Eine Weile nachdem Michiru gegangen war hatte sie ihr Motorrad fertig geputzt und stieg auf, um nach Hause zu fahren. Als sie an der Bushaltestelle vorbeifuhr, sah sie Michiru dort stehen. Der rote kurze Rock betonte ihre langen, schlanken Beine, und das weiße T-Shirt und die Jeansjacke standen ihr gut. Haruka hielt vor ihr an und reichte ihr einen zweiten Helm. „Steig auf!“ forderte sie sie auf. „Ruka!“ „Ich fahre dich heim“, bot Haruka an. „Danke!“ Michiru strahlte, setzte den Helm auf, stieg auf das Motorrad und hielt sich an Haruka fest. Die Fahrt ging los. „Halt dich gut fest“, sagte Haruka und gab Gas. Michiru liebte es, mit Haruka auf dem Motorrad zu fahren. Sicher, es konnte schon passieren, daß Haruka eine rote Ampel übersah oder einem Fußgänger beinahe über den Fuß fuhr oder daß sie die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritt, aber gerade dieses Risiko reizte Michiru dabei. Da hupte plötzlich ein riesiger Lastwagen hinter ihnen. Haruka wich geschickt auf die andere Fahrspur auf, aber der Wagen kam ihr hinterher. Sie erstarrte. Will der uns umbringen? dachte sie entsetzt. „Michiru!“ rief sie. „Halt dich jetzt gut fest!“ „Ja!“ Haruka gab Vollgas. Das Motorrad zischte über die alte Landstraße, schwang hinauf in die Luft und über ein paar Büsche, und landete dann zielsicher hinter einer hohen Hecke am Straßenrand. Der Lastwagen hielt an, und die Fahrer stiegen aus. „Mist!“ rief jemand. Haruka und Michiru hatten sich hinter einen dichten Busch gekauert. Vorsichtig spähten sie durch die Zweige zur Straße hinüber. Die Typen gingen mit ihren Schlagstöcken von Busch zu Busch und unterhielten sich leise miteinander. „Was sind denn das für Idioten, die hätten uns umbringen können!“ schimpfte Michiru. „Das sind die Typen vom Rennplatz“, antwortete Haruka grimmig. „Bist du sicher?“ fragte Michiru erschrocken. Haruka deutete durch ein Loch in der Hecke. „Siehst du?“ Michiru beobachtete, wie die Typen mit ihren Stöcken auf die Büsche einschlugen. „Ah, wir haben sie verloren!“ ärgerte sich einer von ihnen. Haruka bemerkte, daß Michiru vor Angst zitterte und nahm sie beruhigend in die Arme. Michiru errötete. Ich komme mir vor, als würde mich ein Mann festhalten, dachte sie. Das riecht wirklich wahnsinnig gut... „Sag mal, wie heißt das Parfüm, das du benutzt, Haruka?“ wollte sie wissen. „Sei jetzt still!“ zischte Haruka warnend, denn die Typen kamen näher und näher. Michiru zitterte am ganzen Leib. Diese Typen waren gemeingefährlich! Sie wollten Haruka umbringen, weil sie als Frau ein Motorradrennen nach dem anderen gewann. Und wenn es Haruka nicht gelang, sich ihrer zu erwehren – was würden diese Typen dann mit ihr, Michiru, anstellen? Daran wagte sie gar nicht zu denken. Aber Haruka wußte sehr genau, was jetzt zu tun war. Sie stand auf und ging um den Busch herum. „Was wollt ihr von mir?“ fragte sie mit eisiger Ruhe. „Los, zeigen wir’s ihr!“ rief einer der Männer. „Vorsicht!“ kreischte Michiru und sprang auf, um Haruka notfalls zu Hilfe zu kommen. Die Angreifer grinsten hämisch und traten auf Haruka zu. Aber die stürzte sich auf den ersten, rammte ihn in den Bauch und legte ihn mit ein paar gekonnten Schlägen flach. Michiru hätte fast laut losgelacht, als er sich mühsam wieder aufrappelte und entgeistert zurückwich. „Habt ihr genug oder wollt ihr noch mehr?“ Haruka trat auf den zweiten Mann zu. Der stieß einen entsetzten Schrei aus. Diese verflixte Haruka Tenô war nicht nur unglaublich schnell und geschickt beim Motocross-Rennen, sondern auch noch geradezu unheimlich stark! Entsetzt drehten sich die Typen um und flüchteten in ihren Lastwagen. Haruka lachte hinter ihnen her. Bewundernd blickte Michiru sie an. „Wow!“ rief sie mit großen Augen. „Bist du stark, Haruka!“ „Das ist keine Kunst“, erklärte Haruka ruhig. „Ich trainiere eben sehr hart. Soll ich’s dir etwa beibringen?“ Entgeistert starrte Michiru sie an. „Nein, danke“, murmelte sie, „ich hätte Angst, mir meine Fingernägel zu ruinieren. Nein, Scherz. Aber ich glaube, das wäre nichts für mich.“ „Na, jedem das seine.“ Haruka setzte sich ihren Helm auf und ging zum Motorrad hinüber. „Komm, ich fahr dich jetzt nach Hause, damit du rechtzeitig zu deinem Date mit Nerissa kommst.“ Michiru nickte. „Ja, in Ordnung. Sie wird stinksauer sein, wenn ich zu spät komme. Ich habe ihr gar nicht gesagt, daß ich zu deinem Motorradrennen gehe.“ Sie zog sich ihren Helm auf und klappte das Visier herunter. „Das ist verständlich“, grinste Haruka. Sie setzte sich und wartete, bis Michiru sich hinter sie gesetzt hatte und die Arme um ihre Taille geschlungen hatte. Dann gab sie Gas, und wenig später schoß das Motorrad auf dem Highway davon. Kapitel 15: Ernste Gespräche ---------------------------- „Du kommst doch, oder?“ fragte Michiru am Telefon, und sie hörte sich sehr aufgeregt an. Haruka lehnte sich gegen die Wand und wickelte das Kabel des Telefons spielerisch um ihren Finger. „Klar“, lachte sie. „Wann geht’s denn los?“ „In einer Stunde“, lautete die Antwort. „Es tut mir leid, daß ich dir erst so spät Bescheid sage, aber Nerissa hat mich aufgehalten. Wir waren einkaufen, und sie hat ewig gebraucht, um sich zwischen zwei Röcken zu entscheiden.“ „Nein, das ist schon in Ordnung, Michiru. Bis dann.“ Haruka legte auf und wollte nach oben gehen, um sich umzuziehen, als Mrs. Tenô aus der Küche kam. Fiffi schlich hinter ihr her. Als er Haruka bemerkte, knurrte er, kniff den Schwanz ein und machte einen Rückzieher. „Wer was das?“ fragte Mrs. Tenô geschäftig und ordnete ein paar Blätter, die auf der Anrichte lagen. „Michiru“, antwortete Haruka. „Sie hat mich zu ihrem Violinkonzert heute abend eingeladen.“ Mrs. Tenô drehte sich um und musterte Haruka von oben bis unten. „Aber bitte nicht so“, mahnte sie und deutete auf das Hemd und die Leggins. Haruka verdrehte die Augen, murmelte etwas und machte, daß sie wegkam. Ganz so blöd wie Tante Himeko glaubte, war sie nun auch wieder nicht. Sie ging nach oben und holte gerade ihr violettes Ballkleid aus dem Schrank, das ihr Michiru damals geschenkt hatte, als ihr eine viel bessere Idee kam. Sie warf das Kleid auf ihr Bett und zog statt dessen ihren schicken schwarzen Smoking an, der ihr sehr gut stand. Sie sah jetzt aus wie ein richtiger Junge. Obwohl Haruka versuchte, möglichst leise die Treppe herunterzugehen, hörte ihre Tante sie dennoch und kam aus ihrer Wohnung, um zu sehen, ob sie sich umgezogen hatte. Sie schnappte entgeistert nach Luft, als sie ihre Nichte so sah. „Haruka! Du wirst sofort... Haruka, hörst du nicht!? HARUKA!“ Aber Haruka war bereits geflüchtet. Wenig später saß sie in ihrem Wagen und fuhr in Richtung Nagareboshie-Hotel, wo das Konzert stattfinden sollte. Als sie sagte, wer sie war, ließ man sie ohne weiteres ein und zeigte ihr einen Tisch, an den sie sich setzen konnte. Entweder hatte Michiru vorgesorgt oder es lag einfach daran, daß Himeko Tenô ihre Tante war. Das Konzert begann pünktlich. Haruka konnte von ihrem Platz aus die Bühne gut sehen. Sie sah auch Nerissa, die weiter vorne saß. Der Hoteldirektor, ein kleiner, dicker Mann mit Glatze, betrat die Bühne. Er räusperte sich ein paar Mal und sagte dann durch ein Mikrofon: „Verehrte Gäste! Ich habe heute die Ehre, Ihnen einen ganz speziellen Gast anzusagen: Eine junge Dame, die es mit ihrer Kunst als Violistin noch sehr weit bringen wird! Begrüßen Sie mit mir Miss Kaiou Michiru!“ Der Vorhang schwang auf, und der Hoteldirektor trat diskret zur Seite. Michiru lächelte. Sie trug ein schulterfreies, weißes Seidenkleid, das bei jedem Schritt geheimnisvoll raschelte und knisterte. Am Ausschnitt trug sie eine kleine Brosche in Form einer roten Rose. Am Handgelenk hatte sie ein goldenes Armband mit einem Herzmedaillon. Das Kleid war ziemlich lang und bedeckte einen Teil des Bodens. Ihre langen Locken trug Michiru offen. Als der Applaus langsam verklang, schloß Michiru konzentriert die Augen und fuhr sanft mit ihrem Fiedelbogen über die Geige. Und während sie so spielte, vergaß sie alles um sich herum. Sie fühlte sich frei und leicht, und ihr war, als glitte sie schwerelos durch Raum und Zeit. Haruka saß auf ihrem Stuhl und beobachtete sie. Diese Michiru spielte besser als jede Violistin, die Haruka jemals gehört hatte. Und es schien, als habe sie alles um sich herum vergessen. Die Leute am Nachbartisch fingen an zu tuscheln. „Man sagt, sie hat keine Freunde“, sagte eine kleine, dicke Frau leise zu ihrer Nachbarin. Diese nickte. „Ja, sie ist immer allein. Und ihre Bilder sind auf eine geradezu selbstquälerische Weise zerstörerisch.“ „Es heißt, sie haßt die Menschen“, behauptete eine dritte Frau. Michiru spielte und spielte, und die Rhythmen ihrer Geige erinnerten Haruka irgendwie an das Klatschen von Wellen und an die See. Mal spielte sie zackig und voller Schwung und Energie, dann wechselte sie ins Langsame, und die Melodien wurden sanft und betörend. Als Michirus Auftritt vorüber war, mußte Haruka feststellen, daß sie noch stundenlang hier sitzen und ihr zu hören gekonnt hätte. Aber nach einer kleinen Zugabe und einem donnernden Applaus ging Michiru von der Bühne. Nach ihr trat eine Mila Emerold auf, aber ihr Gesang war so schrecklich, daß Haruka bald aus dem Raum flüchtete. Sie beschloß, ins Erdgeschoß zu gehen und an der Bar noch etwas zu trinken. Oberhalb der Treppe, die ins Erdgeschoß führte, hing ein großes düsteres Gemälde, auf dem eine zerstörte Stadt zu sehen war. Alles grau in grau, trostlos ragten die Trümmer gen den dunklen Himmel. Ein mächtiger, drohender Wirbel schien alles verschlingen zu wollen. Es war ein schreckliches, mit soviel Haß gemaltes Bild, eines von denen, die einem noch im Traum verfolgen konnten, wenn man zart besaitet war. Aber es war beeindruckend, und Haruka stand lange davor und prägte sich jede Einzelheit genau ein. „Gefällt dir das Bild?“ fragte plötzlich eine helle Mädchenstimme. Haruka drehte sich um. Unten an der Treppe stand in ihrem langen Kleid Michiru. Ihre meerblauen Augen schimmerten sanft, und ihre weichen Züge wirkten verträumt. „Es ist ein schreckliches Bild“, antwortete Haruka. „Hast du es gemalt?“ Michiru ging nicht auf ihre Frage ein. „Du weißt es vielleicht nicht - jeder in dieser Stadt kennt dich“, sagte sie. „Und wenn manche es auch nicht gern zugeben, du wirst von vielen bewundert. Ich... kenne ein Mädchen, die würde alles dafür geben, wenn sie nur ein einziges Mal mit dir am Strand spazierengehen könnte.“ Haruka lachte. Dann wandte sie sich wieder dem Bild zu. „Was soll dieses Bild eigentlich darstellen? Das Ende der Welt, der Untergang der Menschheit oder sowas? Wie kann ein so unschuldiges Mädchen so eine häßliche Fiktion haben?“ Michiru seufzte. „Das ist keine Fiktion! Das ist die Wirklichkeit! Die Welt wird eines Tages genauso aussehen, wenn die Menschen nicht endlich damit aufhören, überall ihre riesigen Skyscraper aufzubauen und mit dem stinkenden Qualm aus ihren häßlichen grauen Fabrikschloten die Umwelt zu verpesten - von den Abgasen erst gar nicht zu reden.“ „So ein Unsinn!“ bemerkte Haruka hart. „Wenn du wirklich glaubst, daß das die Wirklichkeit ist, daß die Welt untergeht, dann kannst du ja versuchen, das zu verhindern! Mich geht das jedenfalls nichts an, und es interessiert mich auch nicht! Also laß mich mit diesem Unsinn in Zukunft bitte in Ruhe!“ „Jetzt hab ich aber langsam genug von deinem Egoismus!“ sagte Michiru wütend. „Du bist nicht die Einzige, der es so geht! Ich hätte es auch gerne ignoriert! Ich träumte immer davon, eine große Geigerin zu werden - aber wie kann ich meinen eigenen Traum verwirklichen und glücklich sein, wenn um mich herum Leid und Elend herrscht?“ „Dann stimmt es also, was die Leute über dich erzählen?“ fragte Haruka. „Daß du die Menschen haßt?“ Michiru setzte sich nachdenklich auf eine Stufe. „Hassen? Nein, das ist nicht das richtige Wort. Aber ich mag keine Massenaufläufe und dergleichen. Und ich finde es schrecklich, wenn die Menschen ohne Rücksicht auf die nachfolgende Generation die Umwelt verpesten. Eines Tages wird diese Welt untergehen, und wir Menschen sind es, die daran schuld sind. Der Fortschritt ist das größte Ideal des Menschen, aber er bedenkt nicht, daß Fortschritt auch etwas zerstörerisches sein kann.“ „Du sprichst auf einmal so realistisch“, meinte Haruka verwundert. „Das paßt nicht zu dir.“ „Aber ich habe recht“, sagte Michiru bestimmt. „So ist es doch, meinst du nicht auch?“ „Ich habe noch nie so intensiv darüber nachgedacht.“ Haruka sah nachdenklich drein und setzte sich neben sie auf die Treppe. „Aber du hast wohl recht. Immer mehr Neues wird geschaffen, das Alte wird weggelacht. Vielleicht sollten viele Menschen ihre Grundeinstellung zum Leben einmal überdenken. Aber - denkst du nicht auch, daß jeder nur durch das Opfer anderer lebt?“ „Wie meinst du das, Haruka?“ fragte Michiru erstaunt. „Na ja, sagen wir zum Beispiel... wenn jemand, den du sehr gut kennst, sich in größte Gefahr begibt, um dich zu beschützen. Und dabei ist es ihm vollkommen egal, was mit ihm passiert. Das einzige, was ihn interessiert ist, daß du in Sicherheit bist. Dieser Jemand könnte dein Geliebter sein, deine Freunde, deine Eltern... jeder lebt nur durch das Opfer anderer! Glaubst du nicht, daß es so ist, Michiru?“ Michirus meerblaue Augen blitzten. „Das finde ich nicht! Es ist vollkommen in Ordnung, daß jemand für den anderen eintritt, aber was ist mit denen, die sich aufopfern? Willst du damit sagen, daß es dir vollkommen egal ist, was mit denen passiert? Ich kann doch nicht mein eigenes Leben retten und einfach nur zusehen, wie dafür ein anderer Mensch sein Leben opfert, oder? Und wenn man es alleine nicht schafft, dann müssen mehrere zusammenstehen, und dann schafft man es auch ohne daß jemand geopfert werden muß, bestimmt!“ Haruka lächelte. „Ich muß sagen, du hast wirklich ein gutes Herz, Michiru!“ Sie lächelten einander an, und wieder hatte Haruka das Gefühl, in ihren Augen ertrinken zu können. Sie fühlte sich irgendwie merkwürdig, aber auch so verdammt glücklich. Es war ein Gefühl, das sie nur hatte, wenn sie in Michirus Nähe war. Aber sie konnte es nicht deuten – noch nicht. Kapitel 16: Three Lights ------------------------ Ende April veranstaltete Mrs. Tenô eine Grillparty in ihrem Garten. Sie lud die Kaious und einige andere Nachbarsfamilien dazu ein. Schon am frühen Morgen schleppten Lieferanten Kartons durchs ganze Haus in den Garten, ein Büfett wurde aufgebaut und Mrs. Tenô hastete von einem zum anderen und kommandierte alle herum. Fiffi sprang den Lieferanten zwischen die Beine und bellte sich die Seele aus dem Leib. Haruka wurde von ihrer Tante dazu verdonnert, ein rückenfreies kurzes, hautenges schwarzes Kleid mit dünnen Trägern anzuziehen, in dem sie sich vorkam wie die Wurst in der Pelle. Aber sie sagte nichts. Inzwischen hatte sie herausgefunden, daß es sinnlos war, sich mit Himeko Tenô zu streiten. Die Tante hatte den selben Sturkopf wie sie. „Und wehe, du benimmst dich wie ein Junge und nicht wie eine junge Dame!“ drohte Himeko Tenô. Sie trug ein dunkelblaues langes Abendkleid und war wie immer stark geschminkt. An ihren Ohren baumelten lange Ohrgehänge. Haruka fragte sich, wie sie es schaffte, stets wie eine Dame von Welt zu wirken. „Hast du gehört, Haruka?“ Die Tante ließ nicht locker. Haruka verdrehte die Augen. „Jaaa“, murmelte sie genervt. Michiru und ihre Familie kamen zuerst. Mrs. Kaiou sah wie immer klasse aus und Mr. Kaiou, den Haruka bis jetzt noch nicht gekannt hatte, wirkte wie ein engagierter Geschäftsmann. Michiru sah – wie immer – bezaubernd aus. Haruka beobachtete sie heimlich. Sie trug ein langes weißes Kleid, das mit weißen Rosen verziert war. Es war recht weit ausgeschnitten und hatte dünne Träger. Ihre zierliche Figur und ihre schmalen Schultern kamen perfekt zur Geltung. Die langen türkisfarbenen Locken hingen ihr offen den Rücken herunter, lediglich durch eine Spange aus dem Gesicht gehalten. Ihre meerblauen Augen leuchteten, und sie hatte eine kleine Goldkette um den Hals, die auf ihrer weißen Haut schimmerte. Nachdem Michiru Mrs. Tenô begrüßt hatte, wandte sie sich Haruka zu. Sie musterte sie von oben bis unten und stieß dann einen anerkennenden Pfiff aus. Das kam so spontan, daß sie rot wurde, und als sie Harukas Blick begegnete, mußten beide lachen. „Du siehst aber wirklich toll aus“, versicherte Michiru bewundernd. „Richtig sexy. Das Kleid steht dir perfekt und sitzt wie angegossen.“ „Danke, aber ich fühl mich schrecklich eingeengt“, stöhnte Haruka. Sie sah Michiru an. „Aber ich kann das Kompliment zurückgeben, Michiru, du siehst super aus.“ Michiru wurde rot und wandte den Kopf. Ihre Locken fielen ihr ins Gesicht, und sie sah unheimlich süß aus. „He, Michie-Chan, willst du uns deiner neuen Freundin nicht vorstellen?“ Haruka hatte gar nicht bemerkt, daß noch andere Gäste gekommen waren. Darunter waren ein junges Mädchen, das etwas älter als Haruka und Michiru schien, und drei junge Männer, die Haruka von irgendwoher bekannt vorkamen. Michiru drehte sich nach ihnen um. „Hallo“, grüßte sie. „Sieht man euch auch mal wieder? Ich dachte, ihr wärt auf Tournee.“ „Eine Pause ist immer mal nötig“, sagte einer von ihnen. Haruka runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht helfen, aber irgendwo hatte sie die drei schon mal gesehen. Sie warf Michiru einen fragenden Blick zu. Michiru lachte. „Ich sehe, du kennst sie“, bemerkte sie belustigt. „Kennen ist übertrieben, aber von irgendwoher kommen sie mir bekannt vor...“ Der Schwarzhaarige verschränkte die Arme. „Ts!“ meinte er. „Und ich dachte, wir wären bekannt...“ „Three Lights“, erklärte Michiru. „Das sind Seiya, Yaten und Taiki von der Popgruppe Three Lights.“ Haruka sah sie ratlos an. „Three Lights?“ echote sie verwirrt. „Das kommt mir bekannt vor, aber im Augenblick... sorry.“ „Ts!“ wiederholte der Schwarzhaarige wieder und sah demonstrativ in die andere Richtung. „Ich bin Kaiou Taiki“, sagte der Braunhaarige lächelnd. „Es sieht meinem Schwesterchen ähnlich, nicht zu erwähnen, daß ihr Bruder zu Three Lights gehört.“ Verblüfft starrte Haruka den gutaussehenden jungen Mann in dem sandfarbenen Anzug an. Ihr Blick schweifte zu Michirus Vater, der das gleiche braune Haar und die gleichen dunklen Augen und den selben ehrgeizigen Ausdruck im Gesicht hatte. Dann ging ihr ein Licht auf. „Ihr... seid die bekannte Popgruppe Three Lights, die Todokanuomoi gesungen hat?“ „Sind wir“, erklärte der Schwarzhaarige eingeschnappt. „Und du bist die, die uns nicht sofort erkannt hat!“ „Und du hältst die Klappe!“ warf der dritte von ihnen ein. Er sah Haruka an. „Entschuldige bitte, aber Seiya ist manchmal etwas kindisch. Nimm’s ihm nicht übel, er kann nicht anders. Übrigens, ich bin Yaten. Ich spiele Keyboard in der Gruppe.“ „Hi“, grüßte Haruka. „Kou Seiya ist der Frontsänger der Three Lights“, erklärte Michiru. „Er kann es auf den Tod nicht leiden, wenn ihn jemand nicht kennt. Stimmt’s, Seiya?“ Sie lachte. „Worauf du dich verlassen kannst, Schätzchen!“ konterte Seiya, legte einen Arm um ihre Schultern und zwinkerte ihr zu. Haruka war leicht irritiert, als sie das sah, sagte aber nichts. Sie bemerkte den Blick, mit dem Seiya Michiru von der Seite ansah, und aus unerfindlichen Gründen konnte sie ihn nicht ausstehen. „Tut mir leid, daß ich dir nichts von Three Lights erzählt habe, Ruka“, sagte Michiru. „Aber weißt du, ich hasse es, wenn die Leute nur wegen meines Bruder mit mir befreundet sein wollen. Das ist mir schon oft passiert, und am Anfang hieß es überall in der Schule nur „das ist die, deren Bruder zu Three Lights gehört“. Und plötzlich wollte jeder mit mir befreundet sein und alle kamen „zufällig“ vorbei, wenn Taiki Zuhause auf Besuch war.“ „Ich bin acht Jahre älter als Michie“, erklärte Taiki, der Harukas verwirrten Blick bemerkte. „Wir sehen uns kaum. Eigentlich sind wir Halbgeschwister. Ich lebe bei meiner leiblichen Mutter.“ Er sagte nicht, daß er das Kind einer Affäre von Mr. Kaiou mit einer anderen Frau war, aber es war auch so offensichtlich, was er meinte und warum Michiru es vermieden hatte, von ihrem Halbbruder zu sprechen. Plötzlich räusperte sich jemand. Es war das junge Mädchen an Taikis Seite. „Das ist Meio Setsuna“, stellte Michiru sogleich vor und wandte sich aus Seiyas Umarmung. „Sie ist die Freundin von Taiki. Setsuna studiert an einer Universität in Amerika Design. Ihre Eltern wohnen hier in der Straße, und wir kennen uns gut.“ Setsuna lächelte Haruka freundlich an. Sie war groß und schlank und hatte eine Figur wie ein Model. Ihr langes grünschwarzes Haar hing ihr offen den Rücken herunter, und sie trug ein hübsches, dunkelrotes Kleid, das ihr gut stand. Mrs. Tenô kam zu den jungen Leuten hinüber. „Wie ich sehe, habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht“, sagte sie. „Ich hoffe, Sie und Ihre Kollegen bleiben eine Weile hier in Tokio, Taiki.“ „Oh ja, wir haben vor, ein paar Monate auszuspannen“, erwiderte Taiki freundlich lächelnd und legte seinen Arm um Setsunas Schultern. „Auch ich werde einige Zeit hierbleiben“, sagte diese. „Taiki und ich sehen uns so selten, und wir wollen endlich mal wieder etwas Zeit für einander haben.“ „Das ist schön“, sagte Mrs. Tenô. Sie deutete auf den Grill und das Büfett. „Es ist angerichtet.“ „Das lasse ich mir nicht zweimal sagen“, rief Seiya. Er nahm Michirus Hand. „Komm, Schätzchen, sonst ist nachher alles weg! Oh, und einen Tanz mußt du mir auch noch reservieren, versprochen?“ „Versprochen“, lachte Michiru. Yaten und Taiki blieben mit Mrs. Tenô und einigen anderen Nachbarn auf dem Rasen zurück. Haruka ging ein paar Schritte, aber sie hatte auf einmal keinen Hunger mehr. Statt dessen beobachtete sie, wie Seiya und Michiru am Büfett standen und zusammen über irgend etwas lachten und sich anscheinend königlich amüsierten. Michiru strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn, warf den Kopf zurück und blinzelte ins Sonnenlicht. Ihre Augen glitzerten. Haruka konnte nichts dafür, sie mußte immer wieder zu ihr hinsehen. „Hübsches Mädchen, nicht wahr?“ fragte plötzlich jemand neben ihr. Erschrocken wandte Haruka den Kopf. Meio Setsuna lehnte an dem Pfosten, der den Balkon abstützte und sah sie seltsam wissend an. „Ja und?“ erwiderte Haruka patzig und drehte sich weg. Während sie zum Büfett ging, fragte sie sich, warum sie eigentlich so reagiert hatte. Was hatte Meio Setsuna anderes gesagt als Hübsches Mädchen, nicht wahr? Haruka verfluchte sie, und sie verfluchte Three Lights – ganz besonders Kou Seiya – und die ganze Grillparty. Seiya und Michiru kamen mit ihren Tellern zu ihr hinüber. „Möchtest du was abhaben?“ fragte Michiru und hielt ihr auffordernd den Teller hin. „Der Kartoffelsalat schmeckt großartig. Probier mal.“ „Nein danke.“ Haruka hatte keinen Appetit mehr. Sie wollte Michiru ganz für sich allein, wie sie sich selbst eingestehen mußte. Aber Seiya machte dies ganz unmöglich. Den ganzen Abend schwänzelte er um Michiru herum, erzählte schmutzige Witze, schilderte das Showbiz und gab damit an, wieviel Liebesbriefe er täglich von seinen Fans bekam. Haruka mochte ihn von Minute zu Minute weniger. Yaten, Taiki und Setsuna hatten sich wieder zu ihnen gesellt. Yaten unterhielt sich eine Weile mit Haruka, aber die beiden waren wohl zu verschieden, um befreundet zu sein. Yaten verabscheute jegliche körperliche Anstrengung, wie sich herausstellte, und sein großes Interesse galt dem Fotografieren und natürlich seinem Keyboard. Auch Taiki war eher der etwas ruhigere, introvertierte Typ. Er und Setsuna lächelten sich ständig verliebt an und hielten Händchen. Seiya war sportlich, und er war hitzköpfig und stur, genau wie Haruka. Vielleicht waren sich die beiden einfach zu ähnlich, um wirklich Freunde zu werden. Michiru schien Seiya zu mögen, die beiden unterhielten sich den ganzen Abend. Aber Seiya sprach nicht mit Haruka und Haruka nicht mit Seiya. Setsuna, die auch eher etwas ruhiger war, sah Haruka immer wieder mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen an, so als wisse sie etwas, daß Haruka selbst noch nicht erkannt hatte. Als Seiya von einer Nachbarin in ein Gespräch verwickelt wurde, zog Michiru Haruka beiseite. „Du magst ihn nicht, oder?“ fragte sie leise. „Wen?“ fragte Haruka zurück, obwohl sie sehr genau wußte, wen Michiru meinte. „Tu nicht so. Ich meine natürlich Seiya. Ich merke, daß du ihn nicht magst. Das spüre ich. Schon allein der Blick, mit dem du ihn ansiehst...“ Haruka verschränkte die Arme. „Du hast recht“, gab sie zu. „Ich mag ihn nicht. Wenn ich dich wäre, würde ich mich von ihm fernhalten. Seiya ist gefährlicher als der Wolf im Schafspelz!“ „Was für ein Vergleich!“ spottete Michiru. „Schon allein die Art, wie er sich an dich ranmacht, ist mehr als plump“, fuhr Haruka unbeirrt fort. Michiru sah sie verblüfft an. „Wie er was?“ „Das mußt du doch merken“, wunderte sich Haruka. „Er sieht dich an, als wolle er dich im nächsten Augenblick küssen, und dazu schafft er es keine Minute, dich mal nicht zu umarmen oder „zufällig“ zu berühren.“ „Ach, du beobachtest uns also, ja?“ fragte Michiru spitz. „Das fällt selbst dem größten Idioten auf“, erklärte Haruka kühl. „Aber bitte, das ist deine Sache und geht mich nichts an.“ „Das stimmt“, sagte Michiru ruhig. Da kamen Taiki und Setsuna zu ihnen und sie sprachen nicht weiter über die Sache. Und doch – irrte sich Haruka oder wich Michiru Seiyas Umarmungen wirklich aus? Nach dem Essen sollten Three Lights auftreten. Die drei bauten ihre Kulisse auf, während sich Haruka, Michiru und Meio Setsuna ins Gras setzten. „Vielleicht hattest du ja recht“, meinte Michiru leise zu Haruka. „Möglich, daß Seiya mich tatsächlich angemacht hat. Aber du weißt ja – no chance.“ Haruka runzelte die Stirn. „Wie dem auch sei, ich mag ihn trotzdem nicht“, knurrte sie. „Seiya?“ warf Setsuna ein und streckte sich lang auf dem Rasen aus. „Na, komm! Ich kenne Seiya jetzt schon seit einiger Zeit, und er ist und bleibt nun mal ein Casanova, aber er ist schwer in Ordnung, wirklich!“ Na großartig, dachte Haruka, dann soll er sich doch auch so benehmen. Michiru stand auf, um ihrem Bruder beim Tragen des Schlagzeugs zu helfen. Yaten spielte sich auf dem Keyboard ein, und Seiya schloß das Mikro an. Setsuna lehnte sich zu Haruka hinüber. „Seiya... war schon immer in Michie verliebt“, erzählte sie. „Schon als er sie das erste Mal gesehen hatte, war es um ihn geschehen. Er betet sie an. Weißt du, auf den ersten Blick sieht es vielleicht nicht so aus, als ob er tiefere Gefühle empfinden könnte, aber er tut nur immer so oberflächlich und cool. In Wahrheit ist er ganz anders.“ Diese Nachricht baute Haruka nun auch nicht gerade auf, im Gegenteil. Sie beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, wie Michiru sich nach einer Kabelrolle bückte und Seiya sofort zu ihr hin rannte und sie ihr aus der Hand nahm. Michiru sah auf und lächelte ihn an, und Seiya lächelte zurück. Seine dunkelblauen Augen funkelten in der Sonne. Die Kabelrolle fiel ins Gras, und Seiya fixierte Michiru, als habe er noch nie ein hübsches Mädchen gesehen. Dann wurde er rot und bückte sich, um die Rolle aufzuheben. Michiru bückte sich ebenfalls, und ihre Hände berührten sich. Haruka wandte den Kopf zur Seite. Sie konnte das nicht mit ansehen. Michiru war ein kluges Mädchen, wieso fiel sie auf diesem Schleimer herein? Setsuna, die sie beobachtet hatte, lachte. „Kopf hoch“, flüsterte sie. „Michie weiß schon, was sie tut. Vertrau ihr einfach.“ Überrascht sah Haruka sie an, aber Setsuna sagte nichts mehr, sondern fing an, mit ihren langen Haaren herumzuspielen. Michiru kam zurück und warf sich neben Haruka ins Gras. „Paßt auf, sie fangen gleich an“, rief sie aufgeregt. „Someday... somebody?“ fragte Setsuna, und Michiru nickte. Taiki saß am Schlagzeug und Yaten am Keyboard. Seiya stand vorne am Mikro und fing an zu singen. „In meinem Zimmer kann ich den ersten Hauch des Frühlings spüren, den Tanz der Sonnenstrahlen in der Luft, der Wind, der über meinen Schreibtisch saust, und durch die Seiten meines Buches fährt. Meine Melancholie weicht einem Lächeln.“ „Eins muß man ihm lassen, singen kann er“, wisperte Haruka. Setsuna grinste, und Michiru zischte: „Pst! Ich will das Lied hören!“ Seiya fuhr fort: „Dreaming – ich träume von einer Chance für die Liebe. Tell me – sag mir, daß so etwas nicht im Lexikon steht! Ich klappe meine Hefte zu. Dreaming – der Wind bläst mir die Haare ins Gesicht. For you – für dich habe ich ein Shampoo mit Frühlingsduft benützt. Ich hab ein gutes Gefühl für heute.“ Das Lied gefiel Haruka, obwohl sie sich aus Liebesliedern eigentlich nichts machte und Boygroups bisher „zum Kotzen“ und „nur was für Groupies“ gefunden hatte. „Immer, wenn ich sonst die Straße entlang gehe, kommen mir Liebespaare entgegen. Sie lächeln sich an, und flüstern sich zärtliche Worte ins Ohr. Eines Tages wird jemand kommen, der genauso meinen Namen flüstert und ich werde ihm mit einem Lächeln antworten. Dreaming – ich träume vom Zauber der Liebe. Tell me – sag mir, daß ich mit dir eine Chance habe! Ich wünsche es mir so sehr. Dreaming – heute kann ich mich nicht aufs Lernen konzentrieren. For you – ich empfinde so viel für dich! Komm ganz schnell zu mir! Heute ist der Tag, an dem sich alles für mich verändert hat. Was denkst du, wie würde ich wohl in einem weißen Kleid aussehen? Heute möchte ich mich so richtig verlieben...“ Als Seiya geendet hatte und der Klang des Schlagzeugs und des Keyboards verklungen waren, klatschten die Gäste. Seiya, Yaten und Taiki verbeugten sich. „Jetzt brauch ich erst mal was zum Trinken“, rief Yaten und nahm sich eine Flasche Mineralwasser vom Tisch. Setsuna stand auf und half Taiki beim Aufräumen. Seiya kam zu Harukas Mißmut auf Michiru zu und hielt ihr eine Flasche Sekt unter die Nase. „Laß uns anstoßen, Schätzchen“, rief er. Schätzchen, dachte Haruka grimmig und runzelte die Stirn. Michiru hakte sich bei Seiya unter und ging mit ihm an Haruka vorbei. Seiya sah Haruka an. „Huch“, spottete er, „wenn du noch länger so grimmig dreinschaust, wird dein Gesicht faltig, Schätzchen!“ „Halt die Klappe“, knurrte Haruka. Seiya wollte etwas erwidern, aber Michiru zog ihn weiter und warf Haruka einen entschuldigenden Blick zu. Yaten gesellte sich zu Haruka. „Ich hab gehört, du spielst Klavier?“ fragte er. „Woher weißt du das schon wieder?“ „Von deiner Tante. Willst du mal was auf meinem Keyboard spielen?“ Haruka seufzte, als sie sah, wie Michiru und Seiya eine Sektflasche öffneten. Um sich abzulenken, nickte sie und ging mit Yaten zu dessen Keyboard. Taiki und Setsuna gesellten sich dazu, und bald waren sie in ein Gespräch über Musik vertieft. Haruka gelang es sogar, Michiru und Seiya für eine Weile zu vergessen. „Wo ist eigentlich mein Schwesterchen abgeblieben?“ fragte Taiki nach einer halben Stunde plötzlich. „Seiya“, knurrte Haruka, allerdings so leise, daß niemand es hörte. „Ich glaube, sie ist mit Seiya zusammen“, antwortete Setsuna. Sie fanden die beiden hinten im Park. Seiya hielt eine leere Sektflasche in der einen Hand und eine halbvolle in der anderen. Michiru saß im Gras und hatte ein leeres Glas neben sich stehen. Sie wirkte seltsam müde und hatte rote Wangen. „Da seid ihr ja“, bemerkte Yaten. Er und Seiya fingen ein Gespräch über die bevorstehende Tournee an, an dem sich Taiki und Setsuna beteiligten. Haruka beugte sich zu Michiru hinunter. „Hey, alles okay mit dir?“ erkundigte sie sich besorgt. „Du bist so still.“ „Klar... al... alles ok...ay...“, murmelte Michiru. „Michiru, wieviel hast du getrunken?“ fragte Haruka mißtrauisch. „Wieviel... eins Glas... zwei, drei... fünf, vier, sieben... ach, ich habe... vergessen... ich weiß nicht... Ruka, mir ist schlecht!“ Michiru hielt sich am Zaun fest und wollte aufstehen, verlor aber das Gleichgewicht und fiel gegen Haruka, die sie festhielt. Haruka stöhnte. „Michiru, du bist sturzbetrunken“, schimpfte sie leise. „Warum hast du soviel Sekt getrunken?“ „Ich bin nicht... betrunken“, lallte Michiru und klammerte sich an sie. „Aber Ruka, warum dreht sich denn alles? Überall! Der Boden wackelt so... alles ist so... durcheinander...“ Haruka warf Seiya wütende Seitenblicke zu. Das war also dein feiner Plan, Mr. Schleimer, dachte sie grimmig. Du wolltest sie betrunken machen, um sie rumzukriegen. „Ruka, halt mich... fest!“ Michiru schrie auf, als sie erneut das Gleichgewicht verlor. Haruka fing sie gerade noch auf und hielt sie fest. Erschrocken hatte sich Taiki umgedreht. „Michie-Chan, was ist los mit dir?“ fragte er besorgt. „Tai-Chan, mir ist so schlecht“, stöhnte Michiru und hielt sich den Kopf. „Ich glaube, ich muß... muß mich übergeben... übergeben... uhhh...“ „Um Gottes Willen!“ entsetzte sich Taiki. „Du bist ja total betrunken! Seiya! Du weißt doch wohl sehr gut, daß sie keinen Alkohol verträgt!“ „Das hab ich vergessen, tut mir leid.“ Seiya wirkte ehrlich zerknirscht. „Zum Streiten ist später Zeit“, unterbrach Setsuna. „Hilf mir, sie rüberzubringen, Taiki, bevor die Gäste was merken. Oh, Michie, stütz dich nicht so an mir ab, du bist schwer.“ Taiki und Setsuna führten Michiru behutsam durch das Hintertor zur Straße, um sie ungesehen nach Hause zu bringen. Als sie außer Sichtweite waren, wandte sich Haruka mit blitzenden Augen an Seiya. „Du Mistkerl, das hast du mit Absicht getan!“ fauchte sie. „Reg dich ab, Schätzchen, war doch nur Spaß“, grinste Seiya und lehnte lässig gegen den Zaun. Vermutlich hätte Haruka nicht so ausfällig reagiert, hätte Seiya sie nicht mit „Schätzchen“ angesprochen. Sie haßte es, wenn man sie so nannte. Wütend stürzte sie sich auf ihn und riß ihn zu Boden. „Wollt ihr wohl aufhören!“ schimpfte Yaten. Haruka war kräftig und durchtrainiert. Sie hätte es locker geschafft, gegen drei Jungs anzukommen. Aber Seiya war stärker, als sie angenommen hatte. Er warf sie mit einer erschreckenden Leichtigkeit zurück und stürzte sich nun seinerseits auf sie. Keuchend wälzten sich die beiden am Boden. „Seid ihr eigentlich noch ganz dicht!?“ schrie Yaten und packte Seiyas Arm. „Seiya, laß Ruka sofort los! Seiya, hast du was mit den Ohren? Ruka ist ein Mäd... Seiya!“ Seiya hatte Haruka einen Faustschlag in die Magengegend verpaßt. