Ai No Kiseki von Emma_Frost (Wunder der Liebe) ================================================================================ Kapitel 5: In der City ---------------------- In den nächsten paar Tagen entwickelte sich Haruka zu dem, was man allgemein als »den Schrecken aller Lehrer« bezeichnete. Sie glänzte in Fächern wie Sport, Computertechnik, Mathematik, Physik, Technik, Naturwissenschaften und Chemie, aber sie weigerte sich zum Hauswirtschaftsunterricht oder zur Handarbeitsstunde zu erscheinen, machte ihre Hausaufgaben in Englisch, Französisch und Japanisch entweder gar nicht oder total schlampig, gab keine Antworten, wenn sie aufgerufen wurde, sprach mit niemandem ein Wort, schwänzte die Kunststunde, las in der Musikstunde in ihren Sience fiction-Romanen und kam absichtlich fast jeden Morgen zu spät. Strafarbeiten ignorierte sie und zum Nachsitzen erschien sie erst gar nicht. Sie haßte diese Schule, haßte sie wie die Pest. Oft war sie launisch und gereizt und fing grundlos Schlägereien mit Jungs an. Am meisten vermißte Haruka ihr geliebtes Motorrad. Sie langweilte sich oft so sehr, daß sie sich sogar dazu herabließ, mit Fiffi Gassi zu gehen. Gewöhnlich verbrachte sie ihre Nachmittage damit, für Motocross-Rennen zu trainieren oder an ihrem Wagen herumzubasteln oder einfach so mit dem Motorrad zu fahren. Aber ohne ihr Motorrad war ihr ganz entsetzlich langweilig. Sie übte sogar freiwillig Klavier, obwohl sie das im Internat nicht besonders gemocht hatte. Meist aber lag sie auf ihrem Bett und las Motorradzeitschriften, Mangas oder Sience fiction-Romane, oder sie stellte die Stereoanlage auf volle Lautstärke, so daß die Fensterscheiben bebten, oder sie saß vor dem Fernseher und aß Chips. An einem Samstag morgen lag Haruka mal wieder in der Hängematte. Obwohl es noch recht kühl war, hatte sie es drinnen nicht mehr ausgehalten. So trug sie einen dicken weißen Rollkragenpulli und Jeans. Sie versuchte sich auf ihre Motorradzeitschrift zu konzentrieren, aber irgendwie gelang es ihr nicht. Sie gähnte. Drinnen bellte Fiffi. Die Tante war schon lange unterwegs. Sie hatten heute irgendeine wichtige Tagung in der Firma. Nicht, daß es Haruka interessiert hätte, ob ihre Tante nun hier war oder nicht. Sie kümmerte sich ja doch nicht um sie. Manchmal sah sie sie nur für ein paar Minuten am Tag. Haruka stand auf und wollte ins Haus zurückgehen, um sich irgend etwas im Fernsehen anzusehen, als sie plötzlich stehenblieb und lauschte. Aus dem Nachbargarten ertönte Musik. Jemand spielte auf einer Geige. Es klang wunderschön und tieftraurig. Von Neugierde geplagt, schlüpfte Haruka durch das Tor in den Nachbargarten hinüber und ging den geplätteten Weg entlang, bis sie auf eine riesigen Rasenfläche gelangte, in deren Mitte sich ein großer Schwimmingpool befand. Ein Stück vom Wasser entfernt, zwischen ein paar großen schwarzen Blumentöpfen, in denen Oleander wuchsen, stand Michiru Kaiou. Sie trug einen weißen Pullover und ein violettes Trägerkleid und hatte ein ebensolches Band im Haar. Im Arm hielt sie eine Geige und spielte selbstvergessen diese wunderschöne, aber so sehr traurige Melodie. Ihre Augen waren geschlossen. Haruka lehnte sich gegen eine Hecke und beobachtete sie. Ihre Bewegungen waren anmutig und voller Grazie. Für einen Moment hielt sie mit dem Spiel inne und griff in die Tasche ihres Rockes. Zu Harukas Verwunderung holte sie eine Zitrone hervor, warf sie in die Luft und begann wieder auf