vom Auf- und Untergang der Sterne von abgemeldet (erstes Buch) ================================================================================ II -- AN: "Und wieder einmal taucht ein nahezu fast garnicht niemals Niemand aus dem Nichts der Sinnfreiigkeit auf. Das zweite Kapitel ist schon seit geraumer Zeit fertig, fragt mich nicht warum ich es nicht hochgeladen habe. Das 3. ist in Arbeit und imMo zu ca. 10% fertig." ~rfh Q: Beantwortest du Kommentare im jeweils nächsten Kapitel? A: Nein, Kommentare beantworte ich ausschließlich persönlich per ENS oder E-Mail. vom Auf- und Untergang der Sterne Farmland II Der Niemand namens Gido verharrte vor dem Grundstein. Vor ihm erstreckten sich Straße und Wald. Ein Weg in die Freiheit. Er lachte lautlos in sich hinein. Eine Freiheit mit einem bitteren Nachgeschmack. Eine Freiheit die fest mit einem einzelnen Wort verbunden war. Überlebenschancen. Wie lange würde er wohl jenseits des Hofes überleben. Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr vielleicht. Bleiben - keine Option - bedeutete seinen sicheren und nicht schmerzlosen Tod. Prüfend bewegte er seinen verletzten Fuss hin und her. Setzte ihn auf, nahm ihn wieder hoch, stampfte auf. Sein Gesicht verzog. Er spürte keinen wirklichen Schmerz, mehr ein dumpfes Pochen, einen Willkommensgruß. Hallo, mein Name ist Wunde, mein Zuhause ist deine Fußsole. Wenn eine solche Wunde - inzwischen lief diese blau an - keinen Schmerz bereitete, was dann? Für einen Moment war er versucht umzukehren, zum Bauer zurückzugehen, sich in die Tür zu stellen und echten Schmerz zu provozieren. Ein sinnloser Gedanke. Es würde dem Bauer sehr recht kommen, ihn endlich hinrichten zu dürfen. Wegen betreten Privatgrundes, oder irgend einem anderen lächerlichen Vorwand. Seine Kreativität für Bestrafungsgründe war mannigfaltig. Außerdem, Gidos Tod würde den Bauern sicher erfreuen, ihn und noch eine Hand voll Leute, die er nicht kannte, die aber da draußen existieren mussten. Was blieb also übrig. Überlebenschancen. Ein grimmiger Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. Welche Richtung auch immer, es hatte keinen Sinn. Außer dem Tod. Kopfschüttelnd überschritt er endlich den Grundstein und folgte, langsam aber sicher, der holprigen Straße. Wobei 'Straße' maßlos geschönigt war. 'Holpriger Trampelpfad, bestehend aus Matsch und Steinen und Schlaglöchern so groß wie tief' passte wesentlich besser. In undefinierbaren Schlangenlinien führte er durch dem umliegenden Wald, der um den Weg herum weit genug abgeholzt wurde. Weit genug bedeutete in diesem Fall, dass keine einzige Baumkrone über den Trampelpfad ragte und der Weg auf diese Weise keinerlei Schutz vor Unwettern hatte. Für einen Moment verspürte Gido das seltsame Verlangen sich hinunter zu Beugen und den Weg zu streicheln, in so elendigem Zustand befand er sich. Er bückte sich schlussendlich auch, aber weniger um dieses Stück verschandelte Landschaft zu beruhigen, sondern vielmehr wegen der Kartoffel die er zu seinen Füßen entdeckt hatte. Was gar nicht so einfach war, immerhin sah jeder beliebige Stein auf dem Weg ein wenig aus wie eine Kartoffel. Matsch sei Dank. Aber nein, diese Kartoffel unterschied sich, sie war angedotzt - musste wohl von einem Wagen gekullert sein - und ihr Fruchtfleisch schimmerte Gido goldgelb entgegen. Noch am Boden drehte er seinen Kopf so weit es ging in alle Richtungen. Der Weg hinter ihm war leer. Der Weg vor ihm ebenso. Links und rechts war Wald. Ein Risikofaktor. Misstrauisch beäugte er die Kartoffel, wieder seine Umgebung, dann erneut die Knolle auf dem Boden. Vorsichtig streckte er die Hand nach ihr aus, stockte aber und ließ den Arm auf halbem Wege in der Luft verweilen. Er schüttelte den Kopf. Griff nach der Kartoffel. Stand auf. Die Kartoffel auf Augenhöhe drehte er sie in alle nur erdenklichen Richtungen. „Du wirst mich nicht umbringen. Oder?“ Sie grinste ihn an. Die Kartoffel. Hier bin ich, zufällig am Boden, iss mich, dann vergifte ich dich. Wäre ein schneller Tod. Die paar hundert Meter vom Bauernhaus entfernt. Er zuckte mit dem Schultern. Warum nicht. Er biss ein herzhaftes Stück vom braunen, stellenweise goldgelben Etwas in seiner Hand und kaute prüfend darauf herum. Schmeckte nach Kartoffel. Nicht genau so wie die letzte Kartoffel, die er vor etwa einhundert-und-fünf Tagen bekommen hatte, aber der Geschmack entsprach entfernt seinen Erinnerungen an den Geschmack einer Kartoffel. Er schluckte und wartete. Besonders schnell wirkte das Gift nicht. Vielleicht brauchte es einen weiteren Biss. Er biss das nächste Stück ab. Kaute, schluckte, wartete. Er wiederholte die Prozedur, hatte inzwischen nur noch eine halbe Töfte in der Hand. Vielleicht musste sich das Gift erst im Körper verteilen. Er hüpfte ein paar Mal probeweise auf und ab, setzte sich hin, stand wieder auf. Hastig schlang er den Rest der Kartoffel herunter, schaute kurz links, rechts, links in den Wald. Er begann erneut dem Weg zu folgen. Er ging, verfiel in einen Laufschritt, rannte schließlich den Matschpfad entlang, ging über in einen auf und ab wiegenden Galopp, nur um nach einiger zurückgelegter Distanz eine Vollbremsung hinzulegen. Seine Hände starrten ihn an, er starrte zurück. Wehmütig. Nein, dieses Knollengewächs würde ihn nicht umbringen. Vielleicht sollte er auf die Suche nach den sicher giftigeren, oberirdisch wachsenden Früchten der Kartoffel gehen. Eine Option. Immerhin. Seufzend ging er weiter. Im Wald würde er keine finden. Nur Stöcke und Steine und ein paar Bäume. Die schon seit Jahrhunderten dort standen, weil sie eben schon seit Jahrhunderten dort standen. Keine große Sache, keine große Logik, es war eben so. Und niemand regte sich groß auf. Er würde den nächstbesten Farmer nach einer grünen Kartoffel fragen. Bis dahin musste er eben mit den einigermaßen kahlen Bäumen vorlieb nehmen. Bäume. Idioten die jedes Jahr starben, um im nächsten Jahr nochmal zu leben. In der ewigen Erwartung abgeholzt zu werden. Gido schüttelte den Kopf. Sein rechtes Augenlied zuckte. Schmerz. Zumindest schien es Schmerz zu sein. Sein Fuß pochte unangenehm. Eine Erinnerung. Eine stumme Erinnerung bei der jeder andere aufschreien würde. Er fand es interessant. Ein Zeitvertreib. Es pochte. Er tat einen Schritt. Es pochte. Ein Schritt. Pochen. Schritt. Pochen. Schritt. Pochen. Leichtes Stechen. Der Weg spielte mit, legte ihm zur Variation ein paar angespitzte Steine in den Weg. Neben all den Lehmklumpen eine gelungene Abwechslung. Der Abstand zwischen Bäumen und Weg wuchs. Der Wald lichtete sich. Langsam. Sicher. Es war diesig hier draußen. Fast neblig. Als hätte sich eine weiße Glocke aus Wasser und Dampf rings um über ihn gelegt. Groß genug um das Umfeld zu sehen. Klein genug um jedwede Ahnung auf den Raum hinter dem Umfeld zu unterdrücken. Vor ihm wand sich die Straße zwischen Feldern hindurch, um ein paar blätterlose Bäume herum in die Nebelschwaden hinein. Zuerst leicht bergab, dann leicht bergauf, dann - an der höchsten Stelle wo das Bergab folgen musste - verschwand der Pfad und alles was da noch kommen mochte im Nebel. Eine abgerundete, scharfe Kante, die einen Hügel andeutete. Kritischen Blickes musterte er die Felder links und rechts vom ihm. Rechts - Weizen, eindeutig, vielleicht zweideutig, aber ohne Zweifel Getreide. Vereinzelte Stiele der ehemaligen Pflanzen ragten noch kümmerlich wie sie waren aus den umgegrabenen, im vom Nebel verzerrten Licht gräulich wirkenden Erdrillen. Links kam schon eher seinen Bedürfnissen nahe. Kartoffelpflanzen. Immer noch silbrig grau - aber Kartoffelpflanzen. Einzelne vertrocknete Überreste und Blätter lugten zwischen den groben Erdklumpen hervor. Vielleicht auch Kartoffeln. Die grünen natürlich. Zielstrebig bewegte sich Gido auf einen besonders großen Erdklumpen gleich am Wegesrand zu und begann darin herum zu stochern. Ein paar Pflanzen. Leer. Eine nach der anderen flog über seinen Rücken auf den Weg. Leer, leer, leer, halt - vielleicht? Auch leer. Keine Miene verziehend drehte er sich schließlich zu dem entstandenen, halb verrotteten, halb vertrockneten Pflanzenberg um. Nochmal durchsuchen war keine Option. Er hatte keine übersehen. Es gab keine. Nicht in diesem Haufen. Er richtete seine Augen Richtung Nebelwand. Die linke Hälfte. Die rechte enthielt ja nur nutzlose Überreste von Getreidepflanzen. Er beäugte den eben durchwühlten Haufen. Dann das Feld zu dem er gehörte. Das erste das er sehen konnte. Das erste von vielen. Vermutete er. Das Durchsuchen würde ewig dauern. Je nachdem wie viel Grund der dazugehörige Bauer besaß etwas mehr ewig oder etwas weniger ewig. Abwägend setzte sich Gido am Wegesrand hin. Ewig war eine lange Zeit. Frühestens würde er per Zufall eine Knolle finden. Spätestens wenn die nächste Saat heran gereift war. Nächstes Jahr. Wenn man ihn indes nicht vertrieb. Der Winter war auch eine Option. Eine langsame, was die Todesursache anging. Eine unsichere. Nicht wirklich endgültig, sollte der Winter mild ausfallen. Eher halbherzig. Er stand auf. Blickte den Weg entlang. Am Hügel blieb sein Blick hängen. Etwas mehr Licht und er könnte durch den Neben hindurchsehen. Er schaute Richtung Sonne. Nicht mal die Augen zusammenkneifen musste er. Hoch am Himmel stand sie. Verdeckt von Nebelschwaden. Gerade noch als leuchtender großer Punkt zu erkennen. Eine wirklich hübsche Nebelglocke. Ließ gerade genug Licht durch, dass sich verschwommene Schatten am Boden bilden konnten. War ihm im Wald gar nicht aufgefallen. Nicht dass es etwas zur Sache täte. Der Himmel war immer da oben, immer in irgendeiner Farbe zwischen Schwarz und Weiss. Für Gidos Geschmack zu diesig. Langsam ließ er seine Augen den Weg vom Hügel zurück zu sich hin schweifen. Er kniff die Augen zusammen. Zwinkerte. Kniff sie etwas fester zusammen. Etwas zeichnete sich ab. Im Nebel. Etwas viereckiges graues. Kaum erkennbar. Vielleicht ein Haus. Jedenfalls konnte es nicht besonders weit weg stehen. Auf dem übernächsten Hügel vielleicht, der logischerweise etwas höher sein musste als dieser erste hier, den Gido immer noch vom Erdhaufen aus begutachtete. Ob der Bewohner etwas Gift entbehren konnte? Es war einen Versuch wert. Schlurfenden Schrittes und, in Antizipation des neuen Ziels, ruhigen Geistes ging er in Richtung des Hauses. Mit jedem Schritt – zuerst den Hügel hinauf, dann wieder herunter – schärfte sich das Bild des zweckgebundenen Holzkastens ein wenig mehr. Zuerst der Schornstein, ein Schemen auf dem Dach, nach und nach eckiger werdend, gefolgt von den erstaunlicherweise verglasten Fenstern und deren Fensterläden. Ein Gartenzaun, ein kleiner, fast brach liegender Kräutergarten, ein Wagenrad dass unbenutzt an der dunkelbraunen Hauswand lehnte. Eine Scheune zeichnete sich, kaum größer als das Wohnhaus selbst hinter selbigem ab, die Tür mit einem Holzbalken verriegelt; leises Schnaufen, Hufgeschabe und Wiehern ließen leicht erraten warum. Vom Weg, auf dem sich Gido dem Haus unablässig näherte führten vereinzelte, große Pflastersteine bis zur Haustür. Daneben, wesentlich ausgetretener, ein zertrampelter Pfad zur Scheune. Gedämpftes Licht schimmerte aus den Fenstern, als Ersatz für die vernebelte Sonne und grauer, kaum sichtbarer Rauch strömte aus dem Schornstein. Ein Schild zierte das Haus, eigentlich die Tür. Gido konnte es nicht wirklich lesen - er konnte einfach nicht lesen – aber das Gesamtbild verleitete ihn zu der Annahme, dass etwas freundliches darauf stehen musste. Kurzum – ein idyllisches Bild, untermalt durch den Geruch von frisch gebackenem Brot. Er kannte den Geruch. Ein relativ angenehmer Geruch. Denn es bedeutete, dass er sich die Reste mit den Schweinen teilen durfte. Er zuckte zusammen, warf einen kurzen Blick über die Schulter in die Richtung aus der er gekommen war. Der Wald verschwand mit jedem Schritt ein wenig mehr im Nebel. Ein beruhigendes, wenn auch ungewolltes Gefühl zwängte sich ihm auf. Keine Zufriedenheit, davon war er weit entfernt, eher so etwas wie Entspannung. Am Wegesrand, vor dem ersten Pflasterstein in Richtung Haus blieb er stehen. Etwas kitzelte seine Füße, kühlte seine Wunde. Überrascht, auch etwas erschrocken, schaute er zu Boden. Gras. Und so viel davon. Angenehm. Er ließ seine Füße probeweise durch die Grashalme fahren. Tau vom Nebel hinterließ ein angenehmes Prickeln, die Halme einen leichten Juckreiz. Gido atmete ein. Gras. Ein Geruch den es auf dem Hof nicht gab. Höchstens Unkraut. Stechend, kratzend, ungewollt. Kein Vergleich zu diesem Gewächs. „Junger Mann?