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Körper, und sie krümmte sich und preßte die Hände gegen den Bauch. Seiyas Faust traf ihr Auge, dann ihre Nase, und sie fühlte klebriges Blut über ihre Wange rinnen. Sie wehrte sich und trat ihm mit voller Wucht in die Leistengegend. Seiya schrie auf, ließ sie aber nicht los. Seine Arme hielten sie fest und schlugen erneut auf sie ein. Schritte und Stimmen ertönten. Haruka glaubte, ihre Tante zu hören. Sie konzentrierte sich ganz auf ihren Gegner, aber Seiya verpaßt ihr einen Kinnhaken. Sie glaubte, ihr Kiefer würde zerbrechen. Sie glaubte, jeden einzelnen Knochen im Leib zu spüren. Ihr war schlecht. Sie ließ sich auf den Rasen zurücksinken. Ihr war alles egal. „Seiya, verdammt, HÖR AUF!“ brüllte Yaten und riß Seiya von Haruka weg. „Diese verdammte Zicke hat angefangen!“ schrie Seiya. Haruka fühlte sich am Arm ergriffen. Sie öffnete die Augen und blickte in Mrs. Tenôs wutentbranntes Gesicht. „Sofort auf dein Zimmer!“ tobte sie. Haruka fühlte, daß ihr ganzer Körper schmerzte. Sie wollte aufstehen, schaffte es aber nicht einmal einen Millimeter weit. „Hast du nicht gehört? Auf dein Zimmer! Wir sprechen uns noch!“ herrschte Himeko Tenô sie an. Nach einiger Mühe gelang es Haruka sich aufzurichten. Ihr blaues Auge schwoll stetig an. Mit ihrem anderen Auge fixierte sie Seiya haßerfüllt, während sie sich an den Gästen vorbei ins Haus schleppte. Der Abend war für sie gelaufen. Drinnen war es angenehm kühl. Für einen Augenblick blieb Haruka im Flur stehen und horchte auf die aufgeregten Stimmen, die von draußen hereindrangen. Und ihr wurde erst jetzt richtig bewußt, daß es Kou Seiya gelungen war, sie zu besiegen. Kapitel 17: Heimliches Treffen ------------------------------ Haruka saß auf ihrem Bett und preßte eine Wärmflasche gegen ihren schmerzenden Bauch. Bei jeder Bewegung verspürte sie solche Schmerzen, die sie glauben ließen, sie habe viele spitze kleine Nadeln in ihrem Bauch, die ständig piksten und stachen. Seit über einer Woche war sie nicht mehr in der Schule gewesen, denn ihre Bauchschmerzen machten es praktisch unmöglich, daß sie sich irgendwie anstrengte. Die Schwellung an ihrem Auge war zurückgegangen, aber jeder andere Teil ihres Körpers schmerzte. Der Arzt hatte strenge Bettruhe verordnet, aber natürlich hörte Haruka nicht darauf, und so war es dann ihre eigene Schuld, wenn sie abends vor lauter Bauchkrämpfen nicht einschlafen konnte. Da sie das Haus nicht verlassen konnte, war der ein monatige Hausarrest, den ihr die Tante verpaßt hatte, überflüssig. Schlimmer war, daß sie keinen Besuch bekommen durfte. Haruka hätte gerne gewußt, was Michiru zu ihrer Prügelei mit Seiya gesagt hatte. Begeistert war sie sicher nicht gewesen. Aber da Tante Himeko alle Telefonate und Besucher von ihr fernhielt, hatte sie keine Möglichkeit, mit ihr in Verbindung zu kommen. Und fragen wollte sie nicht. Mrs. Tenô war noch immer wütend, und sie ließ Haruka das auch spüren, in dem sie nur das Nötigste mit ihr sprach und sie ansonsten mit eisiger Verachtung strafte. Für Haruka war es ein harter Schlag gewesen, als sie von Seiya besiegt worden war. Noch niemals war es jemandem gelungen, sie bei einer Prügelei k.o. zu schlagen. Sie konnte genau wie Michiru Niederlagen nur schwer wegstecken, und so haßte sie Seiya noch mehr als zuvor. Eines Abends kam Mrs. Tenô nach oben und verkündete, daß sie einen unaufschiebbaren Geschäftstermin hatte. „Du bleibst im Bett, hast du mich verstanden!“ drohte sie. Haruka versprach es. Sie hatte ohnehin keine Kraft dazu, um die Treppe zu steigen. Schon allein das Gehen bereitete ihr nahezu unerträgliche Schmerzen. Sie biß die Zähne zusammen und versuchte manchmal, ein wenig in der Wohnung auf und ab zu gehen, aber meist gab sie das schnell wieder auf und fügte sich den Anordnungen des Arztes. Nun saß sie auf ihrem Bett und lauschte dem Wagen ihrer Tante, dessen Motorengeräusch sich mehr und mehr in der Ferne verlor. Sie war allein. Um sie herum herrschte Stille. Früher hatte ihr das nie etwas ausgemacht. Sie hatte es genossen. Aber sie hielt diese verdammten Schmerzen nicht aus. Verzweifelt warf sie sich längs auf das Bett und vergrub den Kopf in ihrem Kissen. Es fehlte nicht viel, und sie hätte geheult. Und wenn Haruka einmal soweit war, dann mußte der Grund wirklich tragisch sein. Denn normalerweise verachtete sie Leute, die immer gleich losheulten. Die Uhr an der Wand schlug zuerst acht, später neun Uhr, dann halb zehn. Haruka versuchte, sich nicht zu bewegen. Dann hatte sie wenigstens keine Schmerzen. Aber ihr Magen knurrte, und sie bekam Hunger. Schließlich hob sie den Kopf und blinzelte in das Dämmerlicht, das von draußen hereindrang. Es blieb ihr wohl gar nichts anderes übrig, als in die Küche zu wanken und sich eine Kleinigkeit zu richten. Gerade, als sie aufgestanden und sich ihren dunkelblauen Morgenmantel über ihren Pyjama gezogen hatte, klingelte es an der Tür. Haruka schaffte es irgendwie, zum Treppenabsatz zu kommen, obwohl sich ihr Magen bei jeder kleinen Bewegung schmerzhaft zusammenzog. Die Marmortreppe war steil und rutschig, aber Haruka hätte nie gedacht, daß es ihr einmal Schwierigkeiten bereiten würde, herunterzukommen. Sie klammerte sich mit aller Kraft am Geländer fest und tastete sich Schritt für Schritt nach unten, verzweifelt bemüht, sich nicht großartig zu bewegen. Es klingelte wieder. „Ja, ich komme!“ rief Haruka und tastete nach dem Türschloß. Da ihre Tante außer Haus war, war weder die Tür abgeschlossen noch der Riegel vorgeschoben oder die Kette vorgelegt. Haruka preßte eine Hand gegen den Bauch und öffnete die Tür. Draußen stand Michiru. Sie trug einen orangenen weiten Bademantel über ihrem langen weißen Nachthemd und die türkisfarbenen Locken hingen ihr offen und zerzaust den Rücken herunter. Sie trug ihre Hausschuhe und sah müde, aber sehr besorgt aus. „Michiru!“ keuchte Haruka erstaunt. Sie machte in ihrer Überraschung eine hastige Bewegung und sackte sofort wieder mit einem Stöhnen zusammen. „Ruka! Was hast du?“ Entsetzt kam Michiru herein und machte die Tür hinter sich zu. Sie half Haruka, sich auf die unterste Treppenstufe zu setzen. Haruka keuchte. „Ist bald vorbei“, murmelte sie und biß die Zähne zusammen. „Der Arzt sagt, es braucht nur seine Zeit. Seiya hat mich... voll getroffen.“ „Ich weiß“, sagte Michiru mitleidig und legte ihr den Arm um die Schultern. „Tut mir leid. Ich wollte mich die ganzen letzten Tage schon nach dir erkundigen, aber deine Tante sagte nur, daß du Hausarrest hast. Ich habe mindestens zehn Mal auf deine Mailbox gesprochen, wieso hast du nicht geantwortet?“ „Meine Tante hat das Handy beschlagnahmt“, antwortete Haruka müde. In der Küche fing Fiffi an zu bellen. Haruka verdrehte die Augen. Sie haßte diesen Hund. „Michie, ich hab Hunger“, sagte sie. „Könntest du ...?“ „Ja, natürlich“, sagte Michiru sofort und stand auf. „Warte, ich helf dir hoch. Geht es? Stütz dich bei mir ab. – Ich hab mir Sorgen gemacht, Ruka, weil du so lange nicht zur Schule gekommen bist. Schließlich hab ich’s nicht mehr ausgehalten. Als Taiki mir eben erzählt hat, daß er deine Tante hat wegfahren sehen, bin ich nach dir sehen gekommen. Das ist doch okay für dich, oder?“ Haruka lächelte. „Ja, ist okay. Um ehrlich zu sein, ich hatte dich... aaauuuu... vermißt. Ich dachte, du bist vielleicht sauer, weil ich mich mit Seiya angelegt habe.“ „Na ja, zuerst schon, aber es war auch meine Schuld. Yaten und Taiki haben mir alles erzählt. Weißt Du, ich wußte sehr genau, daß ich keinen Alkohol vertrage, und ich hätte nach dem ersten Glas Sekt aufhören müssen. Aber irgendwie... ich weiß nicht, es war gerade so lustig mit Seiya, und ich habe mich so gut amüsiert, und so hab ich dann immer mehr und mehr getrunken. Ich hatte schrecklichen Krach mit meiner Mutter deshalb.“ „Vielleicht hätte ich Seiya gar nicht angegriffen“, murmelte Haruka, während sie sich halb auf Michiru, halb auf das Treppengeländer stützte. „Aber er nannte mich „Schätzchen“, und das kann ich auf den Tod nicht ausstehen!“ „Oh, das hat nichts zu sagen“, kicherte Michiru. „Er sagt zu allen Leuten „Schätzchen“, sogar zu meiner Mutter.“ „Ich hoffe, er ist abgereist“, knurrte Haruka. Sie ließ sich von Michiru auf ihr Zimmer bringen, wo sie sofort mit der Wärmflasche am Bauch auf ihr Bett sank. Michiru schüttelte den Kopf. „Nein, du weißt doch, Three Lights machen Ferien hier. Sie wohnen bei Setsuna. Das ist das große Haus am Ende der Straße. Meine Mutter war übrigens sehr böse mit Seiya, weil er ein Mädchen geschlagen hat.“ Sie grinste. „Ich weiß, das hörst du nicht gern, aber Mädchen sollten sich nun mal besser nicht raufen. Im Übrigen, du hast bei meinen Eltern einen Stein im Brett – fragt sich bloß warum.“ „Dir wäre es wohl lieber, wenn sie Nerissa so bevorzugen würden, was?“ fragte Haruka. „Nein, das ist schon in Ordnung so... warte, ich mach dir was zum Essen.“ Sie ging hinaus und kam fünfzehn Minuten später mit einem Tablett zurück, auf dem ein Teller mit Suppe und ein Glas Saft standen. „Ich hasse gesundes Essen“, murrte Haruka, aber sie mußte sich eingestehen, daß ihr Suppe doch wesentlich lieber war als irgendwelches Fleisch oder Gemüse. Nach dem Essen räumte Michiru das Geschirr in die Küche. Dann kam sie zurück und setzte sich auf Harukas Bettkante. „Verrate mir mal, warum Seiya so verflixt stark war“, wollte Haruka wissen. Sie runzelte die Stirn, als sie daran dachte, wie er sie fertiggemacht hatte. Michiru lachte. „Ach, er trainiert mehrmals in der Woche im Fitneßstudio und ist der beste American Football Spieler, den ich kenne. Eigentlich war er schon immer extrem sportlich. Aber man sieht es ihm nicht an, was?“ „Nein, wirklich nicht.“ Haruka stöhnte. „Dann ist es ja kein Wunder, daß er so stark ist. Und ich war auch noch durch dieses verflixte Kleid behindert.“ Wieder machte sie eine unbedachte Bewegung und stöhnte auf, als ihr ein stechender Schmerz durch den Körper fuhr. Erschrocken sah Michiru sie an. „Haruka, alles okay? Soll ich einen Arzt holen?“ fragte sie. „Nein, es geht schon“, murmelte Haruka verbissen. Sie haßte es, Schwäche zugeben zu müssen. „Ich hab mich nur ungeschickt bewegt, das ist alles.“ Michiru erzählte ein wenig von der Schule, von Taiki und Setsuna und Yaten. Manchmal erwähnte sie auch Nerissa, aber sie vermied es, von Seiya zu sprechen. Ihr Instinkt sagte ihr, daß Haruka und Seiya keine Freunde werden würden. „Bevor deine Tante zurückkommt, verschwinde ich besser“, sagte sie nach einer Weile. „Ich wollte ja nur sehen, wie es dir geht. Yaten sagte, du sahst ziemlich übel aus nach der Schlägerei.“ „Der Arzt meint, mir wird es bald wieder besser gehen“, erwiderte Haruka. Michiru gähnte. „Na gut, dann geh ich besser mal. Liegst du so auch bequem? Brauchst du noch etwas? Hast du Durst?“ Haruka schüttelte den Kopf, aber Michiru stand energisch auf, raffte ihren Bademantel zusammen und befahl ihr, sich aufzurichten, damit sie das Kopfkissen aufschütteln konnte. Als Haruka aufsah, war Michirus Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Durch den weißen Stoff des Seidennachthemdes konnte sie die Konturen ihres wohlgeformten Körpers erkennen. Michirus meerblaue Augen hatten einen seltsamen Glanz, und die langen Locken hingen ihr ins Gesicht. Haruka mußte schlucken. Ihr Hals fühlte sich auf einmal ganz trocken an. Sie sahen einander an, und keine von beiden rührte sich. Haruka fühlte, wie sie wieder anfing, die Kontrolle über sich zu verlieren. Ihr wurde schwindlig, je mehr sie in diese Augen sah. Und plötzlich wünschte sie sich, sie zu küssen. Als ihr klar wurde, was sie da so eben gedacht hatte, erschrak sie über sich selbst. Sie starrte auf Michirus Lippen, unfähig, ihren Blick abzuwenden, und ebenso unfähig, etwas zu sagen. War es das, was sie schon die ganze Zeit über fühlte? Hatte sie es nur nicht wahrhaben wollen? War sie in Michiru verliebt? Wer weiß, was passiert wäre, wenn die beiden sich auch nur eine Sekunde länger so nahe gewesen und sich auf diese Weise angesehen hätten. Vielleicht hätten sie sich wirklich geküßt. Haruka hätte nicht die Kraft gehabt, sich dagegen zu wehren; ja, sie hätte nicht einmal die Kraft dazu gehabt, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie sah Michiru nur die ganze Zeit über stumm an. Da wurde draußen Motorengeräusch laut und das Garagentor wurde geöffnet. Der elektrische Summer ertönte. Der Bewegungsmelder schaltete sich an. Haruka und Michiru fanden sich unsanft in der Wirklichkeit wieder. Michiru richtete sich verlegen auf und schnürte ihren Bademantel fester um ihre Taille. Die Locken bedeckten ihr Gesicht, so daß Haruka ihre Mimik nicht erkennen konnte. Es herrschte Schweigen. „Deine Tante ist zurück“, sagte Michiru schließlich, und ihre Stimme klang etwas atemlos. „Ich verschwinde besser.“ „Ist gut.“ Mehr brachte Haruka beim besten Willen nicht heraus. Sie konnte Michiru nur unentwegt anstarren. Michiru ging zur Tür. Sie drehte sich hastig um. „Wenn sie, äh, durch die Garage geht und zum Keller raufkommt, verschwinde ich durch die Haustür. Mach’s gut, und, ähem, hoffentlich geht’s dir bald wieder besser.“ „Ja, das... hoffe ich auch“, murmelte Haruka. „Dann, äh, tschau“, sagte Michiru, bewegte sich aber keinen Millimeter von der Stelle. „Ja, tschau“, erwiderte Haruka. „Und danke für deinen Besuch.“ Draußen schloß sich das elektrische Garagentor, der Bewegungsmelder ging aus, es wurde dunkel. Das Zimmer wurde nur noch durch den Schein der Nachttischlampe beleuchtet. Draußen schien der Mond, und vereinzelte Sterne blinkten am dunklen Nachthimmel. Endlich drehte sich Michiru um und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Etwas später hörte Haruka, wie die Haustür sich leise hinter ihr schloß. Und dann vernahm sie das Klappern der Absätze ihrer Tante auf der Kellertreppe und Fiffis Gebell aus dem Wohnzimmer. Die Beklemmung war von ihr gewichen. Die Spannung war verflogen. Haruka knipste das Licht aus und lehnte sich zurück. Sie schnupperte. Tatsächlich, es lag noch ein leichter Hauch von Michirus Parfüm in der Luft. Mrs. Tenô kam nach einer Weile herein. „Haruka, schläfst du?“ fragte sie in die Dunkelheit hinein. Haruka antwortete nicht. Sie schloß die Augen und versuchte, Mrs. Tenôs Stimme zu ignorieren. Sie wollte sich Michirus Bild in Erinnerung rufen, wie sie vorhin da an der Tür gestanden hatte, mit zerzaustem Haar und in Nachthemd und Bademantel. Eine angenehme Erinnerung... Mrs. Tenô stand noch eine Weile an der Tür, aber als sich nichts regte, ging sie hinaus, machte sie Tür hinter sich zu und verschwand in ihrer Wohnung. Haruka hörte, wie sie im Schlafzimmer herumkramte. Der Mond warf seinen hellen Glanz zum Fenster hinein und ließ die Schatten an den Wänden tanzen. Haruka richtete sich so gut es ging auf und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sie blickte zum Dachfenster hinaus in die Nacht. Alle Schmerzen waren vergessen. Am Himmel funkelten die vielen unzähligen Sterne, und dazu fiel ihr ein Satz ein, den sie einmal irgendwo gelesen hatte. Wir sind wie dieses flackernde Licht im Universum von irgend jemandem erschaffen worden. Auch das erinnerte sie an Michiru. Sie hatte ihr den Satz einmal zitiert, und Michiru hatte geantwortet, daß sich das unheimliche anhöre. Wirklich? hatte Haruka erwidert. Erleichtert dich die Vorstellung nicht, daß deine Ängste nur ein kurzes Aufflackern sind? Michiru... Alles erinnerte sie an Michiru. Haruka mußte lächeln. Sie schloß die Augen. Deutlich sah sie Michirus Bild vor sich. Ihre Augen, ihr Haar, ihr Gesicht, das bezaubernde Lächeln auf ihren Lippen. Und sie fühlte immer stärker, daß sie mit diesen Gefühlen nicht fertig werden konnte. Sie fürchtete plötzlich, die Kontrolle über sich zu verlieren. Was ist das, was ich fühle, wenn ich sie sehe? fragte sie sich. Dieses warme, beinahe zärtliche Gefühl, das mir Kraft und Mut verleiht und mich stärker macht? Was ist das nur? Es... macht mir Angst... ich kann nicht damit umgehen... ich halt das nicht aus! Ist es... Liebe? Kapitel 18: Michiru verhält sich merkwürdig ------------------------------------------- Anfang Mai konnte Haruka dann endlich wieder zur Schule gehen, und sie hatte auch keinen Hausarrest mehr. Der Arzt hatte ihr ein paar Medikamente verschrieben, mit deren Hilfe sie ihre Bauchschmerzen in den Griff bekommen hatte. Und nun fühlte sie sich wieder total fit und fing sogar wieder mit Joggen an. Aber ganz so recht freuen konnte sie sich nicht. Michiru hatte sich nicht wieder gemeldet seit der beinahe passierten Sache mit dem Kuß, und so war Haruka ein wenig ratlos, was sie nun tun sollte. Sie hätte gern mit ihr gesprochen, aber wenn sie sich an den verwirrten Ausdruck auf Michirus Gesicht erinnerte, so wußte sie nicht, ob dies eine gute Idee war. In den nächsten Tagen versuchte sie zufällig ein Gespräch herbeizuführen. Wenn sie nicht gerade auf dem Rennplatz trainierte oder in Kameda´s Garage half, trieb sie sich draußen im Garten herum, sehr zur Verwunderung ihrer Tante. Aber sie sah Michiru nicht. Einmal konnte sie Seiyas Stimme hören, und daraufhin war sie den ganzen Abend über so mißgelaunt, daß es selbst Mrs. Tenô auffiel. Auch in der Schule begegnete sie der Freundin nicht. Das war allerdings nicht sehr verwunderlich, denn die Mugen Gakuen Schule hatte riesige Ausmaße, und Michiru und Haruka hatten keine Kurse zusammen belegt. Auch gab es außer der Cafeteria noch andere Speisemöglichkeiten, und so konnte Michiru praktisch überall sein, auch außerhalb des Schulgeländes. Und dennoch wurde Haruka das Gefühl nicht los, daß Michiru ihr aus dem Weg ging. Eines Tages, als Haruka mit äußerst mieser Laune aus dem Chemiesaal kam und grimmig an ihre schlechte Note im Kurztest dachte, traf sie Michiru auf dem Flur, als diese gerade zusammen mit Nerissa aus dem Zeichensaal kam, ihre Zeichenmappe unter dem Arm. Haruka blieb stehen. Michiru sah unheimlich süß aus. Sie hatte sich ein türkisfarbenes Band in die Haare gebunden, und die Sommerschuluniform der Mugen Gakuen Schule stand ihr ausgezeichnet. Nerissa, das Haar zum Pferdeschwanz aufgesteckt, rümpfte die Nase, als sie Haruka erblickte, sagte jedoch ausnahmsweise mal nichts. „Hallo“, brachte Haruka gerade noch so über die Lippen. Es kam längst nicht so locker und lässig rüber wie geplant. Sie konnte Michiru die ganze Zeit über nur anstarren. Michiru errötete leicht und senkte ein wenig den Kopf. „Hallo“, murmelte sie, und es klang sehr zurückhaltend und fast abweisend. „Geht’s dir wieder besser?“ „Ja, danke“, antwortete Haruka. „Ich hoffe, du hast vor, dich an Kou Seiya zu rächen, oder?“ warf Nerissa ein, und ihre Augen funkelten. Sie wußte also Bescheid. Und wie Haruka sehen konnte, war sie verdammt eifersüchtig auf den „Wolf im Schafspelz“. Michiru sah sie vorwurfsvoll an. „Aber Neri-Chan!“ Dann wandte sie sich an Haruka. „Sie meint es nicht so, Haruka.“ Haruka. Sie hatte sie Haruka genannt, nicht Ruka. Und sie hatte sie nicht angesehen, als sie mit ihr gesprochen hatte. Nerissa jedoch hatte sie angelächelt und liebevoll „Neri-Chan“ genannt. Haruka gab das einen Stich. Aber sie wußte nicht, warum. Nur, daß es ihr weh tat, wenn sie Michiru und Nerissa zusammen sah. Michiru zuckte verlegen die Schultern, als wisse sie nicht, was sie als nächstes tun sollte. „Na dann... man sieht sich.“ „Bye“, sagte Haruka ohne sie anzusehen. „Ja, bye“, sagte Michiru schnell und drehte sich um. „Ciao“, verabschiedete sich auch Nerissa. Es klang ziemlich verwundert. Haruka sah den beiden nach, wie sie den Gang entlang zum Schulkiosk schlenderten. Als sie sah, wie Michiru Nerissas Hand nahm und den Kopf an ihre Schulter legte, wurde sie das Gefühl nicht los, daß Michiru das mit Absicht tat, um ihr zu zeigen, daß sie zu Nerissa gehörte. Es tat weh, die beiden so zu sehen. Haruka wandte sich um und machte sich auf den Weg zum Sportunterricht. Die Bewegung würde ihr guttun. Sie mußte sich irgendwie abreagieren. Sie mußte dieses verdammte Gefühl endlich loswerden. Es machte sie verrückt. Am nächsten Tag war ein Samstag. Haruka stand bereits um sechs Uhr auf, schlüpfte in ihren Trainingsanzug und machte sich auf den Weg zum Joggen über die Felder. Sie tat es nicht nur um ihrer Kondition Willen, wie ihre Tante glaubte, sondern auch, um nicht ständig an Michiru denken zu müssen. Aber sie kam von dem Gedanken einfach nicht los. Und so lief sie schneller und schneller, bis sie am Ende total verschwitzt Zuhause ankam. Sie war nicht wie sonst über die Felder zurückgelaufen, sondern durch die Straßen, und so kam es, daß sie nun fix und fertig im Hof ihrer Tante stand. Der Schweiß lief ihr die Stirn hinunter, und sie wollte nur schnell ins Haus und eine eiskalte Cola trinken. „Na, Schätzchen, du bist aber früh unterwegs!“ Diese Stimme! Mit einem Ruck fuhr Haruka herum, während sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengten. Sie ballte die Fäuste, als sie im Garten der Familie Meio Seiya entdeckte. Er trug ein verschwitztes ärmelloses Turnhemd und kurze Shorts und ein Schweißband am Kopf und machte Gymnastikübungen. „Ich bin nicht dein Schätzchen!“ fuhr sie ihn wütend an, und ihre Augen glommen gefährlich auf. Seiya hielt mitten in einer Turnübung inne, fuhr sich mit den Händen durch sein langes, schwarzes Haar, das er zu einem lässigen Zopf nach hinten gebunden hatte, und grinste. „Ej, klar. Du wärst mir ein bißchen zu stark, wenn ich ehrlich bin.“ „Spar dir deine dämlichen Kommentare!“ fauchte Haruka und kehrte ihm demonstrativ den Rücken zu. Aber Seiya ließ sich nicht so leicht abschütteln. Er ging zur Gartenmauer und sprang auf die Straße. Dann lief er zu Haruka hinüber und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Hey, Schätzch... ähem, Ruka, warte mal einen Moment.“ „Was ist?“ knurrte Haruka gereizt. Am liebsten hätte sie ihn stehenlassen, aber da war etwas in seinen Augen, das sie innehalten ließ. Etwas ehrliches und gutherziges, das sie dazu veranlaßte, stehenzubleiben. „Bist du immer so mies drauf?“ wunderte sich Seiya, während er sich lässig gegen Harukas Cabriolet lehnte, das auf dem Parkplatz in der Auffahrt stand. „Ich wollt nur... also, ich hab das nicht gewollt. Ich wollte mich entschuldigen.“ Haruka schnappte verblüfft nach Luft. „Du wolltest... was?“ Sie hatte alles erwartet, aber nicht das. Kou Seiya wollte sich entschuldigen! „Taiki hat mir erzählt, daß du ziemliche Schmerzen hattest und Medikamente nehmen mußtest. Das war nicht meine Absicht. Wirklich nicht. Aber du hast so verdammt gut gekämpft, daß mir gar keine andere Wahl geblieben ist, als mich zu wehren. Sonst hättest du mich niedergeschlagen. Außerdem, wenn ich am Schlägern bin, setzt mein Gehirn immer irgendwie aus. Behaupten zumindest Yaten und Taiki.“ Überrascht von diesem freimütigen Geständnis blieb Haruka einen Moment lang sprachlos stehen. Dann gab sie sich einen Ruck. „Tja, ich hab ja angefangen“, gestand sie schließlich ein. „Ich... ich fand´s nicht okay, was du mit Michiru gemacht hast.“ Seiya wurde tatsächlich rot. „Na ja, weißt du, sie... ich mag sie unheimlich gern, und sie sieht klasse aus, und ich... bin schon verknallt in sie, seit ich sie das erste Mal gesehen habe. Jedes Mal, wenn ich hier bin, denke ich, dieses Mal kriegst du sie rum. Aber irgendwie scheint sie nie was zu merken. Verdammt, warum erzähl ich dir das eigentlich alles? Es ist nur, sie kann einem so leicht den Kopf verdrehen!“ „Wie wahr“, murmelte Haruka selbstvergessen vor sich hin. Wenn Seiya wüßte, wie recht er mit seiner Bemerkung im Bezug auf Michiru hatte! Sie hatte eine wahrhaft magische Anziehungskraft, der sie sich selbst wahrscheinlich gar nicht bewußt war. Seiya streckte ihr die Hand hin. „Friede? Oder nein, besser Waffenstillstand. Dich kann man so schön auf die Palme bringen, Schätzchen.“ Haruka stand sofort wieder kurz vor einer Explosion, aber Seiya lachte nur, als er das bemerkte und zwinkerte ihr zu. Da mußte auch sie lachen. „Einverstanden“, stimmte sie zu. Jemand in ihrer Nähe räusperte sich vernehmlich. Die beiden fuhren herum. Es waren Meio Setsuna und Kaiou Taiki. Taiki trug noch seinen Schlafanzug, und sein langes dunkelbraunes Haar war total verstrubbelt. Setsuna hatte sich einen ordentlichen Knoten am Hinterkopf aufgesteckt und war mit einem orangenen Hauskleid bekleidet, über dem sie eine grüne Schürze trug. Während Taiki barfuß war, trug sie Strümpfe und Hausschuhe und hatte sogar schon Make up aufgelegt. „Setsuna, sag nicht, es gibt schon Frühstück“, stöhnte Seiya. „Ich bin noch nicht fertig mit meinem Morgentraining!“ „Das sieht dir ähnlich“, erwiderte sie kopfschüttelnd. „Was stehst du auch herum und hältst andere vom Laufen ab! Komm jetzt rein, du kannst nachher weitermachen. Yaten ist auch schon auf und klimpert auf seinem Keyboard herum.“ Sie hielt inne und sah Haruka an. „Und dir geht’s wieder besser?“ „Kerngesund“, antwortete Haruka. „Wenn du willst, kannst du mit uns frühstücken“, schlug Taiki vor. „Ich werd mich nur noch umziehen gehen. Michie-Chan und eine Freundin von ihr werden auch kommen. Goku Nerissa heißt sie. Du kennst sie vielleicht von der Schule her. Zum Ärger meiner Stiefmutter sind die beiden in letzter Zeit wirklich unzertrennlich.“ Es tat Haruka weh, das zu hören. Und sie hatte nicht die geringste Lust, an dem Frühstück teilzunehmen und zu sehen, wie Michiru und Nerissa die ganze Zeit über verliebt miteinander turtelten. Aber wie um sich selbst zu quälen sagte sie zu. Und wieder sah Meio Setsuna sie mit einem seltsam wissenden Blick an. Was schaut sie mich so an? fragte sie sich erschrocken, während sie Seiya ins Haus der Meios folgte. Was soll dieser merkwürdige Blick nur bedeuten? „Worüber grübelst du nach, Schätzchen?“ fragte Seiya. „Laß dir lieber das Frühstück schmecken. Setsuna ist eine ausgezeichnete Köchin. Ich glaube, nach deinem Laufen hast du ziemlichen Hunger. So siehst du jedenfalls aus.“ „Ja“, gab Haruka zu, und sie war viel zu sehr mit ihren Gedanken an Michiru und Nerissa beschäftigt, um sich über das „Schätzchen“ aufzuregen – sehr zu Seiyas Mißfallen. Bald schon saßen Haruka, die Three Lights und Setsuna im Eßzimmer der Meios am Frühstückstisch und warteten auf Michiru und Nerissa. Die beiden kamen dann auch fünf Minuten später. Nerissa trug einen dunkelblauen Minirock und ein enges Top und sah so gut aus, daß Yaten, Taiki und Seiya erst mal hin und weg waren. Aber Haruka hatte nur Augen für Michiru. Sie trug ein einfaches pinkes Sommerkleid mit weißen Knöpfen und einem weißen Kragen und hatte eine pinke Schleife im Haar und sah total süß aus. Das schien nun auch Seiya zu bemerken, jedenfalls sprang er sofort auf und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Haruka und Michiru wechselten während des Frühstücks kein Wort miteinander. Michiru schien sich in Harukas Gegenwart nicht wohlzufühlen. Sie sah kaum auf, stocherte in ihrem Essen herum und sprach fast kein Wort. „Stimmt was nicht, Michie-Chan?“ erkundigte sich Taiki einmal. Verwirrt sah Michiru auf. Sie war offensichtlich mit ihren Gedanken weit weggewesen. „Wie... äh, was ist?“ stammelte sie, vermied es aber, in Harukas Richtung zu blicken. „Was ist los? Geht’s dir nicht gut?“ erkundigte sich Taiki besorgt. Nerissa legte Michiru die Hand auf die Schulter. „Michie-Chan, hast du Bauchschmerzen? Möchtest du dich hinlegen?“ „Nein, nein, alles in Ordnung“, murmelte sie. „Ich bin nur müde.“ Taiki und Nerissa gaben sich mit dieser vagen Erklärung zufrieden. Aber Haruka nicht. Sie wußte, daß da mehr dahintersteckte. Yaten und Seiya fingen an, von einem Konzert zu erzählen, das sie gegeben hatten, und Taiki wußte eine lustige Geschichte zu berichten, wie ein Fan versucht hatte, sich in sein Hotelzimmer zu schmuggeln. Während Michiru noch immer in ihren Cornflakes herumstocherte und in ihrer Kaffeetasse rührte, lauschte Nerissa gebannt den Erzählungen. „Nein, sowas!“ rief sie immer wieder. „Wer hätte das gedacht!“ Plötzlich fühlte sich Haruka am Arm ergriffen. Als sie hoch sah, merkte sie erst, daß Setsuna neben ihr stand. „Kann ich dich kurz sprechen?“ fragte sie. Es klang ernst, aber freundlich und verständnisvoll. Haruka hatte das Gefühl, daß Setsuna sie verstehen würde. Sie folgte ihr in deren Zimmer, und Setsuna machte die Tür hinter sich zu. Setsunas Zimmer war nur klein. Auf ihrem ordentlich gemachten Bett lagen Modekataloge, und auf dem Schreibtisch stand ein moderner Computer mit Drucker, Scanner und Modem. Auf dem Nachttisch lag ein kleines Handy, und an den Wänden hingen Fotos und ein großes Poster von Three Lights. Ein Foto von Setsuna und Taiki stach Haruka sofort ins Auge. Die beiden lehnten sich aneinander, und Taiki hatte liebevoll seinen Arm um Setsuna Schultern gelehnt. Sie trug einen knappen Bikini, während er eine Badehose anhatte. Sie lächelten einander verliebt an, und beider Augen leuchteten. Im Hintergrund schimmerte das Meer, und man konnte eine Palme erkennen. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Als Haruka dieses Bild betrachtete, wurde ihr klar, daß sie sich auch so eine Beziehung wünschte. Als ihr bei diesem Gedanken Michirus Bild in den Sinn kam, erschrak sie über sich selbst. Setsuna räumte ein paar Blätter von ihrem Schreibtischstuhl und schichtete sie sorgsam aufeinander. Dann seufzte sie und meinte: „Wenn du sie wenigstens nicht die ganze Zeit so anstarren würdest! Das macht sie ja ganz nervös!“ „Wie?“ „Du weißt, was ich meine. Du hast Michie die ganze Zeit über angestarrt. Also, wenn das nicht auffällig ist...“ Haruka preßte die Lippen fest zusammen. „Was soll das heißen?“ zischte sie mißtrauisch. Abwehrend hob Setsuna die Hände. „Ruhig, ruhig. Du solltest aufhören, andere Leute anzugreifen, wenn sie dir helfen wollen. Damit schadest du dir am Ende nur selbst. Ich hab einiges mitbekommen, wie du dir sicher schon gedacht hast, und...“ „Was hast du mitbekommen?“ knurrte Haruka um keine Spur freundlicher. „Tenô Haruka, hör auf, mich für dumm zu verkaufen! Du bist verliebt, das sieht ein Blinder! Du bist bis über beide Ohren in Michie verliebt!“ „Ach, du spinnst doch!“ fauchte Haruka gereizt. „Warum erzählst du so einen Unsinn? Michiru ist meine beste Freundin. Ich bin nicht in sie verliebt!“ Setsuna lachte nur und schüttelte den Kopf. „Ruka, warum gibst du es nicht einfach zu?“ fragte sie. „Ich meine, es ist wirklich nicht schlimm oder peinlich oder was weiß ich.“ „Willst du mich verschaukeln?“ fuhr Haruka sie an. „Und wehe, du erzählst den Mist jemandem!“ Setsuna lächelte. „Werd ich schon nicht“, sagte sie. „Auch Taiki nicht. Und soweit ich weiß, bin ich die Einzige, die etwas davon weiß. Taiki und Yaten haben nichts mitbekommen, Seiya ist viel zu sehr damit beschäftigt, Michie anzuschmachten und Nerissa ist zu sehr damit beschäftigt, auf Seiya eifersüchtig zu sein. Also besteht kein Grund zur Beunruhigung.“ „Woher weißt du das alles?“ staunte Haruka fassungslos. Setsuna lächelte wieder. „Menschenkenntnis, meine Liebe“, erwiderte sie. „Ich weiß, daß Seiya in Michie verliebt ist. Und was Nerissa betrifft... nun, ich kenne Michiru seit sie klein ist, und ich weiß mehr über sie, als sie denkt. Auch, daß sie lesbisch ist.“ „Aber... ich verstehe nicht...“ „Natürlich nicht. Du kennst die Fakten nicht. Und Fakt ist, daß ich Michirus Entwicklung praktisch seit ich vernünftig denken kann mitverfolgt habe. Ich bin sieben Jahre älter als sie, und wir hatten immer ein sehr enges, vertrautes Verhältnis miteinander. Nicht, daß sie mir ihre Geheimnis anvertraut hätte. Sie war immer mehr der Typ, der allein mit allem fertig werden will. Sie hatte schon immer eine bewundernswerte Selbstkontrolle. Aber für mich war sie wie eine kleine Schwester, und mir gegenüber hat sie sich auch immer etwas mehr gehenlassen als bei anderen. Ich weiß längst nicht alles über sie, dazu war ich zu lange und zu oft fort, aber ich weiß genug, und ich besitze Menschenkenntnis. Das genügt. Ich habe immer instinktiv gespürt, wenn es ihr schlecht ging, wenn sie Probleme hatte oder wenn sie total happy war. Und ich habe versucht, ihr in allen Lebenslagen zur Seite zu stehen. Immer... nein, immer geht das natürlich nicht. Manche Erfahrungen muß der Mensch alleine machen. Ich habe getan, was ich konnte. Und jetzt ist sie erwachsen geworden.“ Nachdenklich sah Haruka Setsuna an. Warum erzählte sie ihr das alles? „Ich glaube, daß du sie wirklich sehr liebst“, fuhr Setsuna ernst fort. „Und ich habe euch neulich auf der Party beobachtet und gesehen, daß sie dir mehr vertraut als allen anderen.“ „Wir teilen... Geheimnisse miteinander“, mußte Haruka zugeben. „Aber ich liebe sie nicht!“ setzte sie ruppig dazu. Setsuna lächelte. „Das dachte ich mir. Du willst es dir selbst nicht eingestehen. Aber Ruka, warum denn? Wovor hast du Angst? Weißt du, ich möchte, daß du dich um sie kümmerst und ihre Freundin bleibst. Selbst auf die Gefahr hin, daß sie deine Gefühle nicht erwidert. Der Umgang mit dir tut ihr nur gut, glaub es mir.“ „Wolltest du mir das sagen?“ fragte Haruka kühl. „Wenn das so ist, dann kann ich ja jetzt gehen. Ich habe nicht die Absicht, mir weiter deinen Quatsch anzuhören!“ Setsuna sank auf ihr Bett. „Meine Güte, bist du immer so stur?“ schimpfte sie. „Das ist ja nicht auszuhalten mit deinem Dickkopf!“ „Ich habe nicht... ach, halt doch einfach die Klappe!“ Haruka hatte eigentlich gar nicht die Absicht gehabt, Setsuna so anzufahren. Aber deren Ausführungen verwirrten sie, und was sie da hörte, machte ihr auch Angst. „Haruka, bitte, ich... ich hab es nur gut gemeint“, sagte Setsuna etwas verunsichert. „So wie du sie vorhin die ganze Zeit über angesehen hast... als wolltest du sie im nächsten Augenblick in die Arme nehmen und küssen.“ „Sei nicht albern“, entgegnete Haruka schroff. „Aus welchem Grund sollte ich sowas tun? Ich glaube, mit dir ist die Phantasie durchgegangen, Setsuna.“ „Bist du dir da so sicher?“ fragte Setsuna nur. Nein, dachte Haruka wie automatisch. Bin ich nicht. Als sie aber merkte, was sie da gedacht hatte, kniff sie die Augen zusammen und behauptete: „Natürlich. Ich hatte niemals die Absicht, sie zu küssen oder zu umarmen. Kapier das doch endlich!“ „Ich habe verstanden“, erwiderte Setsuna ruhig. Aber ihr Blick verriet Haruka, daß sie noch immer diesen Unsinn glaubte. Das machte sie wütend. „Setsuna – du hast herausgefunden, daß Michiru lesbisch ist, okay“, sagte sie scharf. „Das geht mich nichts an. Aber wenn du jetzt versuchst, mir Gefühle für sie anzudichten, geht das zu weit! Küß sie doch selber, wenn du unbedingt willst, daß sie geküßt wird!“ „Jetzt wirst du geschmacklos!“ rief Setsuna heftig aus. „In Zukunft hast du dich aus meinen Angelegenheiten raus zu halten“, fuhr Haruka unbeirrt vor. „Michiru ist meine beste Freundin, und genau das wird sie auch bleiben. Dieser ganze andere Quatsch ist einzig und allein auf deinem Mist gewachsen!