Brennendes Wasser von Sennyo (Engel der vergessenen Zeit) ================================================================================ Kapitel 1: Engel der vergessenen Zeit - 1 ----------------------------------------- Die Zeit schien still zu stehen, als ihre Stimme die Stille durchbrach. „Egal was du hörst, dreh dich nicht um!“ Ihre Worte waren nicht schwer zu verstehen, wenn auch schwer nachzuvollziehen. Lenya verstand nicht, weswegen sie gezwungen war zu laufen. Sie verstand nicht, weswegen Lydia wollte, dass der Kontakt zwischen ihnen abbrach. Sie war doch ihre Schwester! Obwohl sie wusste, dass sie es nicht sollte, verlangsamte sie ihren Schritt und drehte sich um. „Lenya, lauf! Sie dürfen dich nicht in die Finger kriegen!“ Lydia klang verzweifelt. Irgendwie musste sie ihre drei Jahre jüngere Schwester dazu bringen zu fliehen. „Lauf endlich! Nun mach schon! LAUF!!!!“ Lydia schrie sich fast die Lunge aus dem Hals. Und Lenya lief. Sie lief so schnell sie konnte. Mit all der Kraft, die sie aufbringen konnte, lief sie die Straßen entlang und ließ ihre Schwester zurück in der Finsternis der Nacht. „Was hast du getan?“, Lydia zuckte erschrocken zusammen und fühlte eine schwere Hand auf ihrer Schulter. Ruckartig drehte sie sich um und sah in das ausdruckslose Gesicht eines Mannes, der schon seit ihrer Geburt hinter den Mädchen her gewesen war. Lydia fühlte die Angst in sich aufsteigen. Sie wich unweigerlich zurück. Doch der Mann folgte ihr, packte sie hart an beiden Armen und schüttelte sie, als hätte sie soeben eine große Dummheit begangen. „Das wirst du bereuen“, zischte er ihr zu und sah sie bedrohlich an. Seine Augen funkelten in der Dunkelheit. Lydia riss sich los. Abscheu und Wut kochten in ihr hoch, ließen sie vergessen, dass sie keine Wahl hatte. Dieser Mann war ihr Schicksal, sie hatte es ihr Leben lang gewusst. Dennoch. Sie wollte sich damit nicht abfinden, wollte zumindest ihre Schwester davor bewahren. Lenya. Sie war alles, was ihr geblieben war. Wenn Lenya etwas passieren würde, wäre alles umsonst gewesen. Lydia stellte sich ihm entgegen. „Lass meine Schwester in Ruhe! Sie hat damit nichts zu tun!“ Doch der Mann lachte nur. „Deine Schwester gehört mir. Das weißt du“, antwortete er gelassen. „Das ist nicht wahr!“ Lydia schrie förmlich. Sie wusste nicht, was sie machen sollte, sie hatte unglaubliche Angst vor der Person, die vor ihr stand. „Lass die Finger von Lenya!“ Doch das hätte sie nicht sagen dürfen. Ungehalten schleuderte der Mann Lydia gegen die Hauswand vor der sie standen. Das Mädchen fiel benommen gegen die Mülltonnen und blieb dort liegen. Die Tränen schossen ihr in die Augen, als er sich zu ihr herunterbeugte und ihren Kopf hochzog, so dass sie ihn ansehen musste. „Du hast dir und deiner Schwester keinen Gefallen getan, als du sie wegschicktest. Und das Eine sage ich dir, Lydia. Ich werde Lenya finden, koste es was es wolle!“ Sie wieder zu Boden drückend, richtete er sich auf und ging. Ein weiterer Mann, groß und kräftig, mit dunklerer Haut, trat auf Lydia zu, hob sie unsanft vom Boden auf, warf sie sich über die Schulter und folgte ihm in einigem Abstand. Lenya hatte Tränen in den Augen, während sie die verzweifelten Worte des großen, schlanken Mädchens, das ihre Schwester war, noch immer im Ohr hatte. Noch nie hatte sie Lydia so erlebt, noch nie war sie so eingeschüchtert, so nervös gewesen. Es war bereits spät am Abend gewesen, als sie plötzlich bei ihr aufgetauchte, ihre Sachen zerrissen und dreckig. Über ihrer sonst so reinen und weißen Haut bahnten sich Blut und Dreck ihre Wege, ihr dunkles, langes Haar war zerzaust und verklebt. Erschrocken war Lenya auf ihre Schwester zugelaufen, hatte sie sogleich in die Arme genommen. Doch Lydia hatte sie schweratmend zurückgestoßen, ihre Hände genommen und begonnen schnell und eindringlich auf sie einzureden. „Hör mir gut zu“, hatte sie gesagt und ihre Stimme hatte gezittert, „du musst so schnell wie möglich von hier verschwinden. Sie werden dich suchen, sie werden dich jagen, aber du darfst nicht in ihre Fänge geraten. Sie werden alles tun um dich zu kriegen. Das darf nicht geschehen, hörst du? Sie dürfen dich niemals finden! Du musst verschwinden. Jetzt, sofort. Du musst gehen. Wir werden uns niemals wiedersehen. Es ist zu gefährlich. Lenya, lauf! Du musst leben!“ Ihr Blick war gesenkt gewesen. Lenya hatte sehen können, wie ihre Schwester vor Schmerz das Gesicht verzogen hatte; die Tränen, die ihre Wangen herabgelaufen waren, hatten tiefe Schnittwunden darauf sichtbar werden lassen. Doch mit keinem Wort hatte Lydia erwähnt, was geschehen war; wer ihr all das angetan hatte. Entschlossen hatte sie Lenya dazu gebracht, wegzulaufen, doch diese wusste noch immer nicht, wovor und lief deswegen nur widerwillig. Sie wollte alles erfahren, sie wollte alles wissen, doch keine Antwort konnte ihre Verwirrung und Unsicherheit lindern. Sie wusste nur eins: Lydia hatte Angst gehabt – große Angst. Vor ihnen. Doch Lenya konnte sich nicht erklären, wer SIE waren, was SIE taten oder was SIE mit ihnen vorhaben könnten. Sie wusste es einfach nicht. Doch eines wusste sie ganz sicher. Ihr Geheimnis durfte niemals an die Öffentlichkeit gelangen. Niemals durfte irgendjemand an die Macht gelangen, die die beiden Schwestern bewachten. Dies war der einzige Grund gewesen, aus dem Lenya ihre Schwester überhaupt zurückgelassen hatte. Sie unterlag einem uralten Gelübde, das ihr gebot zu fliehen, sobald das Geheimnis in Gefahr war, gelüftet zu werden. Niemals hätte sie erwartet, das dies jemals geschehen würde. Doch nun war es geschehen. Lenya kämpfte schwer mit ihrem Gewissen. Sie durfte nicht zögern, doch sie tat es. Zu wissen, dass sie Lydia dort alleingelassen, sie ihrem Schicksal überlassen hatte, ließ sie verzweifelt erkennen, was ihr von klein auf immer wieder erklärt worden war. „Im Falle des Falles musst du hart sein und all deine Gefühle ausschalten. Das Geheimnis muss um jeden Preis gewahrt werden.“ Lenya atmete einmal ganz tief durch und blieb dann stehen. Das also war ihr Schicksal. Der Teufel selbst war schuld daran. Kapitel 2: Engel der vergessenen Zeit - 2 ----------------------------------------- Der Raum war dunkel und leer. Als Lydia wieder zu sich kam, war das erste, das sie spürte die eisige Kälte, die die kahlen und fensterlosen Wände um sie herum erzeugten. Jede Bewegung tat ihr weh, mühsam versuchte sie sich aufzurichten, jedoch ohne Erfolg. Sie fiel sofort wieder hin, egal wie oft sie es versuchte. Ihre Beine wollten sie einfach nicht tragen und so blieb sie zitternd am Boden sitzen. Die Schmerzen ignorierte sie. Lenya war nicht hier, wie sie beruhigt feststellte. Es war noch nichts verloren, solange das kleine Mädchen mit dem rotbraunen Haar frei war. Alles hing nun von Lenya ab, solange sie sich an das Gelübde hielt, war alles in Ordnung. Ein plötzliches Geräusch von der anderen Seite des Raumes riss Lydia aus ihren Gedanken. Sie fuhr herum, ohne auf ihre Verletzungen zu achten. Die sich öffnende Tür knarrte fürchterlich. Zu einer anderen Zeit hätte es sie gestört, nun jedoch machte sie sich mehr Sorgen um das, was durch die Tür kam. „Du bist wach, gut“, eine dunkle und ölige Stimme durchschnitt die Stille. Der Mann, der sie so zugerichtet hatte, kam auf sie zu und zog sie auf die Beine. Lydia biss die Zähne zusammen und kämpfte dagegen an, gleich wieder zu Boden zu sinken. Diesen Triumph würde sie ihm nicht gönnen, egal wie schmerzhaft es auch war. Sie sah ihn nur stumm und herausfordernd an. Er lächelte sie finster an, legte seinen Arm um ihre Hüfte und brachte sie so dazu, ihm zu folgen. Sie hätte sich gerne gewehrt, hätte ihn weggeschubst, doch ihr fehlte die Kraft dazu. Und so ließ sie sich von ihm führen, heraus aus diesem finsteren Raum. Draußen erkannte sie, dass es längst Tag geworden war, doch viel heller war es auch dort nicht. Schwere Wolken hingen am Himmel und versperrten den Blick zur Sonne. Das himmlische Feuer, das über sie wachte, war nicht zu sehen. Lydia wurde das Herz schwer. Sie hatte die Hoffnung gesucht hier draußen, doch nur Schatten gefunden. Und noch immer wusste sie nicht, ob Lenya entkommen war. Im Moment jedoch hatte sie andere Sorgen. Sie wurde einen schmalen Gang entlang geführt, stickig und eng. Die Luft war abgestanden und alt. Lydia verspürte den Drang sich zu übergeben, riss sich jedoch mit aller Kraft zusammen. Endlose Minuten schienen zu vergehen, ehe sie diesen Gang wieder verließen. Vor ihnen baute sich ein hoher Turm auf. Der Mann schob sie vor sich her, dem Turm entgegen. Sie wollte weglaufen, doch noch immer konnte sie sich kaum selbst auf den Beinen halten. Nur mühsam gelang es ihr, weiterzugehen. „Dort!“, befahl er und zeigte auf die Tür, die in den Turm führte, „die Treppe rauf, aber schnell!“ Lydia sah nach oben, zur Spitze des Turmes. Sie konnte keine Fenster erkennen. Doch nicht das, sondern der lange Aufstieg machte ihr Angst, sie wusste nicht, wie sie da hinauf kommen sollte. Der Mann schien ihre Gedanken zu lesen, und sah sie finster an. „Du kennst den Weg, den du nutzen musst, tu nicht so unwissend!“ Er schubste sie durch die Tür. Sie fiel auf die untersten Stufen einer langen Wendeltreppe; die plötzliche, ruckartige Bewegung hatte sie nicht kommen sehen und dementsprechend auch nicht reagieren können. Nun war sie also doch vor ihm auf den Boden gefallen, sie hatte so sehr dagegen angekämpft. Doch es nützte nichts, es war geschehen. Die Tür fiel mit einem lauten Knallen ins Schloss. Er hatte sie zugeschmissen und Lydia im Turm zurückgelassen. Den kalten Stein an ihren Wangen spürend, schlossen sich ihre Augen. Sie fiel sofort in einen unruhigen Schlaf, so erschöpft war sie. Lenya war sich bewusst, dass sie einen großen Fehler begehen könnte, doch sie konnte ihre Schwester nicht einfach so im Stich lassen. Sie musste etwas tun, doch die Angst das Gelübde zu brechen nahm ihr Beinahe die Luft zum Atmen. Nicht einmal in ihren schlimmsten Alpträumen hatte sie so etwas kommen sehen. Sich zwischen dem Gelübde und ihrer Schwester entscheiden – das konnte sie nicht. Sie war für die geheime Aufgabe geboren worden, doch Lydia war ihr ein und alles. Die beiden Dinge, die ihr Leben bestimmten, standen sich nun gegenüber. Unentschlossen lief sie hin und her. Sie konnte Lydia nicht ihrem Schicksal überlassen, doch sie konnte auch das Gelübde nicht brechen. Ihre Aufgabe war klar: Sie musste Lydia vergessen und fliehen, damit ihr Geheimnis weiterbestehen könnte. Ihr Verstand sagte ihr, dass dies die einzige Möglichkeit war, damit sie noch eine Chance hatten, doch ihr Herz hing an Lydia und sagte ihr etwas anderes. Lenya war von Zweifeln und Gewissensbissen geplagt. Sie wusste, was sie tun musste, doch sie wollte es einfach nicht akzeptieren. Andererseits hatte Lydia alles riskiert um ihr diese Flucht zu ermöglichen, um das Geheimnis in Sicherheit zu wiegen. Lydia handelte im Sinne des Gelübdes, nicht im Sinne ihres Herzens. Sie hatte das getan, was von ihr verlangt worden war. Und nun lag es an Lenya, die Aufgabe zu erfüllen, die ihnen vor