“ Gido schrak auf. Stolperte. Versuchte sich mit seinem gesunden Fuss zu halten. Taumelte in Richtung des ersten Pflastersteins. Setzte den Fuß auf - den verletzten. Eine schlechte Idee. Ein dumpfes Pochen ließ nahezu sein gesamtes Bein ertauben. Sein Sturz dauerte nicht besonders lange. Was war nur in ihn gefahren. Die Augen noch geschlossen registrierte Gido nur halb, wie die Person zu der die fragende Stimme gehörte an seine Seite eilte, seinen Oberkörper anhob und mit einer Hand seinen Rücken stützte. „Junger Mann?“ Er öffnete die Augen. Ein paar halb besorgte, halb belustigte Augen starrte zurück. Den Blick erwidernd begutachtete Gido sein Gegenüber. Ein Mann, dass hatte schon die Stimme verraten. Abgesehen davon sah er Falten. Viele Falten. Und graues Haar. Topfschnittartig angeordnete Haare. Allerdings nicht besonders viele. Ein Topf mit Rissen. Gewissermaßen. Der Mann hatte immer noch die Hand in seinem Rücken. Augenblicklich rückte Gido ein Stück nach vorne, weg von der Hand. Sich den nicht vorhandenen Staub von der spärlichen Bekleidung klopfend und mit einem leisen Husten stand Gido auf, trotz des hämisch pochenden Beins und humpelte ein paar Schritte vom, in Gidos Augen, zu gutmütig dreinblickenden, alten Mann weg. Sein Gesicht war eckig, mit eng zusammen liegenden Augen und einer leicht eingedrückten Nase. Seine Haare vielen ringsrum einfach an seinem Kopf herab, ohne erkennbare Ordnung. Er war kräftig, kein Muskelberg, für sein alter aber unter Garantie alles andere als schwach. Und er war ein Stück größer als Gido. Der Mann, der immer noch kniend die Musterung über sich ergehen ließ, begutachtete seinerseits das Bein des ihm fremden Jungen. Der Fuß schien verletzt, das Bein in Mitleidenschaft gezogen. Dunkle Linien, die den Venen des Jungen wie einer gut gezeichneten Karte folgten, vom Fuß bis zu seinem Knie, wo sie derzeit eine Pause zu machen schienen, gaben dem Mann genug Anlass zur Sorge. Dazu das Bild der kaum bis gar nicht vorhandenen Kleidung in Form von alten Säcken. Ein bemitleidenswerter Anblick. Der Mann hob eine Augenbraue. „Was?“ Zischte Gido unwirsch in den Wind. Der Mann starrte ihn an. Und irgend etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Sonst wäre diese Augenbraue nicht angespannt nach oben gezogen. „Dein Bein.“ Erwiderte der Mann, kühl, aber besorgt. Nach einem Blick Gidos, der in etwa aussagte 'Sprich oder geh sterben' führte der Mann seine Aussage fort. „Blutvergiftung, ist tödlich wenn du nicht bald etwas unternimmst. Ein Nagel steckt noch in deinem Fuß. Dein Bein verfärbt sich. Also schon fortgeschritten. Aber nicht unüblich in dieser Gegend, viele Rostfreie Nägel gibt es hier nicht. Woher stammst du?“ Etwas überrascht über die plötzliche Frage versuchte Gido seine Miene so starr wie möglich zu halten. Was hatte den Mann das zu interessieren? Andererseits, was sollte der Mann damit anfangen. Vielleicht würde es seinen alten Herrn Bauer sogar in etwas hineinreiten. Schlechte Gerüchte. Er wohnte nicht mehr dort. Auf ihn konnte es niemand mehr abwälzen. Er versteifte, zog die Schultern zusammen um einen gewissen Schauer zu unterdrücken, der ihm bei dem Gedanken über den Rücken lief. „Vom Hof im Wald.“ Der Mann hob die zweite Augenbraue und erhob sich zu seiner vollen, leicht gealterten aber immer noch imposanten Größe. „Vom Hof im Wald? Du gehörst zu den Leuten von diesem arroganten, uneinsichtigen Arsch?“ Seine Stimme polterte, zischte und verfluchte zugleich. Gido stolperte ein paar Schritte zurück. Auf den Feldweg. Dieser Mann hasste den Bauern. Das war offensichtlich. Offensichtlich, aber nicht unverständlich. In sich hinein grinsend fügte Gido zur Richtigkeit hinzu „Aber ich arbeite nicht länger dort. Ich wurde...“ Er grübelte kurz nach den richtigen Wörtern. „Entsorgt.“ „Entsorgt? Ha!“ Ein bellendes Auflachen hallte über die Felder, Gido hatte auf der Farm im Wald selten ein so lautes Geräusch gehört. Von einem Menschen jedenfalls. Der Mann entspannte sich ein wenig, was für Gido aber noch keinen Grund darstellte es ihm gleich zu tun. „Ja, das klingt ganz nach dem Arsch. Er entsorgt öfters alles was in seinen Augen keinen Profit abwirft. Wird nie erkennen dass er nicht hier ist um Profit zu machen...“ Seufzend deutete der Mann auf Gidos Bein. „Wie steht's mit deinem Bein? Schmerzen?“ Gido zuckte mit den Schultern. „Nur ein Pochen.“ Zum Beweis stapfte er kurz kurz auf. Das dumpfe Gefühl ließ seinen Körper zittern. Der Mann seufzte. „Ich nehme mal an dass hat auch er zu verschulden?“ Gido blieb stumm. „Wir alle müssen mit rostigen Nägeln leben weil sich selten gute Schmiede hier raus verirren...“ Zur Verdeutlichung winkte er mit seiner Hand die Nebelwand entlang, welche das Haus entlegener erscheinen ließ als es durch seine einsame Position auf dem Feld ohnehin war. „Aber nur Er kauft aus reiner Absicht Rostnägel um noch ein paar Kupfer rauszuschlagen. Krankhaft wenn man mich fragt. Aber im Gegensatz zu deinem Fuß nicht kurierbar, ohne seinen Kopf sauber von seinen Schultern zu trennen... Schade dass wir daran gehindert...“ Der Blick des Mannes fixierte erneut Gidos Bein. „Wo wir bei abtrennen sind. Wir müssen uns um dein Beim kümmern.“ Uneinsichtig wich Gido ein Stück zurück. „Nicht nötig.“ Das war seine Fahrkarte aus dieser Welt. Tödlich, wie der Mann ihm eben leider klar gemacht hatte. Wozu Kartoffeln essen, wenn man eine Blutvergiftung hat? Spatz in der Hand, Taube auf dem Dach. Der Mann starrte Gido in die Augen, erst erstaunt, dann belustigt, dann – die Augen weit geöffnet – bis aufs Blut entschlossen, als hätte er sich eine Entscheidung in die Haut geritzt. „Du wirst sterben. Das weist du.“ „Meine Angelegenheit, oder?“ Trotzig ging der, aus den Augen des Mannes törichte, aber in Anbetracht dessen Aufenthalts im Wald Sinn ergebende Junge einen weiteren Schritt weg vom Grundstück des Mannes. „Deine Letzte Antwort?“ Der Blick des Mannes bohrte sich in Gidos Augen. Er wartete kurz. Keine Antwort. Der Blick wandelte sich, in etwas zwischen Entschlossenheit und Bereuen. „Dann lässt du mir keine Wahl...“ Mit großen Schritten ging der Mann auf Gido zu, packte ihn am Arm, wodurch er diesen an einer gehumpelten Flucht hinderte und zerrte ihn allem Widerstand zum Trotz Richtung Scheune. An der Tür angekommen hob er den schweren Holzriegel an, blockte ein gutes Dutzend verbitterter Tritte und Schläge, bis er die Tür endlich geöffnet, den Jungen hinein auf einen Heuhaufen geschubst und selbst die Scheune betreten hatte. Der Verletzung wegen nicht fähig schnell genug aufzustehen musste Gido verzweifelt mit ansehen, wie der Mann die Tür von innen verriegelte. Für ein paar Sekunden herrschte eine angespannte Ruhe. Zwei Pferde drängten sich aufgescheucht in die hinterste Ecke des großen Holzkonstrukts. Schließlich drehte sich der Mann um und baute sich vor dem Heuhaufen bedrohlich auf. „Entscheide. Entweder ich entferne den Nagel und reinige die Wunde, oder ich hacke dir augenblicklich das Bein ab und stoppe so die Blutvergiftung. Und glaube mir, wenn es darum geht auch nur ein ehemaliges Opfer von Ihm am Leben zu halten, dann ist dein Bein ein kleines Opfer dass ich gerne bereit bin zu bringen.“ Zur Salzsäule erstarrt viel Gidos Blick auf eine Sense, die, auf ihn wartend, an der Innenseite der Tür hing. Daneben eine Sichel. Daneben eine Säge. Utensilien gab es genug. Er dachte nach. Kein Zweifel, dieser Mann würde die Drohung wahr machen, mit demselben Enthusiasmus mit dem er seinen Unmut über den Bauern im Wald auf die Felder hinaus gelacht hatte. Verlor er die Vergiftung, so verlor er die Möglichkeit in nächster Zeit zu scheiden. Verlor er sein Bein, wäre er an diesen Ort gebunden, für eine lange Zeit. Eine qualvoll lange Zeit. Grunzend hob er so gut es ging sein verletztes Bein, drehte den Fuß so dass er den Kopf des Nagels in seiner Fußsohle sehen konnte. Dann streckte er den Fuß mit emotionslosem Gesicht dem Mann entgegen. „Na gut.“ Der nickte, ging Richtung Tür, nahm eine Zange von der Werkzeugleiste an der Wand, kniete sich vor dem Heuhaufen hin und setzte die Zange am Nagelkopf an. „Das kann... Nein. Das wird jetzt weh tun. Ich habe Verbände im Haus. Wenn alles gut geht wird es verheilen.“ Innerlich seufzte Gido. Verheilen würde es, wie alles an ihm verheilte wenn es ihn nicht gerade umbrachte. Ob seine Finger wohl auch nachwuchsen? Schließlich zuckte er mit den Schultern. „Bin Schmerz gewöhnt.“ Ein grimmiges Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des erzwungenen Helfer aus. „Das glaube ich dir, Junge, das glaube ich dir... Bereit?“ Gido nickte mit dem Kopf. „Gut. Raus damit.“ Ein kräftiger Ruck mit der Zange und ein stechender Schmerz durchfuhr Gidos Fuß, sein Bein, stach die Wirbelsäule hoch bis in seinen Nacken. Das also war Schmerz. Er hatte lange keinen so intensiven verspürt. Wie in Trance beobachtete er wie der Bauer den vor Blut und Rost metallisch riechenden Nagel vorsichtig mitsamt Zange in einen umherstehenden Eimer pfefferte, als hätte er, buchstäblich, eine gefährliche Krankheit entsorgt. „Weg mit dir.“ Zischte er dem Nagel hinterher und begutachtete dann, hockend, Gidos Fuß, der, glatt durchlöchert, angefangen hatte zu bluten. „Wir brauchen Alkohol und saubere Bandagen.“ „Im Haus...“ Stellte Gido fest und setzte Probeweise seinen Fuß auf. Der Schmerz hatte sich wieder in ein sanftes Pochen verwandelt. Sanft aber trotzdem unangenehm. Zu allem übel knickte der Fuß auch noch jedes Mal weg, wenn Gido auch nur ansatzweise versuchte aufzustehen. „Soll ich dir helfen?“ Der Mann hielt Gido in einer einladenden Geste den Arm entgegen. Er starrte den Arm kurz an und suchte dann im Lächeln des Mannes irgendeinen Grund das Angebot nicht anzunehmen. Seufzend griff der blauäugige Junge nach der angebotenen Hand und einen kräftigen Ruck später standen beide wieder aufrecht, Gido auf die Schulter des Mannes gelehnt. Der lächelte ihn schief von der Seite an. „Wo wir schon so eng sind, ich bin Herard.“ „Gido...“ Antwortete der Junge aus stiller Höflichkeit. „Gido also... Gido. Wir müssen rüber ins Haus, ich kann dich stützen... Ah. Ja, so.“ Der Mann namens Herard schwang einen Arm unter Gidos Achseln hindurch um ihn zu stabilisieren. „Bereit?“ Gido nickte kurz mit dem Kopf, woraufhin Herard einen vorsichtigen Schritt aus dem Heuhaufen hinaus Richtung Scheunentor machte. Sehr zum Erstaunen des ergreisten Mannes zog Gido direkt nach, ohne ein Anzeichen von Schmerz oder auch nur ein Wimpernzucken. Nur das Wegknicken blieb gleich, auch wenn es von Herard abgefangen wurde. Schritt für Schritt bewegten sie sich, langsam aber sicher, Richtung Tor, an welches von Herard mit einem geübten Handgriff entriegelt wurde. Dieses Hindernis überwunden humpelten sie hinüber zum Haus. „Wenn es dir nichts ausmacht wird sich meine Frau die Wunde ansehen...“ Meinte Herard, während er Gido gegen die Hauswand zwischen Fenster und Tür bugsierte. „Sie ist bei sowas geschickter als ich.