“ „Aber...“ „Nichts aber! Meio Setsuna, das geht dich nichts an! Hast du verstanden?“ Setsuna sah gekränkt aus. „Bitte, wenn du dir alles selbst kaputtmachen willst!“ erwiderte sie merklich kühl. „Ich wollte dir nur helfen, aber du scheinst ja zu glauben, du kannst alles alleine schaffen! Na bitte, nur zu! Niemand hindert dich daran! Das ist dein Leben und dein Glück! Damit kannst du machen, was du willst. Ich habe es nicht nötig, dir zu helfen. Ich wollte nur nett sein, weil ich den Eindruck hatte, daß du nicht recht weiterkommst. Aber wer nicht will, der hat schon.“ Haruka sah sie grimmig an. Ihr tat es einerseits ja leid, daß sie Setsuna so angeschrien hatte, aber andererseits erlaubte es ihr ihr Stolz nicht, auf sie zuzugehen und einzulenken. Und so sah sie sie nur an und erklärte eisig: „Allerdings. Und jetzt laß mich in Ruhe mit deinem Gesülze!“ Und damit drehte sie sich um und verließ den Raum, die Tür mit einem lauten Krach hinter sich zuschlagend. Kapitel 19: Gefühle ------------------- Haruka hatte geglaubt, mit diesen merkwürdigen Gefühlen irgendwie klarzukommen. Sie war es gewohnt, daß sie Gefühle auf Kommando abschalten konnte. Aber aus irgend einem Grund wollte ihr das jetzt nicht mehr gelingen. Sie gab sich Mühe, an etwas anderes zu denken als an Michiru, aber das war fast unmöglich. Wenn sie merkte, daß sie schon wieder an die Freundin gedacht hatte, ärgerte sie sich über sich selbst und wurde launisch, aggressiv und unkonzentriert. Ihre Leistungen in der Schule sanken stark ab, und Mrs. Tenô hatte mehrmals das Vergnügen, sich darüber mit Dr. Tomoe unterhalten zu dürfen. Sie versuchte, Haruka zur Rede zu stellen, aber ihre Nichte war dermaßen patzig und unverschämt, daß Mrs. Tenô es schließlich aufgab. Selbst Jack Kameda merkte, daß mit seiner sonst so eifrigen Helferin etwas nicht stimmte. Haruka war bei ihrer Arbeit in der Werkstatt so unaufmerksam, daß ihr ständig Fehler unterliefen. Er versuchte, mit ihr darüber zu sprechen. „Hören Sie, Miss Haruka, wenn Sie in Schwierigkeiten stecken, dann können Sie ruhig mit mir darüber sprechen, ich werde Ihnen helfen, wie ich nur kann“, sagte er eines Tages zu ihr, als sie vor der Garage an der Straßenabsperrung lehnten und ihr Mittagsbrot aßen. „Danke, aber mir geht es gut“, erwiderte Haruka schroff und wischte sich ihre fettigen Finger an ihrem ölverschmierten Overall ab. Jetzt fängt der auch noch an, dachte sie mißmutig. „Das sehe ich“, entgegnete Mr. Kameda trocken. „Aber so geht es nicht weiter! Haben Sie vielleicht Liebeskummer?“ Haruka stöhnte. „Wie kommen Sie denn darauf?“ fauchte sie patzig. „Ah, ich seh schon, ich liege mit meiner Vermutung gar nicht mal so weit daneben“, grinste Jack und schob seine Schirmmütze in den Nacken. „Na los, Miss Haruka, raus mit der Sprache! Wer ist er?“ „Verdammt, ich habe keinen Liebeskummer!“ fauchte Haruka. Sie fragte sich, warum man sie nicht einfach in Ruhe ließ. Aber nein, jeder mußte seinen Senf dazugeben! Plötzlich sehnte sie sich zurück nach der Stille und der Unpersönlichkeit ihrer Internatsschule und nach der Zeit, in der es noch keine Kaiou Michiru gegeben hatte. „Und ich habe doch recht“, behauptete Mr. Kameda. „Gerade jetzt denken Sie an Ihren Freund, nicht wahr? Man sieht es Ihnen an.“ „Sparen Sie sich Ihren blöden Kommentar“, fauchte Haruka. Obwohl, es war nicht der Kommentar, der sie störte. Das war ihr egal. Ihr war es schon immer egal gewesen, was andere über sie dachten. Es war einfach die Tatsache, daß sich jemand in ihre Angelegenheiten mischte und sich über sie lustig machte. Oder steckte hinter Jacks Worten mehr? „Ich kann nicht viel dazu sagen“, fuhr Mr. Kameda fort. „Wenn Sie nicht drüber reden wollen, dann lassen Sie’s eben. Wichtig ist Ihre Arbeit, und die ist im Moment alles andere als perfekt. Sie waren schon mal besser, Lady. Nur damit Sie es wissen.“ „Ich weiß“, knurrte Haruka. „Schön, dann gehen Sie jetzt zu Ihrem Angebeteten und bringen Sie das ins Reine, sonst kann ich Sie hier nicht länger als Mechanikerin beschäftigen.“ Er sah ernst aus, als er sprach, aber seine Augen zwinkerten. Haruka stand kurz vor dem Explodieren. Wieso zum Teufel gingen ihr nur alle so auf die Nerven? Sie konnte sich gerade noch beherrschen. „Entschuldigen Sie, ich muß jetzt gehen“, sagte sie nur, drehte sich um und machte sich auf den Weg zum Parkplatz, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte. Was haben die alle nur? fragte sie sich. Kameda Jack und Meio Setsuna – seh ich denn wirklich so aus, als habe ich mich verknallt? Ausgerechnet ich? So ein Blödsinn aber auch! Am nächsten Tag schien die Sonne. Es war ein typischer schöner Maitag. Haruka zog sich ihren Motorradanzug an und beschloß, zu dem Aussichtspunkt auf die Hügel zu fahren, wo sie Michiru damals gefunden hatte, als diese den Krach mit ihren Eltern gehabt hatte. Der Weg war nicht allzu weit, und sie hatte Glück, es war niemand dort. Sie stieg vom Motorrad, nahm ihren Helm ab und ging zum Geländer hinüber. Ihr Blick schweifte über die Stadt, die von der mittäglichen Sonne beschienen wurde. Von hier aus sahen die Autos wie kleine Spielzeuge aus, und die Fußgänger und Häuser wie Teile einer Spielzeugstadt. Im Stadtviertel Minato-Ku ragte der Tokio-Tower hoch über die Häuser, und ganz in der Nähe lag das neue Kaufhaus von Shinjuku. Am Strand konnte sie den Starlighttower sehen, an dessen metallener Spitze sich die Sonnenstrahlen brachen. Im Zentrum der Stadt war das riesige Hochhaus der Mugen Gakuen Schule sichtbar, das von der Größe her das Shinjuku-Kaufhaus überragte und beinahe so groß wie der Tokio-Tower war. Es war ein schöner Anblick, auf die Stadt herabzusehen. Haruka lächelte vor sich hin. Seit sie Michiru kannte, hatte sie einen richtigen Sinn für Romantik entwickelt. Sie wandte den Blick ein wenig nach rechts und konnte die in der Nähe gelegene Kreuzung Sendai Saka erkennen, die bei den fünf Hügeln lag. Dort befand sich der Hikawa Shinja, ein alter Tempel. Glockenklang rief gerade zum Beginn der Messe. Vögel zwitscherten, und es herrschte eine Idylle, wie Haruka es nie von einer Großstadt wie Tokio geglaubt hatte. Plötzlich fühlte sie, wie jemand neben sie trat und den Kopf an ihre Schulter legte. Sie fuhr erschrocken herum. Es war Michiru. Sie trug einen kurzen schwarzen Rock, ein weißes T-Shirt und darüber eine pinke Jacke. „Hallo“, sagte sie. Nicht, daß Haruka die plötzliche Berührung unangenehm gewesen wäre. Aber sie war fast etwas erschrocken darüber und außerdem unsicher, wie sie sich verhalten sollte. „Schöne Aussicht, nicht wahr?“ fragte Michiru träumerisch. „Hm“, antwortete Haruka unbestimmt. „Ich war mit meiner Mutter in der Stadt und hab sie gebeten, mich hier abzusetzen. Ich komme gerne hierher. Man kann an diesem Ort so schön träumen.“ „Findest du?“ Haruka wußte, daß sie sich gemein verhielt, aber sie konnte mit Michirus plötzlichen Überschwang nicht umgehen. Es dauerte immer eine Weile, bevor sie sich auf andere einstellen konnte. „Entschuldige“, murmelte Michiru und rückte von ihr ab. „Das ist dir unangenehm, stimmt’s?“ Haruka schüttelte den Kopf und fuhr ihr mit der Hand durch die Locken. „Unsinn. Du bist doch meine Freundin. Also red nicht solchen Quatsch.“ „Aber du hast dich so merkwürdig benommen eben“, verteidigte sich Michiru, während sie sich am Geländer abstützte. Haruka bedachte sie mit einem kurzen Seitenblick. „So, findest du? Ich frage mich, wer sich hier komisch benommen hat.“ Eine Weile schwiegen beide. Dann seufzte Michiru. „Hm, ich weiß“, gab sie zu. „Ich bin dir in letzter Zeit etwas aus dem Weg gegangen. Es tut mir leid, aber... ich habe meine Gründe.“ „Verrätst du sie mir?“ „Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee wäre“, erwiderte sie schroff. „Klar“, murmelte Haruka. Sie kam sich zurückgewiesen vor. „Bist du böse?“ erkundigte sich Michiru, als sie den veränderten Ausdruck auf Harukas Gesicht bemerkte. „Ich wollte dich nicht kränken. Wirklich nicht. Aber ich dachte, es sei besser so. Für uns beide, Ruka-Chan.“ Ruka-Chan. Das klang so schön und vertraut, wenn Michiru das sagte. Haruka hatte sich nie viel aus ihrem Vornamen gemacht. Aber wenn Michiru ihn aussprach, so bekam er einen ganz anderen, viel schöneren Klang. „Ich bin nicht böse“, versicherte Haruka. „Warum sollte ich denn? Wenn du deine Gründe hast, dann hast du deine Gründe. Und ich glaube dir, wenn du sagst, es wäre keine gute Idee, darüber zu sprechen. Ich würde dir alles glauben, selbst wenn du behaupten würdest, dem Weihnachtsmann begegnet zu sein.“ Michiru grinste und fing an zu kichern. „Ach ja?“ prustete sie los. „So sehr vertraust du mir also?“ „Noch viel mehr“, erwiderte Haruka, und sie meinte es durchaus aufrichtig. „Ich vertraue dir voll und ganz, Michie.“ „Danke“, lächelte Michiru und errötete ein wenig. Die beiden blieben den ganzen Nachmittag an ihrem Lieblingsplatz und sprachen über alles mögliche. Sie lästerten über die Schule und Haruka erzählte von ihren Nachmittagen in Kameda´s Garage und ihrem Training auf dem Rennplatz, und Michiru berichtete, daß ihr Geigenspiel Fortschritte machte, daß sie ein neues Bild vollendet hatte und was Three Lights für ihre große Tournee im Winter geplant hatten. Es wurde Abend. Wie ein leuchtend roter Ball versank die Sonne hinter den Hügeln bei Sendai Saka. Minutenlang war der Hikawa Shinja in ein wunderschönes goldenes Licht getaucht. „Wahnsinn“, flüsterte Michiru ergriffen. „Das beeindruckt mich doch immer wieder. Ich komme oft hierher, um mir den Sonnenuntergang anzusehen. Solche bezaubernden Motive male ich auch am liebsten. Neulich habe ich diesen Ort Taiki gezeigt. Es hat ihm genauso gefallen wie wir. Wir haben die gleiche poetische Ader, pflegt unser Vater zu sagen. Wußtest du, daß Taiki Gedichte schreibt?“ „Ähem, nein“, murmelte Haruka. Eigentlich war es ihr egal, was für Hobbys Michirus Halbbruder hatte und ob er Sonnenuntergänge mochte oder nicht. Sie sah Michiru an, die direkt vor ihr stand und vom Licht der untergehenden Sonne angestrahlt wurde. Und wieder fiel ihr auf, wie schön sie war. „Was... ist?“ fragte Michiru irritiert. Überrascht sah Haruka hoch. „Äh, wie bitte? Was soll sein?“ „Du... starrst mich an“, murmelte Michiru und wurde rot. Haruka grinste verlegen und trat hastig ein paar Schritte zurück. „Ach, entschuldige“, stammelte sie. „Das ist eine dumme Angewohnheit von mir. Tut mir leid.“ „Nein, das... macht nichts“, sagte Michiru schnell. Sie sahen sich an, und wieder überkam Haruka dieses Gefühl, daß sie dabei war, jegliche Kontrolle über sich zu verlieren, wenn sie noch länger hier stehen und dieses verdammt hübsche Mädchen ansehen würde. Kaiou Michiru hatte wirklich eine Art, andere in ihren Bann zu ziehen! Es war irgendwie faszinierend, ja, beinahe schon unheimlich. „Alles okay?“ fragte Michiru leise. Haruka schloß die Augen. Wenn ich noch länger hier stehenbleibe, werde ich sie küssen, dachte sie verzweifelt. Was mach ich denn nur? „Ruka, bist du in Ordnung?“ Haruka riß sich zusammen. Sie warf den Kopf in den Nacken und blinzelte hinauf zum Himmel. Jetzt, wo sie nicht mehr in Michirus Augen sehen mußte, hatte sie sich wieder voll im Griff. „Entschuldige, aber ich muß jetzt gehen“, erklärte sie kurzangebunden. Verwirrt sah Michiru sie an. „Was ist denn los? Geht’s dir nicht gut?“ „Ich hab vergessen, daß ich heute ein spätes Training auf dem Rennplatz habe“, schwindelte sie. „Ich bin in Eile. Du kommst allein nach Hause?“ „Sicher, hier in der Nähe fährt in einer Viertelstunde ein Bus ab. Aber... aber...“ Haruka hörte nicht weiter zu. Sie hatte das Gefühl, gleich durchzudrehen, wenn sie jetzt nicht ging. Rasch lief sie zu ihrem Motorrad, setzte den Helm auf, stieg auf und gab Gas. Der Motor röhrte auf und auf dem stillen Hügel herrschte Lärm. Haruka riß den Lenker herum, und das Motorrad sauste den Berg hinunter davon. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Weit hinter sich konnte sie Michiru ausmachen. Ihr Haar und ihr Rock wehten im Wind, die meerblauen Augen blickten traurig, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den Haruka nicht zu deuten wußte. Kapitel 20: Kummer ------------------ Es war halb neun, und draußen war es bereits völlig dunkel. Donner krachte, Blitze zuckten durch die Nacht, und es regnete in Strömen. Haruka lag auf ihrem Bett und las in einem ihrer Neon Genesis Evangelion-Mangas. Shinji Ikari, die Hauptperson, erinnerte sie irgendwie an sich selbst, als sie noch jünger gewesen war. Trotzdem war es die attraktive Misato Katsuragi mit ihrer Vorliebe für enge, knappe Sachen und Dosenbier, die sie am meisten mochte. Warum, konnte sie auch nicht sagen. Sie mochte sie, und auch ihr Haustier, das Vogelvieh Penpen. Es klingelte an der Haustür. Einmal, zweimal, dreimal. Und noch mal. Da schien es jemand verdammt eilig zu haben. Haruka sah an sich herunter. Konnte sie so die Haustür aufmachen, ohne daß ihre Tante ausrasten würde, wenn sie sie so sah? Na ja... sie trug keine Socken, und das Sakko hatte sie auch ausgezogen. Sie trug lediglich die weiße Hose und das schwarze T-Shirt, alles beide vom Liegen reichlich zerknautscht. Ihr Haar sah auch ziemlich mitgenommen aus. Ich bleib besser oben, dachte sie, sonst nervt mich Tante Himeko doch Wochen später damit, daß ich in dem Aufzug an die Haustür gegangen bin. Sie hatte sich kaum hingelegt und ihren Manga aufgeschlagen, als die scharfe Stimme ihrer Tante durch das Treppenhaus dröhnte: „Haruka!“ Haruka verdrehte die Augen. Wer weiß, dachte sie, vielleicht macht Tomoe neuerdings Hausbesuche, um seine Schüler bei ihren Erziehungsberechtigten anzuschwärzen... „Haruka!“ „Jaja, ich komm ja schon!“ Barfüßig tappte Haruka über den Flur zur Treppe. Unten stand Himeko Tenô, eingehüllt in einen seidenen Bademantel, ein Handtuchturban auf dem Kopf und in eine Wolke von intensivem Parfüm gehüllt. In der Tür aber stand Michiru. Haruka starrte sie an. Und sie spürte, daß etwas passiert sein mußte. Michiru sah erbärmlich aus. Ihr Gesicht war vom Weinen verquollen, und der lange rosa Rock, das weiße T-Shirt und die kurze rote Jacke waren völlig durchgeweicht. Die langen Locken hingen ihr naß und schwer ins Gesicht, und sie zitterte am ganzen Leib. „Michiru!“ rief Haruka erschrocken aus und stürzte die Treppe hinunter. „Was ist passiert?“ Michirus Lippen zitterten, als sie zu sprechen beginnen wollte, und sie brach erneut in Tränen aus. Erschrocken nahm Haruka sie in den Arm. „Magst du nicht sagen, was passiert ist? Du bist ja total durchgeweicht und durchgefroren! Hattest du wieder Krach Zuhause?“ „Schlimmer“, schluchzte sie, während sie sich an Haruka festhielt. „Es... Nerissa... sie...“ Nerissa mal wieder, dachte Haruka grimmig. „Kann ich hierbleiben?“ fragte Michiru schüchtern, und es klang völlig fertig und verzweifelt. „Komm rein“, erwiderte Haruka und machte die Tür hinter ihr zu. Sie führte Michiru die Treppe hinauf. Ihre Tante hatte sie ganz vergessen. Mrs. Tenô stand völlig verwirrt neben der Tür und starrte auf die nassen und schmutzigen Abdrücke von Michirus Schuhen auf der Marmortreppe und wußte nicht mehr, was sie denken sollte. Haruka brachte Michiru ins Badezimmer und gab ihr ein Handtuch zum Abtrocknen, einen alten Schlafanzug und einen Bademantel. Als sie dann ins Schlafzimmer kam, befahl sie ihr sich ins Bett zu legen. Michiru protestierte schwach. „Du holst dir noch ne Erkältung sonst“, sagte Haruka ruhig. Sie wartete, bis Michiru sich zugedeckt hatte und setzte sich dann auf die Bettkante. „So. Und jetzt erzähl.“ Michiru war noch immer völlig down. Sie wollte etwas sagen, als Mrs. Tenô mit einer Tasse heißem Tee und einer Wärmflasche hereinkam. Haruka war baff. Das hatte sie ihrer Tante nie zugetraut. „Sie sollten das trinken, dann fühlen Sie sich bald wieder besser“, meinte Mrs. Tenô. Dann sah sie Haruka an. „Ich lasse euch jetzt allein, ich habe noch zu tun.“ Sie ging hinaus und machte die Tür hinter sich zu. „Die kann ja richtig normal sein“, bemerkte Haruka beeindruckt. Michiru schluchzte auf, und Haruka wandte sich wieder ihr zu. „Was ist denn los?“ fragte sie mitleidig. „Willst du’s mir nicht sagen? Vielleicht kann ich dir irgendwie helfen.“ „Mir kann keiner helfen“, heulte sie. „Weißt du, da bin ich heute total glücklich zu meiner Verabredung mit Nerissa gegangen, und dann... dann sagt sie mir, daß sie sich in eine andere verliebt hat und daß sie sich von mir trennen möchte. Und dann hat sie mir den Ring zurückgegeben, den ich ihr geschenkt hatte.“ Haruka starrte sie an. „Ist das alles?“ fragte sie fassungslos. „Und deswegen regst du dich so auf?“ „Das verstehst du nicht!“ weinte Michiru verzweifelt. „Nerissa und ich hatten eine ziemlich innige Beziehung! Wir waren praktisch jeden Tag zusammen und haben uns geschworen, daß uns nichts trennen kann. Anderen gegenüber war Nerissa zickig und unverschämt, aber zu mir war sie immer total lieb und überhaupt... ach, ich kapier das einfach nicht! Es war doch alles in Ordnung, und jetzt auf einmal...“ Sie brach erneut in Tränen aus. Haruka sah sie durchdringend an. „Michiru, das ist nicht alles, oder?“ Michiru seufzte. „Nein“, schluchzte sie, „ist es nicht. Als ich nach Hause kam, war ich total durcheinander, und das hat meine Mutter natürlich mitbekommen. Weißt du, ich konnte einfach nicht mehr, ich war so fertig – da hab ich ihr alles gesagt über Nerissa und mich.“ „Du hast ihr also gesagt, daß du lesbisch bist und was mit Nerissa hattest, ja? Und wie hat sie reagiert?“ Michiru schniefte. „Na, sie war überraschenderweise total cool. Ich dachte eher, sie rastet aus oder so, aber sie war sogar richtig verständnisvoll.“ „Dann verstehe ich dein Problem nicht, ehrlich gesagt.“ „Mein Problem ist nicht meine Mutter, mein Problem ist mein Vater.“ Haruka runzelte die Stirn. Offenbar hatte der Vater nicht so cool reagiert wie die Mutter. „Er hat mich rausgeschmissen“, sagte Michiru. „Rausgeschmissen?“ echote Haruka fassungslos. „Nicht direkt, aber ich war so fertig wegen Neri, und dann fängt er an, mir eine Riesenszene zu machen, so in der Art „meine Tochter und nicht ganz normal“ und so. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten, verstehst du, ich bin rausgerannt und hab die Tür hinter mir zugeschlagen.“ Sie fing wieder an zu weinen. Haruka seufzte. Und sie hatte gedacht, daß sie die einzige mit Problemen wäre... „Und dann bist du stundenlang im Regen spazierengegangen, oder was?“ fragte sie. „Ja“, murmelte Michiru erschöpft. „Ich weiß auch nicht, was plötzlich los ist. Ich habe Nerissa geliebt, und ich hätte alles für sie getan, und sie... sie trennt sich von mir... das ist so ungerecht!“ Haruka sah sie an. Sie tat ihr schrecklich leid und so nahm sie sie spontan in die Arme. Das hatte sie vorher noch niemals bei jemandem getan – allerdings hatte ihr auch noch niemals jemand so nahe gestanden wie Kaiou Michiru. Überrascht hob Michiru den Kopf. Haruka ließ sie sofort los. „Entschuldige“, sagte sie rauh, „es ist dir unangenehm, nicht?“ „Wenn du mich umarmst?“ Trotz ihrem Kummer mußte Michiru lächeln. „Ach, Ruka, so ein Quatsch! Ich war nur überrascht. Wie könnte mir eine Umarmung von dir unangenehm sein? Du bist doch... meine beste, meine allerbeste Freundin!“ „Ich kann mich erinnern, daß das bis heute noch Nerissa war“, erwiderte Haruka trocken. Bei der Erwähnung Nerissas glitt ein Schatten über Michirus Gesicht. „Ja, vielleicht“, murmelte sie. „Aber jetzt... hab ich ja nur noch dich. Du weißt mehr von mir als jeder andere, Ruka.“ „Also das beruht auf Gegenseitigkeit.“ Haruka hatte gehofft, Michiru ablenken zu können, aber sie reagierte nicht und starrte auf ihre Hände, die die Bettdecke umkrampft hielten. Natürlich, sie dachte an ihren Vater. „Denkst du an...“, begann sie, als Michiru sie wütend unterbrach: „Ja! Ja, verdammt, ich denke an meinen Vater! Ich hätt’s ihnen nicht sagen sollen, auch meiner Mom nicht. Eltern kommen mit sowas oft nicht klar. Mein Dad war total schockiert. Er war ja schon immer recht altmodisch. Aber verstehst du, ich dachte, weil du so verständnisvoll reagiert hast und überhaupt nicht schockiert warst...“ „Ja, aber Michie, das kannst du nicht vergleichen.“ Haruka verkniff sich ein Grinsen. Wer sie schockieren wollte, der mußte schon etwas wirklich Schlimmes getan haben. „Um mich zu schockieren, mußt du früher aufstehen. Gewöhnlich bin ich es, die alle schockiert. Okay, ich hab auch nen Moment gebraucht, um damit klarzukommen, aber ich hab’s mir nicht anmerken lassen. Sowas tut weh, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Warum machst du nur so ein Drama drauß? Steh dazu und Ende der Diskussion!“ „Wenn es nur so einfach wäre“, seufzte Michiru. „Wir leben hier in einer reichen, angesehenen Gegend. Meine Eltern sind bekannt. Sie haben ein großes Unternehmen zu leiten. Unsere ganze Familie steht ständig im Licht der Öffentlichkeit. Und leider sind die Menschen heutzutage nicht so offen und verständnisvoll, wie man es von ihnen erwarten sollte.“ Haruka mußte daran denken, wie die Menschen mit ihr umsprangen. Im Internat, aber auch hier. Und sie konnte Michiru nur aus vollem Herzen zustimmen. „Siehst du?“ seufzte Michiru. „Dir geht’s ja genauso. Die Gesellschaft heute ist einfach... zum Kotzen!“ Sie machte eine entsprechende Geste. Haruka beobachtete sie aufmerksam. „Ich glaube, dir geht’s gar nicht um Nerissa oder deinen Dad, sondern um die Gerechtigkeit allgemein, habe ich recht?“ fragte sie eindringlich. „Das auch“, gab Michiru zu. „Mir steht alles bis hier!“ Sie sah Haruka fast flehentlich an. „Kann ich hierbleiben, bitte? Ich stör dich auch nicht. Es ist nur...“ „Michie, ich glaube, daß dein Dad sich bald wieder beruhigt, und dann...“ „Ja, ich weiß, er regt sich leicht auf, aber das ist nicht das Problem. Ich bin sicher, er hat sich längst beruhigt. Aber ich brauch einfach etwas Abstand. Kannst du das nicht verstehen?“ Haruka zuckte die Schultern. „Okay, also meinetwegen kannst du gern hierbleiben, solange du willst. Und mit meiner Tante werd ich schon fertig. Aber wie willst du das deinen Eltern erklären? Die denken doch dann, wir... na, wir hätten was miteinander. Indem du ihnen gesagt hast, daß du lesbisch bist, hast du den ersten Schritt gemacht, um auf sie zuzugehen. Du solltest vielleicht versuchen, auch in Zukunft zu zeigen, daß sie dir vertrauen können.“ „Das sagt sich so leicht“, seufzte Michiru. Sie grinste schwach. „Gib mir einfach etwas Zeit, okay? Ich spreche mit ihnen und erkläre ihnen, daß ich eine Weile hierbleiben möchte, um mir über mein Leben besser klarzuwerden. Nerissa war alles für mich. Jetzt hab ich sie verloren und bin ganz allein.“ Haruka lächelte und schüttelte den Kopf. „Nein, du bist nicht allein. Hast du vergessen, daß wir Freundinnen sind? Du kannst immer zu mir kommen, wenn du irgendwelche Probleme hast.“ „Ja, Ruka, ich weiß“, erwiderte sie. „Du wirkst ziemlich kühl und distanziert, du bist in der Schule unverschämt und aufsässig und hältst dich nicht an die Regeln – aber wenn man dich kennt, dich kennt so wie ich jetzt, dann lernt man deine Schokoladenseite kennen und merkt, daß du dich nur so gibst, weil du deine Gefühle einfach nicht gern zeigst.“ Haruka wurde rot. Es stimmte, Michiru hatte sie durchschaut. Es fiel ihr unheimlich schwer, Gefühle zu zeigen. „Und weißt du, was ich noch glaube?“ fügte Michiru nach kurzem Nachdenken hinzu. „Du sorgst dich sehr um die Menschen, die du liebst und die dir etwas bedeuten. Und genau das macht dich zu einem sehr liebenswerten Menschen, Tenô Haruka.“ Als Michiru schon längst eingeschlafen war, dachte Haruka noch lange darüber nach, was sie gesagt hatte. Ja, es stimmte. Sie konnte sich nur schwer auf andere einstellen und versteckte ihre Gefühle hinter einer ruppigen Art. Sie war stolz, dickköpfig und aufbrausend und wollte immer Recht behalten. Und Michiru? Sie schienen auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Menschen zu sein, aber das täuschte. Michiru hatte genauso ihren Stolz und ihren Dickkopf. Sie konnte nicht verlieren und verbarg ihre Gefühle hinter einer gnadenlosen Selbstkontrolle. Sie ähnelten einander doch sehr. Die Tür öffnete sich und Mrs. Tenô guckte ins Zimmer. Sie winkte Haruka heraus. „Wie geht es ihr?“ fragte sie, und es klang fast mitleidig. „Besser. Aber sie würde gerne einige Zeit hierbleiben, um über einiges nachzudenken. Geht das klar?“ Mrs. Tenô runzelte die Stirn. „Aus welchen Gründen?“ fragte sie streng. „Haruka, wenn sie in irgend etwas verwickelt ist, dann dulde ich es nicht, daß sie in meinem Haus wohnt! Hast du verstanden?“ „Sie ist in gar nichts verwickelt“, erwiderte Haruka ungeduldig. „Sie hat lediglich... äh, Liebeskummer. Und Krach Zuhause.“ Das entsprach der Wahrheit. Haruka mochte aufbrausend und mit Schlägen leicht bei der Hand sein, aber sie war immer ehrlich und fair. „Na schön“, sagte Mrs. Tenô nach kurzem Überlegen. „Sie kann für ein paar Tage hierbleiben. Ich habe nichts dagegen. Ihre Eltern müssen aber damit einverstanden sein. Ich werde sie anrufen. Sowie ich die Sache sehe, wissen sie gar nicht, wo sich ihre Tochter im Moment aufhält.“ Haruka ließ sie gewähren. Sie ging in ihr Wohnzimmer und fing an, sich aus Decken und Kissen ein Bett auf der Couch zu richten. Nach einer Weile kam Mrs. Tenô herein. Ihr folgte Mrs. Kaiou, die eine Tasche dabei hatte. „Miss Tenô, ich muß mich bei Ihnen bedanken, daß Sie sich so um Michiru kümmern. Hier sind ein paar Sachen, die sie vielleicht brauchen wird. Ich weiß nicht, wie weit Sie eingeweiht sind...“ Sie zögerte und warf einen Seitenblick auf Himeko Tenô. Haruka sank auf ihr Couchbett. „Ich weiß Bescheid. Auch über die Sache mit Nerissa und den Streit, den Michiru mit ihrem Vater deswegen hatte.“ Mrs. Tenô sah neugierig aus, sagte aber nichts. „Das ist gut. Dann hat sie wenigstens Ihnen vertraut.“ Mrs. Kaiou sah traurig aus. „Mein Mann und ich, wir hatten ja keine Ahnung. Sie hat uns einfach nichts gesagt. Und dabei sind wir ihre Eltern, und wir lieben sie! Selbst Taiki hat nichts gewußt.“ „Sie hat’s mir an dem Abend erzählt, als sie weggelaufen ist.“ Mrs. Kaiou lächelte. „Passen Sie auf sie auf, ja?“ bat sie. „Und sagen Sie ihr, daß ihr Vater sich inzwischen wieder beruhigt hat. Er war nur etwas überarbeitet, das ist alles. Sie kann jederzeit nach Hause zurückkommen, wenn sie will.“ „Ich werd’s ihr ausrichten.“ „Und, Miss Tenô?“ „Ja?“ Fragend sah Haruka Michirus Mutter an. Mrs. Kaiou lächelte. „Ich habe volles Vertrauen zu Ihnen.“ Und damit drehte sie sich um und ging hinaus, gefolgt von einer verwirrten Mrs. Tenô. Haruka kehrte in ihr Schlafzimmer zurück und legte die Tasche mit Michirus Sachen auf ihren Schreibtischstuhl. Dann trat sie ans Fenster und zog das Rollo herunter. „Hm... hmmm... hmmm“, murmelte Michiru, die sich im Bett umdrehte. Haruka wollte das Zimmer wieder verlassen, als sie vor dem Bett stehen blieb und Michiru vorsichtig zudeckte. Sie schien wieder geweint zu haben, denn sowohl ihre Wangen als auch das Kopfkissen waren feucht. Eben wollte Haruka wieder gehen, als sie fühlte, wie Michiru ihre Hand ergriff. „Ruka-Chan...“ „Ja, ich bin hier, Michie“, murmelte Haruka beruhigend. „Ruka-Chan, geh bitte nicht weg. Laß mich jetzt nicht allein. Versprichst du, daß du hier bei mir bleibst?“ Haruka war froh, daß Michiru in der Dunkelheit nicht ihr Gesicht sehen konnte. Sie brachte ein heiseres „Ja“ heraus und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. „Gehst du auch wirklich nicht weg?“ „Nein, bestimmt nicht.“ Michiru ließ ihre Hand nicht los. Sie kuschelte sich an sie und war wenig später in Harukas starken Armen eingeschlafen. Kapitel 21: Nerissas Geständnis ------------------------------- Als Haruka erwachte, fühlte sie sich steif und unbehaglich. Sie kam sich vor, als habe sie auf einem harten Steinfußboden übernachtet. Alles tat ihr weh. Sie stöhnte leise und reckte sich. Ihr Blick fiel auf Michiru, die sich inzwischen zur Wand gedreht hatte. Alles, was von ihr zu sehen war, waren ihre türkisfarbenen Locken, die unter der Bettdecke hervorschauten. Haruka stand auf und dehnte sich erst einmal richtig. Sie gähnte anhaltend und fragte sich, wie sie es geschafft hatte, in dieser unbequemen Haltung auf der Bettkante einzuschlafen. Sie erinnerte sich, daß sie noch lange wach gewesen und die schlafende Michiru in ihren Armen gehalten hatte, bis sie dann auch eingeschlafen war. Draußen fuhr ein Auto vorüber, unten im Haus bellte Fiffi in den höchsten Tönen, und Mrs. Tenô schien mit jemandem zu telefonieren. Vom Haus der Meios her kam sanfte Keyboardmusik. Yaten war also schon aufgestanden. Seiya trainierte sicher auch schon, und Taiki schief bestimmt noch, während Setsuna das Frühstück richtete. Sie alle schienen überhaupt keine Probleme zu haben, ihr ganzes Leben schien ruhig und friedlich zu verlaufen, während Haruka sich dauernd mit irgendwelchem Kram herumschlagen mußte. In diesem Augenblick empfand sie das Leben als verdammt ungerecht. „Hmmm....“, murmelte Michiru aus ihren Kissen heraus und richtete sich auf. „Ruka, bist du hier?“ Haruka trat an das Bett. „Ja, ich bin hier, Michie“, sagte sie. „Hast du gut geschlafen?“ „Ich fühl mich, als hätte ich die ganze Nacht kein Auge zu getan“, murmelte Michiru und schüttelte ihren Lockenkopf. Sie gähnte. „Deine Mutter war gestern abend hier und hat dir ein paar Sachen gebracht“, berichtete Haruka und erzählte von ihrem Gespräch mit Mrs. Kaiou. Michiru nickte. „In Ordnung. Ich bin froh, daß mein Vater sich beruhigt hat. Er wird jetzt wahrscheinlich auf eine seiner endlosen Geschäftsreisen gehen und wenn er zurückkommt, wird er so tun, als wäre nie etwas gewesen.“ Er klang verbittert. „Dein Vater hat... nicht sehr viel Zeit für dich, nicht wahr?“ fragte Haruka vorsichtig. „Nein“, erwiderte Michiru knapp und gab Haruka damit deutlich zu verstehen, daß sie nicht darüber sprechen wollte. Haruka beschloß, sie etwas alleine zu lassen. Sie ging ins Badezimmer und machte sich für die Schule fertig. Als sie, ihre Mappe unterm Arm, in die Küche trat, saß Michiru am Küchentisch und rührte in einer Kaffeetasse. Vor ihr stand eine unberührte Schale mit Cornflakes. „Gehst du heute zur Schule?“ fragte Haruka, obwohl sie die Antwort wußte. „Nein“, murmelte Michiru geistesabwesend. Haruka warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie war ohnehin schon viel zu spät dran, da kam es auf die paar Minuten auch nicht mehr an. Sie holte sich eine Tasse aus dem Schrank und schenkte sich Kaffee ein. Dann setzte sie sich Michiru gegenüber. „Du kannst Nerissa nicht ewig aus dem Weg gehen“, meinte sie. Michiru antwortete nicht. Sie schob ohne aufzusehen Haruka die Schüssel mit den Cornflakes zu. „Hier. Die kannst du essen. Ich hab keinen Hunger.“ „Nein, danke“, sagte Haruka ungeduldig. Schon beim Gedanken daran, am frühen Morgen etwas zu essen, wurde ihr schlecht. Sie seufzte. „Michiru, es hat doch keinen Sinn, wenn du vor allem davonläufst!“ „Tu ich ja gar nicht“, murmelte sie. „Ich brauch nur etwas Abstand.“ „Ja, aber irgendwann wirst du wieder in die Schule gehen müssen, und dann... siehst du sie wieder. Und schon fängt alles wieder von vorne an.“ Gereizt sah Michiru auf. „Willst du mir Vorwürfe machen oder was? Hör auf, mir auf die Nerven zu gehen. Im Übrigen solltest du dich beeilen, die Schule hat schon lange angefangen, und du hast in der ersten Stunde den Kurs bei Mrs. Ishigama.“ „Danke für den Tip“, erwiderte Haruka ärgerlich, stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche. Schlechtgelaunt machte sie sich auf den Weg zur Schule. Als sie auf den Parkplatz fuhr, sah sie Nerissa über den Hof gehen, eine Zigarette in der Hand. Na die kommt sich auch wer weiß wie cool vor mit ihrem Glimmstengel, dachte Haruka. Kurz entschlossen parkte sie den Wagen auf dem nächsten freien Parkplatz und stieg aus. Als Nerissa an ihr vorüberging, ohne sie zu sehen – besser gesagt, ohne sie sehen zu wollen – vertrat sie ihr den Weg. Nerissa blieb stehen und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie wirkte sichtlich nervös, wenn sie das auch durch einen Zug an ihrer Zigarette vertuschen wollte. Aber die coole Geste mißlang, und sie fing an zu husten. „Geh mir aus dem Weg“, knurrte sie und wollte an Haruka vorbeigehen, aber Haruka hielt sie fest. „Wohin denn so eilig?“ fragte sie mit falschfreundlicher Stimme. „Soweit ich weiß, hast du eine Freistunde. Also werden wir mal ein paar Takte miteinander reden, Nerissa.“ Nerissa warf ihre Zigarette auf den Boden und trat mit der Fußspitze darauf. „Ich wüßte nicht worüber“, erklärte sie kühl. „Ach nein?“ spottete Haruka, und ihr Blick war eisig. „Dann will ich dir mal auf die Sprünge helfen. Ich sage nur: Michie.“ Nerissa wurde sichtlich blaß. Offensichtlich hatte sie weder gewußt, daß Haruka eingeweiht war, noch daß sie wußte, daß es aus war zwischen ihr und Michiru. „Ich sehe, du weißt, wovon ich spreche“, sagte Haruka zufrieden. Nerissa verschränkte die Arme. Ihre blauen Augen funkelten böse. „Du nervst!“ erklärte sie böse. „In der Tat?“ grinste Haruka. „Das ist gut. Und ich werde dich jetzt so lange nerven, bis du bereit bist, mit mir zu sprechen.“ „Ich glaube nicht, daß ich dir eine Erklärung schuldig bin“, erwiderte Nerissa hochmütig. „Du wärst die allerletzte, der ich irgendwas erklären würde.“ Es klang verächtlich. Haruka hätte ihr am liebsten eine runtergehauen, aber sie bezwang sich. „Ich sehe, du magst mich genauso wenig wie ich dich“, bemerkte sie ruhig. „Aber beantworte mir trotzdem eine Frage: Bin ich schuld daran, daß du mit Michiru Schluß gemacht hast?“ Entgeistert starrte Nerissa sie an, dann lachte sie laut heraus. „Ha, bei dir piept´s wohl! Hast du nen Knall oder was!? Ich hab mich einfach... in ne andere verliebt, das ist alles.“ Haruka sah sie scharf an. Nerissa hatte sie nicht angesehen, als sie das gesagt hatte. Und sie schien sich unbehaglich zu fühlen. „Nerissa, du lügst“, stellte sie fest. „Was fällt dir ein!“ brüllte Nerissa und ballte die Fäuste. Sie sah aus, als wolle sie sich auf Haruka stürzen und ihr die Augen auskratzen. Haruka erwiderte nichts, sondern fixierte sie nur mit zusammengekniffenen Augen. Nerissa wurde es unter diesem Blick sichtlich ungemütlich. „Okay“, gab sie zu, „das war nicht alles die Wahrheit. Aber das geht dich nichts an!