vielen Jahren auferlegt worden war. Sie musste das geheime Feuer hüten, solange sie am Leben war. Alles dafür aufgeben, das war ihre Aufgabe und nichts anderes. Schmerzhaft wurde ihr klar, was sie längst wusste. Sie musste Lydia vergessen und sich auf die Suche nach zwei neuen Wächtern machen. Nur auf diese Weise wäre das Opfer ihrer Schwester nicht umsonst gewesen. Kapitel 3: Engel der vergessenen Zeit - 3 ----------------------------------------- Die Stufen waren hart und unbequem. Als Lydia aus ihrem Dämmerungsschlaf erwachte, fühlte sie sich schlimmer als je zuvor. Sie hatte am ganzen Körper Schnittwunden, die sie glauben ließen, sie stünde in Flammen. Doch Feuer, das wusste sie als Wächterin, brannte auf eine andere Weise. Und so konnte sie die Schmerzen von den Flammen, die ihr Bewusstsein ihr vorgaukelte, unterscheiden. Sie richtete sich auf, und sah die Stufen hinauf. Viel sehen konnte sie durch die Dunkelheit im Turm nicht, doch das hatte sie auch nicht erwartet. Die schweren Steine ließen kein Licht hindurch und so wäre es selbst dann dunkel gewesen, wenn der Himmel nicht der Finsternis der Nacht geglichen hätte. Mühsam schleppte sich Lydia die Stufen herauf. Sie ging nicht, sie kroch. Ihre Beine konnten sie nicht tragen, doch hier unten wollte sie auch nicht bleiben. Hier war sie ihren Verfolgern schutzlos ausgeliefert. Eine Stufe folgte auf die andere, jede stellte für sie eine scheinbar unüberwindliche Hürde dar, während sie gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpfte, die ihr eigenes Blut in ihr weckte. Sie fühlte ihre Beine kaum noch, alles was sie wahrnahm, war der stechende Schmerz, der ihr keine Ruhe ließ. Lydia gab nicht auf, doch die Stufen schienen kein Ende zu finden. Endlos führten sie nach oben, die Wendeltreppe hinauf. Alles begann sich zu drehen, sodass sie nicht einmal mehr wusste, wo oben und unten war. Sie wusste nicht, ob sie die richtige Richtung nahm, sie fiel immer wieder hin. Ihr langes Haar fiel ihr in die Augen und versperrte ihr die ohnehin schon spärliche Sicht. Doch Lydia kroch weiter und erreichte schließlich ein Turmzimmer, das wundersamer nicht hätte sein können. An den Wänden schienen kleine Kristalle zu hängen, die ein eigenwilliges blaues Licht reflektierten und spiegelten, sodass der gesamte Raum in einem schummrigen Blau leuchtete. In der Mitte stand eine große, schlanke Amphore, auf der eine kleine kreisrunde Platte lag. Mit glitzerndem Wasser gefüllt, schien es ebenfalls in dem blauen Licht zu leuchten. Fasziniert zog Lydia sich daran hoch um es genauer betrachten zu können. Sie hatte erwartet, bis auf den Boden der Amphore sehen zu können, doch wie sie erstaunt feststellte, leuchtete die Amphore von innen und blendete sie dermaßen, dass sie absolut nichts erkennen konnte. Dieser Ort weckte Lydias Neugierde, doch war sie zu schwach um ihn wirklich erkunden zu können. Sie konnte sich nicht halten, sank wieder zu Boden. Er lief ungeduldig hin und her. Seinem Ziel so nah wie nie zuvor, war er doch noch weit davon entfernt. Er hatte nur eine der Schwestern. Doch die eine reichte nicht, er brauchte beide. Erst beide zusammen würden ihn zu dem machen, was er einst gewesen war. Und dann könnte ihn niemand mehr aufhalten. Er musste Lenya finden, hatte seine Männer bereits nach ihr suchen lassen. Doch bisher ohne Erfolg. Es gab einfach keine Spur von dem Mädchen, dabei hätte es nicht schwer sein dürfen ihr zu folgen. Während er sich Lydia gewidmet hatte, sollten seine Männer Lenya eigentlich gefunden haben, doch wie es aussah, hatte das Mädchen mehr Glück als Verstand. Es war ihr gelungen unterzutauchen. Sie gehörten ihm, waren sein Eigentum, seit ihrer Geburt. Lydia wusste das, trotzdem hatte sie Lenya entkommen lassen. Doch das würde ihnen nur einen kleinen zeitlichen Aufschub geben, bringen würde es ihnen gar nichts. Lydia war bereits so schwach, dass sie sich nicht mehr wehren konnte und auch Lenya wäre bald nur noch ein Schatten ihrer selbst. Es war ein Jammer, dass die beiden Mädchen nicht einsehen wollte, was längst nicht mehr aufzuhalten war. Sie machten es sich doch nur unnötig schwer dadurch. Ein lautes Klopfen an der Tür ließ ihn aufhorchen. Er drehte sich um, als eine kleine Gestalt, demütig den Kopf gesenkt, hereintrat und um Vergebung für ihr plötzliches Erscheinen bat. Er winkte ab und setzte sich auf seinen Platz – ein uralter Thron aus Knochen und verbrannten Fellresten. „Sprich!“, befahl er sogleich. Die Gestalt hatte lange spitze Ohren, große leere Augen und war kaum einen halben Meter groß. „Es gibt Kunde, mein Herr und Gebieter“, sagte der Kobold untertänig. „Das Mädchen mit der Macht des Feuers wurde gefunden. Eure Diener werden sie fangen und herbringen.“ Mit diesen Worten ließ sich das Wesen entschuldigen, es kannte die Launen seines Meisters und wusste, dass es dessen Geduld nicht lange auf die Probe stellen durfte. Als die Tür zugefallen und die Stille wieder perfekt war, saß ein finster grinsender Mann auf dem Thron, erwartungsvoll und gierig. Das Mädchen mit der Macht des Feuers, Lenya, war also gefunden worden. Nun war ein nur noch eine Frage von Stunden. Die Zeit war gekommen. Die Zeit, da er endlich wieder zu seiner alten Stärke gelangen sollte. Kapitel 4: Engel der vergessenen Zeit - 4 ----------------------------------------- In dem Turmzimmer war eine merkwürdige Kraft am Werk. Sie schläferte Lydia ein, zumindest glaubte sie es. Doch ob es nun wirklich eine Magie war oder ob ihre Verletzungen ihr die Kraft raubten, vermochte sie nicht zu entscheiden. Wenn sie doch nur wüsste, dass es Lenya gut ginge. Wüsste sie, dass Lenya in Sicherheit wäre, alles wäre soviel einfacher. Dem Gelübde folgend, würde sie sich das Leben nehmen und ihre Macht damit auf ihre Schwester übertragen. Doch es war zu riskant. Lydia wusste, dass sie kämpfen musste. Antreten gegen eine Kreatur, die vor Jahrtausenden versiegelt worden war. Eine Kreatur mit entsetzlicher Macht. Doch gleichzeitig wusste sie auch, dass sie sich nicht widersetzen durfte, sich nicht widersetzen konnte. Mühsam richtete sie sich, gegen die einschläfernde Benommenheit ankämpfend, auf, unterdrückte den erneut aufflammenden Schmerz und sah sich die Amphore genauer an. Das Leuchten des Wassers ließ ihr keine Ruhe. Eine tiefe Stille ging von diesem Wasser aus, gleichzeitig brodelte es, als würde eine enorme Hitze darunter verborgen werden. Einer inneren Stimme folgend, hielt Lydia ihre Hand in die Amphore und durchbrach damit die Wasseroberfläche. Sofort spürte sie einen Brennen auf der Haut, das an ihr zog, sie nicht loszulassen schien. Lydia wankte, fiel jedoch nicht hin. Sie war gefangen, konnte sich nicht wehren. Die Macht zog an ihr, zog mit einem festen Griff. Was sie auch versuchte, mit ihrem geschwächten Körper fand Lydia keinen Halt. Sie spürte wie ihre Füße vom Boden abhoben und ihr Gesicht der Wasseroberfläche gefährlich nahe kam. Einen erstickenden Schrei unterdrückend, gab das Mädchen nach und fiel durch das Wasser der Amphore in die Tiefe. Das Knacken einiger Zweige ließ sie herumfahren. Bis hierher war sie gekommen. Unentdeckt. Doch nun spürte Lenya, dass sie hinter ihr waren. Sie waren ihr also tatsächlich auf die Spur gekommen, waren ihr tatsächlich gefolgt. Geschickt verschwand sie hinter einem großen Baum und kletterte an ihm herauf. Der Aufstieg bereitete ihr keine Mühe, leicht wie eine Feder zog sie sich an den Ästen hoch und erreichte schließlich die Baumkrone. Dort blieb sie ruhig sitzen und beobachtete ihre Verfolger. Ganz offensichtlich hatten sie sie nicht gesehen, sie trampelten unbeholfen zwischen den Bäumen umher, schienen etwas zu suchen und doch kein Ziel zu haben. Lenya hätte gerne laut losgelacht, wäre ihre Situation nur etwas fröhlicher gewesen. Doch sie musste bereit sein. Jeder Zeit bereit dafür, Lydias Kräfte in Empfang zu nehmen, wenn diese die Welt der Lebenden verließ. So wollte es das Gelübde. Den zarten Duft der Blätter einatmend, richtete Lenya sich auf und balancierte über die Äste noch weiter in die Spitze des Baumes. Ihre Verfolger waren nirgends zu sehen, scheinbar waren sie weitergegangen. Dies war der Moment auf den sie gewartet hatte. Sie faltete die Hände vor der Brust, senkte den Kopf, wie um zu beten und löste dann die Finger langsam von einander. In ihren Handflächen spürte sie die Macht, die sie soeben gerufen hatte, die geheime Macht, die Lydia und sie bewachten. Feuerkugeln lagen nun in ihren Händen, Feuerkugel von entsetzlicher Macht. Feuerkugeln, die Lenya nicht verletzen und dennoch großen Schaden anrichten konnten. Die Wächterin fürchtete diese Kraft nicht, sie konnte sie kontrollieren, seit sie ein kleines Mädchen war. Und nun sollte sie ihr die Flucht ermöglichen. Die Flucht vor den Dienern des Teufels. Lenya konzentrierte sich auf die Kugeln. Sie konnte sie frei nach ihrem Willen formen und einsetzen. Die Zeit war gekommen, da sie die wahre Gestalt ihrer Meisterin offenbaren mussten, die lange im Verborgenen gelebt und gewirkt hatte. Das Feuer in ihren Händen erlosch, wurde zu reiner Energie und durchfloss Lenyas Körper. Sie hatte die Augen geschlossen, als die Magie ihr die Maske nahm und der Engel in ihr von neuem erwachte. Als sie die Augen wieder öffnete, breitete sie ihre weißen schimmernden Flügel aus, flog in den Himmel und ihren Verfolgern davon. Kapitel 5: Engel der vergessenen Zeit - 5 ----------------------------------------- Ein lauter Knall riss ihn aus seinen triumphierenden Gedanken, im gleichen Moment flog die Tür auf, der Kobold und zwei weitere Männer stürzten herein. „Was hat das zu bedeuten?!“, schrie er aufgebracht und mit einer Macht in der Stimme, die die drei sofort zu Boden gehen ließ. „Verzeiht“, stammelte der Kobold unterwürfig, „Ich habe versucht, sie aufzuhalten, aber sie..“ „Schweig!“, befahl der Mann, „Du hast versagt! Wolltest du mich lächerlich machen? Dich wohlmöglich über mich erheben, du grässliche Kreatur?“ Sein Gesicht war weiß vor Zorn, die Züge hart. „Meister, nein, niemals..