“ Er kratzte sich verlegen am Kopf und öffnete die Tür. „Schatz, kannst du mal kommen?“ Für einen kurzen Augenblick lies er Gido allein mit dem wabernden Nebel, auf der Suche nach seiner Frau. Herards schwere Schritte hallten auf dem Fußboden des Hauses, verstummten kurz und kehrten dann, eine Person mit leichterem Gang im Schlepptau zurück. Schließlich trat Herard wieder ins Freie und deutete auf Gido. Eine kleine, stämmig gebaute Frau mit Topfschnitt, aber mehr – bräunlichen - Haaren als ihr Mann erschien neben Herard. „Da ist er. Kannst du dir die Wunde an seinem Fuß mal ansehen?“ Die Frau lächelte erst ihren Mann, dann Gido an, stellte sich vor ihn und begutachtete ihn für einen Moment. Ihre gelben Augen zuckten besorgt, wann immer sie eine neue, schlecht verheilte Wunde entdeckte. „Gute Güte, wer um alles in der Welt war das? Sicher nur die Füße?“ Ein beunruhigter Klang schwang in ihrer Stimme mit. Gido nickte, nicht dass die Frau am Rest etwas ändern konnte, abgesehen davon dass nur der Fuß Priorität hatte um von dieser Familie weg zu kommen. Sie kniete sich vor ihm hin und deutete ihn an, den verletzten Fuß zu heben. „Gute Güte...“ Flüsterte sie, während sie den Fuß, blutend und durchlöchert, vorsichtig abtastete. „Gute Güte!“ Wiederholte sie noch einmal etwas lauter. „Und wie weit bist du damit gelaufen?“ Gido zuckte mit den Schultern. „Vom Hof aus dem Wa-“ „Ei~ gentlich will ich es auch erstmal lieber nicht wissen.“ Gido starrte die Frau an. Sie ignorierte ihn völlig. „Schatz, sei so lieb und leg ihn auf das freie Bett. Wir müssen die Blutung stillen- Nein!“ Sie drückte Gido gegen die Wand um ihn am gehen zu hindern. „Kein weiterer Schritt. Herard. Trag ihn.“ „Ja Schatz...“ Herard rollte mit den Augen, während seine Frau an ihm vorbei ins Haus huschte um das nötigste zusammen zu suchen. Ein gemurmeltes 'Frauen...' auf den Lippen ging er mit dem Rücken vor Gido in die Knie. Ohne großen Widerstand ließ der sich Huckepack nehmen und ins Haus tragen, ein fast unsichtbares Grinsen auf den Lippen. Die Szene hatte etwas, das er nicht recht erfassen konnte. Das Haus war spartanisch eingerichtet. Der kurze Flur, am Eingang des Hauses, verband durch dünne, helle Holztüren die einzelnen Zimmer miteinander. Von seiner Position auf dem Rücken des armen Menschen, der ihn tragen durfte, zählte Gido eine kleine Küche mit Esstisch für zwei, vielleicht drei Personen, ein ebenso kleines Wohnzimmer mit Sessel und Sitzgarnitur, ein Badezimmer und das Schlafzimmer. Alle Zimmer waren im selben Stil gehalten. Dunkelbraune Holzwände, mit irgend einer dumpf schimmernden Substanz bepinselt um der Korrosion ein Schnippchen zu schlagen, verziert mit einer Hand voll Bildern von Sonnenauf- und Untergängen, von Kindern, Menschen, einer metallisch anmutenden Stadt. Das letzte Bild, in einer Ecke des Schlafzimmers zeigte das Paar. Ohne graue Haare. Ohne Falten. Mit leuchtenden Augen. Gido fixierte das Bild während er von Herard vorsichtig auf die Bettkante gesetzt wurde. Die geistige Abwesenheit seines Gastes bemerkend folgte Herard dessen Blick bis zum Portrait. Ja, das waren Zeiten. Jetzt fixierte der Junge Herards Kopf. Blickte zurück zum Bild, schüttelte ungläubig den Kopf. Wiederholte das ganze. Ein belustigtes Pfeifen entwich dem Mund des alten Mannes. Der Junge würde höllische Halsschmerzen bekommen wenn er seinen Hals weiter zwischen Bild und Abgebildetem hin und her drehte. Er stellte sich neben das Portrait, dass ein Maler vor allzu langer Zeit von ihm und seiner lieben Frau angefertigt hatte. „Ich.“ Fingerzeig auf den Mann. „Meine Frau.“ Er deutete auf die junge Frau auf dem Bild. „Und jetzt hör auf so zu tun als hättest du noch nie ein Bild gesehen.“ Der Junge blickte ihm mit einer Mischung aus Entgeisterung und unterschwelliger Bitterkeit entgegen. „Ich habe noch nie ein Bild gesehen.“ stellte er trocken fest. Herard biss sich auf die Zunge. Natürlich. Wie konnte er nur so dumm sein. Im Wald waren Bilder ja verboten, zu emotional. Sie schädigten das Arbeitsklima, zumindest wenn es nach diesem Bastard ging. „Tut mit Leid.“ Herard ließ betroffen seine Augen zu Boden sinken. Erst Herards Frau durchbrach die unangenehme Stille. Einen kleinen Kasten und saubere, sogar weiße Bandagen in der Hand wuselte sie ins Zimmer und wies Gido an, sich weiter aufs Bett zurück zu setzen. „Schatz, kannst du ihn bitte festhalten?“ wandte sie sich an ihren Mann, während sie, vor Gido kniend, ein kleines Fläschchen aus der Kiste kramte. „Hildegard. Higa für dich. Dein Name?“ Higas Mann setzte sich hinter Gido aufs Bett und erneut fand er sich in Herards festem Griff, der ihn noch ein Stück weiter zurück auf das geräumige Bett zog, sodass Herards Frau - Higa - ungestört an Gidos Fuß herumwerkeln konnte. „Gido. Warum?“ fragte Gido, dem seine Position sichtlich unangenehm war. Was tat man nicht alles dafür um wieder in sein Verderben gehen, anstatt humpeln, zu können. „Angenehm. Und...“ Mit geübten Bewegungen riss die Frau ein Stück der Bandage ab und betupfte es sorgfältig mit der Flüssigkeit des Fläschchens. „Wenn du meinen Namen kennst ist die Wahrscheinlichkeit niedriger dass du mich umbringst wenn es zu sehr weh tut oder ich aus Versehen deinen Fuß lähme. So, Zähne zusammen.“ Higa tupfte vorsichtig die Wunde an Gidos Fuß ab. Der Junge biss die Zähne zusammen. Erwartete den angekündigten Schmerz. Als nur ein leichtes Stechen seinen Kopf erreichte, entspannte er sich. Ein wenig erstaunt über das plötzliche Lockerlassen arbeitete sich Higa zur Oberseite des Fußes vor. War der Fuß des Jungen schon taub? Sie wusste aus eigener Erfahrung dass der Junge eigentlich hätte schreien müssen. Abgesehen davon... Sie legte den Stofffetzen weg und fuhr mit ihren Fingern um die desinfizierte Wunde. War die Wunde nicht eben noch größer? Ein wenig zumindest. Der Junge heilt schnell. Bei der Lebenserfahrung auch kein Wunder. Den Kopf schüttelnd griff Higa nach dem Bandagenstoff, wickelte ihn vorsichtig um den Fuß des Jungen und fixierte ihn schlussendlich mit einer Anstecknadel. „Heute wird doch mein Mann noch durch die Gegend tragen...“ „Abe-“ Begannen Herard und Gido fast zeitgleich, wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen. „Keine Widerrede!“ erstickte sie die Einwände beider Männer im Keim. „Die Wunde muss zumindest heute noch anheilen. Und du Schatz...“ flötete sie in Herards Richtung. „Kannst das bisschen Übung gut gebrauchen.“ Sie packte das Fläschchen zurück ins Kästchen, nahm die restlichen Bandagen und verschwand ohne weitere Worte aus dem Zimmer. Seufzend nahm Herard - endlich - die Hände von Gidos Armen. Er lächelte. „Deshalb hat sie sich aus ihrem Namen einen Jungennamen gebastelt...“ In der Tat, Higa klang nicht besonders weiblich. Für Gido ergab es Sinn, auch wenn er schon zum zweiten Mal an diesem Tag keinen Finger auf seine Situation legen konnte. Er drehte sich zu Herard, den Fuß vorsichtig auf die Bettkante legend. Warum lächelte der Mann, wenn er eben zurecht gewiesen wurde. Der Junge schüttelte innerlich den Kopf. Er hatte ohnehin nicht das Recht so etwas zu erfahren. Das Bett wackelte ein wenig als Herard von der Kante rutschte. Er hatte den Grund, warum er aus dem Haus gegangen war beim Aufeinandertreffen mit dem Jungen völlig vergessen. Er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, gegenüber der Tür, auf die wieder dichter zusammen wabernden Nebelschwaden und ging schließlich um das Bett herum zur Tür, wo er verharrte. „Ruh' dich ein wenig aus. Wenn du etwas brauchst, ruf Higa.“ sagte er, jedes Wort von einem wehmütigen Seufzen begleitet. „Ich muss noch was erledigen. Das letzte Mal hast du mich schließlich abgelenkt.“ Gido zu zwinkernd drehte er sich um und verschwand, wie seine Frau zuvor in der Tür. Der dunkelhaarige Junge reckte seinen Hals ein wenig um zu beobachten, wie Herard gegenüber in die Küche ging, ein paar leise Worte mit seiner Frau wechselte und schließlich lachend das Haus verließ. Als die Tür ins Schloss viel und nur das leise Werkeln Higas in der Küche daran erinnerte, dass noch eine Person im Haus war, ließ sich Gido, immer noch auf dem Bett sitzend, rückwärts auf die Matratze fallen. Sie federte. Und sie war weich. Probeweise wippte er ein paar Mal auf und ab. Bequem. Viel bequemer als sein Bett. Als sein Heuhaufen, berichtigte sich Gido selbst. Das Bild an der Wand zog ihn wieder in seinen Bann. Farbe auf Papier, aber so gekonnt aufgebracht, dass sie den Moment perfekt einfing. Der blauäugige Junge zog seine Beine hoch aufs Bett. Ja. Bequem. Schnurrend breitete er sich auf dem Bett aus, die wohligen Geräusche die er produzierte vollkommen verdrängend. Ein Bild von ihm. Wie würde es wohl aussehen. Nur zwei Farben kamen ihm in den Kopf. Schwarz und weiß. Weiß überall dort, wo er das Bild nicht berührte. Schwarz dort, wo er abgebildet war. Er lächelte. So war es richtig. Ein selbst zufriedenes Stöhnen später schlief er bereits, leise schnarchend. Erschöpft, aber insgesamt mit sich selbst zufrieden, ein leises Pfeifen auf den Lippen betrat Herard drei Stunden später das gemeinsame Haus. In der Tür klopfte er sich den Dreck von den Schuhen und schloss endlich und - so beschloss er - für diesen Tag endgültig die Haustür. Das erste Mal als er sie geöffnet hatte um alles für den nächsten Tag vorzubereiten stand ein junger Mann in seinem Vorgarten, dem er später den Namen Gido entlockte. Ein Junge vom Hof im Wald. Eine gepeinigte Seele, wenig umgänglich, leicht geistig verwirrt, dafür nicht wenig verletzt. Dazu der dichte, depressive Nebel. Beim zweiten Öffnen der Tür hatte ihn dann nichts aufgehalten, außer dem Nebel, der grau und langweilig jeden guten Willen in der zu erledigenden Arbeit erstickt hatte. Aber es musste nun mal erledigt werden. Der morgige Tag war die letzte Möglichkeit Korn los zu werden und gleichzeitig die Vorräte aufzustocken, bevor viel - sehr viel - Papierkram dazu nötig wurde. Der Winter war nicht zu unterschätzen. Und auch Gehdlingen, Hochburg der Farmer und des Getreide, musste über die kalte Jahreszeit hinweg rationieren. Außerdem mussten Samen für das nächste Jahr abgeholt werden. Aus seinem Pfeifen wurde ein Summen. Endlich. Er kickte die Schuhe von seinen Füßen in die Ecke des Flurs zwischen Küchentür und Haustür, zu einem zweiten Paar ordentlich aufgereihter Schuhe. Er schnupperte. Ein deftiger Geruch zog in seine Nase. Angezogen vom verheißungsvollen Duft schlenderte der groß gebaute Mann in die Küche und umarmte seine Frau, die sich über die Feuerstelle gebeugt hatte. Die Konstruktion - selbst gebaut natürlich - erinnerte ein wenig an einen Kamin. Er schnupperte über Higas Schulter hinweg nach dem Inhalt des Topfes, der über dem knackenden Feuer vor sich hin köchelte. „Ich hab' Hunger.“ sagte Herard schließlich und Higa war sich sicher den Schmollmund ihres Mannes spüren zu können. Sie kicherte. „Hast du alles vorbereitet?“ Mit dem Kopf nickend griff er nach dem Deckel des Topfs. „Ja, alles bereit für den großen Ta~ ak.“ Seine Frau versetzte ihm einen leichten Klapps auf die Hand. „Ah-ah. Erst wenn es fertig ist.“ Sie drehte sich in seinen Armen um und drückte ihn mit leichter Gewalt auf einen der drei Stühle, die kreuz und quer um den großen, viereckigen Tisch angeordnet waren. „Sei ein braver Junge und du bekommst was zu Essen.“ Herard schnaufte. „Das will ich aber auch hoffen. Morgen wird anstrengend. Den halb vollen Karren einmal nach Gehdlingen, abladen, verkaufen und darauf achten nicht über den Tisch gezogen zu werden...“ Er hielt kurz inne, in Erinnerung an unangenehme und vor allem schlechte Geschäfte. Und in Erinnerung an die Reaktion seiner Frau, die ihn kurzerhand wegen seiner Blauäugikeit für eine Woche in die Scheune ausquartiert hatte. Er schüttelte seinen Kopf um das aufkommende Grinsen zu unterdrücken, was ihm allerdings nicht besonders gelang. Räuspernd fuhr er fort. „...Vorräte kaufen und einen zum Zerbersten voll geladenen, viel zu alten Karren zusammen mit der alten Betsy zurück zum Haus schaffen.