“ „Nein? Da bin ich aber ganz anderer Meinung“, widersprach Haruka. Sie senkte ihre Stimme zu einem unangenehm drohenden Ton. „Michiru hatte einen Riesenärger Zuhause – deinetwegen. Sie hat stundenlang geweint – deinetwegen. Sie will vorerst nicht mehr zur Schule gehen – deinetwegen. Und sie wohnt jetzt bei mir – auch deinetwegen. Und du sagst, das geht mich nichts an?“ „Sie... wohnt bei dir?“ stieß Nerissa überrascht hervor. „Ja, sie wohnt bei mir, vorübergehend“, erzählte Haruka. „Ich habe nicht die Absicht, dir die ganze Geschichte zu erklären, nur soviel: Es geht ihr ziemlich dreckig, und wenn du schon ihr nicht Wahrheit sagst, dann sag sie mir, damit ich ihr irgendwie helfen kann!“ Nerissa schien einen Augenblick lang zu zögern. Sie hatte wohl ein ziemlich schlechtes Gewissen. Schließlich griff sie mit zitternden Händen in ihre Rocktasche und holte ein Päckchen Zigaretten hervor. Sie klemmte sich eine zwischen die Lippen. „Hast du Feuer?“ nuschelte sie. „Nein, hab ich nicht.“ Nerissa ging in die Knie, stellte ihre Schultasche auf den Boden und kramte darin herum, bis sie ein Feuerzeug mit goldenem Monogramm fand. Nachdem sie sich mit zitternden Händen die Zigarette angesteckt hatte, packte sie ihre Sachen wieder zusammen. „Ich warte“, sagte Haruka und klopfte ungeduldig mit ihrem Fuß auf den Boden. Nerissa packte sie am Arm und zog sie mit sich. „Okay, okay, ich erzähl´s dir, aber kein Wort zu Michie! Laß uns in den Park gehen.“ Im Park setzte sich Nerissa unter einen Baum ins Gras, während Haruka sich gegen den Stamm lehnte. Sie beobachtete, wie Nerissa ihre Zigarette rauchte und dabei immer nervöser wurde. „Los jetzt, ich warte!“ drängte sie. Nerissa seufzte. „Du verrätst Michie nichts?“ „Nein.“ „Schwörst du es?“ „Ja, ja, ich schwöre, aber jetzt red endlich!“ fauchte Haruka ungeduldig. „Gut“, sagte Nerissa und lehnte ihren Kopf gegen den Baumstamm. „Ich habe Michiru gesagt, daß ich mich in eine andere verliebt hätte und deswegen mit ihr Schluß machen würde.“ „Soweit bin ich informiert, ja. Aber das ist ja offensichtlich nicht der Fall.“ Neugierig sah Haruka sie an. Nerissa schluckte und drehte die Zigarette zwischen den Fingern. „Nun“, sagte sie gedehnt, „gewissermaßen stimmt das schon – nur...“ „Nur was?“ drängte Haruka ungeduldig. „Ich meine, ja, ich habe mich verliebt, aber...“ „Schön, du hast dich verliebt. Soweit sind wir schon. Aber was ist es, das Michiru nicht wissen darf?“ Nerissa starrte auf ihre Schuhe. „Sie darf es niemals erfahren“, flüsterte sie. „Es würde ihr nur weh tun, und das will ich nicht.“ „Du hast ihr schon verdammt weh getan, merkst du das nicht?“ „Natürlich. Aber wenn sie das erfährt, dann...“ Hatte sich Haruka getäuscht oder hätte Nerissa eben beinahe wirklich zu weinen begonnen? „Wenn sie was erfährt?“ fragte sie etwas freundlicher. Nerissa warf die Zigarette ins Gras und schlang die Arme um ihre Beine. „Daß ich mich nicht in ein Mädchen, sondern in einen Jungen verliebt habe.“ Haruka war einen Moment lang baff. Daran hätte sie nicht einmal im Traum gedacht. Sie mußte Nerissa recht geben – damit wäre Michiru wirklich nicht klar gekommen. Zumindest nicht im Moment. „Du sagst ja gar nichts“, murmelte Nerissa, und es klang beinahe hilfesuchend. „Es geht mich ja auch nichts an“, erwiderte Haruka. „Du kannst tun und lassen, was dir gefällt. Mir ist das völlig schnuppe. Ich will nur, daß Michiru nicht mehr so schrecklich leidet.“ „Wirst du’s ihr erzählen?“ „Natürlich nicht.“ „Ja dann...“ Nerissa wollte aufstehen, zögerte aber und blieb sitzen. Sie sah Haruka an. „Haruka, warum?“ „Warum was?“ „Warum tust du das alles für Michiru? Warum bist du so nett zu ihr und kümmerst dich so um sie? Ich meine, ihr kennt euch doch erst seit so kurzer Zeit. Warum also?“ Weil ich sie liebe, dachte Haruka, verdrängte das aber sofort wieder und antwortete statt dessen: „Es stimmt. Ich kenne Michie erst seit ein paar Monaten, aber sie ist die Einzige, die mich versteht und die... nein, egal. Michiru und ich sind einfach sehr gute Freundinnen geworden. Punkt. Das ist alles.“ „Aber...“ „Nichts aber“, erklärte Haruka schroff. Sie hatte keine Lust, großartig zu erklären, daß Michiru sie von Anfang an verstanden und so akzeptiert hatte, wie sie war. Daß sie immer für sie da gewesen war. Und daß es umgekehrt genauso war. Nerissa würde das wohl nicht verstehen, und selbst wenn doch, so ging es sie trotzdem nichts an. Nerissa schwieg eine Weile. Dann sah sie Haruka an. „Glaubst du, Michie kann mir verzeihen?“ fragte sie fast schüchtern. „Irgendwann vielleicht“, antwortete Haruka nach kurzem Nachdenken. „Aber bestimmt nicht so schnell. Und ich warne dich, Nerissa, laß sie bloß in Ruhe und komm nicht in ein paar Wochen wieder bei ihr angekrochen!“ „Sicher nicht“, erklärte Nerissa auf ihre übliche überhebliche Art und Weise – aber Haruka hörte die Unsicherheit deutlich heraus. Schritte näherten sich, und ein Mädchen tauchte zwischen den Bäumen auf. Sie schwenkte ihre Schulmappe. Als sie Nerissa entdeckte, blieb sie stehen. „Ach, hier steckst du, Neri, ich hab dich schon überall gesucht!“ rief sie. „Komm schnell, wir verpassen unseren Kurs!“ „Ja, ich komme“, antwortete Nerissa, stand auf und klopfte sich den Rock ab. „Auf Wiedersehen“, sagte Haruka betont höflich, aber wie erwartet würdigte Nerissa sie keines Blickes mehr, sondern ging neben dem Mädchen her in Richtung Schule. „Was wolltest du denn bei der!?“ hörte Haruka das fremde Mädchen flüstern. Nerissa zog die Augenbrauen hoch. Sie blieb stehen, holte eine Puderdose aus der Tasche und fing an, umständlich ihre Wangen zu pudern. „Ich?“ sagte sie. „Gar nichts. Sie hat mir nur etwas von Michiru ausgerichtet. Das ist alles.“ Sie sagte das in einem Tonfall, der wohl bedeuten sollte Nur eine Nichtigkeit, weißt du. Mit Gesindel wie der gibt sich ein anständiges Mädchen nicht ab. „Ach so“, sagte das Mädchen, und sie verschwanden aus Harukas Blickfeld. Haruka zuckte die Schultern. Sie war das vom Internat her gewöhnt und störte sich nicht daran. Sie verließ den Park und schlug die Abkürzung über den Lehrerparkplatz zum Haupteingang der Mugen Gakuen Schule ein, als ihr Mrs. Ishigama entgegenkam. Auch das noch, dachte sie seufzend. Mir bleibt aber auch gar nichts erspart! Die Lehrerin blieb in einiger Entfernung stehen. Sie konnte Haruka nicht leiden, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. „Na sowas“, sagte sie und hob eine Augenbraue. „Miss Tenô, kommen Sie heute auch noch zum Unterricht? Wer hätte das gedacht! Wo waren Sie in der ersten Stunde? Für den Fall, daß Sie Ihren Stundenplan noch immer nicht auswendig können – Sie hätten Mathematik gehabt. Also, wo waren Sie?“ „Wer weiß, vielleicht hatte ich ja was wichtigeres zu tun“, erwiderte Haruka ungerührt und ließ sie einfach stehen. „Das wird ein Nachspiel haben!“ donnerte Mrs. Ishigama. „Das unerlaubte Fernbleiben vom Unterricht ist eine Sache, und unverschämtes Benehmen gegenüber Lehrkräften eine andere! Ich werde beides Dr. Tomoe melden!“ Muß der eine Telefonrechnung haben, dachte Haruka, während sie die Lehrerin geflissentlich ignorierte. Scheint ja den ganzen Tag über nichts besseres zu tun zu haben, als am Telefon zu hängen und sich über Schüler bei deren Erziehungsberechtigten zu beschweren. Na, soll er doch! Wenn er nichts besseres zu tun hat...“ Kapitel 22: Depressionen ------------------------ Als Haruka nach Hause kam, war ihre Tante nicht da. Irgendwo in der Wohnung kläffte Fiffi. Er kläffte immer, wenn Haruka zur Tür herein kam. Ansonsten aber machte er einen großen Bogen um sie. Anscheinend hatte er ihr die Sache mit dem Bad noch immer nicht verziehen. Michiru war nicht in Harukas Zimmer. Das Bett war ordentlich gemacht und das Nachthemd lag sauber zusammengefaltet auf dem Kopfkissen. Ansonsten gab es jedoch kein Zeichen auf Michirus Anwesenheit. Auch die Küche war tadellos aufgeräumt. Nirgendwo stand schmutziges Geschirr herum, wie es sonst immer der Fall war. Haruka grinste. Es schien, als habe Michirus Anwesenheit durchaus Vorteile für sie. Im Wohnzimmer war laute Musik zu hören. Haruka trat ein und legte ihre Mappe auf einen Stuhl. Michiru trug eine schwarze Leggins und ein weißes Hemd. Sie sah nicht aus, als habe sie sich heute schon gekämmt, und ihr Gesicht wies deutliche Tränenspuren auf. Während aus der Anlage Someday... somebody von Three Lights dröhnte, saß Michiru auf der Couch und zappte durchs Fernsehprogramm. „Ich liebe dich“, sagte eine Stimme im Fernsehen. „Ich nicht“, erwiderte Michiru lakonisch und schaltete das Gerät ab. Haruka ging zur Anlage und drückte auf „Stop“. „Hallo“, grüßte sie. „Hi“, murmelte Michiru und gähnte. „Bist du noch rechtzeitig zum Unterricht gekommen?“ „Nein“, antwortete Haruka. „Aber das ist mir egal. Mrs. Ishigama hat mich Ende der zweiten Stunde erwischt und gleich damit gedroht, es Tomoe zu erzählen.“ Michiru legte die Fernbedienung auf den Tisch. „Meine Güte! Als wenn sich dadurch irgend etwas ändern würde. Solange dir deine Tante mit ihrem Geld den Rücken frei hält und das Projekt „Infinity“ finanziert, kann sie doch überhaupt nichts machen.“ Haruka wußte inzwischen, daß Dr. Tomoe mehrerer solcher Schulen in allen Teilen des Landes leitete. Das ganze Projekt wurde „Infinity“ genannt und war das erste seiner Art in Japan. Mrs. Tenô war die Hauptsponsorin von „Infinity“. „Du sagst es. Aber mach das Mrs. Ishigama mal klar!“ „Ach, ich hab sowieso die Nase voll von der Schule“, erklärte Michiru und verschränkte die Arme. „Wieso gehe ich nicht ab und verdiene mein Geld als Violistin oder Malerin?“ „Das ist nicht dein Ernst!“ rief Haruka fassungslos aus. Michiru hob den Kopf. Sie sah traurig aus. „Traust du mir das etwa nicht zu?“ fragte sie. „Doch, natürlich – aber ich dachte immer, du gehst gern zur Schule und möchtest studieren und all das.“ „Ja, bis gestern hatte ich das auch noch vor.“ Haruka setzte sich neben sie auf die Couch. „Michiru, du hast doch nicht wirklich vor, alles aufzugeben, oder? Die Mugen Gakuen Schule – das hast du selbst einmal gesagt – bietet dir optimale Möglichkeiten, deine Zukunft zu nutzen.“ „Ich habe mich entschieden“, erwiderte sie knapp. Aber Haruka schüttelte den Kopf. „Nein, das hast du nicht“, widersprach sie. „Ich glaube dir nicht! Willst du wegen Nerissa wirklich alles aufs Spiel setzen?“ „Du weißt nicht, was du sagst“, rief Michiru heftig. „Nerissa und ich haben total viele Kurse zusammen! Ich würde sie praktisch ständig sehen! Und das... halt ich nicht aus!“ „Ja mein Gott, damit mußt du leben!“ fuhr Haruka sie ungeduldig an. „Du kannst nicht erwarten, daß immer alles glatt läuft! Hör endlich auf, vor deinen Problemen davonzulaufen!“ Michiru brach in Tränen aus. Haruka wollte sie trösten, aber sie machte sich in ihren Armen steif. „Laß mich allein, bitte“, bat sie. Die Türglocke läutete. Haruka stand auf, warf noch einen letzten besorgten Blick auf Michiru und ging die Treppe hinunter zur Haustür. Es waren Taiki und Setsuna. „Ist meine Schwester hier?“ fragte Taiki. Haruka nickte. „Ja, oben im Wohnzimmer. Sie weint. Vielleicht schaffst du es, sie zu beruhigen.“ „Ich versuche es.“ Taiki verschwand die Treppe hinauf. Haruka sah Setsuna an. Sie trug einen violetten Minirock, eine weiße Bluse mit viereckigem weitem Ausschnitt, an dessen Ende eine rote Schleife prangte und eine kurze violette Jacke. Es tat ihr leid, daß sie beim letzten Zusammentreffen mit ihr so unfreundlich gewesen war. Und sie hatte das Gefühl, daß sie Setsuna erzählen konnte, was ihr Nerissa heute morgen gesagt hatte. „Setsuna, kann ich dich sprechen?“ fragte sie entschlossen. „Das tust du bereits“, entgegnete Setsuna merklich distanziert. Beim letzten Gespräch hatte es einigen Ärger gegeben, und das hatte sie offensichtlich nicht vergessen. Ungeduldig führte Haruka sie in Mrs. Tenôs Wohnzimmer, verbannte Fiffi auf den Flur und machte die Tür zu. Setsuna sah sie erstaunt an, während sie auf der Ledercouch Platz nahm. „Es geht um Michiru und Nerissa“, fing Haruka an. Setsuna nickte. „Das dachte ich mir.“ „Schau mich nicht so an, mit mir hat das überhaupt nichts zu tun!“ knurrte Haruka. Sie erzählte ausführlich von ihrem Gespräch mit Nerissa. „Na schön, sowas soll vorkommen“, sagte Setsuna nur. „Aber was habe ich damit zu tun? Warum erzählst du mir das?“ Gute Frage, dachte Haruka. „Wahrscheinlich, weil ich es einfach irgendwem erzählen mußte“, gab sie zu. „Und dann kommst du ausgerechnet auf mich? Das überrascht mich!“ Haruka merkte, daß sie nicht darum herumkam, sich bei Setsuna zu entschuldigen. Das gab ihr das Gefühl, Setsuna irgendwie ausgeliefert zu sein. Und dieses Gefühl machte sie rasend. Sie runzelte die Brauen, verschränkte die Arme und biß die Zähne zusammen. „Also, was ist jetzt?“ fragte Setsuna ungeduldig nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. Ach, hau doch ab! dachte Haruka bei sich. Ich bin nicht auf dich angewiesen! Aber dann mußte sie zugeben, daß sie damit falsch lag. Sie brauchte Setsunas Hilfe. Sie kam nicht weiter. Es war eine neue Erfahrung, auf die Hilfe von jemand anderem angewiesen zu sein, und sie konnte nicht sofort damit umgehen. „Okay“, murmelte sie schließlich, „das vom letzten Mal war wohl etwas... übertrieben. Meine Reaktion, meine ich. Aber ich bin wirklich nicht in Michiru verliebt.“ Gelogen, dachte sie gleich darauf. Ich empfinde sehr stark für sie. Aber ist es Liebe...? „Das Wort „Entschuldigung“ gibt’s in deinem Wortschatz wohl nicht, was?“ fragte Setsuna, aber es klang schon etwas freundlicher. „Nun gut, ich misch mich nicht mehr ein. In deine Freundschaft oder Beziehung oder was-weiß-ich mit Michie, meine ich. Aber du hast natürlich völlig recht, wenn du sagst, daß sie nicht erfahren darf, weshalb Nerissa sie wirklich verlassen hat. So wie du mir die Situation geschildert hast, ist sie im Moment sehr depressiv.“ „Wenn ich nur wüßte, wie ich ihr helfen kann“, seufzte Haruka. Es klopfte an die Tür, und Seiya und Yaten kamen herein. „Taiki hat uns reingelassen“, erklärte Yaten. Sie setzten sich. „Sprecht ihr über Michie?“ fragte Seiya. „Was ist denn jetzt eigentlich los? Keiner sagt mir irgendwas! Geht’s ihr nicht gut oder was?“ „Hat sie vielleicht Liebeskummer?“ erkundigte sich Yaten arglos. Setsuna und Haruka tauschten einen Blick. Schließlich räusperte sich Setsuna. „Hm, Yaten liegt gar nicht so falsch...“ „Was?“ fuhr Seiya auf. „Halt mal die Luft an, Michie ist nicht dein Eigentum, ja!“ sagte Setsuna scharf. Yaten grinste. „Das hätte er wohl gerne!“ kommentierte er, was ihm einen Rippenstoß von Seiya einhandelte. „Wer ist der Kerl?“ fauchte Seiya und ballte die Fäuste. „Dem brech ich alle Knochen, wenn ich den erwische!“ Haruka drehte den Kopf weg, damit Seiya ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie mußte sich das Lachen verbeißen. Auch Setsunas Augen funkelten belustigt. „Hör mit dem Unsinn auf, Seiya“, sagte sie schließlich. „Und im Übrigen möchte ich dich bitten, Michiru gegenüber nichts davon zu erwähnen. Benimm dich wie immer, damit hast du genug getan. Ruka und ich überlegen uns gerade, wie wir Michiru ablenken können.“ „Ihr wißt wirklich nicht, wer der Typ ist?“ fragte Seiya wieder. Das schien ihn ungemein zu beschäftigen. „Nein“, antworteten Haruka und Setsuna im Chor. Und das war nicht mal gelogen – schließlich war Nerissa kein Junge. „Seiya, halt endlich die Klappe“, fügte Yaten genervt hinzu. „Ruka und Poo haben recht, es ist viel wichtiger, Michiru aufzuheitern, als sich mit irgend jemandem zu prügeln!“ „Wie wollt ihr das machen?“ fragte Seiya interessiert. Haruka zuckte die Schultern. „Keine Ahnung“, antwortete sie. „Aber wir müssen uns schnell etwas einfallen lassen. Michiru hat etwas davon gesagt, daß sie die Schule schmeißen will.“ „Also jemand aus ihrer Schule“, murmelte Seiya und ging in Deckung, als er von allen Seiten mit Kissen beworfen wurde. „Anstatt hier blöde Reden zu schwingen, überleg dir lieber was“, forderte Yaten ihn auf. Sie überlegten eine Weile hin und her, aber ihnen wollte nichts vernünftiges einfallen. Schließlich gingen Sie hinauf zu Taiki und Michiru. Sie weinte nicht mehr, sah aber noch sehr blaß aus. Taiki saß neben ihr auf der Couch und sprach leise mit ihr. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt und wirkte erschöpft und hilflos. „Hallo, Michie“, sagte Setsuna liebevoll. „Wie geht’s dir?“ „Sieht man das nicht?“ antwortete Michiru ohne aufzusehen. Mitfühlend sah Yaten sie an. „Sollen wir lieber wieder gehen? Du kannst es ruhig sagen. Wir wollten nur mal nach dir sehen, weißt du. Wir haben uns Sorgen gemacht.“ Taiki winkte Haruka auf den Flur, während Setsuna, Seiya und Yaten im Wohnzimmer bei Michiru blieben. „Das sieht nicht gut aus“, bemerkte er. „So depressiv kenn ich meine Schwester gar nicht. Die Sache hat ihr sehr zugesetzt.“ Yaten und Seiya kamen aus dem Wohnzimmer. Seiya wirkte ziemlich verwirrt. „Was hab ich denn jetzt schon wieder gemacht?“ fragte er. „Ich hab doch nur gesagt, daß ich Nerissa gestern getroffen habe.“ Haruka und Taiki wechselten einen verzweifelten Blick. „Ich versteh auch nicht, was sie hat“, sagte Yaten kopfschüttelnd. „Seiya wollte sie doch nur irgendwie ablenken. Aber sie ist in Tränen ausgebrochen und war nicht mehr zu beruhigen.“ „Gut gemacht, Seiya“, murmelte Taiki und verschwand im Wohnzimmer, wo verzweifelte Schluchzer und Setsunas tröstende Stimme zu hören waren. Seiya sah Haruka fragend an. Haruka wollte gerade sagen, daß sie keine Ahnung habe, als ihr ein besserer Gedanke kam. „Nerissa hat damit zu tun, daß es Michie so schlecht geht“, erklärte sie bedeutungsvoll. „Du meinst, sie hat ihr den Typen ausgespannt oder was?“ fragte Seiya denn auch prompt. „Ja, dann wird mir einiges klar...“ Haruka ließ Seiya und Yaten diskutierend auf dem Flur zurück und ging zu Taiki, Setsuna und Michiru hinüber. Sie erzählte Setsuna flüsternd, was sie Seiya gesagt hatte. „Schon mal daran gedacht, ihm schlicht und einfach die Wahrheit zu sagen?“ fragte diese sarkastisch. „Nein!“ rief Michiru, die offenbar doch einiges mitgehört hatte. „Bitte nicht! Ich will nicht, daß das jeder erfährt! Soll Seiya ruhig denken, Nerissa hat mir meinen Freund ausgespannt. Das ist okay so.“ „Hast du dich schon einmal gefragt, was ein reines Herz ist, Michie?“ fragte Setsuna plötzlich. Michiru hob erstaunt den Kopf. „Was hat das mit Nerissa und mir zu tun, Setsuna?“ wollte sie wissen. „Du hast dich also noch nicht gefragt? Und du hast auch keine Ahnung, worauf ich hinaus will?“ Setsuna legte der Freundin den Arm um die Schultern. „Gut, dann werde ich es dir sagen: Ein reines Herz ist ein Herz, das voll Liebe und Freundschaft für andere ist. Ich möchte mein ganzes Leben lang so ein Herz haben. Du nicht? Michiru, auch wenn es dir jetzt schlecht geht, denk immer daran, daß deine Eltern, dein Bruder, Ruka, Seiya, Yaten und ich, daß wir alle immer für dich da sind! Bewahre dir dein reines Herz. Denn Liebe und Freundschaft werden immer siegen!“ Michiru lächelte tapfer. „Ach Setsuna, ich weiß ja, was du meinst, aber es ist noch zu früh, um so zu tun, als sei nichts gewesen. Ich werde irgendwann wieder von vorn anfangen müssen, ich weiß, und ich verspreche dir, ich werde die Bedeutung von Liebe und Freundschaft niemals vergessen! Ich bin dir ja dankbar, daß du für mich da bist, und Ruka und Taiki auch, aber im Moment kann ich einfach noch nicht wieder zu mir selbst finden. Tut mir leid.“ „Das muß es nicht, ich verstehe dich, Michiru“, lächelte Setsuna mitleidig. „Aber denk immer daran: Auch wenn wir im Leben oft schwere Schicksalsschläge hinnehmen müssen: Mit etwas Liebe und Verständnis wird alles wieder gut! Wir haben immer die Wahl, welchen Weg wir gehen! Du darfst dich nicht selbst aufgeben! Michiru, es gibt Menschen, die dich lieben und dich brauchen! Gib nicht auf!“ Michiru seufzte. „Oh Setsuna, das hast du schön gesagt, aber... aber... die Wunden sind noch so frisch... versteh doch bitte... ich kann einfach noch nicht...“ „Ich weiß, Michie“, bemerkte Setsuna traurig. „Ich weiß.“ Kapitel 23: Wenn der Wind eins wird mit dem Meer ------------------------------------------------ Seit Michirus Einzug bei Haruka war nun schon fast eine ganze Woche vergangen. Michiru ging noch immer nicht zur Schule, obwohl es ihr schon etwas besser ging. Sie ließ sich ihre Aufgaben von Haruka erklären und lernte für sich allein Zuhause. Inzwischen war es Sommer geworden, und der Gärtner hatte das Schwimmingpool abgedeckt. Das Wasser war noch etwas kühl, und Haruka hatte sich noch nicht dazu durchringen können, eine Runde zu schwimmen. Ganz anders jedoch Michiru. Sie liebte das Wasser, es war ihr Element. Sie schwamm jeden Tag mehrmals im Pool, und danach wirkte sie immer viel entspannter und ruhiger. Als Haruka eines Tages vom Rennplatz nach Hause kam, traf sie Michiru auf der Terrasse an. Sie trug einen sehr knappen, rückenfreien schwarzen Badeanzug und hatte sich das Haar aufgesteckt. „Ist es dir nicht tierisch warm in deinem Motorradanzug?“ fragte sie, während sie sich auf ihrem Liegestuhl rekelte. „Schon, warum fragst du?“ „Du könntest eine Runde mit mir schwimmen“, schlug Michiru vor. „Seit drei Tagen ist das Pool offen, und du warst noch nicht einmal drin!“ „Es ist ja auch saukalt!“ verteidigte sich Haruka. Michiru verschränkte die Arme. „Nichts da, so eine dumme Ausrede lasse ich nicht gelten! Komm, zieh dich um und laß uns schwimmen gehen! Bitte, Ruka!“ Haruka freute sich, daß es Michiru wieder besser ging. Sie nickte. „Gut, einverstanden. Warte einen Moment.“ Während sie nach oben ging, freute sie sich, daß es Michiru von Tag zu Tag wieder etwas besser ging. Sie zog ihren Motorradanzug aus und schlüpfte in ihren schwarzen Bikini, der sie sehr attraktiv aussehen ließ. Als sie wieder nach unten ging, begegnete sie ihrer Tante, die gerade aus ihrem Arbeitszimmer kam. „Haruka, du willst doch wohl nicht das zum Schwimmen anziehen, oder?“ fragte sie entsetzt. „Schämst du dich denn gar nicht! Das bißchen Stoff... was werden die Nachbarn sagen, wenn sie dich so sehen!“ „Das ist mir egal“, erwiderte Haruka kurz und ging an ihr vorbei. Michiru saß am Rand des Pools und baumelte mit ihren Beinen im Wasser. „Schicker Bikini“, bemerkte sie. „Sieht sexy aus.“ „Meine Tante fand ihn skandalös“, grinste Haruka. „Kann ich mir vorstellen!“ Sie stieß sich vom Rand ab und glitt ins Wasser. „Los, komm rein, es ist toll!“ forderte sie ihre Freundin auf. Haruka ging zur Leiter. Sie warf einen Blick auf das tiefblaue, runde Pool, dessen Wasser in der Sonne glitzerte. Vorsichtig tunkte sie einen Fuß hinein. Es war kalt. Sie verzog das Gesicht. „Zum Teufel, wieviel Grad hat dieser Pool?“ beschwerte sie sich. „Achtzehn“, antwortete Michiru. Sie schwamm an den Rand, zog sich hinauf und ging zu Haruka hinüber. „Sag jetzt nicht, du findest es zu kalt.“ Genau das fand Haruka. Sie war nie zimperlich gewesen, aber kaltes Wasser hatte sie noch nie zu locken vermocht. „Ich glaube nicht, daß ich Lust zum Schwimmen habe“, erklärte sie. „Das wirst du, verlaß dich drauf“, sagte Michiru mit einem listigen Glitzern in den Augen. Mißtrauisch sah Haruka sie an. „Was hast du vor?“ wollte sie wissen. Dann weiteten sich ihre Augen. „Michiru, das wirst du nicht tun!“ drohte sie. „Wie willst du mich denn daran hindern?“ lachte Michiru und gab Haruka einen Stoß, so daß sie mit einem lauten Platsch ins kalte Wasser fiel. Hoch schlugen die Wellen über ihr zusammen. Haruka schwamm so schnell wie möglich zur Leiter zurück. Jede Bewegung konfrontierte sie mit der Kälte des Wassers. Sie fröstelte, kletterte die Leiter hinauf und funkelte Michiru wütend an, während sie sich mit der Hand durch das nasse, dunkelblonde Haar fuhr. „Verdammt, du findest das wohl sehr komisch, was?“ knurrte sie. „Ja, finde ich“, lachte Michiru. „Du siehst aus wie... wie... Fiffi in der Badewanne!“ Sie prustete los. „Na warte!“ keuchte Haruka und rannte auf sie zu. Sie konnte schneller laufen wie Michiru und hatte die Freundin bald eingeholt, als Michiru abbremste und mit einem sauberen und akkuraten Kopfsprung ins Wasser eintauchte. „Du mußt schon reinkommen, wenn du mich erwischen willst“, lachte sie, und die Sonne spiegelte sich in ihrem türkisfarbenen Haar. Haruka warf noch einen letzten Blick auf das ihr als eisig kalt in Erinnerung gebliebene Wasser, dann nahm sie Anlauf und sprang hinein. „Sieh mal einer an, du bist ja doch kein solcher Angsthase“, spottete Michiru, drehte sich weg und tauchte quer durch das Becken. Haruka versuchte, sie zu erwischen, aber das Wasser war Michirus Element, und sie schwamm ebenso schnell und wendig wie ein Fisch. „Warte nur!“ keuchte sie. „Meine Rache wird fürchterlich sein!“ „Gib es doch zu, dir macht es doch auch Spaß“, rief Michiru ihr von der anderen Seite des Pools zu. „Wie kommst du darauf?“ rief Haruka zurück. Michiru lehnte sich zurück und blinzelte in die Sonne. „Na, deine Augen leuchten so, und dein Lachen klingt so froh und ausgelassen.“ Überrascht hielt Haruka inne. Hatte Michiru recht? Und wenn ja – war es schon wieder dieses unmögliche Gefühl? „Was guckst du so?“ fragte Michiru und schwamm zu ihr hinüber. Haruka riß sich zusammen. „Ach... ich habe mir eben nur überlegt...“ „Überlegt?“ „... überlegt, wie ich meine Rache durchführen könnte...“ „Und?“ Michirus blaue Augen funkelten vergnügt. Haruka grinste. „Ich werde...“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern stürzte sich auf Michiru und drückte sie unter Wasser. Michiru wand sich und zappelte. Als sie sich befreit hatte, tauchte sie wieder auf und wrang sich das Wasser aus den Haaren. „Das war fies“, bemerkte sie. „Na warte, das... machst du nicht noch mal!“ Sie wollte sich nun ihrerseits auf Haruka stürzen, aber Haruka war schneller. Sie tauchte, machte unter Wasser eine rasche Drehung und kam hinter Michiru wieder an die Oberfläche. „Verflixt, du bist schnell“, murmelte Michiru. Sie seufzte. „Das hat Spaß gemacht. Wir sollten öfter zusammen schwimmen gehen.“ „Bist du müde?“ erkundigte sich Haruka, als sie zur Leiter schwamm und sich auf die oberste Sprosse setzte. Michiru wirkte tatsächlich etwas erschöpft. Sie gähnte. „Ich bin das nicht mehr gewohnt“, gab sie zu. „Ich sollte mal wieder in der Schwimmhalle trainieren.“ „Das ist eine gute Idee“, pflichtete ihr Haruka bei. Erleichtert stellte sie fest, wie Michiru wieder langsam zu sich selbst fand. So viel wie heute hatte sie schon lange nicht mehr gelacht, und ihre meerblauen Augen leuchteten. Sie sah bezaubernd aus, wie sie da auf der Leiter saß und von der Sonne angestrahlt wurde. „Ich weiß, was du denkst“, lächelte Michiru. „Vielleicht hast du recht und ich bin wirklich dabei, über Nerissa hinwegzukommen.“ Sie stockte und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Siehst du? Ich kann ihren Namen sagen, ohne gleich in Tränen auszubrechen.“ Was du bestimmt tun würdest, wüßtest du, warum sie dich wirklich verlassen hat, dachte Haruka. Sie schwang sich an Land und streckte Michiru die Hand hin, um ihr aus dem Becken zu helfen. Michiru ließ sich hochziehen, stolperte aber und fiel direkt in Harukas starke Arme. Haruka spürte, daß sie rot wurde. Sie haßte sich dafür selbst und ließ Michiru sofort los. Michiru hatte nichts bemerkt. Sie war zur Veranda gegangen und trocknete sich ab. Dann breitete sie ihr Handtuch auf dem Rasen vor dem Pool aus und setzte sich darauf. Sie fing an, sich mit Sonnenöl einzucremen. „Willst du auch was?“ rief sie Haruka zu, die sich gerade abtrocknete. „Komm her, ich crem dir den Rücken ein.“ Haruka reagierte nicht gleich. Sie war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Sie fürchtete, erneut die Kontrolle über sich zu verlieren. „Komm schon, oder willst du´n Sonnenbrand?“ fragte Michiru ungeduldig. Nur zögernd ging Haruka zu ihr hinüber und setzte sich zu ihr auf das Handtuch. Wenn ich gescheit wäre, würde ich jetzt aufstehen und ins Haus gehen, dachte sie. Plötzlich fühlte sie, wie Michirus Hände am Verschluß ihres Bikinioberteils zu nesteln begannen. Sie fühlte sich ertappt und der Freundin vollkommen ausgeliefert. „Was soll das?“ zischte sie und rückte ein Stück von ihr ab. Michiru ließ ihre Hände sinken. Sie drehte den Kopf weg und löste ihre Frisur, so daß ihr die Haare offen den Rücken herunter fielen. „Entschuldige“, sagte sie, „aber ich soll dir doch den Rücken eincremen, oder nicht? Du mußt dein Oberteil hinten schon aufmachen, Ruka.“ Haruka biß sich auf die Lippen. Ich halt das nicht mehr aus, dachte sie verzweifelt. Laut sagte sie: „Ich glaub, wir lassen das lieber.“ „Willst du einen Sonnenbrand?“ fragte Michiru. „Haruka, hier ist niemand, der dich sehen könnte, also stell dich nicht so an!“ Du bist hier, dachte Haruka. Aber vielleicht... ich darf ihr nur nicht in die Augen sehen... „Okay“, murmelte sie. „Du bist doch sonst nicht so, was hast du bloß?“ wunderte sich Michiru. Sie öffnete das Oberteil und schraubte die Flasche mit dem Sonnenöl auf. Haruka murmelte etwas undefinierbares. Sie zog die Beine an und stützte den Kopf darauf. Ich weiß nicht, was ich tun soll, dachte sie. Was ist das nur für ein Feeling? So etwas hatte ich noch nie! Sanft verteilten Michirus Finger das kühle Sonnenöl auf Harukas braungebranntem Rücken. Haruka biß sich auf die Lippen. Michirus Finger waren so weich und so warm, so zärtlich... sie bekam eine Gänsehaut. „Du bist ganz schön braun, weißt du das?“ bemerkte Michiru, während ihre Hände über Harukas Schultern glitten. „Kommt wohl daher, daß ich viel draußen bin. Auf dem Rennplatz, oder morgens beim Joggen.“ Haruka ärgerte sich über sich selbst, als sie merkte, daß ihre Stimme ganz rauh und atemlos klang. „Hm“, murmelte Michiru. Sie fuhr mit der Fingerspitze über Harukas Rücken. „Du hast eine tolle Figur, weißt du das?“ bemerkte sie. Haruka kniff die Augen zusammen. Wenn das so weiterging, dann... Sie kniff sich selbst in den Arm, um sich davon zu überzeugen, daß es kein Traum war. Als sie den Schmerz spürte, wurde ihr klar, daß es wirklich passierte. Aber das geht nicht, sagte sie in Gedanken zu sich selbst. Michiru ist meine beste Freundin! Entschlossen wandte sie sich nach Michiru um. „Das reicht jetzt, so schnell krieg ich keinen Sonnenbrand“, erklärte sie. Michiru widersprach nicht, sondern ließ die Hände sinken, während Haruka ihr Bikinioberteil wieder richtig anzog. Haruka fühlte sich irgendwie seltsam, so als sei sie nicht mehr sie selbst. Ihr war, als fühle sie noch immer Michiru weiche, warme Hände an ihrem Rücken, und dieses Mal war dieses Gefühl der inneren Wärme und des Glücks noch viel stärker wie sonst. Es verwirrte sie mehr und mehr, zog sie aber auch mehr und mehr in ihren Bann. „Im Gegensatz zu dir möchte ich aber keinen Sonnenbrand bekommen“, erklärte Michiru energisch. „Also bitte.“ „Was bitte?“ fragte Haruka verständnislos und drehte sich um. Michiru lachte. „Na, du sollst mir den Rücken eincremen, bitte. Ich möchte nämlich ein Sonnenbad nehmen.“ Das... das kann ich nicht! war ihr erster Gedanke. Was ist, wenn ich wieder die Kontrolle verliere? Wenn ich sie diesmal wirklich küsse? Was dann? Ich könnte ihr nie mehr unter die Augen treten! „Na, mach schon!“ rief Michiru und fing an, einen der dünnen Träger ihres Badeanzuges herunterzustreifen. „Ich beiße nicht!“ Haruka mußte lachen. Sie versuchte, nicht hinzusehen, als Michiru nun auch den zweiten Träger abstreifte und den Rücken freimachte. Sie hatte es geschafft, ihre Gefühle zurückzuhalten, als Michiru ihr den Rücken eingecremt hatte. Aber würde sie dies auch schaffen, wenn sie sie so sehen würde - oben herum völlig nackt? Sie bezweifelte es. Haruka versuchte, sich ganz auf Michirus Rücken zu konzentrieren. Das war gar nicht so einfach. Michiru war schön. Das Sonnenlicht wärmte den gleißenden Rücken, und trotz daß Michiru ihr den Rücken zudrehte, konnte sie die Ansätze ihre Brüste sehen. Ihr wurde fast schwindlig, und sie versuchte alle diese Gefühle mit all ihrer Kraft zu unterdrücken. Sie kniff die Augen zusammen und fixierte Michirus Rücken, während sie sich das glänzende Sonnenöl über die Hand laufen ließ. Es fühlte sich glitschig und kühl an. „Hmm... hmmm... hmmm“, murmelte Michiru zufrieden, als Haruka das Öl vorsichtig auf ihren Rücken auftrug. Sie hatte vorgehabt, sich zu beeilen, aber jetzt konnte sie gar nicht mehr anders, als sich Zeit zu lassen. „Du hättest Masseuse werden sollen“, meinte Michiru, während sie sich immer mehr entspannte. „Du kannst massieren wie keine andere, das muß man dir lassen!“ Haruka hielt inne. Sie starrte auf ihre feuchten, cremigen Hände und Michirus glänzenden Rücken. „Entschuldige, aber ich creme dich lediglich ein“, meinte sie etwas pikiert. „Das ist das selbe“, behauptete Michiru. „Jedenfalls bin ich noch nie so eingecremt worden wie heute von dir. Ich glaube, wenn ich jetzt die Augen schließen würde... ich wäre so entspannt und ruhig, daß ich sofort einschlafen würde.“ „Tolles Kompliment“, spottete Haruka, obwohl sie natürlich wußte, wie Michiru das gemeint hatte. „Meine Schultern bitte auch noch“, murmelte Michiru. Haruka fuhr mit ihren Fingern sanft die Konturen von Michirus schmalen Schultern nach. Sie hob sanft das türkisfarbene Haar an, um den Hals und den Nacken besser eincremen zu können. „Warte, ich...“, begann Michiru und tastete im Gras nach ihrer Haarschleife. Sie hob die Arme, um sich die Haare zurückzubinden und wandte dabei Haruka ihr Gesicht zu – und nicht nur ihr Gesicht, auch ihren nackten Oberkörper. Ihre Blicke trafen sich; meerblaue Augen trafen auf dunkle. Haruka kam es vor, als würden sie ineinander verschmelzen. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Michirus Augen schienen aus der Nähe größer und noch viel ausdrucksvoller zu sein. Sie glänzten wie zwei wunderschöne helle Sterne, und ihr Blick war sanft und zärtlich. Haruka wußte nicht mehr, was sie tat. Sie konnte sich nicht losreißen von diesen wunderschönen Augen, die an das Meer mit all seiner Schönheit erinnerten. Fast wie in Trance schlangen sich ihre starken Arme um Michirus schmale Schultern. Sie fühlte mehr als daß sie sich dessen wirklich gewahr wurde, wie ihr auf einmal ganz heiß wurde. Sie beugte sich zu Michiru hinunter. Ein Lächeln glitt über Michirus hübsches Gesicht. Sie schloß die Augen, und Haruka bemerkte zum ersten Mal ihre langen, dunklen gebogenen Wimpern. Ihre Lippen öffneten sich ein wenig. „Ruka-Chan“, flüsterte sie kaum hörbar. „Michie-Chan“, murmelte sie selbstvergessen, als sie merkte, wie Michiru ihren schlanken Arme um ihren Nacken schlang. Sie beugte sich zu ihr hinunter und küßte sie auf den Mund. Die strahlende Nachmittagssonne beleuchtete die Szene auf dem grünen Rasen vor Mrs. Tenôs Villa. Sanft plätscherte das leuchtend blaue Wasser in dem runden Pool, der da so hübsch eingebettet zwischen den weißen Steinplatten lag. Die Blumen blühten, und Schmetterlinge flatterten von Blüte zu Blüte. Bienen summten und in den Ästen der Bäume zwitscherten die Vögel. Der Himmel war strahlend blau und wolkenlos. Es herrschte Stille, nur der leichte Wind, der durch die Büsche fuhr, ließ deren Blätter leise rascheln. Ein traumhaft schöner Sommertag, dem noch viele andere folgen würden. Und dennoch würde genau dieser Tag eine besondere Bedeutung haben für Haruka und Michiru. Kapitel 24: Flucht vor sich selbst ---------------------------------- Als Haruka merkte, was sie tat, überkam sie eine entsetzliche Panik. Das schöne Gefühl war verflogen, und statt der Schmetterlinge im Bauch waren da nur noch schreckliche Bauchschmerzen. Sie riß sich mit einem Ruck von Michiru los und stieß sie zurück. „Ruka... was...“, Michiru sah verwirrt aus. Sie bedeckte ihre nackten Brüste mit den Händen, und ihre Augen waren ganz dunkel. Haruka keuchte. „Entschuldige“, brachte sie mit rauher Stimme hervor. „Das... das hätte nicht passieren dürfen. Es tut mir leid.“ „Aber...“, begann Michiru hilflos, als Haruka aufsprang und zum Haus hinüber rannte. „Ruka! HARUKA! Warte!“ rief ihr Michiru nach, aber sie hörte nicht. Sie wollte auch gar nicht hören. Sie hätte wissen müssen, das sie in so einer Situation nicht cool bleiben würde. Und jetzt war es passiert. Sie hatte sie geküßt. Und was das Schlimme war, selbst wenn sie es hätte rückgängig machen können, so würde sie das gar nicht wollen. Aber Michiru – was dachte sie jetzt? Liebe ich sie? fragte sie sich plötzlich selbst mitten in ihre verzweifelten Gedanken hinein, als sie die Treppe hinauf in ihre Wohnung stürzte. Ja, gab sie sich dann gleich darauf die Antwort, ich liebe sie. Aber – diese Liebe hat keine Zukunft! Für mich nicht, und für Michiru erst recht nicht. Sie würde es zwar niemals zugeben, aber sie liebt noch immer Nerissa. Nerissa und nicht mich. In ihrem Zimmer angekommen, sank Haruka auf ihr Bett. Auf dem Kopfkissen lag zusammengefaltet Michirus Nachthemd. Haruka fuhr sanft mit der Hand darüber. Es roch an ihr. Alles hier roch nach ihr. Und sie konnte ganz deutlich diese wunderschönen blauen Augen vor sich sehen. Der Gedanke daran machte sie verrückt. „Ich muß hier raus!“ murmelte sie, während sie aufsprang und anfing, auf und ab zu gehen. „Ich muß hier raus und mit jemandem sprechen! Aber mit wem?“ Das lag eigentlich auf der Hand. Wer hatte denn von Anfang an gemerkt, daß Haruka Gefühle für Michiru hatte, selbst als sie sich noch nicht darüber im Klaren gewesen war? Meio Setsuna – sie würde ihr vielleicht helfen können. Haruka zog T-Shirt und Jeans über ihren Bikini, schlüpfte in ihre Schuhe und verließ das Zimmer. Als sie unten gerade die Haustür öffnen wollte, hörte sie Michirus Stimme aus dem unteren Flur. „Haben Sie vielleicht Haruka irgendwo gesehen?“ fragte sie. Es klang fast schon besorgt. Wahrscheinlich hält sie mich für krank, dachte Haruka verbittert. „Dem Lärm nach zu urteilen ist sie oben“, antwortete Mrs. Tenô aus dem Arbeitszimmer, und das Klappern der Tastatur und das Geräusch des Druckers waren zu hören. „Sagen Sie ihr bitte, sie soll nicht immer solchen Krach machen. Sie wohnt hier nicht alleine!“ Haruka rümpfte die Nase und machte, daß sie wegkam. Bevor sie nicht mit Setsuna gesprochen hatte, konnte sie Michiru nicht wieder unter die Augen treten. Mrs. Meio öffnete Haruka die Tür. Sie war eine schlanke junge Frau mit einem energischen Kinn und den gleichen traurigen Augen, die auch ihre Tochter Setsuna hatte. „Ach, Miss Tenô“, grüßte sie. „Wollen Sie zu den Jungs? Ich fürchte, Sie haben Pech. Taiki und Yaten haben einen Termin in der Stadt und Seiya ist ins Fitneßstudio gegangen.“ „Ich wollte eigentlich zu Setsuna“, sagte Haruka. „Sie ist...“, begann Mrs. Meio, als Setsuna im Hintergrund auftauchte. „Ich bin hier.“ Mrs. Meio verschwand in der Küche und machte diskret die Tür hinter sich zu. Setsuna führte Haruka in ihr Zimmer. Sie trug ein buntes T-Shirt und eine weiße Leggins. Das lange Haar hatte sie aufgesteckt. Sie wirkte sehr erwachsen. „Du siehst ziemlich durcheinander aus“, eröffnete Setsuna das Gespräch. Sie setzte sich im Schneidersitz auf ihr Bett und lehnte sich gegen die Wand, während Haruka auf dem Schreibtischstuhl Platz nahm. „Ich bin durcheinander“, bekannte sie. „Weißt du, Setsuna... du hattest recht. Du hattest die ganze Zeit über recht, nur ich blöde Kuh hab es nicht gemerkt oder besser gesagt es mir selbst nicht eingestehen wollen, und...“ Setsuna sah nicht so aus, als ob sie irgend etwas verstanden hätte. „Entschuldige, aber wovon redest du?“ fragte sie. „Von Michiru und mir“, erklärte Haruka. Sie wunderte sich, wie sie so ruhig bleiben konnte. „Über unser – wie sagtest du so schön?- was-weiß-ich. Über unsere Beziehung oder Freundschaft oder was auch immer es ist.“ Setsuna beugte sich vor. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Du Dickkopf!“ schmunzelte sie. „Siehst du es jetzt endlich ein?“ „Komm mir ja nicht so!“ fuhr Haruka auf. Sie war schon immer leicht ausgerastet, besonders, wenn man sie als „Dickkopf“ bezeichnete oder wenn man ihr unter die Nase hielt, daß sie unrecht gehabt hatte und auch sonst noch bei hundert anderen Kleinigkeiten. „Geh nicht gleich an die Decke, Haruka“, sagte Setsuna beschwichtigend. „Ich weiß gar nicht, wo dein Problem ist.“ „Na du bist gut“, murmelte Haruka. „Was glaubst du denn, ist heute passiert, hm?“ „Es ist etwas passiert, das dir endlich die Augen geöffnet hat“, bemerkte Setsuna treffend. Haruka funkelte sie wütend an. „Spar dir doch deinen Sarkasmus!“ fuhr sie gereizt auf. „Mir ist durchaus nicht nach dummen Sprüchen zumute! Ich habe – Michiru geküßt!“ „Oh, wie schön für euch“, meinte Setsuna. „Ist das alles? Haruka, wo zum Teufel liegt dein Problem!?“ Mein Problem bist du! hätte Haruka ihr fast ins Gesicht geschrien. Aber sie konnte sich gerade noch beherrschen. Setsuna konnte schließlich nicht wissen, was los war. Seufzend erzählte Haruka, was sich zugetragen hatte. Als sie geendet hatte, herrschte für einen Moment Stille. Man hörte nur das nervtötende Summen einer dicken Fliege, die ständig gegen die Fensterscheibe flog. Setsuna stand auf, öffnete das Fenster und scheuchte die Fliege hinaus. Dann drehte sie sich zu Haruka um. „Du bist weggerannt, nachdem du sie geküßt hast? Du hast sie einfach sitzenlassen?“ fragte sie schließlich fassungslos. „Ja, verdammt“, knurrte Haruka, die Fäuste geballt. „Ich weiß auch nicht, was über mich kam. Ich konnte einfach nicht anders. Verstehst du, ich mußte sie ganz einfach küssen.“ „Du dumme Nuß, ich meine nicht den Kuß!“ fauchte Setsuna. „Ich meine, daß du einfach abgehauen bist und die arme Michie ganz allein gelassen hast! Was, glaubst du, muß sie jetzt von dir denken!?“ Haruka war zu erledigt, um sich über die „dumme Nuß“ groß aufzuregen. Sie seufzte. „Hätte ich sitzenbleiben und mir von ihr eine runterhauen lassen sollen?“ fragte sie nur matt. „Wieso runterhauen?“ fragte Setsuna verständnislos. „Sie hat dich doch geküßt, oder etwa nicht? Ich meine, dann wird sie dir keine runterhauen!“ „Nein, Setsuna, nicht sie hat mich geküßt, sondern ich habe sie geküßt!“ verbesserte Haruka. Setsuna stöhnte. „Also, für mich macht es keinen großen Unterschied, wer wen geküßt hat! Ich wüßte nur gern, was eigentlich dein Problem ist und warum du annimmst, Michiru könnte dir eine runterhauen. Tschuldige, aber das kapier ich einfach nicht.“ Sie wirkte tatsächlich verwirrt. Haruka versuchte, es ihr zu erklären. „Ich hab sie überrumpelt“, versuchte sie deutlich zu machen. „Ich... hab ihr keine Zeit gegeben. Sie hat sich erst von Nerissa getrennt, und sie liebt Nerissa immer noch, das weiß ich! Vielleicht hat sie mich nur deshalb geküßt – um Nerissa zu vergessen, um alles zu vergessen. Verstehst du nicht, sie hatte sich vielleicht genauso wenig unter Kontrolle wie ich mich. Das war kein Kuß aus Liebe. Das kann kein Kuß aus Liebe gewesen sein! Ich weiß genau, jetzt denkt sie schlecht von mir und will nichts mehr mit mir zu tun haben, und das ist nur meine Schuld, weil ich meine Gefühle nicht gut genug im Griff hatte.“ Setsuna sah aus, als müßte sie sich ein Lachen verbeißen. „Oh, Haruka“, sagte sie schließlich, „du Arme, du bist wirklich total durcheinander. Ich glaube kaum, daß Michiru jetzt anders über dich denkt als zuvor. Wieso nimmst du nicht einfach an, daß es doch ein Kuß aus Liebe war?“ „Liebe...“, murmelte Haruka vor sich hin. Setsuna trat neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ruka-Chan“, sagte sie ernst und benutzte ganz selbstverständlich dieses Kosewort, „liebst du Michiru?“ Haruka sah ihr offen in die Augen. Sie wollte es nicht länger leugnen. Außerdem hatte sie das Gefühl, daß sie es irgend jemandem erzählen mußte. „Ja“, erwiderte sie fest. „Ja, ich liebe sie.“ „Ich glaube dir“, lächelte Setsuna. „Und wenn du sie wirklich so sehr liebst, dann mußt du um sie kämpfen!“ „Um sie... kämpfen?“ stammelte Haruka. Setsuna nickte. „Ja“, erklärte sie, „du mußt genauso um sie kämpfen wie auf der Gartenparty, als du dich mit Seiya um sie geprügelt hast. Gib es ruhig zu! Dir ging es damals weniger darum, daß er sie betrunken gemacht hat, als darum, daß du schrecklich eifersüchtig auf ihn warst.“ Überrascht sah Haruka sie an. „Ja“, mußte sie eingestehen, „das ist richtig.“ „Dann kämpfe um sie! Ich kann dir nicht sagen, ob sie dich liebt oder nicht, das mußt du selbst herausfinden! Wieso... fragst du sie nicht einfach?“ Entgeistert starrte Haruka sie an. „Zum Narren machen kann ich mich auch selbst! Wenn ich ihr sage, daß ich sie liebe und sie erwidert meine Gefühle nicht, dann bin ich für alle Zeiten vor ihr blamiert und werde ihr auch nie wieder so nahe sein können, wie ich es als ihre beste Freundin gewesen bin!“ „Ganz schön kompliziert“, lächelte Setsuna. „Aber du schaffst es schon! Mit der Zeit merkst du, ob sie dich auch liebt, glaub mir.“ „Und wie soll ich ihr den Kuß erklären? Ich meine, wir wohnen praktisch zusammen – ich kann nicht so tun, als wäre nichts gewesen und ihr versuchen aus dem Weg zu gehen.“ „Genauso wie mir eben – als Ausrutscher, als was-weiß-ich. Aber ich an deiner Stelle, Haruka, ich würde ihr die Wahrheit sagen.“ Verzweifelt sah Haruka sie an. „Aber das kann ich nicht!“ „Nun, vielleicht hast du sogar recht. Nur solltest du aufhören, stets vor dir selbst davonzulaufen. Das bringt dir gar nichts. Steh dazu und kämpfe um Michirus Liebe. Sie ist ein klasse Mädchen, und du hast sie verdient.“ „Ich...“ „Wir haben immer die Wahl, welchen Weg wir gehen“, fuhr Setsuna ernst fort. „Mit etwas Liebe und Verständnis ist jeder Kampf überflüssig. Und damit meine ich auch den Kampf mit sich selbst.“ Haruka lächelte. Sie begegnete Setsuna fast schon mütterlichem Blick. „Danke“, sagte sie schlicht. „Oh, gern geschehen“, erwiderte diese freundlich. „Schließlich sind wir jetzt sowas wie Freundinnen, oder?“ Überrascht sah Haruka sie an. Dann grinste sie. „Klar“, meinte sie und fühlte sich schon viel wohler, „natürlich sind wir Freundinnen!“ Auf dem Flur wurden Stimmen und Schritte laut. Es waren Yaten und Taiki von Three Lights. „Ist Seiya schon zurück?“ rief Yaten, und Mrs. Meio antwortete aus der Küche. „Nein, nicht daß ich wüßte!“ „Hat wahrscheinlich eine Bekanntschaft im Fitneßstudio gemacht“, flüsterte Setsuna augenzwinkernd, und Haruka konnte nicht anders, sie prustete los. Taiki rief laut nach Setsuna. „Setsuna! Hey, Poo-Chan, wo steckst du denn? Komm, laß uns schwimmen gehen! Mein Vater und meine Stiefmutter sind ausgegangen, wir haben den ganzen Pool für uns.“ „Ja doch, ich komme ja gleich“, rief Setsuna zurück. Haruka stand auf, und die beiden traten auf den Flur. Taiki und Yaten kamen ihnen entgegen. In der Küche klapperte Mrs. Meio mit Geschirr. „Hey, Ruka, schön dich zu sehen“, grüßte Yaten. „Kommst du mit schwimmen?“ Einen Augenblick lang stand Haruka in der Versuchung, Yatens Angebot anzunehmen und das Gespräch mit Michiru noch etwas hinauszuschieben. Aber Setsuna trat ihr kräftig auf den Fuß. „Ruka hat keine Zeit, sie muß etwas dringendes erledigen“, sagte sie und betonte „dringend“. Haruka lachte verlegen. „Ähem, ja, richtig, ich vergaß. Sorry, aber ich muß jetzt los.“ „Well, dann laß dich durch uns nicht aufhalten“, sagte Taiki. „War nett, dich getroffen zu haben.“ „Wir treffen uns ein anderes Mal zum Schwimmen“, fügte Yaten hinzu. Haruka nickte, warf Setsuna einen letzten dankbaren Blick zu und ging zur Haustür. Setsuna begleitete sie, während Yaten und Taiki in ihren Zimmern verschwanden, um ihre Badesachen zusammenzusuchen. „Bye“, sagte Haruka. „Mach’s gut“, nickte Setsuna. Sie warf einen kurzen Blick über ihre Schulter, um zu sehen, ob sie alleine waren. Es war niemand in der Diele. Die Tür zur Küche war geschlossen. „Und denk dran, Ruka – du mußt um Michiru kämpfen!“ flüsterte sie aufmunternd. Haruka nickte und lachte. Dann machte sie sich auf den Weg nach Hause. Sie glaubte noch immer nicht daran, daß Michiru ihre Liebe erwiderte, aber sie war fest entschlossen, um sie zu kämpfen. Kapitel 25: Getrennte Wege -------------------------- „Ich glaube, Michiru ist schon zu Bett gegangen“, sagte Mrs. Tenô, die gerade aus dem Keller kam, als Haruka nach oben gehen wollte. „Sie fühlte sich nicht wohl und hat mich um eine Kopfschmerztablette gebeten. Bitte mach keinen Lärm!“ Für wie ungehobelt hält sie mich, fragte sich Haruka. „Hast du gehört?“ fragte die Tante streng, und Fiffi, der neben ihr her lief, bellte zustimmend. „Jaaa“, stöhnte Haruka genervt und verdrückte sich rasch nach oben. Oben war alles ruhig. Haruka öffnete vorsichtig die Tür zu ihrem Zimmer, das ja zur Zeit von Michiru bewohnt wurde. Das Rollo war heruntergelassen, alles war dunkel. Schläft sie wirklich oder geht sie mir nur aus dem Weg? überlegte Haruka. Sie knipste das Deckenlicht an. Blendende Helligkeit durchflutete den Raum. „Michiru?“ flüsterte sie. Es kam keine Antwort. Leise trat Haruka an das Bett heran. Michiru lag zusammengekuschelt unter der Decke. Und – irrte sich Haruka oder waren das wirklich Tränenspuren, die ihre Wangen zierten? Vorsichtig hob Haruka die Bettdecke an und zog sie weiter hinauf, um Michiru richtig zuzudecken. Sie bewegte sich nicht. Ihre Augen blieben geschlossen. Falls sie wirklich noch wach war, dann war sie eine verdammt gute Schauspielerin. „Gute Nacht, Michiru“, sagte Haruka für den Fall, daß sie simulierte. Dann knipste sie das Licht aus und ging hinaus. Mrs. Tenô kam aus ihrem Schlafzimmer. Obwohl es noch nicht sehr spät war, erst kurz vor sechs Uhr, trug sie einen seidenen Kimono und hatte sich abgeschminkt. Sie stand wohl gerade im Begriff, ein Bad zu nehmen. „Haruka, was ist mit Michiru los?“ fragte sie beiläufig, während sie die Schlafzimmertür hinter sich schloß. „Sie wirkte verwirrt und sah fast schon so aus, als wolle sie gleich in Tränen ausbrechen. Hatte sie wieder Streit mit ihren Eltern?“ „Nein“, antwortete Haruka nur. Sie hatte nicht sie Absicht, ihr auf die Nase zu binden, was wirklich passiert war. Mrs. Tenô hätte Michiru wohl auf der Stelle des Hauses verwiesen, wenn sie von dem Kuß und Harukas Gefühlen erfahren hätte. Und sie hätte dann wohl alles getan, um Haruka von Michiru fernzuhalten. Mrs. Tenô sah Haruka an. Ihr Gesicht wirkte plötzlich gar nicht mehr so streng und kühl. „Haruka, wenn... wenn du Probleme hast, dann...“ Haruka glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Träumte sie oder zeigte Mrs. Tenô wirklich so etwas wie Mitgefühl? Hatte sie ihr eben wirklich ihre Unterstützung angeboten? „Nein, danke“, sagte sie, bemüht, nicht allzu abweisend zu klingen. „Es ist alles in Ordnung.“ Unten klingelte das Telefon. Mrs. Tenô bat Haruka, sie zu entschuldigen und verschwand die Treppe hinunter. Noch immer fassungslos sah Haruka ihr nach. Es geschehen doch immer Zeiten und Wunder, sagte sie in Gedanken zu sich selbst. Als Haruka am nächsten Morgen aufwachte, merkte sie, daß sie verschlafen hatte. Nun, ob sie jetzt am letzten Schultag vor den Sommerferien in die Schule kam oder nicht, war sowieso egal. Obwohl die Lehrer es in letzter Zeit nicht gerade leicht gehabt hatten mit ihr, hatte Dr. Tomoe nicht angerufen und sich beschwert. Vielleicht hatte sie Glück und er würde es auch diesmal nicht tun. Haruka stand auf. Die Morgensonne schien zum Fenster hinein, und draußen zwitscherten die Vögel. Haruka hob T-Shirt und Jeans vom Boden auf und zog sich an. Dann ging sie ins Badezimmer und machte sich fertig. Als sie wieder auf den Flur trat, hörte sie in der Küche jemanden rumoren. Das mußte Michiru sein. Am liebsten wäre Haruka wieder ins Bad gegangen und hätte die Tür hinter sich zugemacht, aber Setsuna hatte recht, wenn ihr etwas an Michiru lag, dann mußte sie jetzt um sie kämpfen. Entschlossen trat sie ein. Michiru saß am Küchentisch und hatte eine Tasse Kaffee und einen Teller mit Kuchen vor sich stehen. Sie trug ein hellblaues Sommerkleid und hatte ein türkisfarbenes Band im Haar, das ihr die Haare aus der Stirn hielt. „Guten Morgen“, sagte Haruka betont munter. Erschrocken schaute Michiru auf. In ihren Augen lag ein Ausdruck, den Haruka nicht zu deuten wußte. „Oh, Haruka... ich dachte, du bist in der Schule“, rief sie aus. Ihre Stimme zitterte leicht. „Ich habe verschlafen“, antwortete Haruka. Sie trat an den Kühlschrank und holte Milch und Butter heraus. „Aber jetzt sind erst mal zwei Monate Ferien, da kann mich die blöde Schule kreuzweise!“ Michiru sagte nichts darauf, sondern rührte stumm in ihrem Kaffee. Gewöhnlich mochte sie ihn am liebsten mit viel Milch und Zucker, aber heute, wie Haruka bemerkte, trank sie ihn schwarz. Haruka schenkte sich Milch ein. Michiru hatte nur für sich Kaffee gemacht, und sie hatte keine Lust, sich selbst welchen zu machen. Also mußte sie sich mit kalter Milch begnügen. Hunger hatte sie morgens ja ohnehin nicht. Sie stellte die Tasse auf den Tisch und setzte sich Michiru gegenüber. „Ich glaube, wir müssen reden“, bemerkte sie. Michiru nickte ohne aufzusehen. „Ja, das müssen wir wohl“, stimmte sie zu und nippte an ihrem Kaffee. „Das von gestern tut mir leid“, sagte Haruka. „Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist. Und daß ich dann weggelaufen bin, war auch nicht richtig. Bist du böse deswegen?“ „Seit wann fragt Tenô Haruka jemanden, ob er auf sie böse ist?“ Haruka stellte erleichtert fest, daß ein amüsiertes Lächeln Michirus Lippen umspielte. „Ich dachte, es sei ihr ganz egal, was andere von ihr denken?“ „Es kommt darauf an, wer „andere“ ist“, erwiderte Haruka. „Außerdem bist du nicht „andere“. Du bist meine Freundin. Na ja, ich hoffe jedenfalls, daß du das noch bist, nach allem, was passiert ist.“ Michiru spielte mit einer ihrer Haarsträhnen. „Natürlich“, erwiderte sie ruhig. „Und jetzt laß uns das Thema vergessen.“ Es klang nicht wie eine Aufforderung, sondern fast wie ein Befehl. „Aber...“ Michiru stand auf und trug das Geschirr zur Spüle. Wortlos räumte sie es in den Geschirrspüler ein. Dann drehte sie sich nach Haruka um. „Ich will nichts mehr davon hören“, sagte sie scharf. „Weißt du, für mich sah es so aus, als ob du... als ob du...“ „Als ob ich was?“ fragte Haruka und trank einen Schluck Milch. Sie schmeckte scheußlich, so als sei das Verfallsdatum schon seit Monaten abgelaufen. „Nichts“, sagte Michiru schnell. „Ist nicht wichtig. Entschuldige mich bitte.“ Sie drehte sich um und stürzte hinaus. Verwirrt sah Haruka ihr nach. Sie hatte sich das Gespräch anders vorgestellt. Sie erhob sich ebenfalls und schüttete die verdorbene Milch mit angewidertem Gesicht in die Spüle. Dann nahm sie die Colaflasche aus dem Kühlschrank und trank ein paar Schlucke. Nachdem sie ihren Durst endlich gestillt hatte, ging sie in ihr Zimmer hinüber, um nach Michiru zu sehen. Michiru stand in der Mitte des Zimmers. Auf dem Fußboden stand die Tasche, die Mrs. Kaiou vorbeigebracht hatte. Michiru war dabei, ein paar Kleidungsstücke und Schuhe darin zu verstauen. Haruka konnte sich nicht helfen, aber für sie sah das nicht nach gewöhnlichem Aufräumen aus. „Was... machst du da?“ fragte sie. Michiru sah kurz auf. „Ich packe, siehst du das nicht?“ „Du willst... ausziehen? Aber doch nicht etwa meinetwegen!“ rief Haruka entsetzt. Damit hatte sie nicht im Traum gerechnet. Sie hatte sich so sehr an Michirus Anwesenheit gewöhnt, und jetzt wollte sie ausziehen? Sie konnte sich schon gar nicht mehr vorstellen, wie ein Leben ohne Michiru gewesen war. „Nicht deinetwegen“, sagte Michiru, während sie ihr Nachthemd in der Tasche verstaute. „Es ist einfach besser so. Du hast ja gesehen, was passiert ist.“ „Aber...“ „Glaub mir, Haruka, es ist wirklich besser, wenn ich gehe.“ Verzweifelt sah Haruka sie an. „Aber wo willst du denn hin?“ wollte sie wissen. Jetzt lächelte Michiru. „Nach Hause“, antwortete sie. „Wo ich hingehöre.“ Aber du gehörst zu mir, hätte Haruka am liebsten geschrien. Jedoch brachte sie kein Wort heraus, sondern beobachtete nur stumm, wie Michiru sich hinkniete und den Reißverschluß der Tasche zuzog. Ratsch! Das Geräusch klang so endgültig, genauso endgültig, wie Michirus Auszug war. „Nun, deine... deine Eltern... werden sich freuen, wenn du zurückkehrst“, murmelte Haruka, nur um irgend etwas zu sagen. Michiru nickte. „Ja, bestimmt. Ich hab sie ganz schön vermißt. Und Ende des Sommers werde ich auch wieder zur Schule gehen. Ich werde viel zeichnen und Violinkonzerte geben, und eines Tages werde ich eine berühmte Violistin sein.“ So, wie sie das erzählte, klang es wie ein endgültiger Abschied. Haruka bekam Angst, sie zu verlieren. „Michiru, so wie du das sagst – es klingt so, als würden wir uns nicht wiedersehen!“ Michiru sammelte von Schreibtisch ein paar Kleinigkeiten auf, die ihr gehörten. „Das wird sich nicht vermeiden lassen“, sagte sie, Harukas Blick ausweichend. „Immerhin wohnen wir nebeneinander und gehen auf die gleiche Schule.“ „Du sagst das, als wolltest du mich lieber nicht mehr sehen!“ „Nun ja, ich habe beschlossen, daß es besser ist, wenn wir einige Zeit lang getrennte Wege gehen“, erklärte Michiru ruhig. Haruka starrte sie an, als habe sie den Verstand verloren. „So“, sagte sie und versuchte, die in ihr aufsteigende Wut zu unterdrücken. „Du hast beschlossen. Das ist ja wunderbar! Und was ist mit mir? Interessiert es dich denn gar nicht, was ich dazu zu sagen habe!?“ „Im Augenblick nicht“, lautete die Antwort. „Ich brauche etwas Abstand, und außerdem ist das mein Leben, und es geht dich nichts an, was ich tue oder lasse. Du bist nicht mein Kindermädchen!“ „Aber ich bin deine Freundin – oder war es zumindest!“ Haruka hatte plötzlich schreckliche Angst, sie für immer zu verlieren. „Mein Gott, Michiru, soll so ein alberner Kuß denn alles kaputtmachen? Kannst du das nicht einfach vergessen?“ „Ich wünschte, ich könnte es.“ Es klang beinahe verbittert. „Aber das kannst du nicht verstehen. Haruka, laß mich einfach in Ruhe, ja? Bitte! Ich kann dir jetzt nicht erklären, wieso, aber ich habe meine Gründe, und ich bitte dich, sie zu akzeptieren, auch wenn du sie nicht kennst!“ „Aber...“ „Herrgott, ist das denn so schwer verständlich?“ fauchte Michiru, und ihre Augen blitzten. „Verständlich vielleicht, aber nicht akzeptabel!“ schrie Haruka zurück. Als sie merkte, daß sie Michiru angeschrien hatte, seufzte sie. „Entschuldige, ich wollte nicht laut werden. Ach, bitte, Michie, überleg dir doch noch...“ „Für dich immer noch „Michiru“, bitte“, sagte sie und wollte ihre Tasche mit einem Schwung hochheben, aber sie schaffte es nicht, sie war zu schwer. „Warte, ich helfe dir“, erbot sich Haruka, aber Michiru schob sie energisch zur Seite und schleppte die schwere Tasche auf den Flur hinaus und die Treppe hinunter. Haruka ging ihr nach. „Tja, dann... dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als dir viel Glück zu wünschen.“ Sie wunderte sich über sich selbst. Wie konnte sie nur so ruhig bleiben? „Danke“, sagte Michiru und ging zur Haustür. „Und sag auch deiner Tante vielen Dank, daß ich hier wohnen durfte. Das hat mir sehr geholfen. Mach’s gut, Haruka.“ Sie ging hinaus. „Warte noch einen Augenblick“, rief ihr Haruka nach. „Ja?“ „Du... du weißt, daß du immer zu mir kommen kannst, wenn du Probleme hast, ja?“ Jetzt lächelte Michiru. „Ja, Haruka, das weiß ich. Und ich danke dir dafür.“ Und damit wandte sie sich um und ging die Stufen hinunter. Bald schon war sie aus Harukas Blickfeld verschwunden. Haruka setzte sich auf die oberste der Treppenstufen und lehnte sich gegen das kühle Geländer. Michiru fehlte ihr jetzt schon. Sie fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben richtig allein und verlassen. Es ist nur meine Schuld, daß sie weg ist, dachte sie traurig. Ich werde nie wieder jemanden so nahe an mich heranlassen, wie sie. Denn das verleiht die Macht zu verletzen, und genau dies hat sie getan. Und ich muß sie wohl noch sehr viel mehr verletzt haben, sonst wäre sie wohl nicht gegangen. Haruka wußte nicht, wie lange sie in dieser düsteren Stimmung auf der Treppe gesessen hatte. Denn auf einmal war sie nicht mehr allein. Unten an der Treppe stand Kou Seiya. Seiya trug eine ausgebeulte Freizeithose und ein gestreiftes T-Shirt. Er hatte eine schwarze Sonnenbrille auf und seine Füße steckten in alten, ausgelatschten Turnschuhen. „Na, du Schulschwänzerin“, grinste er und nahm die Sonnenbrille ab. Haruka versuchte auch ein Grinsen, aber es mißlang gründlich. „Wenn dich deine Fans in dem Aufzug sehen könnten...“, bemerkte sie und zog die Augenbrauen hoch. „Was ich in meinem wohlverdienten Urlaub mache, geht die gar nichts an“, erklärte Seiya. Er setzte sich neben sie auf die Treppe und warf ihr einen neugierigen Blick zu. „Und was ist mit dir?“ fragte er. „Was soll sein?“ murmelte Haruka. Sie versuchte, ein fröhliches Gesicht aufzusetzen, aber es gelang ihr nicht. Mißmutig starrte sie auf ihre Schuhe. „Na komm schon, Schätzchen, ich seh doch, daß mit dir was nicht stimmt!“ Seiya stieß sie aufmunternd in die Rippen. Haruka verdrehte die Augen. „Mit mir ist alles in Ordnung“, schwindelte sie. „Das glaube ich dir schon allein deshalb nicht, weil du nicht ausgeflippt bist, als ich dich „Schätzchen“ genannt habe, Ruka.“ „Okay, ich hab ein Problem“, gab sie zu. „Zufrieden?“ „Nicht ganz“, sagte Seiya. „Du könntest mir erzählen, was los ist. Vielleicht hilft´s dir ja, mit mir darüber zu sprechen.“ Daß ausgerechnet Kou Seiya so etwas sagte, war verwunderlich. Aber Haruka war es auf einmal egal, wer er war. Selbst wenn es Nerissa gewesen wäre, die ihr Hilfe angeboten hätte, sie hätte mit ihr gesprochen. Sie mußte einfach mit irgend jemandem sprechen. Ja, selbst wenn es Tante Himeko gewesen wäre, so hätte sie ihr alles erzählt. Haruka ballte die Fäuste. Sie warf den Kopf zurück und blinzelte in die Sonne. Sie hoffte, daß Seiya nicht bemerkte, daß ihr beinahe die Tränen gekommen wären. Und die paar Mal, die Tenô Haruka in ihrem Leben bis jetzt geweint hatte, konnte man an einer Hand abzählen. Weinen war für sie ein Zeichen der Schwäche, und Schwäche zu zeigen verabscheute sie. „Also los!“ forderte Seiya sie auf. „Ich seh doch, daß es dir richtig mies geht!“ Haruka drehte sich nach ihm um. Sie war entschlossen, ihm alles zu sagen. Auch wenn es ihm das Herz brechen würde. Einen Augenblick lang hatte sie sogar den unedlen Gedanken, daß Seiya ruhig leiden konnte – sie mußte es schließlich auch. „Es geht um Michiru“, sagte sie. „Ja?“ Gespannt beugte sich Seiya vor. Er schien wirklich vollkommen ahnungslos. Haruka holte tief Luft und fing an zu erzählen. Sie ließ nichts aus und berichtete schonungslos die volle Wahrheit. Daß Michiru lesbisch war und daß sie wegen Nerissa Liebeskummer gehabt hatte. Daß Nerissa Michiru nicht wegen einem Mädchen, sondern wegen einem Mann verlassen hatte. Daß sie selbst sich in Michiru verliebt hatte. Daß sie sich geküßt hatten. Einfach alles. Selbst die Dinge, die Michiru ihr im Vertrauen erzählt hatte. In ihrer Wut und Verzweiflung war es ihr ganz egal, wen sie damit verletzte. Ja, vielleicht wollte sie sogar mit voller Absicht verletzen – genauso, wie sie verletzt worden war. Als sie geendet hatte, sagte Seiya kein Wort. Er war etwas blaß geworden, schwieg und starrte geradeaus. „Verdammt“, sagte er schließlich, „da ist einmal ein klasse Mädchen, die nicht nur mit mir befreundet sein will, weil ich Frontsänger bei Three Lights bin, sondern weil ich einfach ich bin, und sie ist nicht nur elegant und wunderschön, sondern hat gute Manieren, ist reich und klug, kurz: einfach perfekt, und dann steht sie auf Frauen!“ „That´s life“, murmelte Haruka. „Das war nicht gegen dich“, versicherte Seiya rasch. Er stand auf und ging unruhig auf und ab. „Well, das ist dann wohl das Ende meiner schönen Träume von der perfekten Frau! Ich hab mir verdammt noch mal geschworen, jeden, der es wagt, sich in sie zu verlieben, ordentlich zu vermöbeln, weißt du, nur... ich hab keine Lust, mich noch mal mit dir zu prügeln.“ „Mir egal“, brummte Haruka teilnahmslos. Sie fühlte sich völlig ausgepowert und erschöpft, obwohl sie praktisch noch gar nichts getan hatte heute. „Ich meine, du kannst nichts dafür, daß du dich in sie verknallt hast, und außerdem hab ich ja sowieso null Chance bei ihr! Aber ich kapier einfach nicht, daß sie mir nie was gesagt hat! Ich bin doch kein Monster! Ich meine, ich hätte ihr bei Gott nicht den Kopf abgerissen! Wir hätten ja weiterhin gute Freunde sein können! Vielleicht hat sie ja gedacht, ich finde sowas unmoralisch oder so. Aber das tu ich doch gar nicht. Na ja, ganz verstehen werd ich’s wohl nie, aber das hätte doch nichts an unserer Freundschaft geändert!“ Seiya sah ziemlich ratlos aus. „Lassen wir das“, seufzte Haruka. „Es bringt ja doch nichts. Ich war die Einzige, die es gewußt hat. Außer Nerissa natürlich. Ihre Eltern und Taiki haben es erst viel später erfahren. Na ja, und Setsuna hat...“ „Setsuna hat es auch gewußt?“ Seiya grinste. „Das kann ich mir vorstellen. Sie verfügt über eine erstaunliche Menschenkenntnis. Vor ihr kann man so leicht nichts verbergen. Ich mag sie, wenn sie auch nicht gerade mein Typ ist.“ „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, seufzte Haruka. „Vielleicht sollte ich Setsuna fragen.“ Überrascht sah Seiya sie an. „Wie, fängst du jetzt auch schon damit an?“ „Mit was?“ „Na ja, weißt du, von uns Three Lights geht jeder zu Setsuna, wenn er ein Problem hat. Sie könnte leicht einen Job als Kummerkastentante kriegen. Sogar unser Manager und die Bühnentechniker gehen zu ihr, wenn sie Probleme haben. Natürlich nicht offiziell, aber man erfährt eben doch einiges. Von Setsuna natürlich nicht. Sie ist absolut verschwiegen.“ Haruka mußte lachen. „Vielleicht solltet ihr Setsuna das mit der Kummertante mal vorschlagen“, meinte sie. „Damit würde sie bestimmt ein Vermögen machen!“ „Möglich.“ Seiya lachte auch. Dann aber wurde er wieder ernst und sah Haruka an. „Ruka, wenn du meinen Rat hören willst... kämpfe um sie!“ Haruka starte ihn an. „Genau das hat Setsuna auch gesagt!“ „Ja?“ lachte Seiya. „Na, der Umgang mit ihr scheint abzufärben. Nein, im Ernst, ich an deiner Stelle würde um sie kämpfen! Ich würde alles dafür tun, sie für mich zu gewinnen! Natürlich könntest du ihr auch einfach sagen, was du für sie empfindest. Aber erstens mögen es Mädchen, wenn man um sie kämpft... hey, verdreh nicht so die Augen, ich hab das ernst gemeint!... und zweitens solltest du erst ihr Vertrauen und ihre Freundschaft zurückgewinnen, bevor du auf ihre Liebe hoffen kannst.“ Haruka sah ihn erstaunt an. „Seiya...“, begann sie vorsichtig, „ich hätte jetzt eher gedacht, du bringst mich um, als daß du mir hilfst.“ „Wenn du ein Junge wärst und Michie auf Jungs stehen würde, hätte ich das auch getan, das darfst du mir glauben!“ Er zwinkerte ihr zu. „Aber ich hab ja sowieso keine Chance bei ihr, leider. Verliebt bin ich nämlich immer noch in sie. Aber für was hat man denn seine Phantasie...“ Er warf Haruka einen bedeutungsvollen Blick zu. Haruka prustete los. „Ich glaube, du wolltest schmutzige Phantasie sagen, eh?“ spottete sie. Seiya lachte auch. „Oui, dazu gebe ich besser keinen Kommentar!“ Sie lachten beide. Und obwohl Haruka es noch immer für eine schreckliche Vorstellung hielt, Michiru einige Zeit lang nicht zu sehen, so hatte sie doch ihre alte Zuversicht wiedergewonnen. Ihr Gespräch mit Seiya hatte ihr unheimlich geholfen, und sie fing an, die Dinge wieder positiv zu betrachten. Positiv und hoffnungsvoll. Denn schließlich durfte man ja noch träumen... und hoffen! Kapitel 26: Schicksalhafte Begegnung ------------------------------------ In den darauffolgenden beiden Wochen verbrachten Haruka und Seiya zur Verwunderung von Setsuna, Yaten und Taiki sehr viel Zeit miteinander. Sie trafen sich oft zum Schwimmen in Mrs. Tenôs Pool, gingen morgens zusammen joggen, und zum Entsetzen von Taiki und Yaten entwickelte Seiya auf dem Rennplatz eine Vorliebe für Autorennen. Haruka nahm ihn oft zu ihrem Training mit, und Seiya schwärmte geradezu von der irrsinnigen Geschwindigkeit und konnte gar nicht genug davon bekommen. Natürlich fand Setsuna sehr schnell heraus, warum die beiden so unzertrennlich waren. Sie machte Haruka keine Vorwürfe, weil sie Seiya alles erzählt hatte, im Gegenteil, sie fand es sogar richtig, daß er endlich die Wahrheit kannte. Sie weihte auch Yaten ein, so daß jetzt alle Bescheid wußten. Und so verging die Zeit, und aus zwei Wochen wurden drei, ohne daß Haruka Michiru auch nur einmal gesehen hatte. Manchmal, wenn sie draußen auf dem Rasen lag, dann konnte sie die betörenden Klänge von Michirus Geige aus dem Nachbargarten hören, und dann schloß sie die Augen und rief sich jene Kußszene in Erinnerung, mit der alles gleichzeitig begonnen und geendet hatte. Und in solchen Augenblicken spürte sie sehr deutlich, wie sehr sie Michiru vermißte. Aber unverhofft kommt manchmal eben oft, wie schon das Sprichwort sagt, und so war es auch. An einem der Tage, wo Haruka weder in Kameda´s Garage arbeitete, noch auf dem Rennplatz trainierte und auch keine Mangas oder Motorradzeitschriften zum Lesen hatte, langweilte sie sich furchtbar. Sie lag in ihrem Bikini auf der Luftmatratze und baumelte mit den Beinen im kühlen Wasser. Three Lights trafen sich heute mit ihrem Manager in der Stadt und Setsuna war irgendwo eingeladen. Selbst Mrs. Tenô war nicht da; sie war zu einer Poolparty eingeladen worden und hatte Fiffi mitgenommen. Schließlich hielt Haruka das Nichtstun nicht mehr aus. Sie sprang von der Luftmatratze ins Wasser, schwamm an den Rand und kletterte aus dem Becken. Nach dem sie sich abgetrocknet hatte, zog sie Schuhe, Hemd und Hose an, kämmte sich die kurzen Haare und entschied sich zu einem Stadtbummel. Sie wollte in das Comicgeschäft gehen, in dem sie damals mit Michiru gewesen war, und außerdem der Spielhalle einen Besuch abstatten. Sie und Seiya waren in letzter Zeit häufig dort gewesen. Seiya bewunderte Haruka wegen ihrer Fähigkeiten am Spielautomaten und wollte das unbedingt auch lernen. Haruka fuhr mit ihrem Cabriolet in die Stadt und parkte wie immer in der Nähe von Kameda´s Garage. Sie stattete Jack Kameda einen kurzen Besuch ab, blieb jedoch nicht lange, da er viel zu tun hatte. Sie ging in den Comicfachhandel und bestellte ein paar Sachen. Danach ging sie wie geplant ins Game Center. Der Rennautomat war besetzt, und sie mußte eine halbe Stunde warten, bis sie endlich dran konnte. Nach dem sie eine weitere halbe Stunde damit verbracht hatte, eine Gruppe Kids mit ihren Fahrkünsten zu verblüffen, hatte sie kein Kleingeld mehr und stand auf. „Oh, bitte bleiben Sie doch noch etwas, Mister, und erklären Sie uns, wie Sie das machen!