“ Der Kobold versuchte sich zu erklären, brachte aber kaum ein Wort heraus. Zu groß war die Angst, zu groß der Respekt. Er hatte den Befehl nicht gewissenhaft ausgeführt, doch ihm war keine Wahl geblieben. Es war wichtig, der Meister musste es erfahren. Es war seine Aufgabe, ihm zu dienen – auch wenn die Erfüllung seiner Pflicht ihm das Leben kosten konnte. Es war eine große Ehre ihm dienen zu dürfen, er durfte sich keinen Fehler zu erlauben. Ohne den Blick zu heben, deutete der Kobold auf das von einem schweren Vorhang verhangene Fenster gegenüber. „Seht selbst“, sprach er, all seine Würde aufbringend. Der Mann sah auf den am Boden knienden Kobold herab, ein erbärmlicher Haufen Dreck, mehr war er nicht. Und doch besaß er eine unglaubliche Ausdruckskraft hinter seinen leeren Augen. Die zwei anderen Männer kauerten eingeschüchtert und jämmerlich in einer Ecke. Er würdigte sie keines Blickes, erkannte sie nicht. Sie waren nichts als Abschaum für ihn, nicht würdig ihm gegenüberzutreten. Dass sie es dennoch wagten, würden sie bezahlen – später. Nun wandte sich sein Blick erst einmal dem Fenster entgegen. Schon von weitem erkannte er, dass etwas nicht stimmte. Hinter dem von Motten schon halb zerfressenen Vorhang schimmerte ein blaues Licht, unscheinbar und doch so durchdringend, dass es nicht übersehen werden konnte. Hastig lief er auf das Fenster zu, riss den Vorhang beiseite und starrte nach draußen, dem blauen Licht entgegen. Lydias Haut brannte. Immer weiter sank sie in die Tiefe und mit jedem Zentimeter wurde der Schmerz größer. Sie schrie und schrie, doch niemand hörte ihren Schrei, niemand war da um ihr zu helfen. Noch immer schien sie zu fallen. Oder schwebte sie? Sie wusste es nicht. Um sie herum war nichts als Wasser, dort, wo die Wände der Amphore hätten sein müssen, war nichts zu sehen. Eine scheinbare endlose Weiter voller blau schimmerndem Wasser, das ihr mehr Schmerzen bereitet, als sie je zuvor gespürt hatte. Sie wusste nicht, wie lang sie es noch würde aushalten können. Wenn sie nur gewusst hätte, was aus Lenya geworden war. Doch sie wusste nichts. Nicht einmal, ob diese überhaupt noch lebte, konnte sie mit Bestimmtheit sagen. Zwar hätte sie es spüren müssen, wäre die Kraft ihrer Schwester auf sie übergegangen, doch im Moment war sie sich da nicht so sicher. Sie war zu sehr geschwächt, als dass sie es hätte einschätzen können. Für den Fall jedoch, dass Lenya nicht hatte entkommen können, musste Lydia weiterkämpfen, gegen den Schmerz, gegen die erneut aufsteigende Übelkeit und gegen die Angst, ihre Schwester niemals wiederzusehen. Es war unerträglich. Als Wächterin des Feuers hatte sie das Wasser zwar nie gehasst, aber immer Abstand gehalten. Nun umgab es sie von allen Seiten. Wo auch immer sie war, das Innere der Amphore hatte sie längst verlassen. Das Wasser war tiefblau und klar, Lydia konnte unendlich weit sehen, doch es half ihr nicht. Es gab einfach nichts, das sie hätte sehen können – weder einen Grund noch das Licht, das durch die Oberfläche drang. Alles sah absolut gleich aus und doch so geheimnisvoll, dass es Lydia schwindelte. Die Orientierung hatte sie bereits im Moment ihres Eintauchens verloren. Das blaue Licht, das das Wasser immer wieder unregelmäßig und aus allen Richtungen wie Strömungen durchzog, wurde stärker, heller und strahlender. Lydia war geblendet und kniff die Augen zu. Eine fremde Macht war hier am Werke, das spürte sie. Eine Macht, die ihr langsam die Schmerzen nahm. Oder hatte der Schmerz sie inzwischen so sehr betäubt, dass sie es einfach nicht mehr spürte? Trotz allem nahm die völlig erschöpfte Frau die Linderung als Wohltat wahr und atmete auf. Erst jetzt bemerkte sie, dass dies eigentlich gar nicht hätte möglich sein dürfen, doch sie atmete in diesem Wasser ganz so als wäre sie an Land. Es war ein merkwürdiges Gefühl, doch Lydia dachte nicht weiter darüber nach. Zu sehr war sie damit beschäftigt, nicht in eine Traumwelt zu fallen; vor Erschöpfung nicht mehr in der Lage klar zu denken. Realität war etwas sehr abstraktes, doch galt es einen kühlen Kopf zu bewahren. Es war ihre Pflicht als Wächterin, sie durfte sich in keinster Weise von ihrer Aufgabe ablenken lassen – auch nicht von dem seltsamen Mädchen, das ganz plötzlich und wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte. Kapitel 6: Engel der vergessenen Zeit - 6 ----------------------------------------- Den Wind unter ihren herrlichen weiten Flügeln spürend, flog Lenya weit in die Höhe. Er trug sie hinauf zu den Wolken, gab ihr das Gefühl völliger Freiheit. Ein Gefühl, das sie nicht mehr gekannt hatte, seit Lydia und sie damals zu den Wächterinnen ernannt worden waren. Doch nun konnte sie es nicht genießen. Zu hoch war der Preis, den sie dafür zu zahlen hatte. Wenn es noch eine Möglichkeit gab ihre Schwester zu retten, so musste sie ihr schnell einfallen. Zeit hatte sie keine, ihr blieb einzig und allein das Gelübde. Ein Gelübde, das unmenschliches von ihr verlangte. Weiter flog sie, den unheilvollen Blicken ihrer Verfolger längst entkommen, auf den Ort zu, den sie nur als letzten Ausweg betreten durfte – den Turm des Himmels, in dem die Heilige Flamme verwahrt wurde. In ihren Gedanken versuchte sie Lydia zu erreichen, in der Hoffnung einen überzeugenden Grund zu finden umzudrehen. Diese Flucht gefiel ihr gar nicht, sie empfand es als feige und schwach wegzulaufen, während ihre Schwester möglicherweise Todesqualen durchlitt. Und doch, Lydia war am Leben. Es war die einzige Sicherheit, die sie hatte, als der himmlische Turm in ihrem Blickfeld auftauchte, unsichtbar fast, wie Spiegel, die das Licht der Sonne in alle Richtungen reflektierten. Überwältigend anzusehen hätte der Turm jeden in seinen Bann zu ziehen vermocht. Durch die unzähligen Lichtreflektionen war der Turm kaum als solcher zu erkennen, doch stellte seine Anmut ein Schauspiel strahlender Schönheit dar. Die Wächterinnen allein wussten, dass diese Fassade nichts weiter war als eine Täuschung. Und so war es nicht verwunderlich, dass Lenya beim Anblick des Turmes nicht vor Erfurcht erstarrte, sondern erfüllt von einer tiefen dunklen Vorahnung. Lydia erschrak fürchterlich. Es war nicht die riesige, schimmernde Flosse, die ihre Aufmerksamkeit erregte, es waren die hilflosen, leeren Augen eines Mädchens, das scheinbar schon seit ewiger Zeit gefangen war. Es waren Augen, die kein Licht reflektierten, keinerlei Regung zeigten und in keinster weise verrieten, dass sie Lydias Anwesenheit bemerkt hätte, obwohl sie dieser doch direkt ins Gesicht sah. Wären sie nicht von Wasser umgeben gewesen, so hätte Lydia vermutet, das Mädchen würde weinen. So jedoch wurde jede Träne weggespült, bevor sie entstehen konnte. Dieses Mädchen durfte nicht weinen. Lydia betrachtete sie fasziniert. Sie war das erste Wesen, dem sie begegnet war, seit sie in den Turm gesperrt worden war, doch ein Geschöpf solcher Schönheit hatte sie nie zuvor gesehen. Ihre lange Flosse schimmerte in allen Blautönen, ihr Haar glitzerte in reinstem Silber und fiel sanft über ihre helle Haut. Doch auch wenn von ihrer Anmut ein Licht auszugehen schien, so konnte es doch nicht über die tiefe Traurigkeit hinwegtäuschen, die ihre blauen Augen trübte. Lydia verspürte den Drang, das Mädchen in die Arme zu schließen. Sie wunderte sich selbst darüber, doch von diesem Mädchen schien eine geheime Magie auszugehen, die bereits ihre Fänge nach ihr ausstreckte. Lydia wich zurück, doch das Mädchen folgte ihr. Und plötzlich, ohne dass Lydia Zeit blieb zu reagieren, packte das Mädchen unsanft ihren Arm und zog sie zu sich. Sie schwamm sofort los, lockerte ihren Griff dabei jedoch nicht. Lydia war gefangen, sie konnte sich nicht losreißen, egal wie sehr sie sich auch dagegen wehrte. Die Umklammerung brannte fürchterlich, doch Lydia konnte im Wasser nicht schreien. Es kam ihr vor, als risse man ihr alles Leben aus dem Arm. Mit jeder Sekunde schwamm das Mädchen schneller, der Griff um Lydias Handgelenk wurde immer fester. Schmerz und Erschöpfung erfüllten die Wächterin, sie wollte einfach nur ausruhen, wollte, dass es aufhörte, wollte endlich erlöst sein von all den Qualen. Und das Mädchen schwamm weiter. In all der Zeit änderte sich ihre Umgebung nicht im geringsten. Einzig und allein die immer häufiger werdenden Strömungen aus blauem Licht verrieten Lydia, dass sie sich tatsächlich bewegte. Den Wasserdruck, der von alles Seiten an ihr zerrte, bemerkte sie schon gar nicht mehr. Sie wusste nicht, wie lang sie es noch ertragen konnte, würde ertragen müssen. Die Fingerspitzen des Mädchens, die sich inzwischen tief in ihre Haut gebohrt hatten, schienen ein Gift zu enthalten, das Lydia langsam aber sicher betäubte. Kapitel 7: Engel der vergessenen Zeit - 7 ----------------------------------------- Es konnte nicht sein, was er sah machte keinen Sinn. Der Turm leuchtete durchdringend und spiegelte sich in seinen hasserfüllten Augen. Niemals zuvor hatte er so etwas gesehen. Ohne weiter Zeit zu verlieren, rannte er los, seine Untertanen vergessend. Diese standen nur eingeschüchtert du und sahen ihm nach. Der Kobold war es, der als erster die Fassung wiedererlangte. Er erhob sich und blickte wie gebannt auf den Turm. „Ihr seid Turmwachen“, wandte er sich entschlossen den beiden noch immer am Boden liegenden Männern zu, „Was befindet sich in dem Turm?“ Der Kobold sah die beiden mit demselben durchdringenden Blick, den auch ihr Meister benutzt hatte, an, jedoch nicht angsteinflößend und herablassend, sondern mit aufrichtigem Interesse. Er wusste, das Wissen der Turmwachen könnte essentiell dafür sein, zu verstehen, was in dem Turm passiert war. Niemals zuvor hatte ein solches Licht die Dunkelheit erhellt, niemals zuvor war von dem Turm eine solche Gefahr ausgegangen. Er musste wissen, was vorgefallen war. Nur so konnte er seinen Fehler wiedergutmachen und dem Meister erneut in die Augen sehen. Er hatte ihn einmal enttäuscht, so etwas sollte nie wieder vorkommen. Mühsam richteten die zwei Männer sich auf, sie sahen sich kurz an, ehe einer von ihnen zur Antwort ansetzte. „Der Meister gebot uns niemals davon zu sprechen, vor langer Zeit. Nun jedoch“, und in diesem Augenblick zögerte er, „nun jedoch scheint es, als wäre die Macht, die er vor Jahren dort versiegelt hatte, befreit worden.“ Der Kobold hörte aufmerksam zu, merkte sich jedes Wort, das die Turmwache sagte. Vor seinem inneren Auge nahm etwas Gestalt an, das er selbst nicht kannte, ein Gefühl, das ihn förmlich zu überwältigen drohte. Währenddessen sprach der Mann weiter. „Im Turm ist eine uralte Magie am Werk, eine Magie, die niemals hätte entfesselt werden dürfen. Der Meister hatte sie dort versiegelt, als sie einst gedroht hatte ihn zu überwältigen. Doch es war ihm gelungen, sie zu unterwerfen und in den Turm zu sperren, in dem sie seitdem schlief. Nun jedoch hat irgendwas die alte Magie von neuem erweckt“, der Mann seufzte schwer, „Der Meister ist in großer Gefahr.“ Mit jedem Wort der Turmwache schwoll ein tiefes Gefühl von Hass in dem Kobold an. Er hatte noch nie soviel Abscheu gefühlt. Abscheu gegenüber den beiden jämmerlichen Kreaturen, die hier vor ihm standen. Es war unverzeihlich, was sie getan hatten. Eine solche Unverfrorenheit hatte er nie gekannt. Er starrte die Beiden unverhohlen an, zitternd vor Wut. „Wie könnt ihr es wagen?!“ Was fällt euch ein, einen direkten Befehl des Meisters so leichtfertig zu missachten?!“ Wie vom Donner getroffen, zuckten beide Männer heftig zusammen. Keiner von ihnen war sich einer Schuld bewusst, keiner von ihnen hatte den sonst so freundlichen Kobold jemals so außer sich erlebt. Er war stets an der Seite des Meisters und doch war er umgänglich und hilfsbereit. Nun aber war er anders, es war als stünde der Meister selbst vor ihnen und wollte sie bestrafen. Sofort fielen sie vor ihm auf die Knie. Der Kobold ließ sich nicht erweichen. „Der Meister hat euch verboten, jemals darüber zu sprechen! Ihr habt euch ihm widersetzt! Ihr seid eine Schande!