“ Die in die Jahre gekommene Frau schüttelte den Kopf. „Tja, wir werden eben nicht jünger.“ „Wie wahr. Wie wahr...“ Beide fingen an zu lachen. Higa nutzte die Zeit um den Deckel anzuheben, einen Löffel von den Haken am steinernen Abzug über der Feuerstelle zu nehmen und, nicht ohne vorher kräftig zu pusten, ihre hauseigene Gemüsesuppe zu probieren. „Mhm.“ Sie nickte zufrieden. „Fertig. Weckst du bitte unseren Gast?“ Herard gab eine Mischung aus einem Stöhnen und einem Seufzen von sich, stand dann, unter den strengen Blicken seiner Frau, auf und schlenderte Richtung Schlafzimmer. „Kaum zu fassen dass der immer noch schlaft.“ Grummelte er vor sich hin, kam aber schnell wieder zur Besinnung als er, über das Bett gebeugt, den bandagierten und auch sonst hart mitgenommenen - wie viele Narben hatte der Junge eigentlich? - Jungen anschaute. Der schlummerte, ein friedliches Lächeln auf den Lippen vor sich hin, die Vergangenheit ob des weichen Bettes für ein paar Stunden vergessen. Belustigt beobachtete Herard, wie der unverletzte Fuß, weit vom Körper weg gestreckt regelmäßig zuckte. Ein Arm des Jungen lag locker auf seinem Bauch, das Shirt ein Stück hoch geschoben. Eine Hand voll weiterer Narben und alter, verwachsener Wunden fielen Herard ins Auge. Ein Grund mehr, den alten Schweinehund zu hassen. Nur was sollte man dagegen tun. Ob es gefiel oder nicht, der Mann stellte einen Großteil Gehdlingens Resourcen für den Winter. Er arbeitete Effektiv. Die Nebeneffekte wurden von den meisten in Kauf genommen. Der Hof war im Wald. Gehdlingen in den weiten Ebenen des Farmlands. Solange niemand mit ansehen musste... Herard stockte. Der lebende Beweis lag in seinem höchst eigenen Bett, direkt vor ihm. Er würde den Jungen mit nach Gehdlingen nehmen. Er würde ihn dorthin schleifen. Vielleicht würden sie den alten Sack mit der Hilfe des Jungen endlich los. Das Klackern von Tontellern auf dem Holztisch riss den alten Mann aus seinen Gedanken. Er beugte sich über das Bett und rüttelte leicht an Gidos Schultern. Der Junge drehte sich auf die Seite, riss die Augen auf und schoss dann, aus purer Routine, in eine aufrechte Sitzposition. Herard legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. War es selbstsüchtig den armen Jungen zu benutzen um den Bauern los zu werden? „Du hast geschlafen.“ meinte der Mann und spürte, wie sich Gido, der sich anscheinend an die Umstände seines Aufenthalts in diesem bequemen Bett erinnerte, ein wenig entspannte. Tatsächlich verspürte der dunkelhaarige Junge eine ihm fremde Gelassenheit. Er war aufgewacht und musste nicht seine Überlebenschancen neu kalkulieren. In der Gegenwart des Mannes und seiner Frau, dem Mannsweib Higa zumindest nicht. Blieb nur die Frage, warum er geweckt worden war. Ein Blick aus dem Fenster verriet dass es dunkel war, inzwischen Nacht und dass der Nebel immer noch umher zog. Herard blieb Gidos leicht verwirrter Blick nicht verborgen. „Meine Frau hat 'was zu Essen gemacht.“ Schnüffelnd versuchte Gido die Aussage zu bestätigen. Jetzt wo es erwähnt wurde, es roch tatsächlich nach Essen. Gemüsesuppe, wenn er richtig lag. Ein Geruch den er im Wald des öfteren ertragen musste, wenn der Wind ihn vom Schornstein des Bauernhauses zur Scheune herüber trug. Ein Geruch den er nicht mit einem Geschmack in Verbindung bringen konnte. Die Male, die Gido von den Mägden geschmuggeltes Essen probieren durfte, konnte er an einer Hand abzählen. Der Junge nickte, rutschte vom Bett und folgte seinem Gastgeber - war das das richtige Wort? - in die kleine aber gemütliche Küche. Die Fensterläden waren geschlossen, sodass sich die warme Luft und der appetitlich riechende Geruch der Suppe im ganzen Raum verteilten. Higa war damit beschäftigt die Tonschalen mit üppigen Portionen zu füllen, Herard setzte sich auf den Stuhl direkt an der Kochstelle, selbiger den Rücken zukehrend und Gido blieb etwas unentschieden in der Tür stehen. Setzen oder auf eine Aufforderung warten. Was war höflicher. Er trat sich gedanklich vor's Schienbein und richtete seinen neutralen Gesichtsausdruck. Diese Gastfreundschaft beeinflusste ihn auf eine Art und Weise die ihm nicht wirklich gefiel. Zwei volle Schüsseln in der Hand drehte sich Higa um. „Setz' dich Junge.“ Sie zwinkerte ihm zu. Der Aufforderung folgend nahm Gido Herard gegenüber Platz. Es bereitete generell Probleme Aufforderungen abzulehnen. Einen Augenblick später stellte Herards Frau eine große, dampfende Schüssel Suppe vor Gidos Nase. Ein Löffel folgte, nachdem sich Higa ihre eigene Portion aus dem Topf geholt hatte. Ein aufforderndes Lächeln auf den Lippen, begleitet von einem gefährlichen Glänzen in ihren Augen, setzte sie sich an den Kopf des Tischs. „Lasst es euch schmecken.“ Herard rollte mit den Augen, während Gido ausdruckslos Higas Gesichtsausdruck entzifferte. 'Sag dass es nicht schmeckt und ich töte dich.' Der grauhaarige Mann nickte Gido zu. „Appetit.“ „Appetit.“ kam die Antwort seiner Frau zurück, ebenfalls mit einem Kopfnicken. Sich sicher, dass es sich um eine Tradition handeln musste die wo er her kam entweder nicht praktiziert - schließlich war der Hof im Wald generell ein Traditionsloch - oder ihm nicht beigebracht wurde - schließlich wünschten sich Tiere auch keinen Appetit - nickte Gido bestätigend, wenn auch wesentlich konzentrierter und ernster. „Appetit.“ Er wartete ab bis die beiden Älteren ihre ersten paar Löffel geschlürft hatten, dann hob er einen Löffel der Gemüsesuppe vor sein Gesicht, pustete kurz, denn dampfen bedeutete auch für ihn etwas heißes, und schlürfte dann erst langsam, dann - erstaunt über den guten, nicht verdorbenen Geschmack - schneller die Flüssigkeit. Den ersten Teller aßen die Drei in relativer Ruhe und Gelassenheit. Zwar erforderte dass einiges an Beherrschung von Gido, aber je langsamer er aß, desto länger hatte er etwas von der Mahlzeit. Trotzdem schaffte er es die Portion in einem Bruchteil der Zeit zu vernichten, die seine Gastgeber dazu benötigten. Aber das Essen, das sein Magen seit ewigen Zeiten in ausreichendem Maße bekam und der Duft, der inzwischen auch in seine Kleidung gezogen war, verfehlten ihre Wirkung, sehr zu seinem Missfallen, nicht. Ein lang gezogenes, tiefes Knurren entwich seinem Bauch. Peinlich berührt und ein wenig verärgert, dass er seinen Körper nicht so unter Kontrolle hatte wie er es gewöhnt war schob er die leere Schüssel von sich. Herard schmunzelte ihn belustigt an. „Da freut sich aber jemand. Das erste Essen seit Tagen. Oder Wochen?“ Er verdrängte den Gedanken an die Zustände im Wald schnell wieder. Unappetitlich. „Nachschlag?“ Gido wägte das Angebot ab. Sein Bauch übernahm die Antwort mit einem zweiten, noch intensiveren Geräusch, das bald entfernt mit Blubbern und Grollen in Verbindung gebracht werden konnte. Higa schnappte sich Gidos Schale, bevor der protestieren konnte und stellte sie ein paar Handgriffe später prall gefüllt wieder auf ihren Platz. „Die Frage hat sich wohl erledigt.“ Sie sah dem Jungen lächelnd beim Vernichten des Nachschlags zu, womit der dunkelhaarige direkt nach einem bestätigenden Grinsen ihres Mannes begonnen hatte. Schweigen und das regelmäßige Klappern eines Löffels begleiteten Portion Nummer drei und vier. Und der Junge zeigte keine großen Anstalten aufzuhören. 'Wo steckt der Junge das nur hin?' fragte sich Higa still. Sie hatte schon viele Mäuler gestopft, von schwer Arbeitenden Erntehelfern aus Gehdlingen die beim Abarbeiten der Felder halfen. Aber einen derartigen, normalen Hunger. Der Junge war nach anfänglicher Ungeduld wieder in eine langsame, gemütliche und ausgiebige Essmanier zurück gerudert. „Wenn es keine Umstände macht, könnte ich...“ Kein Anzeichen auf den Lippen, ob ihm das Mahl überhaupt schmeckte, bat er erneut um Sekundies, wie Herard den Nachschlag kurz nach der zweiten Schüssel genannt hatte. Eigentlich hatte sich sein Gesicht seitdem er sich gesetzt hatte nicht annähernd verändert. Verwundert, aber geduldig füllte Herards Frau zum fünften Mal die Schüssel. Hatte nicht einer der Händler im Dorf von bodenlosen Fässern erzählt? Nun, da saß kein Fass auf dem Stuhl. Aber jemand bodenloses. Nachdem die letzten Reste aus der Schüssel gekratzt waren - alles andere wäre noch mehr Verschwendung als durch das Anbieten der Suppe an ihn überhaupt schon angerichtet wurde - lehnte sich Gido zurück. Er verspürte keine generelle 'Sattheit' wie er es nach diesen, für ihn Unmengen, an Essen erwartet hatte. Eher so etwas wie das stille Verlangen, nicht weiter zu essen. „Satt?“ Herard schmunzelte. „Würde mich auch schwer wundern wenn nicht...“ Etwas trübselig linste er Richtung Topf. Eigentlich sollte dass das Abendessen für die nächsten zwei Tage werden. Nun reichte es höchstens noch für einen. Er musste ja ohnehin in die Stadt. Dinge kaufen. Dinge erledigen. Seine Frau räumte die Schüsseln vom Tisch und ließ sie in einen Eimer voll Wasser plumpsen. Der ältere Mann räusperte sich, was ihm wie erwartet Gidos Aufmerksamkeit schenkte. „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“ Er wartete auf eine Reaktion vom Jungen. Nach einer Minute totenstille - Higa war mit dem Eimer aus dem Haus gewuselt - nickte Gido mit dem Kopf. Bisherige Gefallen waren stets schmerzhaft ausgegangen. Sein Aufenthalt im Haus dieser beiden Menschen war bisher nicht schmerzhafter verlaufen als unbedingt nötig. Herard nahm das Kopfnicken als Zeichen dass er weiter reden durfte. „Morgen ist der letzte Tag, an dem man ohne besonderen Notstand die Vorräte aufstocken kann. Die alte Betsy ist alt, sogar für ein Pferd und auch ich bin nicht mehr der Jüngste.“ Gido starrte dem Mann in die Augen. Er sollte ihm also dabei helfen. „Ich möchte, dass-“ „Sie möchten dass ich sie begleite und ihnen Helfe.“ Sprach Gido seine Vermutung, nein, seine Schlussfolgerung laut aus, noch bevor Herard seine Bitte fertig äußern konnte. Der ältere Mann zog eine erstaunte Augenbraue hoch und ließ dabei ein zustimmendes Grunzen von sich. „In Gehdlingen finde ich sicher jemanden der mir auf dem Rückweg hilft, aber für den Hinweg brauche ich dich.“ Die Worte blieben für ein paar Sekunden in der Luft hängen. „Wie schaut's aus?“ Der dunkelhaarige Junge stand auf, ging quer durch das Zimmer zum Fenster und warf einen Blick auf das dunkle, wabernde Etwas dass die ganze Gegend einhüllte. Gehdlingen. Da draußen konnte er nichts erkennen. Wie es aussah würde er noch ein wenig weiter leben. In der Gegenwart dieses Mannes noch Äonen. Er schüttelte belustigt den Kopf. „Ich helfe ihnen.“ Tat er seine Entscheidung kund. „Gut.“ Herards Stimme entspannte sich etwas, ein zufriedenes Funkeln bildete sich in seinen Augen, als hätte diese Entscheidung dem Mann ein gutes Stück Arbeit abgenommen. „Morgen früh um Acht Uhr ziehen wir los, der Karren ist schon bereit...“ In diesem Moment huschte Higa zurück in die Küche, summend, und stellte die sauberen Teller zurück in den unscheinbaren Schrank neben der Kochstelle. Sie beäugte Gido, der sich inzwischen wieder dem Nebel zugewandt hatte und nur noch halbherzig Herards Erklärungen lauschte - das wichtigste bekam er ohnehin mit - und wendete sich dann ihrem Mann zu. „Karren? Du hast den Jungen doch nicht etwa dazu beschwätzt deinem alten Hinterteil beim Weg morgen zu helfen?“ Ihr Mann grinste sie unschuldig an. „Herard!“ Sie verpasste ihm mit einem umher liegenden Handtuch einen vorwurfsvollen Klapps auf den Hinterkopf. „Glaubst du nicht dass der Junge schon genug geschuftet hat?“ „Ich bin es gewöhnt. Nimm einem Arbeiter die Arbeit und...