der Geige zu spielen, diesmal allerdings ziemlich rasant. Während sie diese schnelle Melodie spielte, drehte sie sich immer um sich selbst. Sie schien eine Art Tanz aufzuführen. Immer, wenn die Zitrone zu Boden fallen wollte, prallte sie dann am Griff der Geige ab. Haruka wunderte sich, wie Michiru mit geschlossenen Augen wissen konnte, wo die Geige herunterfallen würde und wohin sie sich drehen mußte. Aber sie schien keinerlei Probleme zu haben. Ruhig und sicher waren ihre Bewegungen, und sie zeigte auch keinerlei Zögern oder riskierte einen schnellen Blick. Wahnsinn, dachte Haruka, wie macht sie das nur? Das grenzt ja fest schon an Zauberei! Sowas hab ich noch nie gesehen! Im Internat konnten zwar auch einige Mädchen ausgezeichnet Geige spielen, aber... Michiru brach plötzlich mitten in der Melodie ab und ließ die Geige sinken. Während sie langsam die Augen öffnete, fing sie die Zitrone mit der freien Hand auf. Haruka kam nicht darum herum, bewundernd zu klatschen. Erschrocken sah Michiru in ihre Richtung. Als sie Haruka erkannte, lächelte sie. „Hallo“, sagte sie etwas verlegen, „ich wußte gar nicht, daß ich Zuschauer habe! Wie lange bist du schon hier?“ „Ungefähr zwanzig Minuten“, antwortete Haruka und kam näher. „Sag mal, wie machst du das?“ erkundigte sie sich. „Ich meine das mit der Zitrone! Was für ein exzellenter Trick!“ Michiru lachte. „Da ist kein Trick dabei“, versicherte sie. „Einfach nur Begabung... und vor allem aber Übung! Und zwar sehr viel Übung!“ „Ja, das kann ich mir vorstellen“, meinte Haruka. „Ich wußte nicht, daß du ein Instrument spielst.“ Michiru lächelte. „Ich weiß ja auch nicht, ob du ein Instrument spielst.“ „Ich muß eines spielen bzw. mußte. Das war im Internat so Pflicht. Inzwischen bin ich aber aus der Übung.“ „Was spielst du?“ erkundigte sich Michiru interessiert. „Klavier.“ Haruka spürte, daß sie rot wurde. Sie hätte das lieber für sich behalten, um weiterhin als die unberechenbare, unnahbare Außenseiterin zu gelten. Michiru aber schien sich nichts dabei zu denken, daß ausgerechnet jemand wie Haruka Tenô, die mehr ein Junge als ein Mädchen war, Klavier spielte. Im Gegenteil, sie schien sich zu freuen. „Vielleicht können wir mal zusammen spielen“, schlug sie vor. „Du auf dem Klavier und ich auf der Geige. Deine Tante hat doch ein Klavier, oder?“ „Eigentlich ist es ein uralter Flügel, der im Keller steht, aber zur Not würde es gehen. Ich habe ihn vorgestern versucht zu stimmen, aber das einzige Resultat war, daß meine Tante wütend in den Keller kam und mir vorhielt, ich würde absichtlich Lärm machen, wenn sie Besuch hat.“ „Du... äh... verstehst dich nicht besonders mit deiner Tante, oder?“ fragte Michiru vorsichtig. Haruka stöhnte. „Machst du Witze?“ fragte sie. „Wir sehen uns kaum, und wenn wir dann doch mal länger als fünf Minuten im gleichen Raum sind, überhäuft sie mich mit Ermahnungen und Fragen. Gestern behauptete sie doch glatt, ich würde mich zu männlich kleiden für ein Mädchen!“ Sie schnaubte ärgerlich durch die Nase. „Das finde ich nicht“, widersprach Michiru und blickte Haruka mit ihren unergründlichen meerblauen Augen an. „Mir jedenfalls gefällst du, wie du bist. Du hast so eine Art, um die ich dich beneide. Wenn du plötzlich anfangen würdest, Kleider und Röcke zu tragen, das würde nicht zu dir passen.“ Haruka grinste verlegen. „Findest du? Du bist die Erste, die mir sowas sagt. Im Internat habe ich ständig das Gegenteil zu hören bekommen.