“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und stapfte davon. Zwar brauchte er die Informationen, die die Beiden ihm gegeben hatten, doch nichts, absolut nichts rechtfertigte es, dem Meister nicht zu gehorchen. Beunruhigt betrat Lenya den Turm des Himmels. Sie atmete tief durch und doch fühlte sie sich so erfrischt wie schon lange nicht mehr. Das Fliegen hatte ihr gut getan, es war ein herrliches Gefühl gewesen wieder die uralte Macht durch ihre Adern fließen zu spüren. Doch die Anspannung blieb. Lenya konnte förmlich spüren, dass Lydia große Qualen erlitt. Immer wieder schien es ihr, als würden kleine Blitze sie durchzucken. Die Kraft ihrer Schwester war bald erloschen, die Blitze bewiesen es. Es waren Schübe von Lydias Magie. Sie schickte sie zu Lenya, wenn auch unbeabsichtigt. Lenya wusste, dass Lydia noch kämpfte, sich weigerte aufzugeben. Doch dieses Wissen konnte sie nicht beruhigen. Mit einem Stich im Herzen sah sie den Turm hinauf, dessen gespenstische Atmosphäre die Situation nur noch verschlimmerte. Dort oben, hoch im Turm verborgen, befand sie sich. Die Heilige Flamme, die Quelle ihrer Kraft. Mit einem gewaltigen Schlag ihrer Flügel gelangte Lenya nach oben, dem Heiligtum entgegen. Als sie sich der Flamme näherte, züngelte das Feuer an ihren Füßen hoch und verbrannte ihre Schuhe und Socken, sodass nichts als pure Haut zurückblieb. Lenya ging einfach weiter, das Feuer war ihr nicht fremd und sie liebte seine Nähe. An diesem Ort herrschten die Flammen, daher konnte ihn niemand unbeschadet betreten. Niemand außer den zwei Wächterinnen. Schwer atmend sah Lenya in das Feuer. Zu anderen Zeiten hatte es in ihr immer eine unglaubliche Ausgeglichenheit hervorgerufen, nun schien es, als würde der wilde Tanz der Flammen die Unruhe noch verstärken. Hier nun hoffte sie, endlich eine Antwort zu finden. Eine Antwort, die sowohl für sie selbst als auch für Lydia entscheidend sein würde. Das Schicksal der zwei Wächterinnen. Es war in der Flamme zu lesen wie in einem Buch. Alles was war, alles was ist und alles was sein würde – die Flamme wusste es. Der Turm des Himmels beherbergte die Heilige Flamme und damit auch ihr Geheimnis. Sie allein erwählte die Wächterinnen. Jene, die allein würdig waren, das Feuer zu schützen. Dem Gelübde folgend, war Lenya nun an diesen Ort zurückgekehrt. Zurückgekehrt um die Macht zu versiegeln, die sie schützte. Sie musste an zwei neue Wächter weitergegeben werden und damit von neuem untertauchen. Doch dazu mussten potentielle Wächter er erwählt werden. Schwermütig blickte Lenya in die Flamme. Eine lange Zeit verharrte sie so, unentschlossen. Sie hatte niemals an diesen Ort zurückkehren wollen. Doch sie war hier, allein. Lydias Schicksal war noch immer ungewiss, ihr blieb keine andere Wahl. Konzentriert hielt sie ihre Hände über die Flamme, die sofort übersprang. Lenya holte die Flamme, die nun in ihren Händen lag, zu sich und sah hinein. Das Feuer schien überall zu sein, jede Faser ihres Körpers zu durchdringen. Und doch war es allein in ihrer Hand. Lenya schloss die Augen und atmete noch einmal tief durch. Sie wusste, was sie tun musste. Sie konzentrierte sich. All ihre Kräfte sammelnd, richtete sie ihren Blick wieder in die Flamme, in der sie nun das Abbild des neuen Wächters erkennen konnte, und erschrak furchtbar. Sie kannte die Person, die sie dort aus dem Feuer heraus ansah, und der sie ihre Kräfte würde übertragen müssen. In einem schwarzen, an den Spitzen versenktem Klein und mit leeren, traurigen Augen. Es war Lydia. Kapitel 8: Engel der vergessenen Zeit - 8 ----------------------------------------- Die Zeit schien still zu stehen, als er den Turm schließlich erreichte. Noch immer war er in ein kräftiges blaues Licht gehüllt, noch immer stand er da, majestätisch und gebieterisch. Seine Gefangene hatte niemals wieder erwachen sollen, es ergab keinen Sinn. Was war oben im Turm geschehen? Er lief weiter, nah Fassung ringend. Die Bedeutung des blauen Lichtes war eindeutig und doch nicht einleuchtend. Er hatte sie versiegelt, sie in eine Welt verbannt, die sie schwächen sollte, aus der sie sich niemals befreien konnte. Es war schlichtweg unmöglich, dass sie es geschafft hätte, er hätte es gewusst, wenn sie seinen Fluch gebrochen hätte. Nein, sie war nicht entkommen, auch wenn das Licht den Anschein erweckte. Mit Leichtigkeit sprang er die Treppen herauf und erreichte schließlich das Turmzimmer. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Lydia nirgends zu sehen war. Oder war er in seiner Eile an ihr vorbeigelaufen? Es kümmerte ihn nicht. Von dem kraftlosen Mädchen ging keine Gefahr aus. Sie gehörte ihm und wusste das. Sie würde ihm keinen Ärger mehr machen, sie hatte es längst verstanden. Es war nicht Lydias Abwesenheit, die ihn beunruhigte. Hier im Zimmer war das blaue Licht noch viel intensiver. Sein gehetzter Blick blieb an der Amphore hängen, die er einst geschaffen hatte um eben jenes Licht zu verbannen. An jenem Tag hatte die Welt ein wenig Farbe verloren. Die Amphore stand genau so, wie er sie damals hier zurückgelassen hatte. Es war, als liefe die Zeit rückwärts, als hätte er diesen Feind erst vor wenigen Augenblicken besiegt. Es war ein harter Kampf gewesen, er, der sonst jeden hätte beherrschen können, musste all seine Kräfte zusammennehmen. Wäre er an jenem Tag in Besitz seiner wahren, höllischen Macht gewesen, es wäre eine Kleinigkeit gewesen, sie zu besiegen. Doch seit man ihn aus dem Paradies verbannt und ihm seine Kräfte genommen hatte, beschränkten sich seine Künste hauptsächlich auf Taschenspielertricks und Autorität. Trotzdem war es ihm gelungen, sie zu besiegen – wenn auch nur knapp. Er hatte geglaubt, sie für immer gefangen zu haben. Wie jedoch konnte sie ihre Kraft dann offenbaren? War sie erwacht? Oder war es Lydias Magie gewesen? Niemals hatte er auch nur im geringsten daran gedacht, dass so etwas geschehen könnte. Lydia beherrschte das Feuer, war aber an Körper und Seele stark geschwächt, Sie beherrschte das Wasser, war aber seit vielen, vielen Jahren gefangen. Und Feuer und Wasser vertrugen sich nicht. Was also war passiert? Er betrachtete die Amphore ausgiebig, konnte jedoch nichts ungewöhnliches erkennen. Sie sah genauso aus, wie er sie hier zurückgelassen hatte, makellos eben und einwandfrei geformt. Der Fluch, mit dem er sie verschlossen hatte, war noch immer intakt. Er runzelte zweifelnd die Stirn. Es verlief absolut anders, als er es geplant hatte. Er hatte Lydia in den Turm sperren wollen um ihren Lebenswillen zum erlöschen zu bringen. Mittel und Wege dazu hätte er in ausreichender Menge zur Verfügung gehabt. Wenn er mit ihr fertig gewesen wäre, hätte sie ihm ihre Kräfte freiwillig gegeben, nur damit er aufhörte. Doch nun war alles anders. Wieder sah er sich um, wieder konnte er Lydia nicht entdecken und ihre Anwesenheit auch sonst nicht spüren. Es konnte nur eine Erklärung dafür geben. Sie war in die Amphore eingetauscht – und damit in ihrer Welt gefangen und an den Fluch gebunden, der die Amphore verschlossen hielt. Bei dem Gedanken daran, lächelte er hinterhältig. Sie würde sicher ihren Spaß mit der jungen Wächterin haben. Gerade, als er die Amphore mit einem weiteren Fluch belegen wollte, vernahm er hinter sich stumpfe Schritte, die die Treppe heraufeilten. Er drehte sich um und sah den Kobold, der sich sogleich verneigte. „Stets zu Diensten, mein Gebieter“, sagte er schlicht. Die Welt schien alle Farben verloren zu haben. Lydia versuchte die Augen zu öffnen, doch es gelang ihr nur widerwillig. Immer wieder fielen sie zu. Das wenige, das sie wahrnahm wollte sich zu keinem Bild zusammenfügen. Alles was sie spürte, waren Schmerzen, tiefe Schmerzen, die sie so sehr betäubten, dass sie nicht sicher war, ob sie überhaupt noch am Leben war. Sie konnte sich nicht bewegen und ihre Hand war stark angeschwollen. Langsam kam sie in die Realität zurück, langsam erinnerte sie sich wieder. Sie musste Lenya schützen. Die Aufgabe, die ihnen aufgetragen worden war vor langer Zeit, kümmerte sie nicht länger. Sie würde alles ertragen – wenn nur Lenya am Leben bliebe. Es war ihr größter Wunsch und zugleich auch ihr einziger. Alles andere hatte sie längst aufgegeben. Kraftlos sah Lydia sich um. Als sie schließlich erkannte, wo sie sich befand, erschrak sie. Sie war gefangen in einem riesigen Spinnennetz. Ein Netz, aus blauen Lichtströmungen geknüpft, das sie an sich band. Gerade als sie versuchte ihren gesunden Arm zu heben, tauchte das Mädchen wieder auf und schlug ihr mit ihrer Flosse direkt ins Gesicht. „Du bist wach? Na endlich! Ich dachte schon, du schäft ewig!“, sagte sie und ihre Stimme war schneidend. Wieder schlug sie sie. Lydia nahm den Schmerz kaum noch wahr. Sie erduldete es einfach, was hier passierte übertraf alles, was sie jemals fürchte ertragen zu müssen. Sie antwortete dem Wesen nicht, sie sah es einfach an. „Hast du einen Namen, Teufel?“, durchnitt erneut die Stimme das Wasser. Lydia nickte schwach. „Lydia..“ „Du kannst ja doch sprechen!“, antwortete das Mädchen, und strich Lydia über die Wange, „also Lydia, mein Name ist Xilia, Schützgöttin der verlorenen Reiche von Jaribya.“ Lydia wusste nicht, ob sie ihren Ohren trauen konnte, ob sie lachen oder weinen sollte. „Das ist doch nur eine Legende..“, sagte sie schließlich und bereute es sogleich wieder. Xilia war nämlich bei dem Wort 'Legende' erschaudert und erzürnt, sie baute sich nun wutentbrannt vor Lydia auf. „Eine Legende?!“, fauchte sie, „ein Mythos! Das ist alles, was von meiner Heimat übrig ist! Wage es nicht, dich über mich lustig zu machen!“ Immer und immer wieder schlug Xilia auf die reglose Lydia ein. Es war nicht zu erkennen, ob es nun Hass war, der sie lenkte, oder tiefe Traurigkeit. „Einst war Jaribya ein mächtiges Königreich.. doch dann wurde es vernichtet! Seitdem bin ich hier gefangen“, sie sah Lydia verachtend an, „ich spüre sie genau, die Macht, die du verbirgst.. Du bist es gewesen.. Die Macht, die du schützt, hat mein ganzes Reich einfach ausgelöscht!