“ Zischte Gidos Antwort unbeendet durch den Raum, zwischen seinen Zähnen hindurch gepresst. „Ich bin es gewöhnt.“ Korrigierte er sich und verschluckte den Gedankengang den er laut begonnen hatte. „Er hat es selbst entschieden.“ Herard ließ seine Finger wiederholt auf den Tisch tippen. „Und sein verletzter Fuß?“ „Das ist meine Sorge.“ Fuhr ihr Gido zum zweiten Mal, diesmal ruhiger ins Wort. Irgendwo musste es eine Grenze geben. Er konnte nicht ewig jemanden an sich herum doktoren lassen. „Ich heile schnell.“ Fügte er noch an. „Ja...“ Higa seufzte. Sie konnte nicht leugnen dass sie über seinen Fuß erstaunt war. Sie hatte nichts mehr in der Hand. Pff. Sollte der Junge eben selbst entscheiden. „Na gut. Aber wenn die Wunde morgen wieder aufreißt, reiße ich jemand anderem in diesem Raum mehr auf als nur den Fuß.“ Sie funkelte ihren Mann drohend an. „Das wird sie nicht.“ Gido starrte leicht irritiert in den Nebel. Was hatte diese Frau nur? Ein Ausdruck der mehr verstört als nachdenklich anmutete machte sich auf seinem Gesicht breit. Wieder eine Situation mit der er nichts anfangen konnte. Zu viele für einen Tag. Für seinen Geschmack. Im Hintergrund verpasste Higa ihrem Mann so etwas wie eine Standpauke. Sie interessierte Gido nicht. Er kannte sie alle auswendig. Es gab wichtigeres. Der Braunhaarige drehte sich gemächlich um und beobachtete für einen Moment das Treiben der beiden Menschen vor ihm. Sie schienen nicht auf ihn zu achten, so tief waren sie in ihre Diskussion - alte Menschen streiten nicht - verfallen. Herard, der im Gegensatz zu seiner Frau Gido nicht den Rücken zugewandt hatte, bemerkte Gidos irritierte Blicke zuerst. Er versetzte seiner Frau einen leichten Stoß und deutete auf den Jungen. „Ja?“ „Ich brauche einen Platz zum Schlafen.“ Der grauhaarige Mann kratzte sich kurz am Kopf. „Das stimmt wohl. Nun, du hast die Wahl zwischen dem Sofa und dem Heuhaufen in der Scheune.“ „Die Scheune.“ Antwortete der Junge ohne einen Moment zu zögern, was Herard die Sprache verschlug. Die Scheune war eigentlich nur als Scherz gedacht. Nach dem Nickerchen auf dem Bett hatte er eigentlich erwartet dass Gido das Sofa vorziehen würde. Andererseits das vor ihm war ein Mensch der der Vernunft weitestgehend abwegig war. Higa öffnete den Mund um Einspruch zu erheben. Ein abwimmelndes Handzeichen ihres Mannes ließ sie verstummen. Sie blieb still. „Wo der Heuhaufen ist weist du ja inzwischen.“ Erinnerte Herard mehr sich selbst als den Jungen daran. Gido nickte kurz, riss sich von seinem Fensterplatz los und machte Anstalten das Haus zu verlassen. „Oh- und...“ Merkte Herard an als Gido in der Küchentür stand. „Das Klo steht hinter dem Haus. Nicht in der Scheune.“ Schulternzuckend passierte Gido den Flur, öffnete die Haustür und trat ins Freie. Hinter sich hörte er noch Higas Hinweis, er möge die Brille herunter klappen - was auch immer das bedeuten mochte - dann zog er die Tür ins Schloss. Fast augenblicklich zog ihm die Kälte der Nacht in die Knochen. Eine dumpfe Kälte, begleitet von dem Umstand, dass er kaum seine eigenen Füße sehen konnte. Die Nacht mochte ihn nicht besonders. Nein, falsch. Die Nacht mochte ihn, der Nebel aber nicht. Er streckte seine Hand aus, kniff die Augen ein paar Mal zusammen, bis sich seine Augen genug an die Dunkelheit gewöhnt hatten um seine Fingerspitzen klar erkennen zu können. Das Licht, dass aus dem verglasten Fenster schräg hinter ihm entwich machte die Sache nicht gerade leichter. Er schaute angestrengt zwischen seinen Fingern hindurch in die Dunkelheit. In einiger Entfernung huschte ein fuchsgroßer Schatten durch sein Blickfeld, links von ihm zeichnete sich gerade so die Scheune vom tristen Schwarz ab, welches rechts von ihm klar dominierte. Ein leises Fiepen drang an Gidos Ohren. Ein Fuchs. Keine Seltenheit und sicher nicht gefährlich. Nicht gefährlicher als die durchschnittliche Ratte zumindest. Welche er womöglich zwischen den Zähnen in seinen Bau verfrachtete während Gido darüber nachdachte. Zeit sich zu bewegen. Seine Sicht würde nicht mehr besser werden, diese Nacht. Aber gegen einen gewissen Drang, der sich in seiner Blase sammelte, ließ sich etwas unternehmen. Hinter dem Haus? Gemächlich schlich er die Hauswand Richtung Scheune. Hinter dem Haus. An der Ecke angekommen legte er eine Hand auf selbige. Er sah, gelinde ausgedrückt, nichts. Einer seiner beiden Gastgeber, Higa oder Herard - einerlei - hatte die Fensterläden geschlossen. Und das spärliche Licht, dass durch die Ritzen drang reichte nicht aus um den Weg zum Klohäuschen aufzuzeigen. Es konnte also direkt hinter dem Haus, oder in ein paar Kilometern Entfernung stehen. Letzteres verwarf er schnell wieder. Eine solche Positionierung würde sich schon beim ersten Harndrang als äußerst unpraktisch herausstellen. Training für die Blase, Qual für den Blasenbesitzer. Zähneknirschend, immerhin staute sich der Drang schon länger als einen Tag in Gidos Blase an, tastete er sich an der Wand entlang und lehnte sich, einen angestoßenen, zum Glück gesunden Fuß später an die Rückwand des Hauses, die Augen wieder einmal zu Schlitzen verengt. Einen halben Meter neben ihm, an der Wand, stand der Karren von dem Herard gesprochen hatte. Ein paar leere, ein paar volle und ein paar halb volle Säcke lagen ordentlich organisiert auf der Ladefläche. Welcher Sack voll war und welcher nicht ließ sich allerdings nicht auseinander halten. Mehr konnte er auch mit dem besten aller Willen nicht erkennen. Mit dem Häuschen hatte er mehr Glück. Ähnlich wie die Scheune setzte es sich, in der Gestalt eines nicht ganz so schwarzen Schattens, in nicht ganz fünf Metern Entfernung von der Ödnis des umgebenden Wasserdampfs ab. Erleichtert in Gedanken an die folgende Erleichterung stolperte er den Weg zum Plumpsklo der Familie und öffnete die mit einem Herzchen verzierte Tür. Das hatte Higa also mit Brille herunter klappen gemeint. Nicht ganz eine halbe Ewigkeit später verließ Gido sichtlich erleichtert das eng bemessene Häuschen. Toiletten, musste er zugeben, stellten eine nette Abwechslung zum Wald dar. Im Wald war er gezwungen selbigen zu benutzen. Ein Klo gab es. Für die vollwertigen Vertrauten des Bauern. Gido schüttelte den Kopf. Vergangenheit. Der Weg zur Scheune gestaltete sich wenig aufregend, was unter anderem am gut sichtbaren Abdruck lag, den sie am düsteren Himmel hinterließ. Das Tor öffnete sich unter Gidos Händen mit einem dumpfen, langezogenen Knarren, als wäre es lange nicht geölt worden. Aus der hintersten Ecke zeugte ein leises Wiehern von der Anwesenheit der alten Betsy. Der Junge grinste, kaum sichtbar, aber er grinste. Zwei Arbeitstiere unter einem Dach. Zwei geschundene Arbeitstiere unter einem Dach. Welch Ironie des Schicksals. Kein Schicksal, korrigierte er sich. Das Pferd hatte ein Schicksal. Geboren werden, Menschen dienen, mehr oder weniger glücklich sterben. Er legte sich auf den Heuhaufen in der Mitte der Scheune. Vertrauter Strohgeruch zog ihm in die Nase. Er hatte kein Schicksal. Entscheidungen, die das eine oder das andere bewirkten. Die Entscheidung zu leben oder die Entscheidung zu sterben, brachte er die Sache auf die Spitze. Herard hatte ihm diese Entscheidung heute abgenommen. Er mochte diesen Gedanken nicht. Es war seine Entscheidung. Er würde sich seine Entscheidungen nicht mehr abnehmen lassen. Das würde jedoch bedeuten, weiter zu leben um mehr eigene Entscheidungen treffen zu können. Er kratzte sich am Kopf, nestelte sich eine Kuhle und verschränkte schließlich die Arme hinter seinem Kopf, die Augen halb geschlossen. Alle anderen überlebten, weil sie sich unbewusst dazu entschlossen hatten. „Rgh!“ Ein kurzer, stechender Schmerz durchfuhr seine Stirn. Ein Bild brannte sich - ebenso kurz - in seinen Kopf. Ein Baby, hechelnd, kaum atmend auf einer Lichtung. Allein. Er zuckte zusammen. Seine Muskeln zitterten unkontrolliert. Ein zweiter, fast unertragbarer Schmerz, breitete sich in seinem Kopf aus. Er biss die Zähne zusammen. Massierte seine Augen mit krampfenden Fingern. Zittern. Krampfen. Zittern. Es schrie, röchelte, schrie weiter. Unerlässlich. Unerträglich. Gidos Körper verkrampfte ein letztes Mal, verbunden mit einem Gefühl als würde sein Kopf zerreißen. Dann. Nichts mehr. Sein Atem rasselte durch seine Lunge, unregelmäßig. Sein Körper entspannte sich. Langsam. Nur die Kopfschmerzen blieben, leicht pochend, gerade stark genug um an ihre Anwesenheit zu erinnern. Ein angenehmes, bekanntes Gefühl der Agonie breitete sich aus. Seine Entscheidung war gefallen. Diese Erkenntnis überfuhr ihn mit einer Wucht, härter als jeder ihm bekannte Schmerz. Seine Entscheidung war gefallen. In dem Moment, in welchem er Herard zugestimmt hatte ihn nach Gehdlingen zu begleiten. Das Warum spielte keine Rolle mehr. Ein leises Kichern zog durch die Scheune, baute sich zu einem, kreischenden, manischen Lachen auf, bis es letzten Endes in gleichmäßige Atemstöße überging. Der Schlaf holte ihn nicht früher ein als sonst. Kleng Kleng. Missmutig drehte er sich um. Er hatte geschlafen. Der Morgen war da. Jemand schlug mit einem Hammer auf einen metallenen Eimer ein. Direkt neben seinem Kopf. Grunzend drehte sich der Junge um. „Aufstehen. Frühstück.“ Verkündete eine seltsam bekannte, enthusiastische Frauenstimme. Kleng Kleng. Er spielte für einen Augenblick mit dem Gedanken der Frau das Werkzeug aus der Hand zu reißen. Der Gedanke wurde verworfen. Er entschied sich für die schmerzlosere Variante. Er drehte sich auf den Rücken und öffnete die Augen. Higa. Er war nicht im Wald. Die Antwort viel ihm etwas leichter als zunächst angenommen, wenn sie auch nicht minder trocken ausfiel. „Ich bin wach.“ Er starrte die resolute Frau aus seiner liegenden Position an. Kleng Kleng. Kleng Kleng. „Ich bin wach.“ Wiederholte der braunhaarige Junge leicht irritiert. Ein hämisches Grinsen auf dem Gesicht flötete Higa ein abgehaktes „Ich weiß!“ während sie Eimer und Hammer - endlich - auf den Boden stellte. „Es gibt Frühstück. Du isst mit, wir wollen ja nicht dass du hinter dem Karren zusammenbrichst.“ Sie beäugte Gidos Kleidung. Nasenrümpfen. „Und du bekommst ein paar von Herards ausgetragenen Klamotten. So können wir dich nicht ernsthaft nach Gehdlingen lassen. Was sollen nur die Leute von uns denken?“ Diese Frau hatte sich Gidos Meinung nach sicher noch nie Gedanken darüber gemacht was andere von ihr hielten, so wie sie mit ihrer Umwelt umging. Sie flüsterte etwas vor sich hin, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Auflistung von Kleidung hatte - Das alte Hemd... Das rote? Nein... Das mit den Streifen vielleicht... - und widmete sich dann wieder Gido. „Aber erstmal das Frühstück. In fünf Minuten in der Küche. Danach wird gewaschen.“ Sie rümpfte ihre Nase ein zweites Mal. „Und dann die Kleidung.