“ „Die müssen ja alle blind gewesen sein“, behauptete Michiru. Sie ging zum Haus hinüber und betrat den Wintergarten, der die Vorderfront zierte. Dort verstaute sie die Geige in einem Geigenkasten, der dort auf einem Holzbank lag und legte die Zitrone daneben. Dann wandte sie sich wieder nach Haruka um, die ihr gefolgt war und an der Tür lehnte. „Hm, Haruka, wenn du schon mal hier bist...“ Sie warf ihr einen flehenden Blick zu. „Könnten wir dann nicht was zusammen machen? Mir ist nämlich langweilig, weißt du.“ Haruka mußte lachen. „Wem sagst du das“, erwiderte sie. „Du bist nicht die Einzige. Mir ist ziemlich oft langweilig, seit ich hier bin. Eigentlich fast immer.“ „Ich sage jetzt nicht »Wenn du deine Hausaufgaben machen würdest und mehr für die Schule tätest, dann...«... das verkneife ich mir jetzt mal“, kicherte Michiru. Sie strich mit der Hand über den Geigenkasten. „Eigentlich hatte ich vor, heute in die Stadt zu fahren. Ein bißchen bummeln und so. Aber als ich dann an die überfüllten Busse Samstag morgens dachte, verging mir die Lust. Und ich bin nicht so sportlich, um mit dem Rad zu fahren. Vom Stadtrand ins Zentrum, das sind mit dem Rad ganze zwei Stunden.“ Haruka zuckte die Schultern. „Also wenn du magst, ich kann dich fahren“, schlug sie vor. Eine gute Gelegenheit, mal was anderes zu sehen als Tante Himekos Villa, dachte sie insgeheim. Überrascht sah Michiru sie an. „Aber du bist doch noch gar nicht alt genug, um Auto zu fahren!“ wandte sie ein. „Bin ich das nicht?“ grinste Haruka. „Ja, weißt du, ich hab meinen Führerschein im Ausland gemacht, darum.“ Michiru wurde rot. „Ach so“, murmelte sie verlegen. „Das wußte ich nicht. Und du hast einen eigenen Wagen?“ „Ja, aber der wird erst noch gebracht. Solange hat mir Tante Himeko einen Zweitwagen zur Verfügung gestellt. Wir könnten den nehmen.“ Michiru zögerte einen Augenblick, dann nickte sie. Ihre Augen leuchteten. „Au ja, das ist eine gute Idee! Ich muß nur noch rasch andere Schuhe anziehen... und meine Haare kämmen... und meine Handtasche holen... warte hier, ich bin in fünf Minuten zurück!“ Und damit drehte sie sich auf dem Absatz um und stürzte ins Haus. In der Innenstadt von Tokio herrschte wie immer reges Treiben. Haruka mußte zugeben, daß sie so etwas noch nicht erlebt hatte. Überall drängten sich Menschen mit Einkaufstüten, Körben und Taschen, und die Straßencafés waren übervölkert. „Ist das hier immer so?“ fragte sie verwundert. Michiru schlenkerte ihre Handtasche. „Nein, unter der Woche ist es hier ruhiger. Aber ich mag diesen Trubel. Ich liebe es, von Geschäft zu Geschäft zu gehen und mir dort die Waren anzusehen. Manchmal bummle ich nach dem Schwimmtraining oder nach dem Geigenkurs noch ein wenig durch die abendlichen Straßen und sehe mir die hell beleuchteten Schaufenster an.“ Die beiden verbrachten zwei Stunden damit, sich durch die Massen von Geschäft zu Geschäft zu kämpfen. Man konnte nicht gerade sagen, daß Haruka begeistert davon war, sich von Michiru von einer Boutique in die andere schleifen zu schleifen zu lassen, aber andererseits sah Michiru auch nicht besonders begeistert aus, wenn Haruka an keinem Computergeschäft vorbeigehen konnte. „Ich werd mir noch ein paar Mangas holen“, sagte Haruka abschließend. Überrascht blieb Michiru stehen. „Was denn... du stehst auf Mangas?“ fragte sie. „Was dagegen?