“ Kapitel 9: Engel der vergessenen Zeit - 9 ----------------------------------------- Lenya ließ die Flamme fallen. Lydia. Sie sah ihre Schwester, einsam und verlassen. Wie konnte das sein? Die Flamme hatte ihr zeigen sollen, wer nach ihnen die Heilige Macht hüten sollte, doch die einzige, die sie sehen konnte, war Lydia. Sie sollte ihre Schwester suchen, deren Abbild in der Flamme ließ keinen Zweifel daran. Sie war einzig und allein auf Lydias Wunsch geflohen und untergetaucht. Nun musste sie ihre Deckung aufgeben und zu ihrer Schwester zurückkehren. Verwirrung machte sich breit in Lenyas Verstand, sie hatte antworten erhofft, doch nur Fragen bekommen. Das Heilige Feuer log nicht, die Magie hatte sie niemals betrogen. Leise seufzend, sank das Mädchen in sich zusammen. Sie zitterte am ganzen Leib, Die Flamme log nicht. Lenya würde ihre Kräfte aus ihre Schwester übertragen und dafür konnte es nur einen Grund geben. Sie zweifelte. Zum aller ersten Mal in ihrem Leben zweifelte Lenya an der Entscheidung ihrer Schwester. Sie wusste nicht, was für Leute das waren, die sie verfolgten, sie wusste nicht, aus welchem Grund sie es taten. Sie wusste nur, dass das magische Feuer daran Schuld war., die wahre Macht, die dahintersteckte, hatte nur Lydia jemals völlig verstanden. Sie hatte Lenya damals als zweite Wächterin vorgeschlagen, die Flamme hatte sie für würdig betrachtet und ihr die Kraft übertragen. Hätte Lydia diese Entscheidung getroffen, wenn sie gewusst hätte, was daraus einmal resultieren würde, ja sogar unmittelbar bevorstand? Erneut seufzte Lenya. Sie war an das Gelübde gebunden, es gab kein Zurück. Der Bund mit dem Feuer ließ sich nicht ungeschehen machen. Leise liefen die Tränen über Lenyas Wangen, als sie sich schließlich erhob. Auf wackligen Beinen stand sie da, blickte immer wieder auf das Mädchen in den Flammen. Ein letztes Mal atmete sie tief durch. Sie würde sich dem Willen des Feuers fügen. Sie sollte ein ganzes reich ausgelöscht haben? Lydias Kopf schmerzte stark, ihre Gedanken überschlugen sich formlich, doch sie gab sich alle Mühe, nicht darauf zu achten. Es machte keinen Sinn, was das Mädchen ihr erzählte, Jaribya war schon vor Jahrhunderten zerstört worden. Dennoch, der Name des zerstörten Reiches weckte lang vergessen geglaubte Erinnerungen. Erinnerungen an eine Legende. Eine Legende, die mit der Macht des Feuers in direkter Verbindung stand. Trotzdem verstand Lydia nicht, weswegen Xilias Zorn sich nun gegen sie richtete. Sie hatte nie einen Fuß in dieses reich gesetzt, war es doch schon lange vor ihrer Geburt vernichtet worden. Aus welchem Grund also war die Nixe sauer auf sie? Xilia schwamm unentwegt um das Lichtnetz herum, das Lydia gefangen hielt. Verächtlich warf sie immer wieder einen Blick auf ihre Gefangene, offensichtlich darum bemüht, eine angemessene Strafe zu finden und gleichzeitig einen Nutzen aus Lydias Anwesenheit zu ziehen. Sie machte die Wächterin der Flammen nervös und genoss es in vollen Zügen. Lydia war ihr hoffnungslos unterlegen, im Wasser konnte sie nicht kämpfen. Sie musste Xilia irgendwie von ihrer Unschuld überzeugen. „Es tut mir Leid, was mit deinem Reich geschehen ist“, erklärte sie ruhig, „ich werde deinen Schmerz über diesen Verlust niemals nachvollziehen können. Aber das Gefühl, der Freiheit beraubt zu werden, ist mir nicht fremd. Ich bitte dich, glaube mir. Ich habe dein Reich nicht zerstört.“ In ihrer Verfassung war es eigentlich das Letzte, das sie tun wollte, aber es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie musste darauf vertrauen, dass es ihr gelang, Xilia auf ihre Seite zu ziehen, gegen sie an kam sie auf keinen Fall. Doch was konnte Lydia sagen? Wie sollte sie sie besänftigen? Die Zeit drängte. „Was weißt du denn schon?!“, fauchte die Nixe aufgebracht, „Du hast keine Ahnung von meinem Schmerz!“ Xilia durchfuhr das Wasser mit ihren Armen und hinterließ dabei neue Lichtstreifen. Die junge Wächterin verstand, spürte die Lichtstrahlen gleich darauf wie Peitschenhiebe auf ihrer Haut. Leicht benommen zuckte sie zusammen. Wäre sie nicht gefesselt gewesen, sie wäre ganz sicher gefallen – jedoch nicht zu Boden, denn einen solchen gab es hier nicht. Es gab nichts außer dem magischen Wasser, das sie umgab als würde es sie erdrücken wollen. Es enthielt all den Hass und die Wut der um ihre Freiheit gebrachten Göttin. Immer und immer wieder schlug sie auf Lydia ein. „wieso wehrst du dich nicht?!“, schrie sie verzweifelt, „Du hattest auch keine Skrupel all die hilflosen Wesen zu ermorden!“ Tiefe Verbitterung klang aus ihrer Stimme. Mit schmerzverzogenem Gesicht und geröteten Augen hielt Lydia ihrem Blick stand. „Meine Aufgabe ist es zu bewahren und zu schützen“, erklärte sie mit aller Ruhe, die sie aufbringen konnte, „Ich bin unschuldig am Tod deines Reiches..“ Doch ihre Worte schienen das Mädchen nicht zu berühren. Sie hatte sich bereits zu weit in ihre Wut hineingesteigert, Lydias feuriges Geheimnis machte sie rasend. Es verging keine Sekunde, da sie nicht auf sie achtete, auf die Magie, die Lydia zurückhielt. Die Magie, die ihr alles genommen hatte. „Erinnere dich!“, bat Lydia flehend, „Erinnere dich an das, was wirklich passiert ist!“ Der Hass, der ihr entgegen trat und all das Wasser, dass sie umgab, hatten den Mut in der jungen Wächterin beinahe zum Erlösche gebracht. Aber sie durfte nicht aufgeben, solange ihre Schwester nicht in Sicherheit war. Sie hatte sie damals zur Wächterin gemacht, es wäre ihre Schuld, wenn sie nun zu schaden kommen würde. Dabei hatte sie nur bei ihr bleiben wollen. Nie hätte sie damit gerechnet, dass es einmal ernst werden sollte. Woher hatte sie wissen sollen, dass der Mann, an den die beiden Schwester verkauft worden waren, ausgerechnet der Mann war, vor dem sie die geheime Macht um jeden Preis hatten fernhalten müssen? Kapitel 10: Engel der vergessenen Zeit - 10 ------------------------------------------- Er fuhr herum, starrte den Kobold mit einem Blick an, der diesen erschaudern ließ. In seinen Augen loderte ein Feuer wie schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Der am Boden kniende Diener, bemerkte es mit Freude. Er betrachtete die Amphore mit unverhohlenem Interesse. Oft schon, was er hier gewesen, viel öfter als selbst sein Meister wusste, dennoch war sie ihm nie aufgefallen. Nun jedoch war es gar nicht möglich, sie zu übersehen. Der Mann betrachtete den Kobold und nickte, wie um eine ungestellte Frage zu beantworten. Dann wendete er sich wieder ganz der Amphore zu. Sie musste unbedingt verschlossen bleiben; sollten die zwei Gefangenen entkommen und ihre Macht entfesselt werden, das Chaos wäre unvorstellbar. Natürlich liebte er das Chaos, doch nur, solang er es kontrollierte. Dieses Chaos jedoch schien sich komplett seinem Einfluss entziehen zu wollen. Er konzentrierte sich, das strahlende Licht ignorierend, das so sehr nach seiner Aufmerksamkeit trachtete. Seine Kräfte waren zum größten Teil gebunden, daher war die Aufgabe, vor der er nun stand, mit einem hohen Risiko verbunden. Doch die Amphore durfte ihr dunkles Geheimnis nicht offenbaren, es stand zu viel auf dem Spiel. Sei Blick wanderte wieder zu seinem Diener. Dass der es überhaupt gewagt hatte, wieder bei ihm aufzutauchen, war schon verwunderlich, nachdem er in Ungnade gefallen war. Niemand hatte sich seinem Willen zu widersetzen, nicht einmal aus guten Grund. Diesen hatte der Kobold zweifelsohne gehabt, dennoch entschuldigte das nichts. „Willst du deine Schuld begleichen?“, fragte er schließlich, seine Stimme war schmierig und kalt. Der Kobold nickte, verbeugte sich noch tiefer. Hier nun würde über ihn geurteilt werden. „Du wirst mir einen großen Dienst erweisen. Einen Dienst, den all meine Sklaven mit Freuden übernehmen würden.“ Der Diener gab keinen Ton von sich, schluckte jedoch leicht. Dies war nicht die Zeit, sich zu widersetzen, es würde ihm eine Ehre sein. Ohne weiter nachzufragen, wartete er auf Anweisungen, die ihm bereitwillig erteilt wurden. Die Amphore schimmerte noch immer in allen Blautönen, als der Kobold sich ihm näherte. Er sah kurz hinein, ließ seinen Blick jedoch nicht verweilen. Das Innere der Amphore war nicht sein Ziel. Vielmehr war es die Amphore selbst. Entschlossen sah er seinen Meister an, verneigte sich kurz ein letztes Mal. Er war bereit. Bereit seine gerechte Strafe zu bekommen, bereit die größte Ehre in Empfang zu nehmen, die ihm hätte zuteil werden können. Der Mann lächelte finster, als er seinen Willen wieder auf die Amphore richtete. Auf diese Weise war es ihm ein leichtes, sie auf ewig neu zu verschließen, das Blut des Dieners wirkte wie ein undurchdringliches Siegel. Er begann mit der Prozedur, band den Körper des Kobolds durch einen Spruch an die Amphore. Niemand konnte ihn aufhalten. Als Lenyas Flamme dicht neben ihm einschlug, war der Kobold bereits tot. Der Weg war schnell zurückgelegt, jetzt da es nicht mehr darauf ankam, sich zu verteidigen. Sie musste nur noch ankommen. Es war egal, ob sie gesehen wurde. Lenya flog schnell und zielsicher. Als sie schließlich ihr Ziel erreichte – ein Turm, der schon von weitem in strahlendem Blau leuchtete – da hielt sie für ein paar Minuten inne. Es war soweit, nichts würde sie nun noch aufhalten können. Sie hatte sich entschieden. Das Heilige Feuer hatte für sie entscheiden. Es gab kein Zurück. Vorsichtig spähte Lenya in das Turmzimmer hinein. Es war völlig klar, dass die Personen, die sie dort sah, ihr nicht freundlich gesonnen waren. Doch die zeit zu fliehen war endgültig vorbei. Die Wächterin schlich sich hinein, völlig unbemerkt. Die mit glitzerndem Wasser gefüllte Amphore betrachtete sie nur kurz, der davor kniende Kobold hielt ihre ganze Aufmerksamkeit fest, er und der finster aussehende Mann, der sich ebenfalls im Zimmer aufhielt. Er war groß und kräftig, sein Haar fettig und schwarz. Seine Kleidung schien altertümlich, nicht vielmehr als Fetzen bedeckten seinen Körper. Das Mädchen schreckte bei seinem Anblick leicht zurück, fing sich aber sogleich wieder. Sie betrachtete ihn und den Kobold aufmerksam. Schließlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Kobold, der Mann, die Amphore. Sie war Zeugin einer Opferung. Blitzschnell reagierte Lenya, rief das Feuer und zielte damit auf den Mann. Doch für den Kobold kam ihre Hilfe zu spät. Er war bereits tot, als der Mann endlich von ihm abließ. Überrascht und wütend zugleich fuhr er herum – und erkannte das Mädchen. Ein Lächeln bildete sich auf seinem entstellten Gesicht. Er trat näher. „Nach all den vergeblichen Versuchen, dich zu fangen, kommst du schließlich freiwillig zu mir. Welch eine Ehre.“ Er verneigte sich gekünstelt, sein Hohn war nicht zu übersehen. Endlich hatte er beide Schwestern, sie würden ihm nicht mehr entkommen. Mit ebenso kaltem Blick starrte Lenya ihn an. „Lass meine Schwester frei“, forderte sie ruhig und würdevoll, gleichzeitig jedoch ohne zu erwarten, dass er auf sie hören würde. Er lachte, lachte lauthals. Sie wollte sich über ihn lustig, ihn lächerlich machen, dabei erkannt sie nicht einmal, dass es hoffnungslos war. „Deine Schwester wird niemals entkommen können!“, sein Blick lag auf der Amphore. Der Zauber hält ewig! Sie hat diesen Käfig selbst gewählt!“ Die Unsicherheit, die ihn beim Anblick des blauen Lichtes durchzogen hatte, war wie weggewischt, nun da er die Amphore neu versiegelt hatte. Lenya stockte, als sie verstand. Ohne einen Ton zu sagen, trat sie an die Amphore heran, betrachtete sie ausgiebig. Schließlich drehte sie sich um und das Feuer in ihren Augen brannte. Es war die macht, der er vor so vielen Jahren eingebüßt hatte. Verächtlich schnaubte er, bereit das Mädchen jederzeit anzugreifen. „Wenn du es nicht tust“, zischte Lenya voller Hass und konzentrierte sich auf all die Kraft, die in ihr schleif, „Dann werde ich es tun!