“ Mit ihrer Reihenfolge halbwegs zufrieden, die Hoffnung der Geruch der Brötchen möge Gidos Körpergeruch überdecken existierte noch, huschte sie aus der Scheune, was Gido ein erleichtertes Stöhnen abverlangte. Ihr Mann hatte Gido dem Tode entrissen. Diese Frau würde ihn mir ihrem Enthusiasmus zurück ins quasi Grab bringen. Es blieb ihm ja doch nichts anderes übrig. Aufstehen. Probeweise fuhr er mit der Hand über seinen gestern verletzten Fuß. Ein Kribbeln verriet ihm, dass der verbleibende Schaden, sollte unter der Bandage noch welcher existieren, nicht der Rede wert war. Ein letztes Strecken noch, dann erhob er sich von seinem Nachtquartier. Seine Knochen dankten es ihm mit dem gewohnt gewöhnungsbedürftigen Knirschen und Knacken. Ein paar Schritte hin und her tapsend suchte Gido nach Anzeichen, ob ihm sein Fuß heute zum Problem werden konnte. Er drehte ihn ein paar Mal, stapfte auf und gab die Mühe schließlich auf. Warum sah er nicht einfach unter dem Verband nach? Das Wehwechen-Bein wurde hoch an den Körper gedreht, während er auf dem verbleibenden Bein hin und her balancierte. Vorsichtig löste er die Befestigung des Stoffs und wickelte ihn dann von seinem Fuß. Vielleicht ließen sich die Bahnen noch gebrauchen. Er atmete auf. Nicht mehr als ein dunkelroter Punkt erinnerte an das nun nicht mehr vorhandene Loch. Ein zufriedenstellendes Ergebnis. Und wie er zugeben musste wesentlich angenehmer als die Vorstellung mit einem Nagel im Fuß nach Gehdlingen zu humpeln. In dem Wissen, dass seine fünf Minuten schon längst um sein mussten verließ Gido die Scheune. Eine kühle, frische Brise zog ihm um die Nase, zwischen den beiden Gebäuden hindurch, hinaus auf die Felder. Der Nebel hatte sich vollends verzogen und die noch niedrig über den Hügeln stehende Sonne zwang den Jungen dazu seine Augen zusammen zu kneifen. Das erste Mal konnte er sich wirklich ein Bild von den Landen machen, die ihm ab diesem Tage offen standen. Ein überwältigender Anblick. Abgesehen vom Wald, der zu seiner rechten im Süden unliebsam das Bild trübte, erstreckten sich brach liegende, gerade noch so golden schimmernde Felder in die drei verbleibenden Himmelsrichtungen, so weit seine Augen reichten. In der Ferne konnte er vereinzelte Häuser, Scheunen erkennen, verbunden mit Feldwegen die sich zwischen den Feldern, über die Hügel und durch die Täler hindurch schlängelten, alle zusammen - mit dem Feldweg des Hauses vor welchem er nun stand - auf ein entferntes, aber existierendes Ziel im Norden zulaufend. Morgentau glitzerte ihm von den Hügelkuppen entgegen. Morgentau kitzelte seine Fußsohlen. Ein kühler Film bildete sich auf seiner Haut, nur um von der Sonne verdampft zu werden. Der Wind wehte ihm seine langen Haare kreuz und quer ins Gesicht, sodass er sie schließlich mit beiden Händen von seinen Augen fern halten musste um noch mehr von diesem ihm ultimativ fremden Anblick trinken zu können, der sich so sehr von allen Augenblicken unterschied die er je erlebt hatte. „Überwältigt?“ Eine belustigte Bemerkung seines Gastgebers riss Gido aus den Morgenträumereien. Herard lehnte hinter ihm im Türrahmen. „Angenehm.“ antwortete der Junge warm, fast ein wenig zu emotional für seine Verhältnisse. „Gut.“ Der Grauhaarige drehte seine Schulter ein paar Mal um das Gelenk. „Das bedeutet dass ich deinen melancholischen Arsch nicht in unser schönes Städtchen schleifen muss.“ Aus dem Haus ertönte ein gesungenes „Hintern, Schatz, nicht Arsch. Kommt ihr jetzt?“ „Ja Schatz.“ Flötete der Mann zurück ins Haus. Mit den Augen rollend machte Herard eine einladende Geste. „Nach dir?“ Gido entschied sich für dieses Mal auf den Moment auf zu springen. „Gerne.“ Innen wartete Higa auf die beiden Männer, eine Pfanne in der einen, einen Pfannenwender in der anderen Hand. „Ihr kommt ja doch noch.“ Das breite Lächeln, fast schon Grinsen, ließ sich kaum verdecken. „So.“ Sie wartete bis sich die Männer gesetzt hatten und hielt ihnen dann die Pfanne unter die Nase. „Wer möchte Eier?“ „Ich.“ Verkündete Herard freudig. Seine Frau schaufelte ihm zwei Spiegeleier auf den Teller. „Gido?“ Der Angesprochene schnupperte misstrauisch am Inhalt der Pfanne. Seines Wissens legte Hühner solche Eier. „Oh, stell dich nicht so an.“ Bevor er verneinen konnte zierten zwei weiß-gelbe Gebilde seinen Teller. „Was de' Bur' net kennt, frisst'er net.“ Betete sie die alte Bauernweisheit runter, versorgte sich selbst mit den verbleibenden beiden Spiegeleiern, stellte die Pfanne zur Seite und gesellte sich an den ansonsten mit Brot, Butter und Wurst ausgefüllten Tisch. Das allgemeine „Guten Appetit.“ machte die Runde und kurz darauf aßen alle drei in ungewöhnlich friedlicher Stille, wenn man Higas sonst leicht gesprächige Art bedachte. Der Junge starrte die Eier auf seinem Teller durchdringend an. Es war Essen. Es wurde ihm angeboten. Er hatte es nicht wirklich angenommen. Aber was auf seinem Teller lag, würde er essen, aus alter Routine. Es gab keinen rationalen Grund die Eier nicht zu probieren. Das Ehepaar beobachtete mit milder Neugier wie der Junge ein Stück des Eis abtrennte und nachdenklich darauf herum kaute. Er schluckte, nahm sich eine Scheibe Brot vom Tisch, legte eins der Eier darauf und biss hinein. Warum nicht das nützliche mit dem praktischen verbinden. „Genießt sie.“ Meinte Higa zwischen zwei Bissen in ihr Wurstbrot. „Das sind die letzten Eier die wir hatten. Denk dran welche aus Gehdlingen mitzubringen, ja?“ Herard nickte stumm. Die Liste was gebraucht wurde hing schon seit einigen Tagen im Flur über den Schuhen an der Wand. „Fällt dir noch irgend etwas ein dass noch nicht auf der Liste steht? Wäre sehr ungünstig bei Wind und Wetter in die Stadt rennen zu müssen nur weil du die Seife nicht aufgeschrieben hast...“ Der alte Mann schüttelte sich in Erinnerungen an vergangene Jahre. Frauen konnten unheimlich sein wenn keine Seife im Haus war. „Das war ein Versehen. Ich dachte ich hätte sie schon aufgeschrieben und das weist du.“ Fuhr Higa ihren Mann etwas lauter als beabsichtigt an. Der hob beschwichtigend die Hände. „Ja, stimmt.“ Man konnte ihm deutlich ansehen dass er die erste Mahlzeit am Tag lieber in Frieden und Ruhe zu brachte. Auf einem Stück selbst geschmiertem Wurstbrot - sein erstes Wurstbrot und gleichzeitig das erste Brot dass er sich je geschmiert hatte, abgesehen von der Ei-Brot-Konstruktion - kauend beobachtete Gido das Verhalten der beiden ungleichen Ehepartner. „Das sagst du doch nur damit du deine Ruhe hast.“ „Nein, ich meine es Ernst.“ Verteidigte sich Herard, alle Mühen darauf anwendend den ängstlichen Unterton zu verdecken. Gidos Mundwinkel zogen sich unbewusst nach oben. „Wirklich?“ Sie pickte mit ihrem Zeigefinger auf der Brust ihres Mannes herum und starrte ihren Mann durchdringend an. Entweder sie wollte ihn zu Pudding verwandeln, was nicht funktionierte da Herard augenscheinlich an diese Behandlung gewöhnt war oder übertrieb wissentlich einfach nur maßlos. Nach dem Frühstück, welches Gido in der Gewissheit beendete dass Eier essbar waren, Leberwurst schmackhaft und Brot mit Butter besser schmeckte als ohne, wurde der arme Junge von einer aufgebrachten Higa am Arm gepackt und hinter das Haus geschleift. Dort wurde er abgestellt, im noch langezogenen Schatten des Hauses, während die Frau zurück zu ihrem Mann huschte, ihm zum x-ten Mal seit dem Frühstück ihre Meinung geigte und ihm befahl dem Jungen beim waschen zu helfen. Das alles konnte Gido, der immerhin durch eine Wand und einige Meter Abstand von der Innenwelt getrennt war ohne Probleme verstehen. Der Lautstärke von Higas Ausbruch sei dank. Auf dem Höhepunkt der Tirade stiegen ein paar Vögel verstört vom Waldrand auf und kreisten um den Hof der beiden ungleichen Menschen, die zu Gidos Verwunderung die letzten Jahrzehnte gemeinsam überstanden hatten. Er drehte sich um und spähte gen Horizont. In der von der Sonne beschienenen Ferne, Richtung Nordwesten, trug eine Person etwas aus einem Haus. Ein Stück weiter links, aber wesentlich weiter entfernt, lief jemand auf einem Hügel umher. Richtung Süden nur der Waldrand. Grün. Tiefer im Dickicht schwarz. Richtung Norden noch drei kleine Höfe, davon zwei mit Scheunen und einer, der in der Mitte in einem halb verdeckten, die Sonne blendend reflektierenden Tal mit etwas, das Gido stark an einen Brunnen erinnerte. Keiner der Höfe schien groß eigenes Vieh zu haben. Also konnte sich keiner der Höfe selbst versorgen. Der Braunhaarige fuhr sich mit Zeigefinger und Daumen sein stoppeliges, unrasiertes Kinn entlang. Er hatte versucht die Haare loszuwerden, als er sie mit vierzehn das erste Mal bemerkt hatte. Mit einem scharfkantigen Stein. Das zweite Mal konnte er ein verrottetes, ausrangiertes Küchenmesser vor der endgültigen Vernichtung retten. Der Bauer war nicht erfreut. Der Bart war ab. Das Messer weg. Die Schnittwunden im Gesicht waren unschön, aber das mindere Übel und nach wenigen Tagen verschwunden. Dafür waren nach ein paar Wochen die Haare wieder da. Zurück zu den stumpfen, schabenden Steinen. Ein ausgewachsener Bart kam nicht in Frage. Der würde bei jedweder Arbeit behindern. Also blieb es bei Stoppeln. Es gab keinen rationalen Grund daran etwas zu ändern. Keiner der Höfe versorgte sich selbst. Also waren sie alle von einem Versorger abhängig. Eine Person marschierte vom entfernten Haus zum entfernten Brunnen. Sie alle lebten noch. Besser sogar als der Bauer im Wald, soweit es Gido beurteilen konnte. Das wirkliche Ausmaß des Wohlstands hatte er nie gesehen. Das ruhte innerhalb der Mauern des Hofs. Sie alle waren von Gehdlingen abhängig. Der Stadt, die Herard aufsuchen musste um Vorräte zu besorgen. Gido spielte mit ein paar längeren Haaren seines Bärtchens, den Blick starr auf den wieder verwaisten Brunnen gerichtet. Wenige stille Minuten später schlich Herard um die Ecke, einen leeren Eimer in jeder Hand, ein großes, flauschig aussehendes Tuch über der Schulter. An einer unscheinbaren Tonne an der Hauswand hinter dem Karren machte er halt, nahm den Deckel von der Tonne, der irgendwie ein Rohr mit dem Dack des Hauses verband, tauchte nacheinander beide Eimer hinein und holte sie gefüllt - und wesentlich schwerer - wieder heraus. De motiviert aber gut gelaunt setzte er den Deckel zurück an seinen Platz und trug die Eimer zu Gido. Ein Zeichen dafür, dass die Gefechte zwischen ihm und seiner Frau keinesfalls selten waren. In weiser Vorausahnung entledigte sich Gido seines Leinensacks und seinem Leinensack. Seinem Hemd und seiner Hose. Die Augenbrauen hochgezogen stellte Herard die Eimer neben Gido auf den erdigen, trockenen und leicht staubigen Boden. „Nichts was sie nicht schon gesehen hätten.“ Bemerkte Gido trocken, während der Mann ein Stück Seife aus seiner Hosentasche in Gidos Hände manövrierte. „Du weist wie man das benutzt?“ Der Junge nickte mit dem Kopf. Nass machen, einseifen, mit Wasser abwaschen. Keine Routine für ihn, in der Ausführung zumindest. Mehr angeeignetes Wissen aus Beobachtungen. Er legte die Seife zur Seite, hob den ersten Eimer an und entleerte den Inhalt über seinem Kopf. Die ersten Sonnenstrahlen schafften es über das Dach in den Hinterhof zu scheinen. Die Haare klebten Gido im Gesicht und an Schultern und Rücken. Er schob eine Strähne seiner Haarpracht aus seinem Sichtfeld. Herard hatte sich indes umgedreht um dem Jungen wenigstens etwas Privatsphäre zu geben. Er begnügte sich damit den Inhalt des Wagens zum x-ten Mal zu überprüfen. Bevor die immer stärker über das Dach scheinende Sonne ihr trocknendes Werk beginnen konnte seifte sich der Braunhaarige ein. Das Waschmittel hinterließ eine schäumende Spur auf seiner Haut. Zufrieden mit dem Ergebnis unterhalb des Halses ging er dazu über ein wenig der aufgeschäumten Substanz in seine Haare zu arbeiten; nicht ohne dabei auf ausgewachsene Knoten zu stoßen. Ein wenig irritiert wegen des unangenehmen Ziepen an seiner Kopfhaut entzerrte er die nun eingeseiften Strähnen. Seine Haare gehörten mit zu den Körperteilen die er sein Leben lang gehortet hatte. Etwas das ihm niemand nehmen konnte. Eine unterschwellige Trotzreaktion die sich zur Gewohnheit entwickelt hatte. Im Gegensatz zum Bart. Und gleichzeitig etwas dass ihn von den anderen, kurz geschorenen Männern im Wald als unerwünschte Abnormalität distanziert hatte. Zumindest unerwünscht schien er hier draußen nicht, auch wenn ihm Higas Ansicht dazu nicht wirklich zusagte. Als er das Gefühl hatte genug geschrubbt zu haben, griff er sich den zweiten Eimer und schüttete dessen Inhalt langsam über Kopf und Schultern, bis der letzte Seifenrest zusammen mit dem Wasser im Boden versickerte. „Fertig.“ Informierte er den anderen Mann, während er sich die letzten großen Wassermassen aus den Haaren drückte. „Hier, damit kannst du dich abtrocknen.