“ knurrte Haruka. Sie hatte es schon im Internat gehaßt, mit ihrer Leidenschaft für Manga und Anime aufgezogen zu werden. Michiru schüttelte den Kopf und hakte sich überraschenderweise bei ihr ein. „Nein, ganz im Gegenteil! Dann bin ich wenigstens nicht mehr die Einzige! Was für Mangas magst du? EVA?“ Nun war es an Haruka zu staunen. „Du auch? Ehrlich gesagt, das hätte ich nicht gedacht! Und du magst EVA? Hey, davon hab ich alle Bände!“ „Du mußt mir ein paar leihen, ja, bitte!“ rief Michiru aufgeregt. „Ich bin schon wer weiß wie lange hinter den ersten beiden Bänden her, die anderen habe ich ja selbst alle, aber diese beiden scheint es nirgendwo mehr zu geben. Leider bin ich etwas spät auf EVA aufmerksam geworden, sonst hätte ich sie mir gleich gekauft. Hast du auch die Mangas von Cat´s Eye? Oder was hältst du von Devil Hunter Yoko oder Dragonball...“ Haruka lachte und hob abwehrend die Hände. „Langsam, langsam! Da haben wir beide was gemeinsam, würde ich sagen. Weißt du was? Laß uns alles andere vergessen und ein paar Comicläden unsicher machen. Außerdem suche ich ein paar Soundtracks. Vielleicht kannst du mir helfen, du kennst dich ja hier aus.“ „Klar!“ Michiru strahlte. „Frag mich alles, was du wissen willst! Ehrlich gesagt, meine Freundin lacht mich immer aus, wenn ich von Mangas und Animes erzähle. Ich freue mich, daß ich endlich jemanden kennengelernt habe, der mein Interesse teilt. Los, worauf warten wir? Laß uns gehen!“ Zwei weitere Stunden vergingen wie im Flug. Haruka entdeckte in dem riesigen Sortiment der japanischen Comicläden und Kaufhäuser so viele Dinge, die sie unbedingt kaufen mußte, daß sie am Ende nicht einmal alles tragen konnte. Schließlich entschloß sie sich dazu, die Sachen nach Hause liefern zu lassen, auch wenn die Tante sich auf den Kopf stellen würde – Zitat: Was denken die Nachbarn von uns, wenn der Lieferwagen eines Comicfachgeschäftes bei uns parkt! Wie kannst du in deinem Alter nur dieses Zeug lesen! Komisch, dachte Haruka, ich habe zum ersten Mal in Gedanken Tante Himekos Villa als mein Zuhause bezeichnet. Das muß daran liegen, daß es mir einfach gut geht im Moment. Und daß ich glücklich bin und mich nicht langweile. Michiru ist wirklich schwer in Ordnung. Ganz anders als die Mädchen im Internat. Nicht so albern. Und außerdem teilt sie mein Interesse für Mangas und Anime. Ich kann mir nicht helfen, aber ich fühle mich endlich wieder mal total entspannt und glücklich! „Träumst du?“ Michiru stieß sie in die Seite. „Ich hab dich gefragt, ob ich dir mal die Spielhalle zeigen soll?“ Haruka sah sie erstaunt an. „Spielhalle?“ „Ja klar! Das Game Center Crown ist der angesagteste Treffpunkt für alle Schüler der Mugen Gakuen Schule. Komm, ich zeig´s dir – oder magst du keine Spielhallen?“ Haruka lachte. Sie und keine Spielhallen mögen! „Doch, sehr“, grinste sie und folgte Michiru bereitwillig durch das Gedränge auf der Straße. Auf einmal schien das Leben nicht mehr ganz so trist zu sein. Die Spielhalle war im Untergeschoß eines großen Hauses untergebracht. Durch das milchige Glasfenster der Schiebetür, auf der Game Center Crown stand, konnte man nicht nach innen sehen, doch Michiru erzählte, wie es darin aussah: In einer Ecke stand ein großer Greifautomat, und dann, auf der anderen Seite, standen in drei langen Reihen die Spielautomaten. Auf der anderen Seite des Raumes war die Theke, wo ein Schulfreund von Michiru bediente. Die Spielhalle gehörte seinem Vater. Die Schiebetür schwang auf, als Michiru davor trat. Haruka folgte ihr nach drinnen. Es war ziemlich voll, und nur