“ Flammen züngelten auf und hüllten den raum in ein Licht, in dem das feuer mit dem Blau verschmolz. Noch bevor der Mann reagieren konnte, war der Bann, der die Amphore des Wassers verschlossen hielt, gebrochen. Kapitel 11: Engel der vergessenen Zeit - 11 ------------------------------------------- Damals vor so vielen Jahren. Lydia war gerade sieben Jahre alt gewesen, als man sie ihren Eltern entrissen hatte. Sieben unschuldige Jahre lang war sie still und im Verborgenen eine Wächterin gewesen. Wächterin über eine Macht, die sie selbst kaum kannte. Doch ganz plötzlich hatte sich alles verändert. Es war ein grauer Tag gewesen, der Himmel von schweren Wolken verhangen und doch regnete es nicht. Die einzigen Tropfen, die fielen, waren Tränen. Tränen der Hoffnungslosigkeit, des Leids und des Abschieds. Ihre Eltern hatten sie verkauft, gemeinsam mit Lenya. Sie hatten es nicht ertragen, die Mädchen länger bei sich zu haben, sie waren so anders, so teuflisch, so rein. Er hatte ihnen viel Geld geboten, um Lydia zu bekommen, nie hatte ein Mann eine solche Summe für ein kleines Mädchen bezahlt. Er hatte versprochen, den Teufel auszutreiben, der die Kleine beherrschte und da diese sich weigerte, ihre kleine Schwester loszulassen, gaben ihre Eltern auch sie weg. Lydia hatte lange nicht verstanden, wieso ihre Eltern es getan hatten, aus welchem Grund sie es erlaubt hatten, dass ihre Töchter zu einem solchen Mann kamen. Was mussten sie für Menschen gewesen sein? In den kurzen Jahren, die sie glücklich bei ihnen gelebt hatte, hatte sie sich nie solche Gedanken gemacht. Wie hatten ihre Eltern sie verkaufen können? Nun, viel zu spät um ihnen zu verzeihen, kannte sie den Grund. Nun, da sie wusste, an wen sie verkauft worden waren, wer der Mann war, der soviel Geld für sie gezahlt hatte. Wer schon sollte der Macht des Teufels widerstehen können? Es war absolut menschlich der Magie zu erliegen. Unmenschlichkeit, Skrupellosigkeit. Das war er einzig mögliche Weg ihr zu entgehen. Lydia dachte für einen Moment wehleidig zurück, hegte den Wunsch, ihre Eltern noch einmal zu sehen, sie zu verstehen und ihnen vielleicht sogar zu verzeihen. Viel größer jedoch war der Wunsch, ihre Sehnsucht nach Lenya. Sie war schließlich noch immer verantwortlich für ihre Schwester, hatte ihr die Macht der Flammen förmlich aufgezwungen. Kurz nachdem Lydia ihre Eltern zum letzten Mal gesehen hatte, begann der Widerstand in ihrem jungen Herzen. Der Mann machte ihr Angst, von ihm ging eine geheimnisvolle Aura aus, die eiskalte Schauer verursachte. Heimlich hatte sie sich aus ihrem Verließ geschlichen, Lenya gesucht und war gemeinsam mit ihr geflohen. Fasziniert hatte Lenya ihre Schwester angesehen, die weißen Flügel, jede einzelne Feder. Die Kraft, die das junge Mädchen besaß, ging weit über das Gewöhnliche hinaus. An einem ruhigen Ort waren sie untergetaucht, geschützt von einem magischen Bann, der es ihren Verfolgern unmöglich machte, sie zu finden. Lenya wuchs unter Lydias Aufsicht heran, niemand erkannte je, dass die beiden Mädchen völlig allein waren. Eines Abends saß Lydia gedankenverloren am Boden, rührte sich kaum. Sie konnte es nicht, die gewaltige Magie, die ihren Körper durchströmte, lähmte jeden einzelnen ihrer Muskel. Sie wusste, was dies zu bedeuten hatte, doch nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass es schon so bald geschehen würde. Die alte Wächterin der Heiligen Flamme, sie war gestorben und hatte ihre Magie an Lydia weitergegeben. Nun teilte sie diese nicht mehr, niemand besaß mehr Kraft als sie. Eine ganze Weile starrte das Mädchen ausdruckslos vor sich hin, eine lange und gefährliche Reise würde vor ihr stehen um einen neuen Wächter zu finden. Sie würde ihre Schwester zurücklassen müssen, so verlangte es das Gelübde. Es sei denn.. In Lydias Kopf nahm eine Idee Gestalt an, die völlig neue Alternativen mit sich brachte. Möglichkeiten, an die sie bisher nicht gewagt hatte zu denken. Ihr größter Wunsch war es, sich niemals von ihrer Schwester zu trennen, doch ihre Position als Hüterin der Magie hatte aus einer solchen Zukunft nichts weiter als hoffnungslose Utopie gemacht. Schnell hatte sie einen Entschluss gefasst, das Risiko war zwar hoch, doch Lydia musste es eingehen. Mit dem Entschluss kehrte auch ihre Willenskraft zurück und der magische Bann, der sie gefangen hatte, löste sich. Sie brachte Lenya zum Turm des Himmels, dem einzigen Ort, an dem neue Wächter erwählt werden konnten. Wenn Lenya nun die Magie bekam, die zwei Schwestern würden auf ewig das Schicksal teilen. Niemand würde sie mehr trennen. Im Turm zögerte Lydia nicht. Und obwohl sie erst zehn Jahre alt war, beherrschte sie die Magie der Flammen wie eine uralte Meisterin. Nahezu euphorisch rief sie das Feuer und sah hinein. Nur so konnte ein neuer Wächter erwählt werden. Lenya folgte ihrer Schwester mit bangen Blicken, blieb wie geheißen in unmittelbarer Nähe. Etwas anderes blieb ihr auch nicht übrig, sie drückte sich an Lydia als die Flammen hochzüngelten. Es war unsagbar heiß im Turm, Lenya glaubte bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Lydia machte die Hitze nichts aus, ihre einzige Hoffnung bestand aus ihr. Einen kurzen Moment nur musste die Jüngere aushalten. Bevor sie selbst verstand, was geschah, sprach sie ihrer Schwester ein Gelübde nach, das Feuer hüllte sie von allen Seiten ein. Lydia hoffte, ihr stockte der Atem. Dieser Moment war so viel ergreifender, als sie es je für möglich gehalten hatte. Ihre Schwester musste nur überleben, nichts weiter, sie musste nur in der Lage sein, den Flammen standzuhalten. Andächtig schloss sie die Augen, nicht daran denkend, dass Lenya, falls sie nicht erwählt werden würde, Todesqualen zu leiden hätte. Schneller als erwartet war alles vorbei. Das Feuer erlosch, Lenya lag am Boden und Lydia öffnete die Augen. Sie wagte es kaum zu atmen. Hatte es funktioniert? Oder hatte sie ihre geliebte Schwester in den Tod geschickt? Getötet aus ihrer eigenen Gier heraus, nicht mit einem Gedanken hatte sie an die Folgen ihrer Tat gedacht. Lenya rührte sich nicht, lag einfach nur da. Der Wächterin schossen die tränen in die Augen. Das hatte sie nicht gewollt, sie hatte sich doch nur gewünscht.. Sie weinte hemmungslos. Lenya. Was hatte sie nur getan? Wieso hatte sie das Schicksal so herausgefordert? Sie sank in sich zusammen, schluchzte, zitterte, kniff die Augen zu. Erst als ein paar kalte Hände sich in ihren Nacken legten und sie schließlich von hinten in die Arme schlossen, beruhigte sie sich wieder. Lenya war am Leben - als Wächterin der Heiligen Flamme von neuem erwacht. Kapitel 12: Engel der vergessenen Zeit - 12 ------------------------------------------- Lydias Herz schlug heftig, ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Noch immer umrundete Xilia sie, noch immer ruhte ihr hasserfüllter Blick auf ihr. Ihre Gedanken überschlugen sich, unzählige Dinge fielen ihr plötzlich wieder ein und dabei war doch alles, was sie brauchte, ein klarer Kopf. Sich zwingend, beruhigte sie ihre Angst, ihre Hilflosigkeit. Sie dachte nach, dachte an alles, was sie bisher erfahren hatte. Es musste einen Weg geben Xilia, die ehemalige Schutzgöttin Jaribyas zu besänftigen. „Was ist dein Wunsch?“, fragte sie sie schließlich. Überrascht und nun ihrerseits durcheinander, hielt die Nixe in ihrer Schwimmbewegung inne, sah die Wächterin mit einem Blick an, den diese kaum zu deuten wusste. War es Hass? War es Verzweiflung? Oder gar Leere, die sie bisher verborgen hatte? Wieder schlug sie auf Lydia ein, doch diese sah sie einfach nur fragend an. „Was für ein Wesen bist du?!“, fragte Xilia leise. Lydia sah traurig zu dem Mädchen, das so viel älter war, als es aussah, zögerte ein wenig, ehe sie schließlich antwortete. Es war ihre einzige Chance, die einzige Möglichkeit, die ihr geblieben war, nachdem sie in die Ecke gedrängt worden war. Sie musste Xilia zum Reden bringen, kostete es was es wollte. Und wenn es ihr den Tod bringen sollte, das machte keinen Unterschied. Es war nicht das erste Mal, dass sie den Tod herausforderte. „Was ich bin?“, setzte sie an, „Ich bin eine Gefangene. Ein Mädchen, dem es zur Aufgabe gemacht wurde, eine übermenschliche Magie zu verwahren.“ Was auch immer die Göttin erwartet hatte, dies war es nicht. Verwirrt starrte sie das Mädchen an, unfähig zu glauben, was sie gehört hatte. „Du bist eine Gefangene?“ Lydia nickte nur stumm, froh dass Xilia offensichtlich auf ihr Gespräch einging. Doch die Freunde war nicht von Dauer, Xilia schwamm weiter, ihr Blick hatte sich wie zuvor verhärtet. Erneut drehet sie ihre Runden, ohne den geringsten Zweifel am Hass, den sie hegte, zu hinterlassen. „Eine Macht verwahren?!“, schrie sie außer sich, „weißt du, wem die Macht gehört, die du verwahrst?!“ Sie betonte das letzte Wort mit soviel Ironie und Abscheu, dass der Wächterin das Blut in den Adern zu gefrieren schien. Die Schmerzen, die Lydia spürte, waren nur ein Schatten der Verzweiflung und der Verbitterung, die von Sekunde zu Sekunde deutlicher wurde und die tief in den beiden Mädchen erwacht war. Wieder stimmte Lydia der Nixe zu. „Ja, heute kenne ich den Mann, dessen Magie ich hüte“, sprach sie leise, zunächst wie zu sich selbst, dann aber mit festerer Stimme, „Doch ich verfüge nur über einen Teil dieser Macht.“ Xilia hörte ihr zu, widerwillig zwar, doch mit größter Aufmerksamkeit. „Den anderen Teil, „fuhr Lydia mit Bedacht fort, „bewahrt meine kleine Schwester Lenya. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er niemals wieder Zugang zu der Magie bekommt, die vor so vielen Jahren so viel Unheil über die Welt gebracht hat und die der Grund dafür ist, dass der Teufel aus dem Paradies verbannt wurde.“ Lydia atmete tief durch. „Ja, ich kenne meinen Feind“, schloss sie schließlich. Ihr Blick ruhte auf Xilia, die erneut in ihrer Bewegung gestoppt hatte. Es war nicht zu erkennen, ob sie ihr glaubte. Die Göttin starrte nach oben, oder zumindest in die Richtung, in der Lydia oben vermutete, schließlich sahen alle Seiten noch immer gleich aus. „Es passiert etwas“, flüsterte die Nixe aufgeregt und zeigte in die Richtung in die sie blickte. Lydia folgte ihrem Blick mit einem unsicheren Gefühl, ihr Herz raste, als wollte es ihr etwas sagen. „Der Bann!“, schrie Xilia und klang fast hysterisch, in ihren Augen funkelte ein ungebrochenes blaues Licht, mit dem sie Lydia nun hoffnungsvoll und entschlossen ansah, „Jemand hat ihn gebrochen! Wir sind frei!“ Er hatte nicht damit gerechnet, dass Lenya es wagen würde, den Bann zu brechen, er hatte nicht einmal geahnt, dass sie es konnte. Niemand außer ihm sollte den Zauber beherrschen können, doch nun, da er darüber nachdachte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, er hätte wissen müssen, dass die Wächterin ihm hatte gefährlich werden können. Denn schließlich, und nun war es sonnenklar, schließlich nutzte sie die Magie, die ihm gestohlen worden war. Voller Hass verzog er das Gesicht, von seinen finsteren Augen waren nicht viel mehr als ein Paar Schlitze zu erkennen. Doch Lenya kümmerte es nicht. Noch nie hatte sie Angst vor ihm gehabt, hatte ihn jedoch dennoch gemieden, auf Lydias Wunsch hin. Und auch die Tatsache, dass sie seine geheimnisvolle Aura nun ebenfalls wahrnahm, änderte nichts daran, dass er in ihr noch nie ein Gefühl des Unbehagens geweckt hatte. Zweifelsohne musste es für ihn niederschmetternd gewesen sein, hatte er doch versucht über Lenya an Lydia heranzukommen, doch das Mädchen hatte ihm immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als er mit hochrotem, von Zorn gezeichnetem Kopf, auf die Amphore starrte. „Das wirst du bereuen!