“ Ein kühler Wind begleitete Herards Aufforderung, sodass Gido nicht zitternd, aber durchaus ein wenig frierend nach dem Handtuch griff und sich großzügig abrubbelte. Halbwegs trocken griff er nach seiner alten Kleidung. „Nichts da. Eben gewaschen und dann zurück in die zerfetzte Dreckwäsche? Adieu, Lumpen.“ Herard entriss dem Jungen ohne großen Widerstand die Fetzen und pfefferte sie aufs Feld hinaus. Ein Pfeifen begleitete den Niedergang der Kleidung. Herard starrte, eine Augenbraue angehoben, den Jungen neben ihm an. Gido pfiff einen Todesmarsch. Der alte Mann kratzte sich am Kopf. Es passte einfach nicht in das Verhalten dass der junge den letzten Tag gezeigt hatte. Nein. Eigentlich passte es perfekt. Als die alten Fetzen von einer Windböe verstreut im Feld landeten beendete der Junge seine musikalische Darbietung grinsend mit einem leisen 'Tok'. Er hatte keine Ahnung was ihn dazu veranlasst hatte. Es war ihm in den Kopf gekommen. Er bezweifelte aufrichtig ob er diese Einlage im Wald hätte bringen können, ohne enthauptet zu werden. Oder mindestens verprügelt. Hier draußen wurde er nicht verprügelt. Dafür aber angestarrt. Seit einiger Zeit. Gido wickelte sich das Handtuch um die Hüften und verschränkte dann entnervt seine Arme. Und wartete. Eine seltsame Mischung aus einem erleichterten Lächeln und einem Grinsen hatte sich auf Herards Gesicht gebildet. „Was?“ „Nichts nichts.“ Beantwortete der Alte immer noch lächelnd und deutete auf das Haus. „Higa wartet drinnen mit deinen neuen Klamotten.“ Wenige Minuten später saß Gido nur mit einem Handtuch bekleidet zum zweiten Mal auf dem Bett der Eheleute Higa und Herard. Neben ihm stapelte sich ein Haufen an Hemden, Pullovern, Hosen und - zu Gidos erstaunen - Unterwäsche aus einem leicht verstaubt aussehenden Schrank. Zufrieden mit der Auswahl deutete Higa auf die Wäsche. „Such dir aus was du brauchen kannst, das meiste ist meinem Mann eh zu eng. Er hat schrecklich zugenommen.“ Zwinkerte sie ihm zu. Herards leicht beleidigter Kopf erschien im geöffneten Fenster. „Habe ich nicht! Das ist alles Muskelmasse!“ „Natürlich Schatz, natürlich.“ Säuselte ihm seine Frau zu, auch wenn ihr Blick eine vollkommen andere Meinung verriet. Indes begutachtete Gido die Kleidung die da neben ihm lag. Er hatte keine mehr. Herard sei Dank. Aber er musste zugeben dass er seiner alten Kluft nicht nachtrauerte. Besonders in Anbetracht der unzerrissenen, vollständig intakten Kleidung die ihm zur Wahl stand. Eine Schande sie im Müll landen zu lassen. Zielstrebig sortierte er die zu dünne oder weiche Kleidung aus. Zum Arbeiten, egal wo es ihn hin verschlug, war er auf robuste Klamotten angewiesen, wenn er noch lange Freude daran haben wollte. Er hob einen Pullover aus rosa Leinenstoff an, rümpfte die Nase und pfefferte ihn in die andere Ecke des Bettes. Er war sicher nicht wählerisch. Aber auch nicht lebensmüde genug sich zur lebendigen Zielscheibe für Gelächter und oder Diebe zu machen. Wenn er leben wollte, brauchte er entweder eine Waffe oder möglichst unauffällige Kleidung. Vor allem in der Nacht. Die Steuereintreiber die den Wald regelmäßig besuchten hatten stets Leibwächter bei sich. Viele. Der Grund dafür lag auf der Hand. Wo es Bauern gab so verstreut wie es in der Umgebung der Fall war gab es zwangsläufig auch Menschen oder Banden die sich dies zu nutze machen wollten. Er legte ein Paar besonders greller Hemden zur Seite, während sich Higa bereits das zweite Wortgefecht mit ihrem Mann an diesem Tag lieferte. So waren Menschen nun mal. Und wenn die Diebe und Mörder auch nur annähernd so skrupellos waren wie der Bauer. Immerhin erachtete es dieser als zu viel Mühe Gido zu töten. Abgesehen davon hatte er keinen Grund mehr. Gido fiel ihm nicht mehr zur Last. Dafür fiel er nun diesen beiden liebevollen Streithähnen zur Last. Er griff sich nachdenklich ein paar Socken, starrte sie an und legte sie wieder zurück in den Haufen. Nein. Nicht zur Last. Sie hatten ihm die Hilfe angeboten und als Gegenleistung Hilfe verlangt. Eher ein Deal. Am Ende würde er mehr oder weniger auf eigenen Beinen stehen. Die Unterwäsche, ein dunkelblaues Hemd mit kurzen Ärmeln und eine kurze Hose in derselben Farbe, passte. Sich am Kinn kratzend blieb er am letzten Gedanken hängen. Auf eigenen Beinen. Es dämmerte ihm. Sie hatten es so beabsichtigt. Herard. Bei Higa war er sich nicht so sicher. Sie machte mehr den Anschein als ob sie einfach nur helfen wollte. Er zögerte kurz, griff dann nach einem schwarzen, relativ eng geschnittenem Shirt und zog es sich über den Kopf. Es saß gut, trotz der Tatsache dass der Mann stämmiger war als er selbst. Er flatterte ein wenig mit den Armen. Obwohl die Ärmel etwas lang waren - bis zur Mitte seines Handgelenks - flatterten sie nicht störend hin und her. Gut. Zum schwarzen Oberteil gesellte sich eine lange, weite und ebenso schwarze Hose aus robustem Leinenstoff mit vier auf der Vorderseite angenähten Taschen. Zwei dort wo sie sitzen sollten, zwei kurz oberhalb der Knie. Die Innenseite war mit Wolle gefüttert. Gut genug. Gido stand auf und betrachtete seine neue Tracht im dazu eigentlich zu kleinen Spiegel. Düster, praktisch und größtenteils Winterfest. Fertig mit seiner Auswahl wandte er sich Higa zu, seiner selbst ernannten Herrenausstatterin und musste sofort schmunzeln. Eben noch am streiten drückte sie ihrem Mann nun durch das offene Fenster einen dicken Kuss auf die Wange. “Hr-Hem.“ Er räusperte sich, was Higa schreckhaft zusammen zucken ließ. „Ieks~! Was... Du!“ Sie machte einen großen Schritt durch den Raum und presste Gido ihren Zeigefinger in die Brust. „Mach das nie wieder! Ich habe keine Lust in der Blüte meines Lebens an einem Herzinfarkt zu sterben. Und das von... Oh! Warum hast du dir keine Socken genommen? Willst du dir die Füße abfrieren?“ Von Nichts auf Höchstform in nicht ganz einer Sekunde. Diese Ausbrüche inzwischen gewohnt wich Gido keinen Zentimeter zurück. „Ich brauche keine. Ohne Schuhe halten Socken nicht lange genug, dass es sich lohnen würde.“ „Da ist was dran...“ Sie tippte ihren Finger nachdenklich an ihre Schläfe. „Hmm... Was machen wir da... Ah, ich weiß.“ Sie griff sich ein paar besonders dicker Socken und steckte es zusammen geknauscht in eine von Gidos Knietaschen. „Nimm erstmal die, ich verdonnere meinen Mann einfach dazu dir in Gehdlingen ein paar Stiefel zu kaufen, passend zum Rest deiner...“ Kurzes Zögern. „...gewöhnungsbedürftig depressiven Kleidung. Nicht wahr Schatz?“ Den letzten Teil rief sie ihrem Mann zu der gerade die alte Betsy am Fenster vorbei führte. „Was soll ich?“ Kam die Antwort, begleitet von einem aufgeregt klingenden Wiehern der Stute. „Du sollst Gido von deinem Alk-Geld ein paar Stiefel kaufen!“ „Was!?“ Schrie Herard leicht panisch zurück. „Ein paar Stiefel! Von dem Geld mit dem du sich sonst eh nur besäufst!“ Versuchte es Higa noch etwas lauter. Gido hielt den Mund. Er würde Herard in Gehdlingen widersprechen. Er hatte nicht vor weiter auf die Tasche zu fallen als unbedingt nötig. Und Schuhe waren die letzten 19 Jahre nicht nötig gewesen. Ein deprimiertes Grummeln verriet Herards eindeutige Einstellung zu dieser Entscheidung. „Ja ja...“ Designiert mit den Zähnen knirschend streichelte der Mann seinem Pferd über den Kopf. „Aber wenigstens du magst mich, oder?“ Seine alte Weggefährtin wieherte zustimmend und schnappte kurz nach den Karotten in Herards Tasche. Er reichte ihr eine, legte ihr das Geschirr an und spannte sie dann vor den Karren. Wenn doch alle Frauen so leicht zu befriedigen wären. Eine weitere Karotte in der Hand führte er die alte Betsy mitsamt Wagen im Schneckentempo und unter heftigem Schnaufen des Pferdes zurück vor das Haus, wo Higa und Gido bereits auf das alte Duo warteten. Herard fuhr Betsy kurz durch die Mähne. „So...“ Er ging zum Jungen und seiner Frau. „Alles bereit.“ Higa drückte ihrem Mann ein Stück Papier in die Hand. „Hier ist die Liste, pass auf dich auf...“ Sie umarmte ihren Mann, trat einen Schritt zurück, sah sich die beiden Männer an und wendete sich dann an Gido. „Das gilt auch für dich.“ Ein seltsames Gefühl in der Magengegend nickte der Junge mit dem Kopf. „Ich habe nicht vor zu sterben.“ Nicht mehr. Fügte er in Gedanken an. „Gut.“ Zwinkerte ihm Higa zu und deutete dann Richtung Wagen. „Und jetzt husch husch, ihr beiden.“ Sie legte den beiden eine Hand auf den Rücken und drückte sie den kleinen Pfad vom Haus entlang zum Karren auf dem Feldweg. Dort stellte sie die beiden ab und wuselte zurück ins Haus. Endlich allein und auf dem Weg, wenn auch noch nicht unterwegs, genossen die beiden für eine Weile die kühle Brise, die sich mit warmen Sonnenstrahlen abwechselte und so ein erfrischendes Gefühl hinterließ. Die Sonne stand inzwischen auf halbem Weg zu ihrem Zenit. Im Sommer wäre es um diese Uhrzeit bereits unerträglich heiß. Oder unerträglich nass, wenn ein ausgewachsenes Gewitter über die Lande zog. Gido schloss die Augen, ließ den Wind durch seine Haare fahren und stellte dann die alles entscheidende Frage. „Was muss ich tun?“ Herard deutete Gido an sich hinter den Karren zu stellen. „Schieben. Die arme Betsy schafft das Gewicht nicht mehr alleine.“ Herard machte eine drückende Bewegung und deutete dann auf die mit Kartoffeln gefüllten Säcke mit der dicken Aufschrift 'Abgaben'. „Schaffst du das?“ „Kein Problem.“ Gido stemmte sich probeweise gegen den Wagen. Die Räder bewegten sich - quietschend - ein Stückchen nach vorne. „Gut. Dann kann's ja los...“ Herard wurde von einer aus dem Haus huschenden Higa unterbrochen. „Ihr seid ja immer noch da! Auf! Trollt euch!“ Der alte Mann zuckte mit den Schultern und rollte mit seinen Augen. „Sind ja schon weg. Los gehts!“ Beendete er seinen Satz. Gido stemmte sich mit seinem gesamten Gewicht in den Karren, während Herard die alte Betsy am Zaumzeug führte. Mit einem Ruck brachten die beiden den Wagen in Bewegung. Der Weg vom Hügel, auf dem das Haus stand, ins Tal gestaltete sich als wenig anstrengend - der Wagen rollte fast von selbst bergab. Wie hypnotisiert vom quietschenden und knarrenden Rhythmus der sich einstellte, hielten die beiden Männer ein vorsichtiges, angespanntes Schweigen und genossen, soweit es unter den Anstrengungen möglich war, das angenehme Herbstwetter. Ein paar kleinere Schäfchenwolken zogen über den Himmel, begleitet von einer Hand voll Vögel die Kreisend über den Feldern nach Beute Ausschau hielten. Der erste Berg war nicht steil. Auch nicht hoch. Aber er zog sich. Ewig. Auf halbem Wege gesellte sich Herard zu Gido ans Wagenende und presste, nachdem sich seine Knorpel knirschend in die richtigen Positionen gebracht hatten, zusammen mit dem Jungen das Gefährt gen Hügelkuppe. Noch ein paar Meter. Gido sah den alten Mann von der Seite an. Es gab nun wirklich noch keinen Grund so laut zu schnaufen. Immerhin stemmte er einen Großteil des Gewichtes. Herard ließ vom Karren-Ende ab. Gido schüttelte den Kopf. Das Alter schien seine Wirkung zu zeigen. Oben angekommen hielt Herard den Zug für einen Moment lang an. Gido rieb seine Hände aneinander und betrachtete den Anblick der vor ihm und hinter ihm lag. Der Wald verschwand fast vollständig hinter Hügeln und Haus. Nur vereinzelt überragten grünlich-braune Baumkronen die Kuppen. Selbst im Sonnenlicht wirkten sie dunkel, im starken Kontrast zum Rest der Umgebung. Ein lauter, durchgezogener Pfiff hallte den beiden nach. Higa winkte den beiden, ein weißes Handtuch - vermutlich das das Gido benutzt hatte - in den Händen zu. Herard winkte aufgeregt zurück, während sich Gido damit begnügte eine Hand zum Gruß zu heben. Der Wind blies ihm ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. Der braunhaarige Junge klemmte sich ein paar der