wenige Automaten waren unbesetzt. Vor dem Greiferautomat standen die Leute Schlange. Zigarettenqualm schlug Haruka entgegen. Sie hustete. „Schau mal, der Rennautomat ist gerade frei geworden“, rief Michiru und ließ sich schnell dort auf einen der beiden Sitze gleiten, bevor sich jemand anderes hinsetzen konnte. Haruka setzte sich neben sie. Autorennen am Automaten war auch so eine Leidenschaft von ihr. Sie freute sich schon auf Michirus erstauntes Gesicht und kramte nach ihrem Geldbeutel. „Ich war hier noch nie dran“, erzählte Michiru. „Aber vielleicht kannst du mir das erklären. Du siehst so aus, als würdest du dich auskennen.“ „Tu ich auch“, antwortete Haruka belustigt. „Weißt du was? Fahren wir mal gegeneinander, ja?“ Und als Michiru nickte, fing sie an, ihr die Steuerung zu erklären. „Halt mal die Luft an“, unterbrach Michiru sie mitten im Satz. „Ich versteh kein Wort! Sag mir einfach nur das Nötigste, ja? In der Technik bin ich nicht so bewandert wie du!“ Haruka lachte und tat, wie ihr geheißen. Sie stellte erneut fest, daß sie sich auf einmal richtig gut fühlte. Michirus Gesellschaft schien ihr gut zu tun. Michiru suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Geldbeutel und steckte ein Geldstück in den Einwurfschlitz. Inzwischen hatte auch Haruka ein Geldstück eingeworfen, und auf dem Bildschirm erschienen zwei Wagen. Der eine war pink und gehörte Michiru, der andere hellgrün und gehörte Haruka. On your Mark! Set! Go! erschien auf dem schwarzen Monitor, und die Rennbahn leuchtete auf. Michiru drückte auf den Knopf, den ihr Haruka als Gashebel gezeigt hatte, und der pinke Wagen stob davon. „Ist das meiner?“ fragte sie und sah Haruka verzweifelt an. Haruka lachte. „Ja, das ist deiner“, grinste sie, während ihr Wagen noch immer an der Ziellinie stand. Überrascht sah Michiru hoch. „Das... das Rennen hat angefangen“, bemerkte sie verwundert. „Ich weiß“, erwiderte Haruka gelassen. „Aber eine kleine Chance solltest du schon haben, oder nicht?“ Michiru runzelte die Stirn. „Tu nicht so, als ob du ein Profi wärst!“ schimpfte sie. „Nur weil ich zum ersten Mal hier... ach verflixt, ich hasse dieses Spiel!“ Schwer zu beschreiben, wie Michiru es überhaupt schaffte, den Wagen in Richtung Ziellinie zu bugsieren. Sie stellte sich dabei an wie der erste Mensch. Mal überschlug sich der Wagen, dann brachte sie ihn keinen Millimeter von der Stelle, oder sie fuhr damit quer über den Rasen. Und einmal drehte er sich eine ganze Weile nur um seine eigene Achse. Schließlich kam die Ziellinie in Sicht. Michirus Wagen war nur noch ein paar Zentimeter davon entfernt. „Tja, wie es aussieht, hast du verloren!“ sagte sie triumphierend zu Haruka. „Warum fährst du auch nicht los? Hast du’s verlernt oder was?“ „Du scheinst dir deines Sieges ja sehr sicher zu sein, nicht wahr?“ „Ja, das bin ich!“ Haruka grinste breit. „Na dann paß mal auf!“ lachte sie und gab Gas. Zisch! Das hellgrüne Auto sauste die kurvenreiche Straße entlang, ohne einmal zu stocken und nahm immer mehr an Tempo zu. Fasziniert starrte Michiru darauf hin. Harukas Hände schienen den Steuerknüppel kaum zu berühren. Wahnsinn! Es war unglaublich! Die Vorderräder von Michirus Wagen berührten die Ziellinie, da schoß Harukas Wagen an ihr vorbei und blieb im Ziel stehen. Auf Michirus Monitor spielte eine Melodie, und es erschien GAME OVER. Der Monitor wurde dunkel. Auf Harukas Monitor dagegen dudelte eine fröhliche Siegermelodie, und die erreichte Punktzahl wurde sichtbar. YOU ARE THE CHAMPION leuchtete kurz auf. Michiru starrte Harukas Punktzahl sprachlos an. Noch nie hatte sie gesehen, wie jemand eine derart hohe Punktzahl hatte. „Nicht schlecht“, sagte Haruka feixend. „Du mußt nur ein bißchen trainieren.