“, zischte er kalt, „Niemand fordert mich heraus und überlebt das!“ „Mach dich nicht lächerlich“, winkte Lenya unberührt ab, „Das sind doch nur leere Drohungen.“ Ihre Worte ließen seine Wut nur noch weiter aufschäumen, doch die Rache an dem Mädchen musste warten, es war im Augenblick sehr viel wichtiger, die Amphore wieder zu verschließen, und das schnellstmöglich. Doch so sehr er sich auch beeilte, es war bereits zu spät. Der Fluch war gebrochen, die Amphore geöffnet und die Gefangenen damit frei. Es war kaum zu glauben, dass dies wirklich geschehen war, eben noch hatte er alles im Griff gehabt, doch nun war es anderes, unerwartet außer Kontrolle geraten. Wäre er im Besitz seiner vollen Macht, es wäre nicht das geringste Problem gewesen, die Schutzgöttin vom verlorenen Reich Jaribya erneut zurückzuschlagen. Nun stand er wieder der aufbrausenden Xilia gegenüber, es wäre derselbe Kampf gewesen, wie schon vor vielen Jahren. Doch dieses mal standen ihm zusätzlich die Schwestern gegenüber, die seine Magie unter Verschluss hielten. Er brauchte dringend einen Einfall, der ihn wieder auf die sichere Seite brachte, während er sich auf die Ankunft der zwei Gefangenen vorbereitete. Blitzschnell packte er Lenya am Haar, zog sie an sich und legte ihr seine Krallen an den Hals. Instinktiv sog das Mädchen die Luft ein, wollte sich sogleich wehren, doch konnte sich nicht rühren. Abscheu spiegelte sich auf ihrem Gesicht. Als Xilia und Lydia schließlich die Oberfläche des glitzernden Wassers durchstießen und aus der Amphore stiegen, bohrte er seine Nägel in Lenyas Haut und hieß die beiden triumphal lachend willkommen. Kapitel 13: Engel der vergessenen Zeit - 13 ------------------------------------------- Es war kaum zu glauben, der Bann war gebrochen, die Amphore nicht länger verschlossen. Unsicher blickte Lydia sich um. Sie spürte die Veränderung, spürte das Wasser um sie herum fließen, wie es noch nie geflossen war. Die Lichtstrahlen verschoben sich, suchten neue Wege und wirbelten alles durcheinander. Auf diese Weise löste sich auch das Netz, das die Wächterin so lange an sich gebunden hatte. All die wundersamen Erscheinungen in dem Spiel zwischen Wasser und Licht wurden nur von Xilias schriller Stimme übertroffen. Sie wirkte erhaben wie eine Königin, eine stolze Frau, die Jahrhunderte auf diesen Moment gewartet hatte. „Folge mir!“, rief sie Lydia zu und griff ohne deren Antwort abzuwarten, nach ihrem Handgelenk, um sie, wie schon zuvor, hinter sich her zu ziehen. Dieses Mal jedoch bereiteten ihre Berührungen der Anderen keine Schmerzen, kein Gift drang in ihre Haut. Ihr Griff war sanft und fest zugleich. Als wäre sie nicht viel mehr als eine Feder im Wind, tauchte Lydia rasend schnell durch die Wassermassen, die für die Göttin keinerlei Widerstand darstellten. Es erschien fast, als wichen sie ihr aus um ihr respektvoll den Weg freizumachen. Es dauerte nicht lang und Xilia hatte ihr Ziel erreicht. Hier nun, zum aller ersten Mal seit sie die geheimnisvolle Welt der Amphore betreten hatte, konnte Lydia den Himmel über der Wasseroberfläche ausmachen. Die Nixe folgte ihrem Blick, nickte kurz. „Dies ist der Ausgang“, bestätigte sie, „Lass dich nicht durch die schöne Aussicht verunsichern, wir werden gleich den Turm betreten.“ Lydia seufzte leicht, atmete auf. Die Göttin nicht länger als Feindin zu machen, hatte ihre Lebensgeister wieder geweckt, eine unglaubliche Last war von ihr gefallen. „Ich bin bereit!“, erklärte sie entschlossen und sah nach oben, „Entkommen wir unserem Gefängnis.“ Die Beiden schwammen auf die Oberfläche zu, auf alles gefasst, das auf der anderen Seite auf sie lauern konnte. Zeitgleich durchstießen sie das Wasser. Sofort spürte Lydia die frische Luft auf ihrer Haut, sackte leicht benommen in sich zusammen. Xilia dagegen machte das Verlassen ihrer täglichen Umgebung nicht das geringste aus. Sicheren Schrittes stieg sie aus der Amphore, die lange Flosse hatte inzwischen die Gestalt zweier menschlicher Beine angenommen, die von einem leichten, in den Tönen des Wassers glitzernden Rock geziert wurden. Anmutig wie nur eine Göttin es sein konnte, half sie Lydia aus der Amphore und richtete ihren Blick dann auf den Mann, der sie mit schallendem Gelächter empfing. Der uralte Hass erwachte zu neuem Leben. Lydia starrte fassungslos auf den Mann, der sie ihren Eltern entrissen hatte. Sie glaubte ihren Augen nicht, wünschte sie würden ihr einen Streich spielen. Dort, in seiner Gewalt, stand sie. Sie, an die sie so oft gedacht hatte in den letzten Tagen, deren Wohlergehen ihr einziger verbliebender Wunsch war. Ihre kleine Schwester Lenya. Nun rannen tiefrote Tropfen frischen Blutes ihren Hals herab, suchten sich ihre Wege über die reine Haut. Noch immer zierten große Flügel ihren Körper, doch sie waren ihr im Moment keine Hilfe. Lenya konnte sich nicht rühren, die kalten Krallen hinderten sie daran, nahmen ihr die Freiheit. Als sie ihre Schwester erblickte, legte sich ein sanftes Lächeln auf ihr Gesicht. Lydia verstand sie wortlos, nickte kurz dankend. Was auch immer Lenya durchgemacht hatte, all das war nun ebenso unwichtig, wie die Qual, die sie selbst durchlebt hatte. Ihre Schwester war am Leben, das war alles, was für Lydia zählte. Doch von einem glücklichen Wiedersehen waren die beiden sehr weit entfernt. Lydia hatte noch immer mit der Umstellung zu kämpfen, nun da das Wasser sie nicht mehr schützend umspülte, drang all der Schmerz erneut aus sie ein. Es war Xilia, die als Erste das Wort ergriff. „Du hast es getan, nicht wahr?“ Ihr Blick ruhte auf Lenya, ihre Stimme klang hell und sanft wie fließendes Wasser. „Ich danke dir.“ Die Göttin sprach weiter, noch bevor das Mädchen auch nur antworten konnte. Verächtlich lachte der Mann auf, festigte seinen Griff um Lenyas Hals und hielt ihre Arme hinter ihrem Rücken mit der anderen Hand zusammen. „Und was hat sie von deiner Dankbarkeit?!“, boshaft starrte er sie an, spürte das warme Blut über seine Hände laufen. Lydias panischer Blick erregte ihn, ließ ihn seine Krallen noch tiefer in die Haut ihrer Schwester bohren. Lenya ließ all das geschehen ohne zu reagieren, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Xilia beobachtete beide, doch sie blieb im Gegensatz zu der gefangenen Wächterin nicht untätig. Sie trat immer näher an ihn heran. Mit jedem Schritt, den sie tat, stieg das Wasser im Turmzimmer. Es schien aus der Amphore zu kommen, floss nach oben bis es über deren Rand hinweg schwappte und das ganze Zimmer flutete. Das Wasser kam nur für einen Zweck, es sollte der Meisterin bei ihrer Rache zur Seite stehen. Xilia lenkte es, ließ es weiter ansteigen, formte es in ihren Händen. Sie flocht einzelne Rinnsale zu großen Fluten, wies dem Wasser seine Wege. Es gehorchte ihr bedingungslos. Nach und nach bildeten sich kleine Lichtfäden, wie Lydia sie schon in der Welt der Amphore gesehen hatte. Diese jedoch waren zarter und feiner als die groben Stränge, die sie gefangen gehalten hatten, dennoch waren sie in den Händen der Wassergöttin tödlicher als die gefährlichste Waffe. Xilia wusste, was sie tat, wusste, was Lenya vor hatte. Ein einziger Blick in die entschlossenen Augen hatte ausgereicht um des Mädchens Herz zu durchblicken. Sie war tapfer, das stand ganz außer Frage, sie hatte viel größeres vor als nur den Fluch der Amphore zu brechen, Xilia, die Jahrhunderte lang kein anderes Ziel verfolgt hatte, als Rache zu nehmen, sah dies mit Erstaunen und großem Respekt. Dennoch war sie nicht bereit zu akzeptieren, nicht bereit das Schicksal anzunehmen, dass die Flammen für Lenya gewählt hatten. Dichter trat sie an den Mann heran, der sogleich den Druck auf das Mädchen erhöhte. „Noch ein Schritt“, sprach er schließlich und seine Augen funkelten bestialisch, als hätten sie niemals das beruhigende Licht der Sterne gesehen, „Ein weiterer Schritt, Nixe, und die Kleine wird sterben!“ Kapitel 14: Engel der vergessenen Zeit - 14 ------------------------------------------- „Nein!“, schrie Lydia auf, „lass meine Schwester daraus!“ Wie schon einmal stand sie zitternd vor ihm und flehte um Erbarmen für Lenya. „Das ist eine Sache zwischen dir und mir, sie hat nicht das Geringste damit zu tun!“ Hohl und kalt war das Lachen, das er ihr zur Antwort gab. „Liebste Lydia“, zischte er ohne Xilia aus den Augen zu lassen, „Sie hat sehr wohl etwas damit zu tun, sieh sie dir doch an! Weite starke Flügel“, er zog an den zarten Federn, wie um seine Aussage zu untermauern, „die kraftlos zu Boden hängen, liebliche Hände, denen das Feuer nichts anhaben kann.“ Genüsslich zählte er auf, was Lenya von gewöhnlichen Menschen unterschied. „Einst war dies eine Sache zwischen dir und mir, doch dann hast du deine Schwester zur Wächterin gemacht!“ Schlagartig wurde Lydia bewusst, dass er Recht hatte. Es war allein ihre Schuld, dass Lenya heute hier war. Fassungslos starrte sie ihn an, wagte es aber nicht, den Blick auf ihre Schwester zu richten. „Lydia, hör nicht auf ihn“, war die sanfte Stimme der Gefangenen zu hören, weder verängstigt noch vorwurfsvoll, sondern eine geheimnisvolle Leere überdeckend, die sie selbst nicht von sich kannte. Lydia wusste nicht, ob sie nun darauf hören sollte oder nicht, für sie stand fest, dass sie etwas tun musste um die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Verbittert und entschlossen trat sie auf den Mann zu. Die Verletzungen und die Erschöpfung, die sie so außer Gefecht gesetzt hatten, waren nun, da sie erneut vom verzauberten Wasser umgeben war, gemildert, so dass sie nicht länger beeinträchtigt war. „Du wirst es noch bereuen, dass du jemals in unser Leben getreten bist!“, drohte sie vor Wut zitternd und fest entschlossen. Sie hielt die Hände zusammen, konzentrierte sich und rief die Magie, die sie bewahrte. Die Flammen erwachten in ihrem Körper, ließen große Flügel auf ihrem Rücken wachsen. Nun war auch der zweite Engel zu neuem Leben erwacht, angefacht von dem Zorn, der tief in ihr geschlummert hatte, trat sie dem alten Feind nun entgegen. „Wunderbar“, sagte er vergnüglich und lächelte böse, „Nun habe ich die zwei Wesen, die mich damals bestohlen haben, bei mir. Und niemand, auch du nicht, Nixe!“, herablassend sah er sie an, „Niemand wird euch helfen!