störenden Strähnen hinters Ohr. Er folgte dem Wind mit seinen Blicken, weg von den Baumwipfeln und dem Weg der dort hinein führte, über die gold-braun schimmernden Hügel. Hügel die er an diesem Morgen schon ein mal erspäht hatte. Neue Hügel, die er nun zum ersten Mal sah. Eine Hand voll mehr Häuser in der Ferne, weit verstreut. Der Weg vor ihm erstreckte sich scheinbar unendlich weit, mal einsehbar, mal verdeckt. Er schlängelte sich durch die Landschaft, hin und her und doch zielstrebig auf Gehdlingen zu. Er war freier als jemals zuvor, half aus eigenen, freien Stücken. Herard wartete noch bis Higa hinter der Scheune verschwand, nickte Gido zu und zeigte Betsy dann an, weiter zu ziehen. Der blauäugige ließ eine Hand über das raue Holz des Karrens fahren, griff an das Holzbrett und setzte den Wagen zusammen mit Betsy wieder in Bewegung. Sein Gedankengang von diesem Morgen drängte sich zurück in seine Aufmerksamkeit. Er war frei. Die Bauern schienen alle in irgend einer Weise abhängig. Nicht jeder Bauer konnte alles anbauen. Nach einer Weile des stummen Führens und Schiebens warf Herard einen Blick über die Schulter um nach dem Jungen zu sehen. Milde überrascht stellte er fest dass Gido weder schwitzte, noch andere Anzeichen zeigte, die sonst mit körperlicher einher gingen. Was auch immer der Junge die letzten Jahre an Sklavenarbeit leisten durfte, es war schwerer als dieser Karren. Seine Augen fixierten einen unsichtbaren Punkt in der Luft, ließen sich nur hier und da von einem neuen Haus am Horizont oder einem durch die blauen Lüfte steigenden Vogel ablenken. Er wirkte abwesend, in Gedanken. Herard kratzte sich am Kopf. Über was der Junge wohl nachdachte. Ein winziges Wölkchen zog für den Bruchteil einer Sekunde an der Sonne vorbei, gerade groß genug um den Karren und ein Stückchen des Weges in undeutliche Schatten zu legen. Warum nicht einfach fragen? Der Junge war zwar kein großer Redner - wie Herard selbst - aber mit der Zeit ging das Quietschen gehörig auf die Nerven. „Über was zerbrichst du dir den Kopf?“ Er drehte sich um, ging rückwärts um Gido besser sehen zu können. „Hmm?“ Fragte Gido perplex und - wie immer - ein wenig wortkarg. „Irgendwas beschäftigt dich.“ Der Blauäugige schweifte für einen Moment zurück in die Ferne. „Nichts.“ Antwortete er schließlich, was Herard mit einem unzufriedenen Grunzen quittierte. „Dann zählst du die Steine auf dem Weg also aus purer Langeweile.“ Seufzend verneinte der Junge kopfschüttelnd die ironisch angehauchte Mutmaßung. „Also? Über was denkst du nach.“ Wiederholte Herard ein zweites Mal seine Frage. Ein Geier kreiste kreischend über den Köpfen der beiden. „Na gut...“ Gab Gido schließlich resignierend nach. Wenn der beste Weg weitere Fragen zu vermeiden der war, alle Fragen zu beantworten, dann würde er eben antworten. Vielleicht bekam er so noch eine zweite Meinung zu seinen Theorien. „Diese Lande hier.“ Sagte er. „Jeder ist in irgend einer Form voneinander abhängig. Die Bauern versorgen die Stadt mit Nahrung, die Stadt versorgt die Bauern mit Gerät, Personal, Schutz und anderem. Was dazu führt dass auch die Bauern untereinander abhängig sind. Jeder braucht den anderen um längerfristig überleben zu können. Gewissermaßen also keine wirkliche Freiheit.“ Herard pfiff erstaunt. Der Junge hatte mehr Grips als das durchschnittliche Wald-Bauern-Opfer. Der Bauer wusste nicht, wen er da weggeschickt hatte. „Im Prinzip richtig.“ Stimmte er dem hageren Denker zu. „Aber ich behaupte: Obwohl wir gefangen sind, sind wir Bauern frei genug. Freier als der Durchschnitt zumindest.“ Er blickte in den Himmel und lachte kurz. „Heh, ein ganzes Eck freier. Stell dir einen Soldaten vor. Du weist was ein Soldat ist?“ Hakte er vorsichtshalber nach. Gido grübelte für einen Moment in seinen Erinnerungen. Ab und an wurden die Steuereintreiber von Leuten begleitet, die wesentlich organisierter erschienen als einfache Söldner. „Jemand der lebt um das Land und seine Wege zu beschützen. Zur Not auch im Tod.“ Antwortete Gido. „Grob, ja. Stell dir einen von ihnen vor. Wieviel Freiheit hat er?“ Irgendwo in seinem Hinterkopf drängte sich Gido das Bild einer Hierarchie auf. Der effektivste Weg Soldaten zu organisieren. Wenig innovativ weil starr, aber effektiv. „Sie unterliegen den Befehlshabern und deren Befehle unterliegen den Vorstellungen der Führung eines Landes, was das beste sei. Wenige können mit noch weniger Entscheidungen die Entscheidungsfreiheit von extremen Massen einschränken. Nein, nicht einschränken. Sie können die Entscheidungsfreiheit komplett ausschalten. Diene oder begehe Verrat.“ Gidos Blick blieb kurz an einer besonders hohen der zahlreichen Hügelkuppen vor ihnen hängen. Vier, vielleicht auch fünf spitze, vor allem aber unnatürlich große auf der Kuppe positionierte Gebäude stachen ihm ins Auge. Silos. Auch Herard fixierte kurz die Gebilde. „Die Kornspeicher von Gehdlingen. Bei gutem Wetter sieht man sie kilometerweit.“ Erklärte er beiläufig, kratzte sich dann an der Schläfe und griff das vorherige Thema wieder auf. „Diene oder begehe Verrat. Genau.“ Ein kühles Lüftchen zog durch die Lande. Herard bibberte ein wenig - von wegen Alter macht hart - und fuhrt dann fort. „Lass uns für einen Moment Entscheidungsfreiheit auf eine Schiene zu Freiheit stellen. Soldaten haben wenn es darauf ankommt keine Freiheit, sie müssen dienen oder sterben. Und selbst wenn sie dienen ist noch nicht ausgeschlossen dass sie der nächsthöhere Offizier einfach wissentlich in ihr Verderben schickt weil er ein sadistischer Unmensch ist. Aber wir Bauern, hier draußen.“ Er hob seinen Arm, deutete von Horizont zu Horizont über die Felder die die beiden umgaben. „Im Farmland haben wir als Bauern doch wesentlich mehr Freiheit oder nicht? Wir haben eine uns zugewiesene Parzelle die wir bestellen müssen, was wir als Bauern ohnehin machen müssen. Wir liefern zwei mal im Jahr kurz vor Ende der Kalm unsere Steuern ab, in Form von Lebensmitteln und was sonst noch so anfällt. Und abgesehen davon, sind wir frei. Wir entscheiden wann wir unsere Felder bestellen, was wir bestellen und was wir mit der Zeit anfangen wenn es nichts zu bestellen gibt. Das wir dadurch Frauen, Kinder und Männer in Gehdlingen und darüber hinaus das Leben ermöglichen ist nur ein Bonus.“ „Und darüber hinaus?“ „Ah, stimmt ja, du bist ja noch nie weit gekommen.“ entschuldigte sich der alte Mann nervös lächelnd. „'Darüber hinaus', das ist das... Reich? Nein, das Land das wir durch unsere Arbeit zum Blühen bringen. Homwall.“ „Homwall?“ „Eigentlich die Hauptstadt oder der Sitz der Verwaltung. Weist du, die meisten Städte existieren auf sich allein gestellt nicht sehr lange. Vor ein paar hundert Jahren haben sich aus diesem Grund alle Städte und Ortschaften zu einem Bund zusammengeschlossen, benannt nach der größten Stadt: Homwall. Die Wahl gerade dieser Stadt hatte natürlich noch ein paar anderer Gründe, unter anderem auch die strategische Lage, die zentrale Lage im Bund und somit die prädestinierte Position als Handelsknotenpunkt. Aber der Hauptgrund ist wohl, dass sie als eine der wenigsten Städte noch nie in Schutt und Asche gelegt wurde. Aber all die anderen Städte... Frauen... Kinder... So sinnlos...“ Seine Stimmte verfiel in ein flüstern und verstummte schließlich ganz. Der Augen des alten Mannes schimmerten leer und tot. Er schüttelte den Kopf. „Wollen wir hoffen dass es so bleibt. Aber wie gesagt. Gehdlingen versorgt Homwall, Homwall Gehdlingen und so weiter.“ Gido stutzte. Wer hatte Interesse daran Städte auszulöschen, wenn man sie besetzen konnte? Welcher Feldherr hatte seine Armee gut genug unter Kontrolle um Frauen und Kinder ohne Reue zu töten? Es ergab keinen Sinn. Ein konkurrierendes Land, dass ohne Konsequenzen kämpfte? Es musste ein sterbendes Land sein. Nur, welches Land starb über Jahrhunderte? Denn so lange lag die Gründung Homwalls schon zurück. Die beiden passierten einen vertrockneten Baum am Wegesrand. „Eins muss man dir lassen. Du hast den Wald erst vor einem Tag verlassen, aber schon vieles durchschaut oder verstanden was hier draußen vor sich geht. Fast ohne Hilfe.“ Bemerkte Herard nachdem er dem Jungen ein paar Minuten beim vergeblichen Grübeln zugesehen hatte. „Ich hatte viel Zeit das Denken zu lernen.“ Antwortete Gido vorsichtig. „Und sie wissen mehr als der durchschnittliche Bauer.“ Er war sich sicher dass nicht jeder Bewohner des Farmlands solches Wissen über die Außenwelt besaß. Eigentlich wusste der alte Mann vor ihm mehr, als er im Farmland je hätte lernen können. Über Vorgänge außerhalb des Farmlands die für ihn eigentlich keine Bedeutung haben dürften. „Waren sie schon einmal in Homwall?“ Die Augen des Mannes wirkten für einen Moment erneut tot. Dann blinzelte er. Der Ausdruck war verschwunden. „Was? Oh, nein.“ Beantwortete Herard die neugierige Frage. „Alles irgendwo auf geschnappt, Hörensagen von Leuten die Leute aus Homwall kennen.“ Er schweifte nochmal in die Ferne, fasste sich jedoch schnell wieder. Gido starrte den Mann an. Der hatte zu viele unangenehme Erinnerungen als dass seine Antwort glaubhaft klingen konnte. Trotzdem ließ er das Thema ruhen. Herard hatte sicher seine Gründe. Oder er sagte wirklich die Wahrheit und irgend etwas anderes plagte ihn. „Ah!“ Herard hielt den Wagen auf einer Hügelkuppe an. Auf der Spitze des Hügels vor ihnen thronten fünf riesige Silos, jedes so hoch wie ein sechs, vielleicht siebenstöckiges Haus. Sie warfen ihre Schatten auf den umliegenden Platz und die darum eng an eng stehenden, mindestens dreistöckigen Gebäude, welche sich die Westseite des Berges hinunter in ein ausgeprägtes Tal ausbreiteten und selbiges fast komplett ausfüllten. Die Dächer, bedeckt durch tiefrote Tonziegel, schimmerten mal mehr, mal weniger Grell im Licht der Sonne, nur unterbrochen durch schmale Gassen und Wege um Platz zum Laufen zu schaffen, viele nicht mal weit genug um Wagen oder Karren zu fassen. Einzige Ausnahme bildeten zwei Straßen, die als Hauptadern von den Toren der Stadt schnurgerade zu den Silos verliefen. Die Tore selbst waren eingefasst in einen imposanten Wall aus Holzpalisaden, hoch genug um die erste Reihe der im Inneren stehenden Häuser ohne Probleme zu verdecken, sogar vom wesentlich höheren Standpunkt Gidos aus. Ein mit Wachtürmen gespickter, nicht ohne weiteres - oder schweres Gerät - überwindbarer Schutzwall. Vor den Toren stand kein einziges bewohnbares Haus, nur ein winziges Häuschen direkt neben dem Stadttor. Ein gutes Dutzend an Wegen und Trampelpfaden, ausgetreten durch Arbeiter, Bauern und deren Karren vereinte sich im Tal kurz vor diesem Häuschen zu einer der beiden großen Straßen, die durch die Tore im hinauf zur Spitze führten und somit die Bauern mit ihrer Ladung zu den Silos. Menschen wuselten im Innern der hölzernen Mauern. Man konnte sie sehen. An den Hängen, zwischen den Häusern, wo sie von den Palisaden nicht mehr versteckt wurden. In den Fenstern ihrer Häuser. Auf dem Platz um die Silos, der augenscheinlich als Marktplatz benutzt wurde. Auf den Straßen. Herumwuselnd. Hunderte. Man konnte sie hören. Marktschreier posaunten ihre Wahren über den Markt, so laut dass Gido, könnte er ebenfalls so laut schreien, noch aus dieser immensen Entfernung einen Fisch - eine der angepriesenen Süßwasser-Makrelen - hätte kaufen können. Metall klirrte, Fensterläden wurden bewegt. Der ganze Hang lebte. Das ganze Tal lebte. Mal lauter, mal leiser. „Gegründet auf dem höchsten Hügel und im tiefsten Tal des Farmlands. Das -“ Riss Herard den Jungen aus seinen Beobachtungen und Gedanken. „Das -“ Zog er seinen Satz in die Länge, die Brust stolz geschwellt, mit einer Hand auf die Stadt vor ihnen deutend. „Das - ist Gehdlingen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)