“ Michiru verschränkte die Arme. „Ach komm, spar dir deine Ironie!“ fauchte sie. „Du hättest mich ruhig vorwarnen können! Wie hätte ich wissen sollen, daß du am Automaten so ein As bist! Hattet ihr eine Spielhalle im Internat oder was?“ „Nein, leider nicht“, schmunzelte Haruka. „Schön wär’s ja gewesen, aber um ehrlich zu sein bin ich immer heimlich nachts aus dem Fenster geklettert und hab mich in Spielhallen rumgetrieben – und die waren nicht so seriös wie diese.“ „Es hat sich aber gelohnt, wie man sieht.“ Michiru mußte lachen. „Bringst du mir das bei?“ bettelte sie dann. Haruka lehnte sich zurück. „Versuch es zuerst selbst. Ich schau dir zu.“ „Aber nicht lachen!“ „Bestimmt nicht! Versprochen!“ Voller Elan setzte sich Michiru an den Rennautomaten und warf ein Geldstück in den Einwurfschlitz. On your Mark! Set! Go! erschien auf den Monitor, und Michiru fing an, den pinken Wagen langsam und bedächtig über die Rennbahn zu steuern. Sie paßte höllisch auf, damit sie nicht wieder ins Schleudern geriet. Es klappte auch eine ganze Weile vorzüglich. Sie kam zwar nur sehr langsam vorwärts, aber dafür überschlug sie sich nicht und fuhr auch nicht über den Rasen. Doch dann knallte der Wagen gegen ein Kilometerschild. GAME OVER! Geduldig warf Michiru noch ein Geldstück ein, und wieder leuchtete On your Mark! Set! Go! auf. Diesmal raste der Wagen quer über den Rasen, geriet ins Schleudern und explodierte. Ein Geldstück nach dem anderen wanderte in den Automaten. Michirus Hände verkrampften sich. Wie viel einfacher war dagegen Geige spielen! Sie startete den Wagen erneut und ließ ihn langsam anfahren. Aber nicht langsam genug. Er schnellte mit einem Satz nach vorne und rammte ein Schild. GAME OVER! „Übung macht den Meister“, kommentierte Haruka. „Aber wenn ich dich wäre, dann würde ich mich nicht so verkrampfen. Damit kommst du nicht weit. Immer locker bleiben.“ „Würde ich ja, wenn ich’s könnte“, seufzte Michiru. Sie lockerte den Griff ihrer Hände um den Joystick, aber jetzt brachte sie den Wagen nicht mal einen Millimeter von der Stelle. „Laß mich mal und schau zu.“ Haruka steckte ein Geldstück in den Schlitz und wenig später schien ihr Wagen über die Piste zu fliegen. Fassungslos beobachtete Michiru ihre Hände. Sie berührte Joystick und Gasknopf überhaupt nicht richtig. „Da ist ein Trick dabei, oder?“ fragte sie zögernd. Haruka schüttelte lachend den Kopf. „Nein, kein Trick. Begabung und Übung, wie du heute morgen so treffend gesagt hast. Wenn du lange genug übst, wirst du es auch bald können.“ „Da streikt mein Geldbeutel“, erwiderte Michiru. Haruka schlug mit der Hand auf die Maschine. „Ist nicht billig, das Ding“, meinte sie, stockte und schüttelte den Kopf, als ihr Blick auf Michirus Hände fiel. „Drück doch nicht so! Dann wird es nichts! Immer schön cool bleiben, Michiru.“ „So?“ fragte Michiru zögernd und hielt ihre Hände ein wenig anders. „Doch nicht so!“ Haruka lachte sie aus. „So wie ich. Mach’s nach!“ Michiru verspielte in dieser einen Stunde ihr gesamtes Kleingeld. Aber sie wurde besser. Nachdem sie gelernt hatte, Harukas Griff anzuwenden, überschlug sich ihr Wagen nicht mehr und schoß auch nicht mehr wie eine Rakete über die Startlinie hinweg. „Na ja“, meinte Haruka schmunzelnd. „Bei den Kurven mußt du noch´n bißchen feilen. Aber sonst geht’s ganz gut, oder?