“ bat ein Junge. Haruka fühlte sich wie immer geschmeichelt, wenn man sie für einen Mann hielt. Sie grinste, ließ sich aber nicht dazu bewegen, noch länger zu bleiben. Die Glastür schwang auf und sie trat auf die Straße – und blieb stehen. Kaum ein paar Zentimeter von ihr entfernt stand Michiru. Michiru trug einen langen grauen Rock, ein blauweiß gestreiftes Top und hatte sich eine hauchdünne rosa Bluse lässig um ihre Schultern geworfen. Sie sah Haruka an und sagte kein Wort. Haruka erwiderte ihren Blick und brachte ebenfalls keinen Ton heraus. Wer weiß, wie lange sie so hier gestanden hätten, wenn nicht eine dritte Person um die Ecke gebogen wäre. Nein, eigentlich waren es zwei Personen. Der junge Mann trug einen Anzug und schien aus recht wohlhabenden Verhältnissen zu stammen. Die junge Frau, die seinen Arm umklammert hielt und verliebt zu ihm aufsah, trug ein violettes Sommerkleid und golden glänzende Sandalen mit Pfennigabsätzen. Sie war stark geschminkt. Ihre dunkelblauen Augen funkelten, und das Sonnenlicht spiegelte sich in der silbernen Haarspange, die die schokoladenbraunen langen Locken zusammenhielt. Es war Nerissa mit ihrer neuen großen Liebe. Verdammter Mist, dachte Haruka. Nicht auch noch das! Michiru hatte sich umgedreht. Sie starrte Nerissa an und war ganz blaß geworden. Ob sie ahnte, daß Nerissa in den jungen Mann an ihrer Seite verliebt war? Nerissa und ihr Begleiter hatten Michiru und Haruka noch nicht bemerkt. Nerissa schlenkerte eine Plastiktüte, die den Aufdruck einer teuren Boutique trug. „Ich danke dir, Tsubasa“, rief sie und umarmte ihn überschwenglich. „Dieses Kleid ist wirklich himmlisch, einfach traumhaft schön!“ „Es wird dir ausgezeichnet stehen, mein Schatz“, sagte der junge Mann galant. „Du wirst der Star sein auf der Party heute abend.“ „Nun“, lächelte Nerissa und stellte sich auf Zehenspitzen, um ihm einen kurzen Kuß auf den Mund zu geben, „schließlich wird die Party auch mir zu Ehren gegeben.“ „Natürlich“, erwiderte er. „Ich möchte doch allen meine reizende und bezaubernde Verlobte vorstellen! Du kannst dir sicher sein, daß ich keine Kosten und Mühen gescheut habe, um die Party zu einem unvergeßlichen Ereignis für alle zu machen, und ganz besonders natürlich für dich, Neri, Liebes.“ „Tsubasa!“ flüsterte Nerissa und errötete. Michiru war richtig weiß im Gesicht geworden. Haruka trat neben sie für den Fall, daß sie ohnmächtig werden würde. Aber sie wurde nicht ohnmächtig. Ihre Augen waren ganz groß, und schließlich stieß sie mit heiserer Stimme hervor: „Ne... Nerissa...!!“ Nerissa wandte sich um. Ihre Augen strahlten vor lauter Glück. Als sie jedoch Michiru erkannte, wurde auch sie blaß und alles Strahlen wich aus ihrem Gesicht. Sie ließ die Tüte fallen und wich zurück. „Michiru!“ keuchte sie erschrocken. Michiru war sehr blaß. „Das... war es also“, murmelte sie so leise, daß Haruka Mühe hatte, sie zu verstehen. „Ja, jetzt... weißt du’s“, sagte Nerissa kleinlaut. Nerissas Begleiter sah verwundert von einem zum anderem. Schließlich räusperte er sich. „Neri, Schatz, willst du mir deine reizende Freundin nicht vorstellen?“ fragte er. „Ähem, ja, natürlich“, murmelte Nerissa und wurde rot. „Hm, Tsubasa, dies ist Kaiou Michiru, eine alte Freundin von mir. Michiru, das ist Tsubasa Mayako – mein Verlobter.“ Einfühlsamer geht’s wohl nicht, dachte Haruka, als sie bemerkte, wie Michiru bei diesen Worten zusammengezuckt war. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Kaiou“, lächelte Mr. Mayako und streckte Michiru die Hand hin. „Sie kommen doch heute abend zu der Party, die ich Nerissa zu Ehren geben werde? Sie sind herzlich willkommen!“ Michiru wich zurück. „I... ich... also, ich... ich glaube nicht, daß...“, stammelte sie hilflos. „Sie kommen doch, nicht wahr?“ Mr. Mayako ließ nicht locker. „Es würde mir eine Ehre sein, Sie willkommen heißen zu dürfen, Miss Kaiou.“ Michiru brachte keinen Ton heraus. Sie tat Haruka leid. So trat sie mit soviel Ruhe, wie sie aufbringen konnte, neben sie und meinte: „Das wird leider nicht möglich sein, Mr. Mayako, aber Michiru hat heute abend schon etwas anderes vor. Nicht wahr, Michiru?“ „Oh, ja!“ sagte Michiru erleichtert und warf ihr einen dankbaren Blick zu. Nerissa rümpfte die Nase, während Mr. Mayako erstaunt fragte: „Und wer ist dieser junge Mann? Möchtest du ihn mir nicht vorstellen, Nerissa, Liebling?“ Haruka konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, während Nerissa mit einem bissigen Unterton in der Stimme sagte: „Dies ist Miss Tenô Haruka, eine Bekannte aus der Schule.“ Mr. Mayako wurde rot und machte eine hastige Verbeugung. „Oh, Verzeihung, entschuldigen Sie bitte, Miss Tenô! Ich bin sicher, Sie halten mich für sehr ungehobelt! Ich weiß auch nicht, wie ich eine reizende junge Dame wie Sie mit einem Mann verwechseln konnte! Das ist mir wirklich unerklärlich! Bitte verzeihen Sie meine Unbedarftheit!“ „Wieso, war doch ne nette Abwechslung“, antwortete Haruka. Verwirrt sah Mr. Mayako sie an. „Du mußt wissen, Schatz, Miss Tenô ist nicht gerade berühmt für ihre guten Manieren“, erklärte Nerissa säuerlich. „Da, wo sie herkommt, scheint es so etwas wie Anstand nicht zu geben.“ Haruka hatte auf einmal große Lust, sie zu verprügeln. Überraschenderweise ergriff Michiru nun das Wort. „Schließ nicht immer von dir auf andere, Nerissa“, erklärte sie kühl. Nerissa starrte sie an und wurde blaß. Mr. Mayako hatte nichts mitbekommen. Er sah Haruka nachdenklich an. „Merkwürdig, Miss, aber ich glaube, ich kenne Sie irgendwo her. Nerissa, wie sagtest du, heißt sie?“ „Tenô Haruka“, knurrte Nerissa. „Tenô Ha... aber natürlich, Sie sind die bekannte Rennfahrerin!“ Mr. Mayako war auf einmal sehr aufgeregt. „Welch eine Ehre, Sie kennenzulernen! Nicht wahr, Sie kommen doch zu meiner Party, oder?“ Haruka hob eine Augenbraue. „Ich bin sicher, daß Miss Nerissa sehr erfreut wäre, wenn ich käme...“ Nerissa starrte sie entsetzt an. „... aber ich habe schon etwas anderes vor.“ Mr. Mayako sah aus, als täte ihm das ehrlich leid. „Aber ich bitte Sie, können Sie das nicht verschieben? Sie wären Ehrengast auf meiner Party, Miss Tenô!“ „Welche Ehre“, spottete Haruka. Nerissa hob ihre Tüte vom Boden auf und nahm Mr. Mayakos Arm. „Tsubasa, laß uns weiter gehen“, bat sie. „Ich habe noch einen wichtigen Friseurtermin, und du wolltest mir noch diese bezaubernde Smaragdkette schenken, die ich im Auslagefenster des Juweliergeschäftes Osa.P. gesehen habe!“ „In der Tat, wir haben noch viel vor heute“, stimmte Mr. Mayako ihr zu. „Aber da fällt mir ein, ich wollte Mr. Furuhata noch zu der Party einladen. Ich werde ihn rasch aufsuchen. Vielleicht gelingt es dir ja inzwischen, deine Freundinnen doch noch zum Kommen zu überreden, Liebes.“ Er verschwand im Game Center, um mit Mr. Furuhata, dem Besitzer, zu sprechen. Peinliches Schweigen breitete sich aus. Nerissa umklammerte den Henkel ihrer Tüte. Ohne Mr. Mayako an ihrer Seite war sie nicht länger die selbstsichere Lady, die sie die ganze Zeit über gemimt hatte. Es war Michiru, die das Schweigen brach. „Nerissa... warum...?“ fragte sie tonlos. Nerissa zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich... ich... ich habe mich in ihn verliebt. Einfach so. Mein Gott, ich kann doch nichts dafür!“ „Und zu mir sagst du, es wäre ein anderes Mädchen“, sagte Michiru vorwurfsvoll. Ihre Stimme zitterte noch immer leicht. Nerissa lehnte sich gegen die Straßenabsperrung. „Ich wollt dir nicht noch mehr weh tun, Michie“, versuchte sie zu erklären. Dann blitzten ihre Augen auf, sie deutete auf Haruka und meinte: „Aber sie wußte Bescheid!“ Das war volle Absicht! Diese falsche Schlange, dachte Haruka grimmig. Wenn Blicke töten könnten, wäre Nerissa wohl auf der Stelle tot umgefallen. So aber blieb sie stehen und blickte Haruka hochmütig und triumphierend an. Michiru fuhr herum und starrte Haruka an. „Du hast was!?“ stieß sie hervor. „Ich habe es gewußt, ja“, gestand Haruka. Sie sah Nerissa an. „Aber vielleicht solltest du auch erwähnen, daß ich dir versprechen mußte, nichts zu verraten.“ „Ach nein?“ lächelte Nerissa. „Du warst es doch, die mir geraten hat, es Michiru nicht zu erzählen.“ „Das ist...“, fing Haruka wütend an, als Michiru sie ärgerlich unterbrach. „Ach, wißt ihr was?“ schrie sie mit funkelnden Augen. „Ihr könnt mich beide mal!“ Sie fing an zu weinen und stürzte die Straße entlang davon. „Michiru!“ schrie Nerissa bestürzt. „Komm zurück! Michie, bitte! Michiru!“ Haruka warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. „Gut gemacht!“ fauchte sie, drehte sich um und rannte hinter Michiru her. Wenn sie sie jetzt nicht aufhielt und mit ihr sprach, war es wohl für immer zu spät. Haruka war eine schnellere Läuferin wie Michiru, und obwohl diese einen guten Vorsprung hatte, schaffte sie es, sie am Ende der Straße einzuholen. Sie hielt sie am Arm fest. „Warte!“ keuchte sie atemlos. „Laß dir erklären...“ Michiru wandte sich jäh um. Auf ihrem verheulten Gesicht spiegelte sich blinde Wut. „Ach, du!“ fauchte sie. „Hau doch ab! Ich dachte immer, du bist etwas besonderes, Tenô Haruka! Ich dachte, du bist anders als die anderen! Aber ich hab mich getäuscht! Du bist genauso wie jeder andere!“ Haruka sah ihr direkt in die Augen. „Ach ja? Wenn du das glaubst, wenn du wirklich denkst, ich hätte dir mit Absicht weh getan, dann kann ich ja gehen. Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen, Kaiou Michiru.“ Michiru bemühte sich sichtlich, ruhig zu bleiben. „Dann sag mir, wie es wirklich war, Haruka“, verlangte sie. Sie bogen auf den Parkplatz ab und lehnten sich gegen Harukas Cabriolet. Haruka erzählte, wie ihr Nerissa damals alles gesagt hatte. „Ich dachte, es sei besser so“, versuchte sie zu erklären. „Du warst damals so fertig, als Nerissa dich verlassen hatte. Ich hatte Angst, daß alles nur noch schlimmer werden würde, wenn du erfahren würdest, daß sie dich wegen eines Mannes verlassen hat.“ Michiru zuckte die Schultern. „Möglich“, erklärte sie kurz angebunden. „Aber ich hatte ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.“ „Ja, aber es ist nicht meine Aufgabe gewesen, dir das zu sagen“, meinte Haruka. „Wenn dir jemand die Wahrheit hätte sagen müssen, dann Nerissa.“ „So?“ fragte Michiru spitz. „Das ist ja ganz was Neues! Sonst nimmst du es damit ja auch nicht so genau!“ „Was meinst du?“ „Ich sage nur: Seiya.“ Haruka seufzte. Das hätte sie sich eigentlich denken können. „Ach nee“, fragte sie nur, „und woher weißt du das schon wieder?“ „Man bekommt so einiges mit“, erwiderte sie nur. Aber es klang nicht, als wäre sie wirklich böse. Vielleicht war sie ja sogar ganz froh, daß Seiya endlich die Wahrheit kannte. „Übrigens, Haruka“, fuhr sie nun fort, „danke, daß du mir vorhin geholfen hast. Du weißt schon, als Mr. Schleimi mich auf seine Party einladen wollte.“ Haruka lachte laut heraus. „Mr. Schleimi! Das paßt!“ grinste sie. „Dir übrigens auch vielen Dank.“ „Du meinst, weil ich dich verteidigt habe, als Nerissa so gemeine Sachen gesagt hat?“ Michiru lächelte und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Ich glaube, ich war es dir einfach schuldig.“ „Du bist mir überhaupt nichts schuldig“, widersprach Haruka. Sie deutete auf das Cabriolet. „Wie ist es? Kann ich dich nach Hause fahren?“ Michiru lächelte. „Ich weiß nicht, ob du das kannst“, sagte sie. „Aber du darfst.“ „Mit dem allergrößten Vergnügen“, erwiderte Haruka und öffnete ihr galant die Wagentür. Weniger später fuhren sie über den Highway in Richtung Stadtrand. Haruka lehnte sich auf ihrem Sitz zurück. Seiya und Setsuna haben recht, dachte sie, ich muß um Michirus Liebe kämpfen! Kapitel 27: Das Festival ------------------------ „Stadtfestival?“ fragte Haruka und sah von der Zeitung auf. Sie saß auf der Hollywoodschaukel im Wintergarten der Kaious und blickte Michiru verständnislos an. „Und was soll das sein?“ Michiru setzte sich neben sie. „Hast du nicht gelesen? Dieses Festival findet jedes Jahr am 4. Juli statt. Das ist doch der Tag, an dem wir Tanabata feiern – das Sternenfest!“ „Ja, das hab ich vergessen“, erinnerte sich Haruka. „Im Internat haben wir selten irgendwelche Feiertage gefeiert, weißt du.“ „Du wirst sehen, das ist ein großartiges Fest“, versicherte Michiru. „Laß uns zusammen hingehen, ja?“ Zweifelnd sah Haruka an sich hinunter. Sie trug ein weißes Hemd, eine kurze Jeans und eine ärmellose Jeansweste. „Na ja“, meinte sie, „schau dir mal an, wie ich aussehe. So kann ich mich unmöglich auf dem Sternenfest sehen lassen.“ „Keine Frage, du brauchst ein schickes Kleid“, stimmte Michiru zu. „Und ich auch. So kann ich auf gar keinen Fall gehen!“ Sie betrachtete ihren langen weißen Rock und die ärmellose Jeansbluse und nickte energisch. Haruka grinste. Sie hatte so den Verdacht, daß es Michiru gar nicht darum ging, ein passendes Festkleid für Tanabata zu finden – sie wollte lediglich einkaufen gehen. „Wir werden gleich morgen in die Stadt fahren“, entschied Michiru. „Du wirst sehen, es wird Spaß machen, nach einem passenden Kleid zu suchen! Wir könnten in die neue Boutique gehen, die in der Nähe vom Game Center aufgemacht hat.“ Haruka lachte. „Du bist durchschaut“, sagte sie. „Du willst mich zum Einkaufen locken, in dem du erwähnst, daß die Boutique bei der Spielhalle in der Nähe ist. Was für ein fieser Trick! Du weißt genau, ich hasse einkaufen – aber einer Runde Autorennen im Game Center kann ich einfach nicht widerstehen!“ „Ich weiß“, schmunzelte Michiru. Sie griff nach der Zeitung. „Aber das Beste weißt du ja noch gar nicht, Haruka. Three Lights treten auf dem Festival auf!“ „Three Lights?“ wunderte sich Haruka. „Ich dachte, die wären hier, um sich mal so richtig zu erholen. Sagt Seiya jedenfalls.“ „Stars haben niemals Ferien“, erklärte Michiru gewichtig. „Weißt du, sie wollen ihren neuen Song spielen. Das wird bestimmt absolut genial! Wenn Three Lights auftreten, ist immer tolle Stimmung. Außerdem hat Taiki uns Freikarten besorgt.“ Haruka nickte und lächelte. Seit dem Vorfall mit Nerissa neulich in der Stadt sahen sich die beiden wieder etwas öfter, und daß Michiru sie jetzt gebeten hatte, mit ihr auf das Festival zu gehen, wertete sie als gutes Zeichen. „Setsuna kommt auch mit“, berichtete Michiru. „Wir werden uns das Konzert gemeinsam ansehen. Ich freu mich schon so!“ Ihre Augen leuchteten. Haruka faltete die Zeitung zusammen. „In Ordnung, ich komme mit“, sagte sie. „Hoffentlich versucht meine Tante mir nicht eines ihrer scheußlichen Kleider anzudrehen. Ich verlaß mich nämlich lieber auf deinen guten Geschmack.“ „Das hört man gern“, lächelte Michiru. Sie stand auf. „Aber jetzt laß uns erst mal eine Runde schwimmen, ja? Es ist so heiß, ich glaube, ich vergehe! Jetzt weiß ich, wie sich ein Eis am Stiel fühlen muß!“ „Na, bestimmt nicht so schlimm wie ich mich fühle! Alles klebt an mir!“ „Dann kommt dir ein erfrischendes Bad doch gerade recht, nicht?“ „Wie wahr!“ Michiru verschwand in der Umkleidekabine, während Haruka hinüber zum Haus ihrer Tante ging, um sich dort umzuziehen. Als sie durch den Garten der Kaious schlenderte, kam ihr Michirus Mutter entgegen. „Hallo, Miss Tenô“, grüßte sie. „Schön, Sie zu sehen.“ „Guten Morgen, Mrs. Kaiou!“ Mrs. Kaiou lächelte. „Ich bin froh, daß es meiner Tochter wieder besser geht“, sagte sie. „Und ich glaube, das ist zum größten Teil Ihr Verdienst, meine Liebe.“ Haruka wurde rot. Wenn sie ehrlich war, hatte sie darüber noch nie so richtig nachgedacht. Ja, sie hatte sich sogar oft gesagt, daß sie schuld an allem sei. Vielleicht sollte sie einfach mal damit aufhören, die Schuld immer nur bei sich selbst zu suchen? Mrs. Kaiou nickte heftig, als sie Harukas Ungläubigkeit bemerkte. „Doch, doch, Miss Tenô, das ist schon wahr. Seit Michie mit Ihnen befreundet ist, hat sie sich sehr zu ihrem Vorteil verändert. Sie ist nicht länger das verschlossene, immer perfekte Mädchen, sondern eine lebenslustige, sympathische junge Frau. Darüber freue ich mich sehr. Michiru hat immer eine gnadenlose Selbstkontrolle auf sich selber ausgeübt, und sie hat es gehaßt, Schwächen zu zeigen und Fehler zuzugeben. Aber ich glaube, Sie kennen sie gut genug, um zu wissen, wie sehr sie sich verändert hat.“ Nachdenklich ging Haruka nach Hause. Während sie in ihrem Kleiderschrank nach ihrem Badeanzug suchte, gingen ihr unentwegt Mrs. Kaious Worte durch den Kopf. Ja, es stimmte – Michiru hatte sich verändert. Und es war durchaus möglich, daß dies auch ein klein wenig ihr Verdienst war. Aber was war mit ihr selbst? Hatte sie sich auch verändert? Schön, es war vielleicht eine Veränderung zu merken, daß man sich in ein Mädchen verliebt hatte, wenn man zuvor ständig was mit Jungs gehabt hatte. Aber wie stand es mit den inneren Veränderungen? Bedeuteten ihr Liebe und Freundschaft jetzt nicht viel mehr als früher? Ja, und hatte sie nicht auch plötzlich so viele Freunde – Michiru, Setsuna, Seiya, Yaten und Taiki? War sie etwa gar nicht mehr die kühle und unnahbare Einzelgängerin, die sie im Internat gewesen war und die niemanden an sich heranließ? Und war sie nicht viel glücklicher als früher? „Ja“, sagte sie zu sich selbst, während sie ihren Badeanzug anzog, „ich habe mich auch verändert.“ Der Tag des großen Festivals rückte näher und näher. Haruka, die Tanabata nur vom Hörensagen kannte, mußte sich eingestehen, daß sie etwas aufgeregt war. Sie freute sich auch auf den Auftritt von Three Lights. Gemeinsam mit Michiru und Setsuna, die für sie so etwas wie eine ältere Schwester geworden war, war sie einkaufen und hinterher noch im Game Center gewesen. Überrascht hatte sie festgestellt, daß Setsuna eine Spezialistin an den Spielautomaten war – wenn sie auch beim Autorennen nicht gegen Haruka ankam. Sie hatten sich alle drei ähnliche Festkleider gekauft und jede Menge Spaß gehabt. Und schließlich und endlich war es dann soweit: Tanabata stand vor der Tür und damit das berühmte Tokioer Stadtfestival. Sie hatten abgemacht, daß sie alle zusammen in Harukas Cabriolet hinfahren wollten. Three Lights waren natürlich früher aufgebrochen, da sie noch allerlei vorzubereiten hatten. Haruka kam sich etwas fremd vor in ihrem langen, weit ausgeschnittenen leuchtend blauen Kleid mit den Spaghetti-Trägern. Um den Hals trug sie eine goldene Kette, an der ein Bernstein baumelte. Setsuna hatte darauf bestanden, ihr ein passendes blaues Band in die Haare zu stecken, so daß es jetzt aussah, als habe Haruka die Haare aufgesteckt. Sie wirkte sehr weiblich heute, und dieses figurbetonte Kleid stand ihr ausgezeichnet. Selbst Mrs. Tenô konnte einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken. Michiru trug ihre langen Locken offen. Sie hatte ebenfalls eine goldene Halskette an, jedoch nicht mit einem Bernstein, sondern mit einem schillernden Aquamarin. Sie trug ein ähnliches Kleid wie Haruka, nur war es ein wenig anders geschnitten und der lange Rock leicht gewellt. Auch Setsuna trug ihr Haar offen. Die doppelreihigen Spaghetti-Träger ihres dunkelblauen Kleides waren mit goldenen Verschlüssen verziert. Um den Hals hatte sie ein dunkelblaues Band mit einem dunkelroten Turmalin daran. Sie trug elegante dunkelblaue Handschuhe, die ihr bis an die Ellbogen reichten. „Ihr seht alle drei bezaubernd aus, meine Damen“, sagte Mr. Kaiou. Michirus Eltern und Setsunas Eltern wollten zusammen mit Mrs. Tenô ebenfalls zum Festival gehen. „Danke, Dad“, lächelte Michiru. „Ich glaube nur, Ruka fühlt sich nicht besonders wohl in dem Kleid, was?“ Sie zwinkerte ihr zu. Haruka grinste. „Nein, eher nicht“, mußte sie zugeben. „Laß es dir bloß nicht einfallen, noch schnell einen Anzug anzuziehen!“ drohte Mrs. Tenô. Sie hatte einen eleganten Kimono an und führte Fiffi an der Leine. Setsuna lachte. „Nur keine Sorge, Mrs. Tenô, wir passen schon auf!“ rief sie. Sie stiegen in den Wagen und fuhren in die Stadt. Das Fest sollte am Hikawa Shinja stattfinden. Am Sendai Saka parkten schon jede Menge Wagen, darunter auch der Tourbus von Three Lights. „Taiki ist nirgendwo zu sehen“, bemerkte Setsuna, als sie ausstiegen. „Schade! Ich hätte ihm gern alles Gute gewünscht!“ Eine lange Steintreppe führte zum Tempel hinauf. Oben saßen auf einem steinernen Torbogen zwei schwarze Krähen. Ein Schild wies darauf hin, daß sie sich auf dem Gebiet des Hikawa Shinja befanden. „Diese beiden Krähen sind Phobos und Deimos“, erklärte Setsuna flüsternd. „Sie gehören Hino Rei, der Enkelin des Tempelpriesters. Man sagt ihr nach, daß sie magische Kräfte habe. Das Heilige Feuer verleiht ihr die Kraft, in die Zukunft zu sehen.“ „So ein Unsinn“, meinte Haruka verächtlich. Setsuna lachte. „Nun, ich würde nicht gerade sagen, daß es Unsinn ist. Etwas ist immer dran... überall... seht ihr, das ist sie!“ Haruka und Michiru erblickten ein großes, schlankes Mädchen, höchstens ein Jahr jünger als sie selbst. Sie trug die Kleidung einer angehenden Mika-Priesterin. Ihre dunklen Augen blitzten und mit einer herrischen Geste warf sie ihr langes, tiefschwarzes Haar in den Nacken. Sie sprach mit einem älteren Herrn, offenbar dem Tempelpriester. „Sie sieht unheimlich aus“, bemerkte Michiru leise. Haruka lachte. „Ich weiß nicht, was an ihr unheimlich sein soll! Sie ist doch ein hübsches Mädchen.“ „So? Ist sie das?“ fragte Michiru nur, und in dem Blick, den sie Haruka zuwarf, lag ein nicht zu deutender Ausdruck. Mitten auf dem riesigen, mit weißen Steinplatten ausgelegten Hof war eine Bühne aufgebaut, auf der ein Keyboard und ein Schlagzeug standen. Weiter vorne stand ein Mikro. „Da werden Three Lights spielen, schaut!“ rief eine helle Mädchenstimme, und ein mittelgroßes junges Mädchen mit großen, dunkelblauen Augen und langen, goldblonden Zöpfen stürzte zur Bühne. „Yaten!“ seufzte ein anderes Mädchen. Sie hatte langes, blondes Haar, das mit einer roten Schleife zusammengehalten wurde und hellblaue Augen. „Taiki“, fiel ein großes, kräftiges Mädchen mit blitzenden smaragdgrünen Augen und schokoladenbraunen Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz aufgesteckt hatte, ein. Michiru kicherte. „Na, Poo, ich wußte gar nicht, daß du eine so gutaussehende Konkurrentin hast“, spottete sie. „Laß den Unsinn!“ murmelte Setsuna. „Taiki spielt prima Schlagzeug, nicht wahr?“ fragte ein mittelgroßes Mädchen mit großen blauen Augen und kurzen, blauschwarzen Haaren. „Ich mag ihn sehr gern.“ „Aber Ami – was wird denn Ryo dazu sagen?“ lachte die mit den blonden Zöpfen. Ihre Freundin errötete. „Usagi, was du schon wieder denkst“, murmelte sie. Michiru lachte. „Noch eine Konkurrentin, was?“ stichelte sie. Setsuna mußte auch lachen. „Aber keine ernstzunehmende, glaube ich. Weißt du denn nicht, wer das ist? Das ist Mizuno Ami, die beste Schülerin des Landes! Sie bekommt jedes Jahr die besten Zeugnisse im Land. Sie lernt in jeder freien Minute und hat eine Menge Privatkurse belegt.“ „Das ist Mizuno Ami?“ wunderte sich Haruka. Sie hatte schon viel von Ami gehört, man nannte sie allgemein „Das Genie“. „Natürlich“, nickte Setsuna. „Ich kenne ihre Mutter, Dr. Mizuno, recht gut.“ „Dr. Mizuno?“ „Ruka, sag bloß, du weißt nicht, daß Amis Mutter die bekannte Dr. Mizuno ist? Ihre Eltern sind geschieden, und Ami lebt mit ihrer Mutter zusammen. Sie geht auf das Jyuban College.“ Michiru sah Ami neugierig an. „Sie sieht gar nicht so aus wie eine Streberin, nicht wahr?“ meinte sie. „Ami lernt nicht um der Noten Willen, sondern wegen ihrer Zukunft“, erklärte Setsuna. „So kann man´s auch nennen“, spottete Haruka. Setsuna deutete auf das Mädchen mit der roten Schleife. „Und das ist Aino Minako, die beste Volleyballspielerin des Jyuban Colleges. Früher war sie sogar noch besser, aber dann ist sie für ein Jahr nach England gegangen und hat das Volleyballspielen für eine Weile aufgegeben. Und die mit dem Pferdeschwanz ist Kino Makoto. Ich kenne ihren Ex-Freund. Makoto ist eine hervorragende Köchin und Basketballspielerin. Und eine tolle Eiskunstläuferin! Und die mit den Zöpfen ist Tsukino Usagi. Sie ist die schlechteste Schülerin des Jyuban Colleges und sie...“ Haruka unterbrach sie. „Woher weißt du das alles? Kennst du hier eigentlich jeden oder was?“ „Setsunas Vater ist der Direktor des Jyuban Colleges und der Jyuban Junior High“, erklärte Michiru lachend. Kino Makoto hatte Setsuna zwischen entdeckt, und die Mädchen kamen auf sie zu. Hino Rei hatte sich ihnen angeschlossen. Haruka fiel auf, daß sie alle die Tempelkleidung trugen, genau wie Rei. „Hallo, Setsuna“, rief Makoto, und auch die anderen grüßten. „Schaut ihr euch auch Three Lights an?“ fragte Minako. „Ach, ich freu mich schon darauf, Yaten auf der Bühne zu sehen!“ „Wißt ihr, ob Seiya eine Freundin hat?“ erkundigte sich Usagi. Rei verdrehte die Augen. „Kümmer du dich lieber um deinen Mamoru!“ zischte sie. Setsuna, Michiru und Haruka lachten. „Darf ich euch meine Freundinnen vorstellen? Kaiou Michiru und Tenô Haruka“, stellte Setsuna vor. Makoto starrte Michiru an. „Sag nicht, du bist die Schwester von Taiki!?!?“ schrie sie. Michiru wurde rot und nickte. Sofort war sie umringt von den aufgeregten Mädchen, die ihr alle möglichen Fragen stellen. „Sind das alles Priesterinnen?“ erkundigte sich Haruka. Setsuna schüttelte den Kopf. „Nein, sie helfen Rei nur im Tempel.“ Michiru kam zu ihnen, nach dem sie die Mädchen losgeworden war. „Das ist ja grauenvoll! Ich wünschte, mein Bruder hätte einen anderen Beruf!“ „Danke, daß du nicht gesagt hast, daß ich Taikis Freundin bin“, sagte Setsuna erleichtert. „Ich hasse es, wenn sie sich alle auf einen stürzen und ihre Fragen loswerden wollen.“ Inzwischen war es auf dem Platz um die Bühne herum voll geworden. Haruka konnte ihre Tante und die Eltern von Setsuna und Michiru sehen und auch ein paar Bekannte aus der Schule. „Oh nein, da ist Dr. Tomoe“, murmelte sie. Dr. Tomoe hatte Mrs. Tenô entdeckt und sprach sie an. Michiru und Setsuna feixten, während Haruka die Augen verdrehte. Sie konnte sich gut vorstellen, was Dr. Tomoe ihrer Tante gerade erzählte. Mizuno Ami trat zu ihnen, zusammen mit einer jungen Frau, die wohl ihre Mutter, Dr. Mizuno, war. Die beiden fingen ein Gespräch mit Setsuna an. Haruka sah sich um. Sie hatte noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen. Es herrschte ein toller Lärm. Die Mädchen von vorhin gingen von einem zum anderen und verkaufen Glücksbändchen und andere Talismane. Haruka erkannte Mrs. Ishigama, die sich mit dem Tempelpriester unterhielt. Ich muß aufpassen, daß ich ihr nicht über den Weg laufe, nahm sie sich vor. Plötzlich fiel ihr auf, daß Michiru schon seit einer Weile nichts mehr sagte. Sie drehte sich nach ihr um. Michiru war etwas blaß um die Nasenspitze und blickte in eine bestimmte Richtung. Haruka folgte ihrem Blick. In der Tür zum Tempelraum standen Nerissa und Mayako Tsubasa. Er hatte den Arm um sie gelegt, und sie lächelte ihn glücklich verliebt an. Wortlos trat Haruka näher an Michiru heran und legte ihr den Arm um die Schultern. Michiru sah auf. Sie hatte Tränen in den Augen. „Tut immer noch weh, was?“ fragte Haruka mitfühlend. Michiru lächelte und blinzelte unter Tränen. „Es geht schon wieder“, versicherte sie. „Komm, laß uns irgendwo anders hingehen, wo ich sie nicht immer ansehen muß.“ Sie stellten sich in den Schatten eines alten Baumes und beobachteten das bunte Treiben auf dem Tempelhof. Wenig später stieß auch Setsuna wieder zu ihnen. „Es geht gleich los“, verkündete sie. Haruka stellte fest, daß es inzwischen ziemlich dunkel geworden war. Sie wußte, daß das Fest um Mitternacht mit einem Feuerwerk beendet werden sollte. Hino Rei betrat die Bühne. Sie lächelte. „Verehrte Gäste“, sagte sie, „mein Name ist Hino Rei, aber Sie dürfen mich Rei nennen...“ „Das sagt sie doch jedes Mal“, murmelte Setsuna und kicherte. „Ich habe heute die Ehre, Ihnen eine Gruppe anzukündigen, die es auf den ersten Platz der internationalen Charts geschafft hat! Jeder kennt sie, und jeder liebt sie! Begrüßen Sie mit mir SEIYA, YATEN und TAIKI von den weltbekannten THREE LIGHTS!!!“ Tosender Applaus beendete ihre Ansprache, und Rei sprang von der Bühne. Die Fans jubelten und riefen die Namen der drei Stars. Seiya, Yaten und Taiki betraten die Bühne. Sie hatten sich sehr fein gemacht für den heutigen Anlaß. Taiki nickte kurz in die Richtung der Fans, sah sich suchend um und schenkte Setsuna dann ein strahlendes Lächeln, das sie ebenso strahlend erwiderte. Dann setzte er sich an sein Schlagzeug. Yaten winkte seinen Fans kurz zu und nahm dann am Keyboard Platz. Seiya trat ans Mikro. „Mr. Obermacho in Aktion“, flüsterte Setsuna und zwinkerte Haruka und Michiru vielsagend zu. „Seiya! Yaten! Taiki!“ grölten die Fans und winkten und schrien. „Hallo, Fans!“ rief Seiya gutgelaunt ins Mikro. „Ich freue mich, daß so viele von euch gekommen sind, um uns singen zu hören. Das ist eine große Ehre für uns! Und wir danken auch dir, Rei, für deine schöne Ansprache... tja, also, was soll ich noch sagen? Wir Three Lights haben heute die Ehre, unseren neuen Song vorzustellen. Er heißt Nagareboshie – Search for your love.“ Erneut brach tosender Applaus los, der erst endete, als Yaten auf dem Keyboard anfing, die ersten Takte zu spielen. Seiya fing an zu singen: „Du hast schon immer gefunkelt. Ein Lächeln von dir ist wie ein kleiner Stern, der mir so lieb geworden ist – eternal Starlight. Ich erdulde es still. Doch der Schmerz bleibt, kann Dich nicht vergessen, Sweetheart. Search for your love, den himmlischen Kristall. Search for your love, verzage nicht. Search for your love, mit ganzem Herzen möchte ich Dich in meinen Armen halten. Deinen Duft, immer habe ich ihn gesucht. Hör meine Stimme, wie sie nach Dir ruft: „Ich liebe dich!“ Wo magst Du jetzt sein, Moonlight Princess? Meine Princess, antworte mir! Schon bald! Answer for me! Answer for me! Antworte mir! Answer for me! In Deiner Zärtlichkeit, answer for me! Den fernen Nachthimmel durchschreitend wünsche ich mir von einer Sternschnuppe: Flüstere „Ich will bei dir sein“. Sag es ihr, Starlight! Mit der Zeit werden wir erwachsen werden. Das habe ich nun endlich begriffen. Diese Splitter reichen mir nicht. Bleib bei mir, Sweetheart! Search for your love im silbernen Ozean! Search for your love im driftenden Schiff! Search for your love! In all diesem Wahnsinn werde ich zu Dir treiben! Deinen Duft, immer habe ich ihn gesucht! Hör meine Stimme, wie sie nach Dir ruft: „Ich liebe dich!“ Wo magst Du jetzt sein, Moonlight Princess? Meine Princess, antworte mir! Answer for me! Schon bald! Answer for me! Antworte mir! Answer for me! In Deiner Zärtlichkeit! Answer for me!“ Als Seiya geendet hatte, herrschte einen Monat lang Totenstille auf dem Platz vor dem Hikawa Shinja. Dann fingen die Leute an zu klatschen und zu schreien, und der Applaus wurde lauter und lauter. Three Lights traten an den Rand der Bühne und verbeugten sich. „Das war nicht schlecht“, sagte Haruka. „Gib es zu, du fandest es bezaubernd und wunderschön, genau wie ich auch!“ lachte Michiru. „Ich habe dein verzücktes Gesicht gesehen, als du zugehört hast.“ „Okay“, lachte Haruka, „es war auch schön!“ „Du wirst ja noch ein richtiger Fan von Three Lights“, neckte Setsuna sie. Nun ergriff Taiki das Mikro. „Liebe Fans, vielen Dank für den donnernden Applaus! Ich freue mich, daß unser neuer Song einen solchen Anklang bei euch gefunden hat. Doch nun möchte ich mich bei der jungen Dame bedanken, die diesen Text für uns geschrieben hat – Meio Setsuna!“ Alle, die Setsuna kannten, starrten in ihre Richtung. Setsuna lief rot an. „Setsuna!“ riefen Haruka und Michiru im Chor. Setsuna lachte verlegen. „Ja, der Text ist von mir, aber daß Taiki das so laut herumposaunt war wirklich nicht nötig!“ „Weiterhin möchten wir uns noch bei unserem Manager Kazuo Ootani bedanken und bei Kisaburou Suzuki, die den Song zusammen mit Yaten komponiert hat.“ „Zugabe!“ schrien die Fans und klatschten. „Zugabe!“ Taiki lächelte. „Na schön, wir werden noch eine Zugabe geben. Ich habe die Zeit durchquert – Toki wo Koete ist schon ein etwas älterer Song, aber ich hoffe, daß er euch ebenso gefällt wie Nagareboshie.“ Sie gingen auf ihre Plätze, Yaten stimmte auf dem Keyboard die Melodie an und Seiya fing an zu singen: „Jetzt sind wir uns endlich wieder begegnet. Ich habe die Zeit durchquert, um über deine Träume zu wachen. Sieh in dich hinein, und du wirst mich dort finden...“ Während Setsuna andächtig dem Lied lauschte, zog Michiru Haruka ein Stück beiseite. Inzwischen war es dunkel geworden, und über ihnen leuchteten die vielen hellen Sterne am dunklen Nachthimmel. Bald würde es Zeit für das Feuerwerk sein. „In solchen Augenblicken finde ich das Leben einfach wunderschön“, flüsterte Michiru ergriffen. Sie hakte sich bei Haruka ein und kuschelte sich an sie. Haruka war überrascht, aber es war ihr nicht unangenehm. Sie hatte das Gefühl, die Zeit sei stehengeblieben, als gäbe es keine Stunden, Minuten und Sekunden mehr. Sie legte den Arm um Michiru, so als wolle sie sie wärmen. „Das Leben, Michiru, ist immer wunderschön“, flüsterte sie. Und so blieben sie stehen, lauschten den Klängen von Keyboard und Schlagzeug, hörten Seiyas klangvolle Stimme und blickten hinauf in den Himmel mit den vielen Millionen unzähligen funkelnden Sternen und dem hellen, runden Mond. Kapitel 28: Abschied von Three Lights ------------------------------------- „Three Lights wollen also schon abreisen“, sagte Michiru traurig. „Davon hat mir Tai-Chan aber noch gar nichts erzählt.