“ „Ja, ich glaub auch“, murmelte Michiru. „Noch eine Runde?“ fragte Haruka herausfordernd. Michiru wagte einen verzagten Blick in ihren Geldbeutel und seufzte. „Geht nicht. Kein Kleingeld mehr. Außerdem müssen wir langsam mal wieder gehen, meinst du nicht auch? Wir belagern hier seit zwei Stunden den Automaten. Außerdem vermißt dich deine Tante sicher schon.“ „Da wär ich mir nicht so sicher“, widersprach Haruka. „Wahrscheinlich ist sie ohnehin nicht Zuhause, und wenn doch, dann verhätschelt sie ihren sowieso schon verzogenen Köter!“ Die beiden standen auf und gingen zur Tür, als ihnen das Mädchen entgegenkam, das Haruka vor ein paar Tagen mit Michiru in der Halle gesehen hatte. „Nerissa!“ Michiru strahlte. Die mit »Nerissa« angeredete fuhr sich mit der Hand durch ihre schokoladenbraunen Locken. „Michie-Chan“, lachte sie. „Warum hast du nicht gesagt, daß du herkommen willst? Ich wär doch auch...“ Sie bemerkte Haruka und stockte. „Das ist Tenô Haruka. Wir sind sozusagen Nachbarn. Sie hat mich in ihrem Wagen mitgenommen“, erzählte Michiru. „Hi“, sagte Haruka. Nerissa kniff die Lippen zusammen und schaute in die andere Richtung. Haruka zuckte die Achseln. Sie war das gewohnt. „Nerissa!“ flüsterte Michiru fast flehentlich. Sie sah Haruka an. „Das ist Goku Nerissa, meine... meine beste, nein, meine allerbeste Freundin...“ Sie sprach den Satz irgendwie komisch aus, so als meinte sie eigentlich etwas anderes. Nerissa sagte immer noch nichts. Sie sah Michiru an, und schließlich meinte sie: „Zu mir hast du gesagt, daß du heute Geige spielen wolltest.“ Nicht zu glauben, dachte Haruka kopfschüttelnd. Klingt ja reichlich besitzergreifend, diese Nerissa Goku. Und dabei bin ich nicht mal mit Michiru befreundet. Wir wohnen nur nebeneinander und haben halt mal was zusammen unternommen, das ist alles. „Ich weiß, was du jetzt denkst“, seufzte Michiru. „Aber ich war gerade dabei, Geige zu spielen, als... warte, laß uns ein bißchen Sailor V spielen, ja? Der Automat ist gerade frei.“ Sie sah Haruka an. „Macht es dir was aus, allein nach Hause zu fahren? Ich glaub, ich bleib noch ein wenig hier.“ Haruka spürte, daß sie unerwünscht war. Sie war fast ein wenig gekränkt. Immerhin hatten Michiru und sie heute so viel Spaß zusammen gehabt, und dann kam diese Nerissa daher und beschlagnahmte Michiru, und die ließ sich das auch noch gefallen. Was will ich eigentlich, fragte Haruka sich. Ich bin nicht mit Michiru befreundet! Und damit basta! „Geht in Ordnung.“ Haruka wandte sich zur Tür. „Viel Spaß noch. Und, Michiru – bei Gelegenheit fahren wir mal wieder ein Rennen am Automaten, ja?“ Michiru lachte, und ihre meerblauen Augen funkelten. „Au ja!“ rief sie begeistert. „Das müssen wir unbedingt mal wieder machen!“ Haruka nickte ihr noch einmal zu, würdigte Nerissa Goku jedoch keines Blickes. Sie verließ die Spielhalle und machte sich auf den Weg zum Parkhaus. Michiru Kaiou, dachte sie bei sich, vielleicht hatte ich ja eben unrecht. Möglicherweise hat sich zwischen uns tatsächlich so etwas wie eine Freundschaft entwickelt. Aber ich kann das nicht beurteilen. Ich hatte nie eine Freundin. Außerdem ist Nerissa schon deine Freundin. Na ja, mal abwarten, wie das weitergeht. Ich jedenfalls würd mich freuen, wenn wir Freundinnen sein könnten! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)