“ Haruka, Michiru und Setsuna standen im Garten der Meios. Es war ungefähr eine Woche nach dem Sternenfest. „Es steht erst seit ein paar Stunden fest, der Manager hat angerufen“, berichtete Setsuna. „Der neue Song hat eingeschlagen wie eine Bombe, und sie müssen die Tour nun früher als geplant antreten.“ Sie hielt inne und seufzte. „Und ich dachte, wir könnten wenigstens noch Seiyas Geburtstag zusammen feiern.“ „Seiya hat am 30. Juli Geburtstag“, sagte Michiru erklärend zu Haruka. „Wann fahren sie denn?“ erkundigte sich Haruka. Setsuna deutete wortlos auf die Straße, wo Three Lights eben dabei waren, ihre Instrumente im Tourbus zu verstauen. „Schon heute!“ rief Michiru. „Das ist wirklich schade!“ Sie gingen hinaus auf die Straße. Es war ein heißer Sommertag, und die Jungs von Three Lights trugen alle nur ihre Badehosen. Setsuna trug ein dunkelrotes Sommerkleid, Michiru ihren langen weißen Rock und die ärmellose Jeansbluse und Haruka eine kurze weiße Hose, darunter ihren Badeanzug, und über diesen hatte sie ein kurzärmliges weißes Hemd gezogen. „Na, was ist?“ lachte Seiya. „Wollt ihr uns helfen?“ „Ich glaube, unsere Stars von morgen schaffen das auch gut alleine“, lachte Michiru. Seiya stellte den Keyboardkoffer ab und wandte sich ihr zu. „Meine liebe Michiru“, sagte er und hob den Finger, „was heißt hier Stars von morgen?“ „Ach, du meinst also, ich hätte besser Stars von gestern sagen sollen, hm?“ erwiderte Michiru freundlich und tat ahnungslos. „Oder wie wär’s mit Stars von übermorgen“, kicherte Setsuna, die wußte, daß man Seiya damit zur Weißglut treiben konnte. „Wenn jetzt noch eine von euch mit Stars von vorgestern kommt, dann dreht er durch“, grinste Yaten und brachte den Keyboardkoffer in den Tourbus. Seiya runzelte die Stirn. „Meine lieben Ladies, ihr sprecht hier mit den Stars von heute! Also seid gefälligst nicht so respektlos!“ „Und du nicht so eingebildet“, konterte Michiru. „Und nicht so faul!“ fügte Taiki hinzu und drückte ihm eine Kabelrolle in die Hand. „Hier, bring die mal in den Bus!“ Murrend folgte Seiya dem Befehl. Yaten und Taiki lachten. „Er ist noch sehr kindisch“, sagte Taiki feixend. „Hast du was gesagt?“ rief Seiya aus dem Bus. Man hörte es Rumpeln. „Nein, nein“, antwortete Taiki schnell, während Yaten meinte: „Hey, demolier nicht den ganzen Bus!“ Seiya kam aus dem Bus geklettert. „Ruka, hilfst du mir mit dem Schlagzeug?“ bat er. Haruka und Seiya gingen zusammen in die Garage der Meios, wo das Schlagzeug stand. Seiya fing an, es in seine Einzelteile zu zerlegen. Haruka schlug mit der Hand auf die große Trommel. Es dumpfer, hohler Ton erklang. „Du hättest nicht sehr viel Erfolg als Schlagzeuger“, spottete Seiya. „Dir würden ja die Fans davonlaufen, wenn du solche schrägen Töne fabrizierst.“ „Ich bleib auch lieber beim Klavier“, lachte Haruka. Seiya fing an, das Becken abzuschrauben. „Wie läuft´s denn jetzt eigentlich zwischen dir und Michie?“ erkundigte er sich. Haruka lehnte sich gegen die Wand. „Keine Fortschritte“, berichtete sie. „Oder höchstens sehr geringe. Manchmal, da sind wir uns sehr nah, und dann liegen auf einmal wieder Welten zwischen uns.“ „Das kenne ich“, seufzte Seiya. „Aber du darfst nur nicht aufgeben, das klappt schon irgendwann. Es sieht ein Blinder, daß sie dich mag.“ „Ja, mag!“ murmelte Haruka. Seiya stand auf und baute sich vor ihr auf. „Tenô Haruka, du gibst doch jetzt nicht etwa auf!? So dumm kannst du doch nicht sein! Mein Gott, es muß schrecklich kompliziert sein, ein Mädchen zu sein... jetzt schau nicht so pikiert, Schätzchen, das war nur ein Witz.“ „Spar dir deine dämlichen Witze!“ brummte Haruka. Seiya grinste verheißungsvoll. „Stell dich nicht so an! Ich habe eine prima Idee, wie du sie ein wenig aushorchen kannst. Ihr mögt beide Nagareboshie, richtig? Dann hört euch den Text zusammen an und dann fragst du sie ganz beiläufig, wie eigentlich das Mädchen sein müßte, in das sie sich verliebt.“ „Wieso schlägst du nicht gleich vor, daß ich mich zurück in die Elementary School versetzen lassen“, knurrte Haruka gereizt. Seiya meinte es gut – aber seine Vorschläge waren doch recht albern. Seiya zuckte die Schultern. „Na schön, dann eben anders. Du küßt sie einfach noch mal!“ „KOU SEIYA!“ zischte Haruka genervt. „Lassen wir das Thema, okay? Im Übrigen weiß ich auch nicht, wieso du dich so dafür einsetzt, daß Michie und ich zusammenkommen, wo du doch selbst in sie verliebt bist.“ Seiya fuhr mit seiner Arbeit am Schlagzeug fort. „Nun gut“, erklärte er, „weißt du, erstens will ich, daß sie glücklich wird, und zweitens... zweitens mag ich dich verdammt gern, Ruka-Chan. Es ist mir egal, ob du ein Mädchen oder ein Junge bist, für mich bist du einfach ein guter Kumpel!“ Haruka wurde tatsächlich etwas rot. Sie grinste verlegen. „Und das hab ich ernst gemeint!“ fügte Seiya noch hinzu, und seine blauen Augen funkelten. „Danke“, brachte Haruka nur heraus. Sie fühlte sich glücklich. Ihr Leben hatte sich sehr verändert, seit sie hier her gekommen war. Sie hatte Kaiou Michiru kennengelernt und sich verliebt. Und Meio Setsuna und die Jungs von Three Lights waren ihre besten Freunde geworden. Was sie jetzt noch wollte, war, daß Michiru ihre Liebe erwiderte. Die beiden räumten das Schlagzeug zusammen und verstauten es in den dafür vorgesehenen Kisten. Dann schleppten sie sie zum Tourbus und verstauten sie darin. „Komisch eigentlich“, hörten sie draußen Yaten sagen. „Ruka und Seiya sind so unterschiedlich wie Feuer und Wasser, und trotzdem sind sie jetzt die besten Freunde. Irgendwie merkwürdig, nicht?“ Seiya und Haruka sahen sich an und gaben sich Mühe, nicht laut herauszulachen. „Ach, so unterschiedlich sind sie gar nicht“, meinte Setsuna wissend. „Glaub mir, Yaten, die beiden sind sich ähnlicher, als du denkst.“ Seiya beugte sich zu Haruka hinüber und flüsterte ihr zu: „Ich glaube, wir wissen beide, worauf sie anspielt, oder?“ „Kaiou Michiru“, stimmte Haruka zu und mußte lachen. Nachdem alles verstaut war, gingen Three Lights ins Haus, um sich umzuziehen und sich von Setsunas Eltern zu verabschieden. „Ich freue mich, daß Nagareboshie so ein großer Erfolg geworden ist“, sagte Setsuna. „Trotzdem siehst du traurig aus“, bemerkte Michiru. Setsuna lächelte. „Ich bin immer traurig, wenn ich weiß, daß ich Taiki monatelang nicht sehen werde. Aber dann freue ich mich auch wieder auf unser Wiedersehen.“ „Dann ist es für dich wohl doch nicht so toll, daß Nagareboshie bei den Fans so super angekommen ist, oder?“ fragte Haruka. Setsuna lächelte wieder und spielte gedankenverloren mit einer Haarsträhne. „Doch, Ruka, das ist es. Ich freue mich für Taiki! Was wäre ich denn für eine Freundin, wenn ich das nicht täte? Liebe heißt auch, den anderen freizugeben.“ Haruka schwieg nachdenklich. Setsuna war klug – hatte sie ihr einen Wink geben wollen, Michiru freizugeben? Sollte sie aufgeben? Setsuna schien zu ahnen, was in ihr vorging. Sie trat neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Freigeben heißt, nicht zu klammern und dem anderen seine Freiheit zu lassen“, fügte sie hinzu. Es dauerte noch ca. eine Viertelstunde, bis Three Lights, mit Koffern und Taschen beladen, zurückkamen. Taiki wollte sich noch von seinem Vater und seiner Stiefmutter verabschieden und bat Setsuna, ihn zu begleiten. „Ihr wollt wohl alleine sein, was?“ grinste Seiya, was ihm ärgerliche Blicke eintrug. „Merkst du nicht, daß du nervst?“ fragte Taiki, bevor er und Setsuna die Gruppe verließen. Seiya zuckte mit den Achseln. „Na, das war ja wohl deutlich genug“, meinte er. „Welchen großen Hit habt ihr denn vor, nach Nagareboshie zu landen?“ erkundigte sich Michiru. „Steht da schon etwas in Planung?“ Seiya lachte. „Bei uns steht immer irgend was in Planung“, erklärte er hochtrabend. „Die nächsten beiden Songs werden zwei jungen Damen gewidmet sein... Miss Tenô Haruka und Miss Kaiou Michiru!“ Überrascht und ungläubig sahen Haruka und Michiru ihn an. Yaten zuckte die Schultern. „Also, für mich ist das auch das Neuste, was ich höre? Was sollen denn das für Songs sein, Seiya?“ „Laß dich überraschen“, sagte Seiya. „Ich bin gerade dabei, sie zu komponieren. Die Texte habe ich praktisch schon. Kaze ni Naritai habe ich für Ruka geschrieben. Es soll sowas wie ihr Image Song sein.“ „Kaze ni Naritai – I want to be the wind“, übersetzte Michiru. „Nun, das klingt wirklich ganz nach Haruka. Sehr passend! Und was hast du dir für mich schönes ausgedacht? Bitte nichts ordinäres, ja?“ „Aber wofür hältst du mich!“ entrüstete sich Seiya. Michiru verdrehte die Augen. „Das sage ich besser nicht laut“, murmelte sie. „Hey, paß auf, was du sagst!“ drohte Seiya. „Okay, okay“, beschwichtigte Michiru. „Also, was hast du für mich geschrieben?“ „Unmaiwa Utsukushiku. Wie du sicher weißt, heißt das so viel wie Fate is so beautiful.“ Seiya kniff verheißungsvoll ein Auge zu. „Ich erwarte, euch bei dem Konzert zu sehen, bei dem wir die Songs das erste Mal singen werden!“ „Die mußt du zuerst mal an Taiki vorbeischmuggeln“, erinnerte Yaten. „Wie du weißt, entscheidet er, was wir singen und was nicht, zusammen mit dem Manager.“ Seiya nickte energisch. „Natürlich. Aber Taiki wird mir schon sein Okay geben, wenn er meine Meisterwerke erst mal gelesen hat!“ Haruka und Michiru sahen sich an. Haruka zuckte mit den Schultern, und Michiru grinste. Sie kannten beide Seiyas Vorliebe für Übertreibungen. Aber wenn er es wirklich schaffen sollte, daß die Songs ein Erfolg werden würden, dann wäre das natürlich schon toll... „In der Schule würden mich alle beneiden!“ seufzte Michiru. Haruka wußte, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Nerissa wird mich beneiden und sich wünschen, daß sie mich nicht wegen des Schleimis verlassen hätte... Sie nickte ihr verständnisinnig zu. Aber eifersüchtig war sie nicht. Ihr Gefühl sagte ihr, daß Miss Goku Nerissa keine ernstzunehmende Konkurrenz mehr für sie darstellte. Taiki und Setsuna kamen zurück. Nun begann das große Abschiednehmen. Hände wurden geschüttelt und man erinnerte sich an dieses und jenes. Michiru wünschte ihrem Bruder auch weiterhin so viel Erfolg und das sagte sie auch zu Seiya – er wisse schon warum. Sie spielte auf die Image Songs an. Seiya nickte und versprach, sein möglichstes zu tun. Yaten kletterte auf den Rücksitz des Wagens. Er saß eingeklemmt zwischen einem Gitarrenkoffer und einer riesigen Kiste und sah nicht besonders begeistert aus. Immerhin lagen fast fünf Stunden Fahrt vor ihnen. Taiki konnte sich kaum von Setsuna losreißen, und es dauerte eine Weile, bis er endlich auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte. Er schaltete das Radio an, aus dem prompt Nagareboshie ertönte. Nachdem Seiya sich von Haruka per Handschlag verabschiedet hatte, umarmte er Michiru liebevoll und richtete noch ein paar Worte an Setsuna. Yaten und Taiki wurden bereits ungeduldig. Seiya nickte und stieg ein. Er schlug die Tür zu und schnallte sich an. Hör meine Stimme, wie sie nach Dir ruft: „Ich liebe dich!“ Wo magst Du jetzt sein, Moonlight Princess? Meine Princess, antworte mir! Schon bald! Answer for me! Answer for me! Antworte mir! Answer for me! In Deiner Zärtlichkeit, answer for me! Taiki stellte lauter. „Ein bißchen Werbung machen, bevor wir fahren“, erklärte er lachend. „Ich warte auf den Tag, an dem ihr euer eigenes Lied nicht mehr hören könnt“, bemerkte Setsuna spöttisch. „Da kannst du warten, bis du schwarz wirst“, rief Yaten lachend. Seiya ließ das Fenster herunter und steckte den Kopf heraus, während Taiki den Motor anließ. „Auf Wiedersehen!“ rief Setsuna und winkte. „Wiedersehen!“ riefen auch Haruka und Michiru. Haruka tat es leid, daß sie fuhren, wenn sie sich das auch vor ein paar Wochen noch nicht hatte vorstellen können. Sie vermisste Seiya jetzt schon. „Macht’s gut, Mädels!“ riefen die Bandmitglieder, und der Wagen fuhr los. Bevor er jedoch die Straßenkehre erreichte und um die Ecke bog, steckte Seiya noch einmal den Kopf aus dem Fenster und schrie Haruka zu: „Und vergiß mich nicht, Schätzchen!“ Der Wagen verschwand um die Kurve. Haruka verzog das Gesicht und knurrte etwas vor sich hin, was sich wohl auf Seiyas „Schätzchen“ bezog. „Nimm’s nicht so tragisch, Haruka“, lachte Setsuna. „Seiya ist ganz einfach Seiya.“ „Er kann’s halt einfach nicht lassen“, stimmte Michiru kopfschüttelnd zu. Sie sahen sich an und mußten lachen. Seiya war nun mal ein alter Kindskopf, aber – er war ein verdammt guter Kumpel, und das gleiche galt auch für Yaten und Taiki. Ich glaube, so dachte Haruka, ich werde die drei vermissen! Kapitel 29: Ein schreckliches Gewitter -------------------------------------- Die nächsten Tage über herrschte eine drückende Schwüle. Haruka und Michiru taten praktisch nichts anderes mehr, als stundenlang am Pool zu liegen und zu dösen. Die Hitze machte es unmöglich, etwas anderes zu tun. Michiru konnte sich nicht dazu aufraffen, Geige zu spielen oder zu zeichnen, und Haruka ließ ihr Training auf dem Rennplatz immer öfter sausen und war außerdem ganz froh, daß Kameda´s Garage Betriebsferien hatte, so daß sie nicht hinzugehen brauchte. „Es wird sicher bald einen ordentlichen Sturm geben“, pflegte Mrs. Tenô mindestens dreimal pro Tag zu sagen. „So ist das immer, wenn es mal eine Zeit lang so heiß war.“ „Ich hoffe nur, daß sie recht behält“, sagte Haruka zu Michiru. „Ich kann nachts kaum mehr schlafen vor lauter Hitze!“ „Wem sagst du das“, murmelte Michiru. „Aber Taiki tut mir noch viel mehr leid. Es mußt schrecklich sein, bei der Hitze zu arbeiten!“ „Oh Gott, nein, erwähne das bloß nicht!“ stöhnte Haruka und fächelte sich mit ihrer Motorradzeitschrift Luft zu. Der Schweiß klebte ihr an der Stirn, und sie hätte schon wieder ins Pool springen können, obwohl sie es erst vor fünf Minuten verlassen hatte. „Wie wär’s mit einem Eis?“ schlug Michiru vor. „Das wievielte heute?“ „Frag nicht, ich hab aufgehört zu zählen... aber wie wäre es mit Eistee?“ „Wenn du aufstehst und welchen holst, liebend gern.“ „Bloß nicht! Ich zerschmelze, sobald ich mich bewege! Ich glaube, ich döse lieber noch etwas...“ „Gute Idee...“ Szenen wie diese wiederholten sich Tag für Tag. Es war wirklich viel zu heiß, um irgend etwas anderes zu tun. Selbst Mrs. Tenô schränkte ihre Geschäftstermine ein, um jammernd auf ihrem Liegestuhl zu liegen, einen riesigen Sonnenhut auf dem Kopf. Auch Fiffi litt unter der unerträglichen Hitze. Er lag meistens irgendwo im Schatten und hob nicht einmal den Kopf, wenn jemand an ihm vorüber ging. Sein Fell fühlte sich an, als habe man ihn in einen Backofen gesteckt, und er verschlang Unmengen an Wasser. Zum Gassi gehen konnte er sich nicht aufraffen, und das Bellen und Knurren schien er gänzlich verlernt zu haben. Alle warteten sie auf das erlösende Gewitter. Eines Tages fuhr Mrs. Tenô samt ihren Liebling Fiffi übers Wochenende zu einer Freundin, deren Tochter heiratete. Haruka war ganz froh darüber, denn in letzter Zeit hatte die Tante anscheinend nichts anderes zu tun gehabt, als an ihr herumzunörgeln. Auch Michirus Eltern waren eingeladen, und so blieben die beiden Mädchen alleine zurück. Hat auch sein Gutes, dachte Haruka, als sie bei einem ungesunden Abendbrot, bestehend aus Chips und Cola, vor dem Fernseher saß und nebenher noch die Stereoanlage laufen hatte. Der große Sturm kam so gegen halb elf. Es war stockdunkel draußen, der Mond schien nicht, und es waren kaum Sterne am Himmel zu sehen. Der Wind tobte um das Haus, Äste krachten gegen die Fenster, Donner grollte, der Regen prasselte gegen die Scheiben und ab und zu wurden die Zimmer von grellen Lichtblitzen erhellt. Haruka kümmerte sich nicht darum. Sie hatte nie Angst vor Gewittern gehabt, im Gegenteil. Als Kind war sie immer hinausgelaufen und hatte sich den Wind um die Ohren pfeifen lassen und gedacht: Das ist Freiheit. Wenn sie dann total durchgeweicht wieder ins Haus gekommen war, hatten die Lehrerinnen im Internat immer einen riesigen Aufstand gemacht, so als habe sie wer weiß was für schlimme Dinge getan. So gegen elf Uhr war der Horrorfilm, den Haruka sich reingezogen hatte, zu Ende. Sie stand auf und schaltete den Fernseh und die Anlage ab. Stille breitete sich aus, die von einem heftigen Donnerschlag durchbrochen wurde. Eingedenk der mehrfachen Ermahnungen ihrer Tante begann Haruka ihren Rundgang durch das Haus, um zu kontrollieren, ob alle Fenster und Türen verschlossen waren und um die Rollos herunterzulassen. Oben hatte sie bald alles kontrolliert, und als nächstes nahm sie sich den Keller vor. Während sie durch die Räume ging, merkte sie, wie der Sturm immer heftiger wurde. Als stünde der Weltuntergang bevor, dachte sie in Gedanken an den Sience fiction-Roman, den sie gerade las. Das Erdgeschoß kam als letztes an die Reihe. Sie patrouillierte durch Mrs. Tenôs Arbeitszimmer, das Badezimmer, die Küche, das Wohnzimmer und alle anderen Räume und wollte gerade wieder nach oben gehen, als ihr einfiel, daß sie vergessen hatte, das Rollo von der Glastür, die in den Garten führte, zu schließen. Seufzend schaltete sie alle Lichter, die sie eben gelöscht hatte, wieder an und ging zurück ins Eßzimmer. Der Sturm wurde immer schlimmer. Haruka konnte nicht anders, sie mußte einfach hinausgehen. Sie liebte dieses großartige Schauspiel der Elemente. Als sie die Tür öffnete und hinaustrat, riß ihr eine heftige Windbö die Türklinke aus der Hand, und die Glastür donnerte mit einem unglaublichen Krachen ins Schloß. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht, und in sekundenschnelle waren T-Shirt und Hose klatschnaß, und auch das Haar triefte vor Nässe. Aber Haruka störte sich nicht daran. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte versonnen hinauf in den Himmel, wo hin und wieder ein kleiner Stern aufleuchtete. Die nächtliche Schwärze wirkte bedrohlich, und das Krachen des Donners schien tausendfach verstärkt durch die Nacht zu hallen. Grelle, blendende Blitze zuckten durch die Dunkelheit und tauchten den Garten in ein unheimliches Licht. So einen starken Sturm hatte Haruka in den geschützten Mauern des Internates noch nie erlebt, und sie genoß jede Minute, die sie mitten im Geschehen verbringen konnte, den tobenden Elementen und den Launen der Natur schutzlos preisgegeben. Ja, dachte sie, während ihr der Wind um die Ohren pfiff und ihr die Haare ins Gesicht blies und der Regen sie frösteln ließ, das ist Freiheit! Der Sturm heulte wie wahnsinnig. Ein furchtbares Krachen ertönte, und wieder flammte das grelle Licht eines Blitzes auf. Für einen Augenblick wurde die Umgebung deutlich sichtbar. Die Blumentöpfe und Gartenstühle waren umgefallen und wurden vom Wind auf dem Rasen hin und her geworfen. Und da war das Bild auch schon wieder weggewischt. Ein erneuter Donnerschlag folgte fast sofort hinterher. Wieder wurde der Himmel von einem Blitz aufgerissen, und wieder erblickte Haruka das Durcheinander auf dem Rasen und das Pool, in das der Regen peitschte. Es war wie eine Traumerscheinung. Plötzlich aber erhellten die zuckenden Blitze noch etwas anderes. Jemand stürzte die Treppe im Nachbargarten hinunter und rannte zum Tor, das den Garten der Kaious von Mrs. Tenôs Garten trennte. Es war Michiru. Erstaunt starrte Haruka sie an, dann lief sie ihr entgegen. „Michie! Was machst du denn hier draußen um diese Zeit und vor allem bei diesem Wetter!“ Michiru hob den Kopf und sah Haruka erleichtert an. „Oh Gott sei Dank, Ruka, du bist noch wach!“ keuchte sie. „Ich hab die ganze Zeit versucht, bei dir anzurufen, aber die Leitungen scheinen nicht in Ordnung zu sein! Dieser schreckliche Sturm, es...“ Ihre Worte wurden durch einen lauten Donnerschlag verschluckt. Haruka bemerkte, daß sie klatschnaß war und am ganzen Leib zitterte. Ihre Augen waren weit aufgerissen. „Michiru, was ist denn?“ fragte Haruka erschrocken. „Was ist los mit dir, du bist ja ganz verstört! Was ist passiert?“ Sie gab keine Antwort, denn im gleichen Augenblick sauste ein greller Blitz durch die Nacht, begleitet von einem lauten Donnerhall. Michiru stieß einen schrillen Schrei aus, kniff die Augen zusammen und warf sich in Harukas Arme. Zitternd vor Angst klammerte sie sich an ihr fest. „Michiru, du hast doch nicht etwa Angst?“ fragte Haruka erstaunt. Michiru antwortete nicht, sondern hielt sich nur weiter an ihr fest. Ihr Haar fühlte sich naß und schwer an, und durch das nasse Top zeichneten sich deutlich im zuckenden Licht der Blitze die Konturen ihres Körpers ab. Haruka hielt sie fest. „Hey“, sagte sie in aufmunterndem Ton, „ist doch alles in Ordnung! Du brauchst wirklich keine Angst zu haben!“ „Ich hab immer Angst... vor Gewittern“, murmelte sie. Ihre nackten Arme fühlten sich eiskalt an. Haruka zog ihre nasse Jeansweste aus und legte sie um ihre schmalen Schultern, um sie wenigstens etwas zu schützen vor der Kälte und dem Regen, wenn es auch nicht viel bringen würde. „Komm, wir gehen rein“, sagte sie liebevoll. „Du mußt keine Angst haben. Ich paß schon auf, daß dir nichts passiert.“ „Danke“, flüsterte Michiru, während ihre Zähne klapperten, so kalt war ihr. Plötzlich ertönte ein furchtbares Krachen. Michiru schrie auf. Noch ehe Haruka herausfinden konnte, was es war, stürzte der riesige alte Baum, der vor dem Balkon gestanden hatte, mit einem Krachen zu Boden. Gespalten vom Blitz, niedergerissen vom Sturm – es war ein furchtbarer Anblick. Trostlos und starr ragten die Äste und Wurzeln in der Dunkelheit gen Himmel. Michiru fing an zu weinen. Nun verlor auch Haruka jegliche Beherrschung. Dieser Sturm war nicht mehr schön und wild, sondern stark und gefährlich. Der Baum hätte genauso gut in die andere Richtung fallen können – direkt auf sie. Und sie hätten keine Möglichkeit zum Ausweichen gehabt. Sie packte Michiru am Handgelenk und zerrte sie hinter sich her auf die Tür zu. Die starken Wurzeln des Baumes hatten sich zum Teil unter den Platten der Terrasse befunden. Beim Umfallen hatten sie sich gespannt, und die Platten hatten sich gehoben. Es herrschte die totale Verwüstung. Michiru stolperte über eine der schweren Steinplatten und wäre beinahe hingefallen, wenn Haruka sie nicht im letzten Augenblick festgehalten hätte. Während Haruka nach der Türklinke tastete, ergoß sich ein mächtiger Regenschauer über sie. Donner und Blitze tobten über den Himmel. Michirus Finger krampften sich schmerzhaft in Harukas Arm. Endlich hatte sie in der Dunkelheit den Türgriff ertastet. Sie stieß die Tür auf, und nachdem sie hineingegangen waren, schlug der Wind sie mit einem unglaublichen Krach wieder zu. Haruka verriegelte sie und ließ das Rollo herunter. Dann wandte sie sich Michiru zu. Im schwachen Lichtschein der Lampe über dem Eßtisch konnte sie sehen, wie sehr sie zitterte. Top und Bluse waren vollkommen durchgeweicht, und der lange Rock klebte an ihren Beinen. Die vom Wasser ganz dunklen Haare hingen ihr wirr in das blasse Gesicht, und ihre Augen waren vor Angst geweitet. Die Wangen wiesen Tränenspuren auf. „Michiru, es ist nur ein schlimmer Sturm“, versuchte Haruka sie zu beruhigen. Sie wirkte etwas verlegen, während sie sich die Tränen abzuwischen versuchte. „Du hast recht“, murmelte sie, „aber...“ Sie schwieg und sah Haruka noch immer an. Haruka schien in diesen wunderschönen Augen zu ertrinken. Sie sah etwas in ihnen, das ihr noch nie zuvor aufgefallen war; etwas, das ihr Vorsicht gebot. Michiru starrte Haruka an, und Haruka starrte zurück. Sie fühlte sich seltsam, Michirus Stimmung übertrug sich auf sie. Das Gefühl verschwand, als ein weiterer greller Blitz irgendwo in der Nähe einschlug. Das laute Krachen erschreckte beide. Haruka hörte einen schrillen Schrei und wurde zu Boden geworfen. Mit einem weiteren Schrei warf sich Michiru in ihre Arme und klammerte sich an sie. Schützend legte sie die Arme um die sich Fürchtende und wärmte sie. „Michiru... es ist in Ordnung... hier drin kann dir nichts passieren...“ sagte sie langsam und streichelte über das türkisfarbene Haar. „Komm schon, jetzt...“ Sie konnte nicht weitersprechen, denn im gleichen Augenblick begann die Deckenlampe zu flackern, und dann erlosch sie plötzlich und es herrschte nur noch nachtschwarze Finsternis um sie herum! „Oh nein! Was ist das, Ruka, was ist das? Ich habe Angst!“ rief Michiru panisch und umklammerte ihren Arm. Stöhnend versuchte Haruka sich aufzurichten. Michirus Nähe war ihr nicht unangenehm, im Gegenteil, aber sie mußte etwas unternehmen. Schließlich konnten sie nicht die ganze Nacht völlig naß und frierend im Dunkeln auf dem Eßzimmerboden zubringen. „Stromausfall“, bemerkte sie. „Das hat jetzt gerade noch gefehlt.“ „Daran ist nur dieser verdammte Sturm schuld“, schluchzte Michiru. „Deshalb geht wohl auch das Telefon nicht. Und jetzt ist auch noch Stromausfall! Was für eine schreckliche Nacht! Ich hatte solche Angst, als ich allein bei mir zu Hause war. Der Wind hat alle Blumentöpfe und Gartenstühle draußen umgeworfen, und die Äste haben krachend gegen die Scheiben geschlagen, der Sturm heulte und mir war so entsetzlich kalt und ich war ganz allein! Ich hab mir sogar eingebildet, daß jemand durch den Garten schleicht und zum Fenster hineingesehen hat und...“ „Ist ja gut, jetzt bist du ja hier“, tröstete Haruka. Sie hoffte, daß Michiru nicht weiter erzählen würde. Bei so einem Wetter war es gut möglich, daß sie auch noch anfangen würde, sich alles mögliche einzubilden, besonders nach dem Horrorfilm, den sie sich vorhin angesehen hatte. „Und dann ist auch noch einer der Bäume umgefallen“, fuhr Michiru mit zitternder Stimme fort. „Da hab ich es nicht mehr ausgehalten allein! Ich hab versucht, bei dir anzurufen, aber die Leitung war gestört, und dann bin ich rübergelaufen.“ Haruka stand auf und zog sie hoch. Sie versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. „Laß uns nach oben gehen und uns trockene Sachen anziehen“, sagte sie. „Wir erkälten uns noch, wenn wir hier noch länger in den nassen Klamotten herumsitzen.“ „Hörst du das auch?“ flüsterte Michiru. „Wie der Donner grollt! Als würde sich ein Abgrund auftun und alles und jeden verschlingen... und zurück bleibt nur die Finsternis...“ Haruka legte den Arm um ihre Schultern. „Hör auf, dich verrückt zu machen, Michie“, sagte sie liebevoll. „Ich verspreche dir, ich beschütze dich, okay? Du brauchst keine Angst zu haben.“ „Danke“, murmelte sie und lehnte ihren Kopf an Harukas Schulter. „Und jetzt gehen wir nach oben“, entschied Haruka energisch. „Wie denn?“ wandte Michiru ein. „Es ist doch viel zu dunkel! Ich kann überhaupt nichts sehen! Weißt du nicht, ob deine Tante vielleicht irgendwo Kerzen, Streichhölzer oder Taschenlampen aufbewahrt? Wenn wir uns im Dunkeln vorantasten, stoßen wir doch nur überall an!“ Aber Haruka hatte keine Ahnung, wo sich Kerzen, Streichhölzer und Taschenlampen befanden. Dazu kannte sie sich in der Wohnung ihrer Tante zu wenig aus. Sie würden es also doch im Dunkeln versuchen müssen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig. „Wehe, wenn ich die Treppe hinunterfalle“, murmelte Michiru. „Dazu müssen wir die Treppe erst mal finden“, meinte Haruka und versuchte, zuversichtlich zu klingen. „Komm, nimm meine Hand.“ Sie fühlte, wie Michiru ihre kalte Hand in die ihre legte. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg zwischen den Stühlen und am Eßtisch vorbei ins Wohnzimmer. Michiru blieb stehen. „Warte mal einen Augenblick, hier müßte doch irgendwo eine große Vase stehen. Wir sollten aufpassen, daß wir sie nicht...“ Im gleichen Augenblick verlor Haruka, die unvorsichtigerweise einen Schritt vorwärts gemacht hatte, das Gleichgewicht, stolperte über etwas großes, festes und fiel hin, während Michiru sich gerade noch am Türrahmen festhalten konnte. Während draußen der Donner krachte, so krachte hier im Wohnzimmer Mrs. Tenôs Vase zu Boden. „Da stand eine Vase“, murmelte Haruka und tastete zwischen den Keramiksplittern herum. Sie stöhnte und fragte sich, wieso ausgerechnet ihr immer so etwas passieren mußte. „Haruka, hast du dich verletzt?“ fragte Michiru besorgt. „Nein, im Gegensatz zu Tante Himekos Lieblingsvase bin ich heil geblieben“, murmelte Haruka. Sie ertastete in der Finsternis Michirus Hand und ließ sich von ihr hochziehen. „Wen interessiert schon die alte Vase“, meinte diese. „Nun, ich würde sagen, meine Tante.“ Trotz allem mußte Haruka grinsen, aber ihre Worten wurden durch einen weiteren lauten Donnerschlag verschluckt. Es gelang ihnen, sicher zu der Tür zu gelangen, die auf den Flur hinaus führte. Dort tasteten sie sich an der Wand entlang bis zu der Tür, durch die man ins Treppenhaus kam. Sie stolperten gerade aus und standen schließlich vor der Treppe, deren Konturen unscharf in der Dunkelheit zu erkennen waren. „Na gut, versuchen wir heil hochzukommen“, murmelte Haruka. Sie kannte die Tücken der steilen Treppe nur zu gut. „Halt mich fest“, bat Michiru und klammerte sich an ihren Arm. „Ich bin im Dunkeln so gut wie blind. Es wäre nichts Neues, wenn ich die Treppe runterfallen würde. Als ich klein war, hab ich mir auf diese Weise einmal das Bein und ein anderes Mal den Arm gebrochen.“ „Na dann prost Mahlzeit“, brummte Haruka. Sie ertastete mit ihrem Fuß die erste Stufe und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. „Wie viele Stufen hat diese verflixte Treppe eigentlich?“ fragte Michiru, als sie ungefähr in der Mitte angekommen waren. „Na du hast Ideen, ich zähl doch keine Treppenstufen!“ lachte Haruka, während sie ihr fürsorglich weiter half. „Da hab ich wirklich besseres zu tun!“ Sie schafften die Treppe ohne Unfälle irgendeiner Art und waren beide erleichtert, als sie oben standen. Durch das Dachfenster drang das unheimliche Geheul des Sturmes. „Wir müssen sehen, daß wir uns schnellst möglich umziehen“, sagte Haruka. „Und dann können wir nur hoffen, daß der Strom bald wieder da ist!“ Im gleichen Augenblick ließ ein lauter Donnerschlag sie zusammenfahren. Michiru preßte die Hände an die Ohren, stolperte rückwärts und wäre fast die Treppe hinuntergefallen, wenn Haruka sie nicht gerade noch rechtzeitig an den Schultern festgehalten hätte. Sie standen einander ganz nah gegenüber, und Haruka spürte, wie ihr Herz heftig zu schlagen begann. Sie blickte in Michirus meerblaue Augen und wünschte sich verzweifelt, sie zu küssen. Kapitel 30: Sturm der Gefühle ----------------------------- Als Haruka merkte, daß sie schon wieder dabei war, die Kontrolle über sich zu verlieren, hielt sie in ihrer Bewegung inne und ließ Michiru los. Sie konnte nur hoffen, daß die andere nicht gemerkt hatte, was in ihr vorgegangen war. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. „Haruka?“ fragte Michiru dann vorsichtig in die Stille hinein. Haruka mußte schlucken, bevor sie etwas erwidern konnte. „Gehen wir uns trockene Sachen anziehen“, sagte sie nur und führte Michiru über den Flur ins Badezimmer. „Dunkel“, murmelte Michiru, als sie sich an der Dusche den Ellbogen anschlug. „Ich hole Kerzen“, sagte Haruka schnell. Sie war nur allzu froh, der steifen Atmosphäre zu entkommen und tastete sich über den Flur in ihr Zimmer hinüber zur Kommode. Wie erwartet, fand sich in der dritten Schublade von oben eine kleine Taschenlampe. Der Lichtstrahl war zwar nicht mehr als ein kleines Pünktchen in der Finsternis, aber es reichte aus, um wenig später in der Küche Kerzen und Streichhölzer zu finden. Erleichtert, daß wenigstens das Problem der Helligkeit gelöst war, kehrte Haruka zu Michiru ins Badezimmer zurück. Sie saß auf dem Rand der Badewanne und wirkte erleichtert, aber noch immer etwas blaß im Gesicht. „Halt mal!“ befahl Haruka und drückte ihr die Taschenlampe in die Hand. Gehorsam richtete Michiru den schwachen Lichtstrahl auf die Kerzen, die Haruka in ein paar Kerzenhalter steckte, die sie ebenfalls aus der Küche mitgebracht hatte. Dann nahm sie die Streichholzschachtel zur Hand, und weniger später flammte ein Streichholz auf. „Endlich!“ seufzte Michiru erleichtert. Es waren insgesamt fünf Kerzen, die Haruka aufgetrieben hatte. Sie verteilte sie überall im Badezimmer, bis die Helligkeit soweit ausreichte, daß man zumindest sehen konnte, wohin man trat. „Danke“, sagte Michiru froh. „Wie gesagt, ich hab im Dunkeln schlechte Augen.“ Sie bemühte sich, locker zu klingen, aber die Befangenheit war ihr deutlich anzuhören. Haruka nickte und murmelte etwas davon, daß sie ein paar trockene Sachen holen wollte. Sie verdrückte sich mit der Taschenlampe auf den Flur. Jetzt erst merkte sie, wie kalt ihr war. Der Sturm draußen heulte noch immer, auch wenn er inzwischen ein klein wenig nachgelassen hatte. Als sie in ihrem Zimmer auf dem Schreibtisch ihr Handy entdeckte, schaltete sie es probeweise ein, hatte aber keinen Empfang. Sie ging ins Schlafzimmer ihrer Tante und versuchte es von diesem Apparat, aber die Leitung blieb tot. Um sie herum herrschte Stille. Es war, als wären sie und Michiru völlig abgeschnitten von der Welt allein in der Dunkelheit. Haruka kehrte seufzend in ihr Zimmer zurück. Das nasse T-Shirt klebte ihr am Leib, und sie fröstelte. Sie nahm eines der Kleider aus dem Schrank, die ihre Tante ihr ständig kaufte, die sie aber nie trug. Es war Michiru vielleicht etwas zu groß, aber besser als nichts. Für sich selbst suchte sie den Jogginganzug hervor. Dann suchte sie im Wäscheschrank nach Handtüchern, mit denen sie sich abtrocknen konnten und kehrte viel beladen ins Bad zurück. Michiru hatte inzwischen ihre dünne Bluse ausgezogen und über die Heizung gehängt. Das blauweiß gestreifte rückenfreie Top gab den Blick auf ihre schmalen Schultern frei, die von einer leichten Gänsehaut überzogen waren. „Ist dir kalt? Ich kann den Heizofen anschalten“, schlug Haruka vor, aber Michiru schüttelte den Kopf. „Nein, nicht nötig“, meinte sie. „Mir wird sicher wärmer, sobald ich mich umgezogen und abgetrocknet habe. Außerdem haben wir ja doch keinen Strom.“ Haruka nickte und wußte nicht recht, was sie jetzt tun sollte. Schließlich reichte sie Michiru die für sie bestimmten Kleidungsstücke und Handtücher. „Danke.“ „Bitte.“ Haruka kam sich blöd vor, und auch Michiru schien nicht recht zu wissen, was sie jetzt machen sollte. Offenbar war auch ihr das, was da eben beinahe auf dem Treppenabsatz passiert war, etwas unangenehm. „Du solltest dir die Haare abtrocknen“, meinte Michiru schließlich etwas unbeholfen. „Es sieht schrecklich aus, wenn sie dir alle ins Gesicht hängen.“ „Besten Dank für das reizende Kompliment“, gab Haruka ironisch zurück, griff nach ihrem Handtuch und begann sich die Haare abzufrottieren. Sie bemerkte, daß Michiru sie beobachtete, und das verlieh ihr ein Gefühl von Unsicherheit. Sie kam sich vor, als habe sie zwei linke Hände. Schließlich schaffte sie es aber trotz aller Widerstände, ihr Haar wieder einigermaßen hin zu bekommen. „Besser?“ fragte sie. Michiru lächelte. „Ja, viel besser.“ Haruka setzte sich neben sie auf den Rand der Badewanne und fuhr mit den Fingern durch ihr dichtes, nasses Haar. „Du solltest dich auch abtrocknen“, bemerkte sie. „Deine Haare fühlen sich schwer an.“ „Kein Wunder“, erwiderte Michiru. „Sie sind ja auch vollgesogen mit Wasser. Gib mir bitte das Handtuch, ich werd sie abfrottieren.“ Haruka reichte es ihr, und Michiru wrang mit einigen Schwierigkeiten ihre Haare über der Badewanne aus. Jedoch hätte sie dabei beinahe das Gleichgewicht verloren, so daß Haruka ihr energisch das Handtuch aus der Hand nahm und anfing, Michirus Haare damit zu bearbeiten. „Zieh doch nicht so!“ beschwerte sie sich. „Das tut weh!“ „Du mußt aber deine Haare trocken kriegen, sonst erkältest du dich“, erklärte Haruka bestimmt und ahmte dabei ganz unbewußt den Ton nach, in dem ihre Lehrerinnen in der Internatsschule immer mit ihr gesprochen hatten. Michiru kicherte. „Du hörst dich an wie deine eigene Tante, weißt du das eigentlich?“ bemerkte sie denn auch sofort. Haruka stöhnte, während sie nicht aufhörte, Michirus Haar zu bearbeiten. „Wirklich, du hast eine tolle Art an dir, anderen zu schmeicheln!“ „Kommt ganz drauf an... ich sage dir jetzt zum Beispiel, daß du eine perfekte Friseuse abgeben würdest“, lachte Michiru. „Ich geb dir gleich perfekte Friseuse!“ knurrte Haruka. Sie hielt die feuchten Haare hoch und breitete das Handtuch über Michirus Schultern. „Aber schön, wenn du es so willst... als nächstes ist kämmen dran, okay?“ „Schön“, schmunzelte Michiru. „Solange du nicht auf die Idee kommst, hier mit ner Schere rumzufuchteln und mir meine Haare zu schneiden, kannst du alles machen, was du willst. Der Rest Wasser muß sowieso ausgebürstet werden, sonst kriegst du die dichten Haare nie trocken.“ Haruka stand auf und nahm ihre Haarbürste vom Regal. Dann fuhr sie sanft damit durch Michirus Locken, die sich auf Grund der Feuchtigkeit noch mehr ringelten als sonst. „Bist du sicher, daß du nicht doch Friseuse werden willst?“ lachte Michiru und bog entspannt den Kopf zurück. „Du machst das gut!“ „Genauso gut wie Massieren – oder besser gesagt eincremen?“ fragte Haruka. Im gleichen Augenblick hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Sie hatte das nicht vorgehabt zu erwähnen und glaubte nun nichts anderes, als daß die gute Stimmung verflogen war. Michiru wandte sich nach ihr um. Zu Harukas Überraschung lächelte sie. Es war ihr gewohntes geheimnisvolles Lächeln, und in ihren Augen lag ein seltsamer Ausdruck. „Ja“, antwortete sie ruhig, „genauso gut wie eincremen.“ Haruka sah sie an. Sollte das ein Zeichen sein – ein Wink? Oder war es nur Michirus gewohnte Liebenswürdigkeit, die sie veranlaßt hatte, dies zu sagen? Michirus Gesicht spiegelte Entschlossenheit. Sie senkte den Kopf. „Ruka, bitte... würdest du mir wohl dabei behilflich sein, aus den nassen Klamotten rauszukommen?“ bat sie mit gesenktem Blick. Haruka war im ersten Augenblick überrascht und auch erschrocken. Sie wußte nicht gleich, wie sie damit umgehen sollte. War es ein Geständnis? Sollte es soviel heißen wie ich liebe dich auch? Oder war es dann vielleicht doch wieder nur eine ganz alltägliche Geste unter Freundinnen? Sie war verwirrt und wußte nicht, was sie denken sollte. Während sie noch nachdachte, wandte sich Michiru von ihr ab. „Entschuldige“, sagte sie, und ihre Stimme zitterte leicht. „Es war dumm von mir, so etwas zu sagen. Es ist dir unangenehm, das zu tun, nicht wahr? Bei mir... wo du doch weißt, daß ich eine andere Art zu lieben habe als du. Verstehst du? Es tut mir leid, wenn ich dich in Verlegenheit gebracht habe.“ „Nein, das hast du nicht“, fiel ihr Haruka ins Wort. „Du könntest mich überhaupt nicht in Verlegenheit bringen. Es hat andere Gründe, warum ich nicht... es könnte das selbe passieren wie damals, beim Eincremen. Und du... bist doch meine beste Freundin.“ „Ja“, seufzte Michiru nur. Sie schwieg eine Weile, und Haruka fuhr selbstvergessen fort: „Damals habe ich dich so sehr verletzt, daß du ausgezogen bist. Und das... würde wieder geschehen. Aber ich... ich liebe dich zu sehr, um dich zu verletzen.“ Und wieder war da dieser Blick aus diesen wunderschönen meerblauen Augen, und Haruka wußte, daß es wieder geschehen würde. Und sie konnte nichts dagegen tun. Sie schlang ihre starken, kräftigen Arme um Michirus Nacken und küßte sie auf den Mund. Einen Augenblick lang schien Michiru fast erschrocken zu sein, und Haruka glaubte schon jeden Augenblick einen Schlag ins Gesicht zu bekommen, aber... statt dessen gaben Michirus Lippen nach, und sie erwiderte Harukas Umarmung. Haruka fühlte sich wie in einem wunderschönen Traum, von dem sie hoffte, daß er nie enden würde. Sie wollte für immer hier stehen bleiben, inmitten all der Kerzen, die die Dunkelheit erhellten, Arm in Arm mit Michiru und versunken in diesen betörenden Kuß... Aber dann siegte ihr Verstand über die außer Kontrolle geratenen Gefühle, und er zwang sie, ihre Arme sinken zu lassen und sich von Michiru abzuwenden. Michiru sagte eine Weile gar nichts. Dann aber legte sie ihre Hand auf Harukas Schulter. „Sieh mich an“, bat sie, und in ihrem Tonfall lag so eine Bestimmtheit, daß Haruka gar nicht anders konnte als sich nach ihr umzudrehen. Michirus Augen wirkten ernst, und sie lächelte nicht. Ruhig sagte sie: „Als du das das letzte Mal getan hast, bist du hinterher weggerannt. Was wirst du diesmal tun, Tenô Haruka?“ Sie ist böse, dachte Haruka bedrückt. Und einen Augenblick lang glaubte ich tatsächlich, daß... „Nun, was ist?“ fragte Michiru. „Ich möchte eine Antwort haben, Haruka. Und zwar jetzt.“ Haruka sah sie verzweifelt an. Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt, sie war zu weit gegangen. Jetzt konnte sie nicht mehr zurück. „Es tut mir leid“, murmelte sie und wich Michirus Blick aus, „aber ich... ich kann einfach nicht anders! Frag mich nicht warum, aber... Michiru, ich halt das nicht mehr aus! Ich liebe dich!“ Stille. Man hörte das Rumoren des Donners draußen und das Prasseln des Regens gegen das Fenster. Dann sprach Michiru. „Du bist in mich verliebt...?“ fragte sie mit seltsam belegter Stimme. Haruka konnte Michiru nicht ansehen. Sie fühlte sich schlecht und wollte davonlaufen, aber ihre Füße wollten sich nicht bewegen. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. „Warum hast du es mir nicht gleich gesagt?“ fragte Michiru, und Überraschung schwang in ihrer Stimme mit. Sie wartete auf eine Antwort, aber alles, was sie hörte, war ein Murmeln. Michiru trat neben die Freundin und nahm Harukas Hände vom Gesicht und hielt sie fest. „Warum?“ fragte sie wieder. Die Gefühle hatten Haruka überrumpelt. Sie konnte Michiru nur anstarren und sich wundern, warum sie nicht davongelaufen war und sie alleine gelassen hatte. „Weil ich dachte, du würdest mich verletzten und gehen....“, sagte Haruka gedankenlos. Michiru sah sie an. „Ich bin hier. Also nenn mir den Grund, warum du es mir nicht sagen wolltest.“ Haruka merkte, daß Michiru ihre Hände hielt und ihre Finger mit den ihren umschlang. „Entschuldige, daß ich dich verletzt habe. Ich wollte nicht, daß das passierte. Weißt du, ich... ich wollte es nicht wahrhaben, lange Zeit nicht, doch dann, nach dem Kuß auf der Wiese... oh, Michiru, ich... es tut mir leid. Ich wollte nicht, daß es so kommt“, sagte sie, schloß ihre Augen und ihr Kopf schlug gegen die Wand. Eine harte Wand. „Wer sagt, daß du mich verletzt hast?“ lächelte Michiru. „Nein, im Gegenteil, du... hast mich sehr glücklich gemacht.“ „Michiru?“ fragte Haruka leise. „So... fühlst du...?“ „Seit dieser Situation in deinem Schlafzimmer, nach deiner Schlägerei mit Seiya, fühle ich so. Warum denkst du, habe ich immer wieder versucht, so zu werden wie du, wenn du dachtest, ich wäre eine reiche, eingebildete Person?“ erwiderte sie. „Das habe ich nie gedacht!“ „Oh doch, das hast du“, widersprach Michiru. „Aber ich dachte... du hattest deine Erfahrungen mit Männern, und ich habe mir wieder und wieder gesagt, daß es sinnlos für mich ist, zu hoffen, daß du meine Gefühle eines Tages vielleicht erwidern wirst. Ich wollte dir nahe sein... wenn schon nicht als deine Geliebte, dann als deine beste Freundin.“ „Und ich habe versucht, diese Freundschaft nicht kaputtzumachen“, erinnerte sich Haruka. „Auch ich dachte so. Ich dachte, du liebst Nerissa.“ „Ja, Nerissa... ich habe sehr stark für sie empfunden. Aber das mit dir, das war etwas anderes. Etwas, das tiefer geht. Doch ich glaubte nicht, daß es Zukunft haben würde. Und nach diesem Kuß, da hatte ich einen Augenblick lang die Hoffnung, daß sich mein Traum vielleicht doch erfüllen könnte. Aber dann schien alles wie ein Irrtum, und ich hielt es nicht mehr aus in deiner Nähe, ich wollte nicht, daß es noch einmal soweit kommt.“ „Ich hatte die Kontrolle verloren“, murmelte Haruka. „Es hat mir Angst gemacht. Ich glaubte, dich dadurch zu verlieren. Ich... ich wußte nicht, daß du...“ Michiru legte ihr den Finger auf die Lippen. „Shhh“, flüsterte sie, „es ist gut.“ Sie ging neben Haruka in die Knie. Haruka sah in ihr Gesicht. Michiru war ihr so nah. Harukas Herz schlug. Michiru lehnte ihren Körper an sie. „Haruka“, flüsterte sie und lehnte sich noch stärker an sie. Sie sahen sich an, als sich ihre Lippen berührten, und sie küßten sich zärtlich. Aber Harukas wilde Natur kam bald über sie und sie preßte Michiru an sich, und die Küsse wurden härter und fordernder. Sie fühlte Michirus Lächeln und ihr Herz fühlte sich an, als könne es nie wieder unglücklich sein. Aber die Kraft erlahmte, und die heißen Küsse wurden süß und zart. „Michiru...“, flüsterte Haruka. Michiru sah wild aus. Sie lächelte. „Beherrscherin der See...“, flüsterte Haruka. „Du bist der Ozean, das Meer, die See. Du hast mir so viel erzählt, daß ich genau weiß, wie sehr du das dunkle Wasser liebst. In mancherlei Beziehung erinnerst du mich an das Wasser... deine Augen, dein wunderschönes Gesicht... sogar dein Haar hat die gleichen Töne wie das Meer.“ Michiru lächelte, als sie Harukas Hand nahm und antwortete: „Deine Gedanken mit dem Meer sind die selben, die ich mit dem Wind habe“, sagte sie. „Was meinst du?“ fragte Haruka. „Ja“, erklärte sie, „du hältst immer nach Neuem Ausschau. Alles, was du willst, muß schnell sein. Rennen... wenn ich dich rennen sehe, berührst du kaum die Erde, der Wind trägt dich.“ Sie schwiegen eine lange Zeit und sahen sich an. Haruka legte ihre Arme um Michiru und zog sie an sich. Michiru relaxte in der starken und liebevollen Umarmung. Dann jedoch richtete sie sich auf, und ein Frösteln durchlief ihren Körper. Erschrocken sah Haruka sie an. „Oh, Michie, dir ist kalt“, sagte sie besorgt. „Du hast ja immer noch die nassen Klamotten an!“ „Natürlich“, erwiderte Michiru mit einem Lächeln. „Schließlich wolltest du mir ja nicht dabei helfen, sie auszuziehen.“ Haruka lachte und schmiegte sich an sie und spürte die Hitze zwischen ihnen, spürte ihren Körper und ihren Arm, der sie fest umschlang. Und nun gaben sie all den Gefühlen nach, die sie die ganze Zeit unterdrückt hatten. Michiru hob den Kopf von Harukas Schulter und sah sie voller Leidenschaft an, und Haruka küßte ganz zart ihre Lippen. Sie legte die Hand an ihr Gesicht und strich über ihre Wange. Haruka beugte sich tiefer über sie und küßte sie wieder, immer noch sanft und zärtlich, und sie erwiderte ihre Küsse, schloß die Augen und öffnete die Lippen, während Harukas Finger ihre Arme streichelten. Dann begann sie ohne ein Wort Haruka das nasse T-Shirt auszuziehen. Haruka sah ihr dabei zu und lauschte ihrem Atem. Michiru hob den Kopf. Die türkisfarbenen Locken fielen ihr ins Gesicht, ihre Augen funkelten wie Sterne. Sie lächelte ihre Freundin an, während ihre weichen Hände über ihren nackten Oberkörper glitten. Dann ließ sie sich küssen, während Haruka ihr T-Shirt mit einem Ruck auszog. Haruka beugte sich langsam über sie. Sie streifte ihr erst zärtlich das Top ab und schob den langen Rock hoch, um ihre Beine zu streicheln. Michiru bog den Kopf zurück und schloß hingebungsvoll die Augen. Dann jedoch hielt sie einen Moment lang inne. Haruka sah fragend auf sie herab. Michiru lächelte. „Das Meer ist nun eins mit dem Wind...“ Kapitel 31: Die Entscheidung ---------------------------- Als Haruka aufwachte, war von dem schrecklichen Sturm nichts mehr zu hören. Die Sonne schien zum Fenster hinein und ließ ihre hellen Strahlen durch das Zimmer tanzen. Die Vögel zwitscherten, und ein kleiner bunter Schmetterling flatterte gegen die Scheibe. Haruka sah auf Michiru herunter, die sich in ihren Arm gekuschelt hatte. Sie konnte nur einen Schwall langer türkisfarbener Locken von ihr ausmachen, mehr nicht. Offenbar schlief sie fest, wie ihre tiefen, regelmäßigen Atemzüge verrieten. Haruka lächelte und fuhr ihr mit der Hand durch das wirre Haar. Michiru. Beherrscherin der See. Meine Freundin. Das Mädchen, das ich mehr als alles andere liebe. Sie lächelte bei dem Gedanken vor sich hin. Sie dachte an die Nacht, die sie miteinander verbracht hatten... angefangen im Badezimmer zwischen alle den brennenden Kerzen, und dann später vollendet hier im Schlafzimmer... Michiru rührte sich nicht. Sie schlief tief und fest. Haruka wagte es nicht, sich zu bewegen, denn sie fürchtete, sie aufzuwecken. Während sie so da lag, gingen ihr all ihre Momente der Einsamkeit durch den Kopf, die sie im Internat erlebt hatte. Einsamkeit... oh ja, sie konnte sehr gut verstehen, was Einsamkeit bedeutete... Haruka stand mit einem Basketball in der Hand in der Turnhalle und versuchte, ein paar gute Körbe zu werfen. Ihre Klassenkameradinnen sahen zu ihr herüber. „Schaut mal“, sagte eine von ihnen. „Haruka gibt schon wieder damit an, daß sie so gut im Basketball ist. Darauf ist sie wohl sehr stolz! Wie eingebildet sie doch ist!“ „Sie trägt ihre Nase ganz schön hoch“, fügte eine andere hinzu. Sie hatte nicht das Glück, in einer heilen Familie geboren worden zu sein... Haruka saß allein im Gras und aß ihr Vesper. Sie hörte deutlich, wie hinter ihrem Rücken über sie getuschelt wurde. „Sie hat sich schon wieder mit einem geprügelt und ihn verletzt!“ „Bestimmt fliegt sie jetzt von der Schule!“ „Sie ist so wild!“ „Niemand will was mit ihr zu tun haben!“ Keine Freunde... ganz allein... Haruka verließ das Schulgebäude. Sie fühlte mehr, als sie es sah, daß ihr alle nachsahen. „Haruka ist so unnahbar“, wurde getuschelt. „Genau. Sie hat immer was anderes vor.“ „Aber mit uns gibt sie sich nie ab.“ „Bestimmt hat sie irgend ein Geheimnis!“ „Welches wohl?“ Und alle brachen in ein schallendes Gelächter aus... Unverständnis... keiner hatte sie je verstanden... Haruka stieg vom Motorrad und nahm ihren Helm ab. In ihrem rotweißen Motorradanzug, auf dessen Rücken in dicken schwarzen Letter ihr Name – Tenô – stand, wirkte sie mehr denn je wie ein Junge. Sie tat, als bemerke sie die Mädchen nicht, die sich hinter einem Baum versteckten und über sie tuschelten. „Da ist sie!“ „Man sagt, sie fährt richtige Rennen auf ihrem Motorrad!“ „Ja, angeblich hat sie schon mehrere Preise gewonnen! Ich kann sie nicht leiden, sie ist so arrogant und noch dazu steinreich!“ „Schau nur, wie sie aussieht! Wie ein Mann!“ „Vielleicht ist sie ein verkleideter Junge?“ „Sie prügelt sich ständig mit irgend jemandem!“ „Komm, wir gehen lieber wieder! Sie macht mir Angst!“ Haruka hielt mit ihren traurigen Gedanken inne. Liebe leuchtete in ihren Augen, als sie Michiru ansah. Aber jetzt, jetzt hat alles ein Ende! dachte sie glücklich. Wenn sie mich jetzt sehen könnten! Ich bin nicht länger einsam und allein. Und das dank ihr... Kaiou Michiru... Und wieder schweiften ihre Gedanken in die Ferne... Seiya... ihr bester Freund... Haruka saß auf ihrem Handtuch am Pool und las in ihrem neuen Manga von EVA, während Michiru, Setsuna, Seiya, Yaten und Taiki auf dem Rasen Frisbee spielten. Die Sonne schien knallig heiß vom Himmel herab, und sie schwitzte, obwohl sie nur einen Badeanzug trug und unter einem Sonnenschirm saß. Seufzend blätterte sie eine Seite ihres Mangas um. Da rannte plötzlich Seiya zu ihr hin, riß ihr den Manga aus der Hand und schrie: „Was soll das? Jetzt wird nicht gelesen, jetzt spielen wir Frisbee! Los, worauf wartest du, steh auf!“ Haruka lächelte. „Ja“, antwortete sie. „Ich komme ja schon!“ Setsuna... wie eine ältere Schwester... Erschöpft ließ sich Setsuna ins Gras sinken und strich sich ermattet mit der Hand über die Stirn. Sie hatte den ganzen Nachmittag an ein paar neuen Entwürfen für ihren Designkurs gearbeitet und war nun fix und fertig. „Oh man“, meinte Haruka mitleidig und setzt sich neben sie, „du hast heute aber wieder ganz schön hart gearbeitet, was?“ Überrascht sah Setsuna auf. „Das ist das erste Mal, daß du das bemerkst!“ lachte sie. Yaten und Taiki... zwei gute Kumpels... Haruka saß im Gras und wollte gerade in ihren Reisball beißen, als sich Yaten und Taiki neben sie sinken ließen. „Mmh!“ machte Taiki und leckte sich die Lippen. „Der Reisball sieht gut aus... Er schmeckt bestimmt sehr lecker!“ „Natürlich“, erwiderte Haruka. „Glaubst du, ich würde ihn sonst essen?“ Yaten lachte und kniff ein Auge zusammen. „Ganz allein?“ fragte er grinsend. Michiru... die große Liebe... Haruka brachte das Motorrad zum Stehen und riß sich den Helm vom Kopf. Ihre dunklen Augen blitzten, als sie daran dachte, wie sie das Motocross-Rennen mit Abstand gewonnen und sogar den Rennprofi Yamada abgehängt hatte. „Wahnsinn“, meinte Michiru bewundernd. „Das war einsame Spitze! Wenn du so weiter machst, wirst du noch richtig berühmt, Ruka!“ „Taaadaaa!“ Lachend stieg Haruka vom Motorrad und wirbelte ihre Freundin im Kreis herum. Sie strahlte über das ganze Gesicht. „Was sonst?“ fragte sie ausgelassen. Haruka fühlte sich sehr glücklich und zufrieden wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Sie fühlte sich so frei, als wäre sie der Wind und niemand könne ihr mehr etwas anhaben. Michiru begann sich zu bewegen. Sie murmelte etwas vor sich hin, hob den Kopf und gähnte lang und anhaltend, während sie sich die verschlafen die Augen rieb. „Guten Morgen, Langschläferin“, sagte Haruka liebevoll. Michiru hob den Kopf und blinzelte sie müde an. Ihre blauen Augen wirkten noch sehr verschlafen, aber sie sah glücklich aus und lächelte. „Dann war es also doch kein Traum?“ fragte sie leise. Haruka mußte lachen. „Seh ich so aus?“ fragte sie zurück. „Nein“, murmelte Michiru und rutschte näher zu ihr heran. „Du, Ruka... habe ich dir heute schon gesagt, daß ich dich liebe?“ Haruka strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen. „Nein, hast du nicht“, flüsterte sie. „Aber ich glaube es dir auch so!“ „Ruka!“ Michiru schlang ihre Arme um ihren Hals und drückte sie so fest an sich, daß Haruka beinahe die Luft wegblieb. Sie erwiderte die Umarmung, und als sie dann Michirus weiche Lippen auf den ihren spürte, hatte sie das Gefühl, noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen zu sein. Wenig später standen sie auf und zogen sich an. Michirus Kleidung war über Nacht getrocknet, und Haruka suchte sich ihre weiße Hose, das schwarze T-Shirt und das ockergelbe Jackett aus dem Schrank hervor. Während Michiru auf der Bettkante saß und ihre langen Locken bürstete, bis sie ihr seidig über die Schultern herab fielen, trat Haruka an das Fenster. Draußen herrschte das schönste Wetter, und nichts deutete mehr auf die Schrecken der Nacht hin. „Es ist wieder das allerschönste Wetter“, bemerkte sie. „Der Sturm hat keine Spuren hinterlassen. Als sei nichts gewesen.“ „Solche Stürme gibt es hier manchmal“, sagte Michiru. „Aber so einen schlimmen wie diesen habe ich noch nie erlebt!“ Die beiden gingen hinunter und zogen überall die Rollos hinauf. Als sie zur Glastür kamen, erkannten sie erst die Verwüstung, die der vom Blitz gespaltene Baum angerichtet hatte. Er war auf den Rasen gefallen und hatte einen Teil der Gartenstühle und Blumentöpfe und eine Luftmatratze unter sich begraben. Die Steinplatten, die sich gehoben hatten, als sich die Wurzeln gespannt hatten, bildeten einen einzigen Haufen aus Schutt und Geröll. Abgesprungene Äste und eine Menge Blätter und auch Grund und ganze Blumen lagen im Schwimmingpool. Ein kleiner Plastikblumentopf samt Inhalt verstopfte den Skimmer. Auf dem Rasen lagen lauter zerbrochene Gegenstände. „Ach du lieber Gott“, murmelte Michiru entsetzt. „Ich möchte gar nicht erst wissen, wie es bei uns drüben aussieht!“ „Bestimmt nicht schlimmer als hier“, murmelte Haruka. Sie hoffte nur, ihre Tante würde sie nicht für die Verwüstung verantwortlich machen oder gar zum Aufräumen verdonnern. Andererseits – sie war im Moment so verdammt glücklich, daß ihr alles egal war. Sie beschlossen, unten zu frühstücken. Haruka ging hinaus, um nach der Post zu sehen und kam mit der Nachricht zurück, daß das Telefon wieder funktionierte. Mrs. Tenô hatte angerufen und sich besorgt erkundigt, ob alles in Ordnung war. Als Haruka ihr von der Verwüstung im Garten berichtet hatte, hatte sie ausgesprochen gelassen reagiert und nur gemeint, sie würde irgendeine Aufräum-Firma damit beauftragen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Außerdem hatte sie sich erkundigt, ob Michiru hier wäre, da deren Eltern sie zu Hause nicht hatten erreichen können. Haruka bejahte, und nach dem sie noch kurz mit Michirus Mutter gesprochen hatte, kehrte sie ins Eßzimmer zurück. Michiru hatte den Tisch gedeckt und war gerade mit Kaffeemachen und Brotschneiden beschäftigt. Sie sah auf, als Haruka eintrat, und lächelte sie an. Haruka erwiderte ihr Lächeln. „Deine Mutter läßt dir sagen, daß sie heute nachmittag um ca. sechzehn Uhr zurück sein werden“, richtete sie aus. „Danke“, erwiderte Michiru. „Ich hoffe nur, daß es bei uns nicht so schlimm aussieht wie bei euch. Wenn unser Wintergarten beschädigt ist... nicht auszudenken!“ „Es wird schon nicht so schlimm sein.“ Sie setzten sich an den Eßtisch und frühstückten gemütlich. Als Michiru erfuhr, daß Mrs. Tenô eine Aufräum-Firma anstellen wollte, lachte sie. „Das ist typisch für sie“, meinte sie. „Aber da sie das nötige Kleingeld hat... warum nicht? So wie ich meine Eltern kenne, werden wir alles selbst aufräumen.“ Sie verzog das Gesicht. „Wenn du schön lieb zu mir bist, kann ich dir ja helfen“, grinste Haruka und zwinkerte ihr zu. Michiru lachte. „Das muß ich mir erst noch überlegen“, rief sie, während sie nach der Erdbeermarmelade griff. Es klingelte an der Tür. Überrascht sah Haruka auf. „Wer kann das sein?“ überlegte sie. „Für den Postboten ist es zu spät und für meine Tante zu früh.“ „Vielleicht ist es Setsuna oder ihre Mutter, die sich erkundigen möchte, ob wir den Sturm gut überstanden haben“, mutmaßte Michiru. Haruka stand auf und ging hinaus zur Tür. Es klingelte wieder, diesmal etwas ungeduldig. Möglich, daß es Setsuna oder Mrs. Meio waren. Zu den anderen Nachbarn hatte Haruka ja kaum Kontakt. Aber als sie die Tür öffnete, sah sie sich jemandem gegenüber, mit dem sie nicht im Traum gerechnet hatte – Goku Nerissa nämlich. „Du!?“ stieß sie verblüfft hervor. Nerissa wirkte wie immer reichlich eingebildet. Sie trug ihren hochnäsigsten Gesichtsausdruck zur Schau, hatte sich die Haare ordentlich zusammengesteckt und trug ein elegantes Sommerkleid. Haruka überlegte, ob sie ihr sagen sollte, daß sie mit ihren beiden Halsketten und den vielen Ringen und Armreifen und den langen Ohrgehängen wie ein aufgeputzter Christbaum aussah, unterließ es jedoch, um nicht gleich einen Streit heraufzubeschwören. „Das ist ja nun keine besonders freundliche Begrüßung“, beschwerte sich Nerissa. „Du könntest ruhig etwas höflicher sein.“ „Halt den Mund und sag mir lieber, warum du mich beim Frühstück störst!“ knurrte Haruka. Sie fragte sich, warum sie keine zwei Minuten mit Nerissa zusammen sein konnte, ohne sich über sie zu ärgern. „Ich möchte zu Michiru“, erklärte Nerissa hoheitsvoll. Haruka lehnte sich gegen den Türrahmen. „Weißt du was?“ schlug sie ihr gönnerhaft vor. „Jetzt gehst du mal zur Klingel und schaust, was für ein Name auf dem Schild steht. Bestimmt nicht „Kaiou“. Du scheinst dich in der Tür geirrt zu haben, meine Liebe.“ „Das glaube ich kaum“, erwiderte Nerissa mit der gleichen zuckersüßen Höflichkeit. „Ich war bereits drüben bei den Kaious, aber da hat mir niemand die Tür aufgemacht, und die Nachbarin schlug mir vor, ich solle es doch mal hier probieren, da ihr beide ja in letzter Zeit anscheinend unzertrennlich seid.“ Haruka hatte keine Lust, Nerissa hereinzulassen. Am liebsten hätte sie ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Aber sie war Michirus Besuch, nicht ihrer. „Was willst du von ihr?“ fragte sie mißtrauisch. Nerissa verschränkte die Arme und schob ihr Kinn vor. „Ich wüßte nicht, was dich das angeht“, zischte sie. „Also, ist Michiru jetzt hier oder nicht?“ Haruka wußte nicht, was sie tun sollte. Sie hatte keine Ahnung, ob Michiru mit Nerissa sprechen wollte oder nicht. „Michiru ist...“, begann sie, als im Flur Schritte ertönten und Michiru mit ihrer Kaffeetasse in der Hand zu ihnen trat. „Ich bin hier“, sagte sie ruhig. Nerissas Augen leuchteten. „Michie! Das ist gut, daß ich dich treffe. Ich war schon bei dir drüben, aber es hat mir niemand die Tür...“ „Ich weiß“, sagte Michiru. „Ich stehe schon eine ganze Weile im Flur und höre euer Gespräch – nein, besser gesagt Gezanke – mit an.“ Nerissa wirkte fast ein wenig schuldbewußt. „Oh, tut mir leid. Aber sobald ich mit ihr zusammen treffe, fange ich mich an, über sie zu ärgern.“ Sie deutete mit angewidertem Gesichtsausdruck auf Haruka, die sich auf eine der Treppenstufen gesetzt hatte. „Geht mir genauso“, sagte Haruka kurz angebunden. „Was willst du?“ fragte Michiru betont freundlich, aber distanziert. „Ich...“, Nerissa stockte und warf Haruka unter gerunzelten Brauen einen bösen Blick zu, der wohl soviel heißen sollte wie Hau ab. „Also, ich...“ „Ja?“ „Bitte, tu dir keinen Zwang an“, grinste Haruka. Nerissa stemmte die Arme in die Hüften. „Mußt du eigentlich immer zu allem deinen Senf dazugeben?“ fauchte sie. „Dich hat überhaupt keiner gefragt!“ „Ob du’s glaubst oder nicht, aber das ist mir gerade mal total egal“, erwiderte Haruka vergnügt. Nerissas blaue Augen funkelten böse. Offenbar fiel ihr kein passender Konter mehr ein, denn sie deutete anklagend auf Haruka und verlangte barsch: „Sorg dafür, daß sie verschwindet, oder ich sage kein Wort mehr! Ich hätte dich nämlich gern allein gesprochen, Michiru.“ Zögernd stand Haruka auf, aber Michiru schüttelte den Kopf. „Haruka bleibt hier“, sagte sie bestimmt. „Ich habe keine Geheimnisse vor ihr.“ „Aber...“ „Sie bleibt.“ Haruka warf Nerissa einen triumphierenden Blick zu, den sie mit eisiger Verachtung quittierte. Haruka mußte feststellen, daß sie und Nerissa wohl niemals Freundinnen werden würden. Dafür waren sie einfach zu unterschiedlich. Nerissa schien sich dazu entschlossen zu haben, Haruka nicht weiter zu beachten. Sie trat auf Michiru zu. „Michie-Chan... ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht“, sagte sie hilflos. „Zwischen mir und Tsubasa ist es aus. Ich habe unsere Verlobung gelöst. Ich gebe zu, ich war fasziniert von ihm, ja, vielleicht sogar tatsächlich ein wenig verknallt, aber das mit uns, das war doch etwas ganz besonderes, und ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Wie soll ich es sagen, Michie-Chan...? Ich... ich liebe dich noch immer, und ich wünsche mir nichts mehr, als daß wir wieder zusammenkommen. Du liebst mich doch auch noch, oder? Es tut mir leid, daß ich dir weh getan habe, aber ich war wie geblendet von Tsubasa und seinem Reichtum und seinem Charme... für mich gab es nichts anderes mehr als ihn, und ich habe nicht darüber nachgedacht, was ich tat, als ich mich von dir getrennt habe. Ich bitte dich, mir zu verzeihen und zu mir zurückzukommen. Bitte, Michie-Chan!“ Sie holte tief Luft und sah Michiru mit einem fast ängstlichen Ausdruck in ihren Augen an. Haruka fühlte, wie ihr schlecht wurde. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Angst, Michiru zu verlieren. Wenn sie Nerissa auch nicht leiden konnte, so mußte sie ihr doch zugestehen, daß sie Michiru aufrichtig liebte. Das konnte Haruka in ihren Augen ablesen. Und es schien ihr wirklich leid zu tun mit Tsubasa. Wenn Michiru sich also für Nerissa entschied, dann würde ihr, Haruka, nichts anderes übrigbleiben, als den beiden viel Glück zu wünschen. Michiru war blaß geworden. Auch sie erkannte die Tragweite des Augenblicks. Ein Wort von ihr würde über ihre Zukunft entscheiden. Da war Nerissa, für die sie sich entscheiden konnte – und da war Haruka, mit der sie die Nacht verbracht hatte. Das Meer und der Wind werden eins... the sea and the wind become one... Haruka sah Michiru an. Sie begegnete wieder diesem faszinierend schönen Blick aus den leuchtenden meerblauen Augen, die sie stets an den Ozean erinnerten. Und auf einmal... auf einmal hatte sie keine Angst mehr. „Michie-Chan... du sagst ja gar nichts...“, murmelte Nerissa, und das klang nicht mehr so strahlend selbstbewußt wie vorhin. Michiru ging an ihr vorbei und streckte Haruka die Hand hin. Haruka ließ sich von ihr hinaufziehen. Sie standen nebeneinander und fühlten, daß sie zusammengehörten. Der Wind und das Meer... „Michie-Chan...“, flüsterte Nerissa. Es klang fast flehentlich. Michiru senkte den Kopf. Leicht schien es ihr nicht zu fallen. Immerhin war sie sehr lange mit Nerissa zusammen gewesen und hatte sie wohl immer noch sehr gern. Aber es war keine Liebe mehr, es war Freundschaft. „Nerissa, ich... es tut mir leid, aber... ich habe mich bereits entschieden... für Haruka.“ Sie sprach diese wenigen Worte so unbeteiligt wie möglich aus, aber Wärme und Liebe klangen trotzdem unüberhörbar in ihnen mit. Nerissa wich zurück. Mit wildem Haß in den Augen starrte sie Haruka an. „Nein!“ schrie sie. „Das kann nicht sein! Bitte, Michie, sag, daß das nicht wahr ist! Selbst wenn nicht ich... ich meine, nicht ausgerechnet sie!“ „Doch, Nerissa“, lächelte Michiru. „Ich liebe Haruka. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen.“ Haruka lächelte sie an. Etwas schöneres hätte sie nicht sagen können. Nerissa starrte sie noch immer sprachlos an, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und stürzte zur Tür. Auch ohne daß Haruka es sehen konnte, wußte sie, daß sie weinte. „Neri, warte!“ rief Michiru. „Das ändert doch nichts an unserer Freundschaft... Neri! Nerissa!“ Aber Nerissa hörte nicht. Sie stürzte hinaus und schlug die Tür mit einem Knall hinter sich zu, der sich noch schlimmer anhörte als der Donner gestern nacht. Sie ist egoistisch, dachte Haruka. Aber dann schalt sie sich selbst wegen ihrer Gedanken. Nerissa hatte geweint, als sie davongelaufen war. Das bewies, daß sie durchaus zu tieferen Gefühlen fähig war – und daß sie Michiru tatsächlich geliebt hatte. Michiru seufzte. „Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Nein, Michie-Chan, das muß es nicht“, tröstete Haruka. „Sie wird vielleicht einige Zeit brauchen, aber sie wird darüber hinwegkommen. Nerissa ist stark, das weißt du doch. Sie wird es begreifen und verstehen, glaub mir.“ Michiru nickte nachdenklich. „Ja, du hast recht. Wenn im September die Schule wieder beginnt, dann können wir alle einen neuen Anfang machen. Und bis es soweit ist, Ruka-Chan, werden wir einfach nur glücklich sein, ja?“ „Ja“, lächelte Haruka. „Das werden wir!“ Epilog: -------- Es war Setsuna, die vorgeschlagen hatte, mit dem Wagen hinaus auf die Hügel zu fahren. Und so machten sich Haruka, Michiru und Setsuna eines Abends auf den Weg. Sie fuhren in Harukas Cabriolet, und als Setsuna die verliebten Blicke bemerkte, die Haruka und Michiru einander zuwarfen, lächelte sie. Sie waren glücklich, die beiden... sehr glücklich... „Ich habe gehört, daß heute eine gute Nacht für Sternschnuppen ist“, sagte Setsuna, als sie aus dem Auto stiegen. Ein leises Lüftchen ging und zerzauste Setsunas langes Haar und Michirus Locken. Am Himmel funkelten viele Millionen kleiner Sterne, und der Mond warf seinen hellen Schein über die Stadt. „Das wäre etwas für mein nächstes Kunstprojekt“, überlegte Michiru, während sie sich die hell erleuchtete Stadt tief unter ihnen betrachtete. Haruka sah sie mit einem Ausdruck komischer Verzweiflung an. „Wie kannst du jetzt an die Schule denken!“ sagte sie vorwurfsvoll. „Du hast recht“, gab Michiru zu, „der Sommer ist noch lange nicht zu Ende! Vor uns liegen noch so viele schöne Wochen!“ „Die ihr genießen werdet, da bin ich sicher“, warf Setsuna ein. Sie lehnte sich gegen das Cabriolet. „Ach, schaut nur, wie schön der Mond scheint! Ist das nicht romantisch?“ „Machst du dich über uns lustig?“ fragte Michiru mißtrauisch. Setsuna verkniff sich ein Lachen. „Ich?“ tat sie unschuldig. „Wie kommst du denn auf sowas! Ich muß schon sehr bitten, meine Liebe!“ „Ich kenne dich“, murmelte Michiru, enthielt sich aber jedes weiteren Kommentars. Eine lange Zeit betrachteten sie schweigend den dunklen Nachthimmel. Michiru fröstelte in ihrer dünnen Jeansbluse, und Haruka legte ihr fürsorglich ihr Jackett um die Schultern. „Schaut, eine Sternschnuppe!“ rief Setsuna plötzlich. Sie blickten nach oben. Wie ein kleiner silberner Streifen leuchtete die Sternschnuppe im Dunkel der Nacht, bis sie dann nicht mehr zu sehen war. „Das heißt, wir dürfen uns etwas wünschen“, sagte Setsuna gedankenverloren. „Und?“ lächelte Haruka. „Was hast du dir gewünscht?“ Setsuna schüttelte den Kopf und senkte ihren Blick. „Das“, erklärte sie leise, „ist ein Geheimnis.“ „Oh, wie gemein“, murmelte Haruka. Setsuna lachte hell auf. „Du bist überhaupt nicht neugierig, was? Nun, dann sagt mal, ihr beide, was habt ihr euch denn gewünscht?“ Haruka und Michiru tauschten einen Blick und rückten enger zusammen. „Gar nichts“, antwortete Michiru zufrieden. „Wir sind glücklich so, wie es jetzt ist. Ist es nicht so, Haruka?“ Haruka zog sie liebevoll zu sich heran. „Ja“, antwortete sie versonnen, „so ist es.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)