“ Viel zu lange schon hatte er auf diesen Moment warten müssen, die Ewigkeit, die Xilia in der verhassten Amphore verbracht hatte, war nur ein kurzer Augenblick im Vergleich zu der Zeit, die er schon auf seine Rache wartete. Damals, als er das Paradies verlassen musste, damals als sie ihm den Großteil seiner Macht genommen und ihn entwürdigt zurückgelassen hatten. Es war gerade zu lächerlich, was sie ihm gelassen hatten, die gesamte Welt hatte ihm zu Füßen gelegen, bis die zwei Kriegerinnen im Auftrag ihres Gottes kamen um ihn auf den rechten Weg zurückzubringen. Natürlich hatte er abgelehnt, er verhandelte nicht mit Frauen, und mit Gottes Dienerinnen schon gar nicht. Diesen Gott, der alles für sich beanspruchen wollte, der alles dafür tat, damit seine Position nicht ins Wanken geriet, er hasste ihn wie die Pest. Verbannt hatte er ihn, verbannt aus einem einzigen Grund heraus: Er fürchtete ihn. Fürchtete ihn, so wie all die anderen ihn fürchteten. Er nahm ihm seine Macht und teilte sie zwischen seinen treusten und liebsten Engeln auf, auf dass durch sie niemals wieder Schaden entstehen sollte. Viele Jahrtausende war dies nun her, kein Mensch erinnerte sich dieser Zeit, doch in seinem schwarzen Herzen loderte das Feuer des Hasses noch wie eh und je. Lange hatte er nach ihnen gesucht, das Geheimnis der Wiedergeburt war schnell gelöst. Fieberhaft suchte er nach den Wächterinnen, Jahr um Jahr, doch stets wussten sie sich vor ihm zu verbergen. Er richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Suche, fahndete überall, Späher, Kobolde, Vögel hatte er ausgeschickt, sogar den Wind fragte er. Eine Antwort bekam er dennoch nicht. In all der Zeit stifteten seine Untertanen Unheil, töteten, zerstörten. Seine schiere Anwesenheit erweckte in den Menschen eine tiefe Angst, schüchterte sie ein. Keiner wusste, wie viel Macht er damals wirklich eingebüßt hatte, sorgsam war er darauf Bedacht gewesen, die Wahrheit zu verbergen. Viele Jahre war er damit erfolgreich gewesen, doch dann kam sie. Das Wasser hatte er immer verabscheut, und als das Wasserreich Jaribya immer höher aufstieg, spürte er, dass es an der Zeit war zu handeln. Er unterwarf Jaribya und all seine Bewohner problemlos, die Nixen waren ein friedlebendes Volk gewesen und daher keine echte Gefahr. Sie leisteten nur kurzen Widerstand, ohne jemals wirklich eine Chance gehabt zu haben. Jaribya wurde dem Erdboden gleichgemacht, das Wasserreich teilte das Schicksal vieler Völker, die vor langer Zeit die Erde bewohnten. Auch der Hass und das sofortige Eingreifen der Schutzgöttin Xilia hatte dies nicht verhindern können, sie war ein schwerer Gegner gewesen, der sein Geheimnis sofort durchschaut hatte, dennoch war es ihr letztlich nicht gelungen, irgendetwas zu verhindern. Es hatte all sein Können erfordert, Xilia in die Amphore zu sperren, doch er hatte sie besiegt. Und dann, als er die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, seine teuflische Macht je wiederzuerlangen, hatte er schließlich den Hinweis bekommen, der alles änderte. Es war ein Kobold gewesen, der es erfahren hatte. Erfahren, dass eine der Wächterinnen in einem kleinen Mädchen wiedergeboren worden war, wie sie hieß und wo sie lebte. Ohne zu zögern war er aufgebrochen, das Mädchen in die Finger zu bekommen solange sie sich der Magie und ihrer Aufgabe noch nicht vollständig bewusst war. Mit Leichtigkeit spürte er die Eltern des Kindes auf, sie waren schnell bekehrt, das Mädchen selbst jedoch nicht so einfach. Mit einem kindlichen Trotz hielt sie an ihrer Schwester fest, wollte unbedingt bei ihr bleiben. Ein Problem, dass er später zu beheben gedachte, alles was zählte, war das Mädchen. So zahlte er für Beide, einen hohen Preis zwar, doch um Geld ging es ihm nicht. Das war unwichtig. Er hatte sie, musste nicht mehr tun, als ihren Willen zu brechen und die uralte Magie würde wieder durch seinen Körper fließen. Doch sie floh und machte dadurch alle Bemühungen auf einen Schlag wieder zunichte. Niemals hätte er erwartet, dass der Engel so früh erwachen konnte, doch dadurch hatte sie alles nur hinausgezögert. Letztendlich hatte sich Lydias Flucht als das Beste herausgestellt, das ihm je hatte passieren können. Sie hatte Lenya zur zweiten Wächterin gemacht, dadurch vereinfachte sich die Suche enorm. Hatte er eine, hatte er sogleich beide. Und nun, da es endlich soweit war, würde ihn niemand aufhalten können, weder die zwei schwächlichen Wächterinnen noch die aufbrausende Göttin Xilia. Kapitel 15: Engel der vergessenen Zeit - 15 ------------------------------------------- Wutentbrannt blickte Xilia ihn an, verfluchte ihn tausendfach. Ihr Hass auf ihn war grenzenlos. Damals war sie ihm unterlegen, doch niemals wieder sollte sie jemand so demütigen. Trotz seiner Warnung trat sie dichter an ihn heran, unzählige Lichtfäden in ihren Händen bewiesen, dass sie es ernst meinte. Lenya sah sie an, lächelte. Auf keinen Fall sollte eine der zwei anderen Rücksicht auf sie nehmen, sich ihretwegen zurückhalten. Die Göttin verstand ihre Geste, lächelte ebenfalls. Allerdings, und das wiederum war für Lenya nicht klar zu deuten, schüttelte sie fast unmerklich den Kopf. Ihre blauen Augen ruhten mit einer solchen Intensität auf dem scheinbar hilflosen Mädchen, dass der Moment sich in einer anderen Situation sicher für immer ins Gedächtnis gebrannt hätte. So jedoch verstrich er, ohne dass etwas geschah. Dann ganz plötzlich löste er den Klammergriff um Lenyas Hals, tiefe Schnitte wurden darauf sichtbar, Schnitte, die sich blutverschmiert über ihre Haut legten und den Eindruck eines langen Kampfes erweckten. Lydia stockte der Atem, Lenya blieb völlig ruhig, ganz so als hätte sie mit all dem nicht das geringste zu tun. Einzigst Xilia offenbarte sich der Augenblick in seiner ganzen grotesken Weise. Noch immer hielt er Lenyas Flügel fest zusammen, und nahm ihr so die Möglichkeit, sich zu verteidigen. „Und?“, fragte er unterdessen, sah Lydia grausam lachend an, „Wie gefällt es dir, deine Schwester so zu sehen? Zu sehen, wie sie leidet?!“ Mit geschickten Fingern griff er in Lenyas Haar, riss ihren Kopf zurück, hielt sie so fest. Mit der anderen Hand begann er Feder für Feder aus den Flügel zu zupfen. „Was ist das für ein Gefühlt, wenn die eigene Schwester sich vor Schmerzen windet und du zum Zusehen verdammt bist? Versuch doch, ihr zu helfen!“, es war völlig klar, dass er sie verhöhnte, jedoch war Lenya alles andere als dabei sich unter seinen Griffen zu winden, „Oder hast du Angst, dass sie deinetwegen noch mehr leiden muss?“ Er kannte Lydias schwachen Punkt, auch ihre Engelsgestalt hatte ihr nicht das Selbstbewusstsein wiedergegeben, das nötig gewesen wäre um ihm ins Gesicht zu lachen. Stattdessen starrte sie ihn ausdruckslos und entsetzt an, konnte den Blick nicht von seinen Händen lassen, seinen kalten und grausamen Händen, die sich nun an Lenya vergriffen. Diese zeigte keinerlei Schwäche, was auch immer er tat, schien sie nicht zu interessieren. Wieder richtete sie ihren Blick auf die Nixe, ausdruckslos und vielsagend zugleich. Xilia nahm die Gelegenheit beim Schopfe, richtete sich auf und schleuderte die Lichtfäden, die sie in den Händen gehabt hatte, auf den Mann und somit auch auf Lenya zu. Wie Fesseln legten sie sich um die Beiden, schnürten sie eng aneinander. Die Fäden schienen kein Ende zu nehmen, wurden breiter, wurden fester. Ausgehend von Xilia drangen sie von allen Seiten auf sie ein. Es war zu schnell gegangen für ihn, jede Reaktion war sofort im Keim erstickt worden. Lenya jedoch lachte. Es war die erste Emotion, die Xilia und Lydia überhaupt von ihr wahrnahmen. Sie hatte ihr Schweigen gebrochen und lachte lauthals. Er verstand es nicht, Lydia ebenso wenig. Für sie machte das alles keinen Sinn, irgendetwas musste geschehen sein, so kannte sie ihre Schwester nicht. Es machte ihr Angst, sie so zu sehen. Es machte ihr Angst, dass Xilia einfach angegriffen hatte, obwohl Lenya dabei hätte verletzt werden können. Sie selbst hatte soviel Zeit in dem Wasser verbracht, dass es ihre Schmerzen linderte. Doch mit Grauen erinnerte sie sich auch an das furchtbare Brennen, das es auf ihrem Körper zuvor ausgelöst und sie fast um den Verstand gebracht hatte. Woher sollte sie wissen, wie Lenya auf das ungewohnte Element reagierte? Doch Xilia hatte angegriffen und ihre Schwester lachte. „Lydia!“, rief Lenya schließlich auffordernd, „Nun mach schon! Hör auf, dich noch weiter zurückzuhalten!“ Sie sollte angreifen, sollte kämpfen? Es war ein so hohes Risiko damit verbunden, nun da ihre Schwester an den verhassten Mann und Ziehvater gefesselt war. „Vergiss es, Kleine! Sie wird es niemals wagen, dich zu verletzen!“ Er konzentrierte sich auf die Fesseln und riss sie entzwei, ohne jedoch lange Erfolg zu haben, da sich sofort neue bildeten, und auch ohne von Lenya abzulassen. Als Schild gegen direkte Angriffe, diente sie sehr zuverlässig. Das Wasser schwappte wellenförmig im Turmzimmer umher, gefährlich anzusehen, wie ein schwerer Sturm auf dem weiten Ozean. Die Schaumkronen wirkten wie tausend Messer, die auf einen einprasselten, verletzten ihn und Lenya, die nicht ausweichen konnte. Lydia wusste, dass sie etwas tun musste, wusste aber nicht so recht was, da jeder Angriff Lenya hätte umbringen können. Niemals hatte sie geahnt, dass ausgerechnet sie es sein würden, die sich ihm entgegen stellen müssten, niemals hätte sie Lenya die Aufgabe übergeben, hätte sie all dies gewusst. Doch die Heilige Flamme, die ihre Wahl getroffen hatte, hatte Lenya für würdig empfunden, das Feuer zu hüten. Sie konnte sich nicht täuschen. Verzweifelt sah Lydia ihrer Schwester ins Gesicht, beobachtete sie und verstand dennoch nicht, weshalb sie lachte. Ihre Situation war niemals schlimmer und aussichtsloser gewesen. Und Lenya lachte. Schließlich sah sie die beiden Frauen an, den Blick erschreckend kalt und unberührt. „Lydia“, wiederholte sie, „Tu, was du tun musst! Wir sind an ein Gelübde gebunden, vergiss das nicht!“ Die Lichtfesseln zogen sich immer enger, raubten ihr fast die Luft zum Atmen. Das Wasser schien alles zu kontrollieren und Xilia kontrollierte das Wasser. Dennoch, die Fesseln und das Wasser reichten nicht aus, einen Feind wie den Teufel zu besiegen. Ein schwerer Zauber lag im Raum, den zweifelsfrei er gesprochen hatte. Langsam aber sicher wurde das Wasser zurückgedrückt, die Schaumkronen schienen ihn zu verfehlen. „Wir müssen handeln, und zwar jetzt!“, forderte Lenya erneut, in der Hoffnung, die andere Wächterin irgendwie dazu zu animieren, aus ihrer Starre zu erwachen und etwas zu tun, „Und wenn du nichts unternimmst, dann werde ich es tun!“ Sie klang noch immer nicht vorwurfsvoll, sondern rein wie ein Engel, vor dem man sich ehrfürchtig verneigte. Lydia kämpfte mit ihrer Angst, als sie ihrer Schwester weiter zusah. „Du willst doch die Macht, die ich vor dir verberge, nicht wahr?“ Herausfordernd setzte sie genau an dem Punkt an, an dem er zum Reagieren gezwungen war. Er grunzte leicht, verzog das Gesicht. „Ich werde sie dir zeigen! Doch du wirst sie niemals bekommen!“ Ein letztes Mal seufzte sie, Lydias entsetzten Aufschrei ignorierend, rief sie die Magie der Flammen und breitete die Flügel aus, als wären die Fessel darum gar nicht existent. Hochkonzentriert hielt Lenya das Feuer unter Kontrolle, es pulsierte in jeder Faser ihres Körpers. Die Macht, die sie entfesselt hatte, konnte niemand lange beherrschen. „Das Wasser“, sie sah Xilia dankend an, „Es soll brennen!“ Sofort sprangen Funken über, entzündeten die Schaumkronen, entzündeten die Lichtfäden, die die Göttin sofort fallen ließ, damit sie sie nicht verbrannten. Lenya schrie hoch und spitz auf, als all der Zauber, all die Flammen ihrem Körper entkamen, wirkte ernst und plötzlich tieftraurig. „Lydia“, flüsterte sie kaum hörbar, „Lydia, ich habe es in den Flammen gesehen..“ Eine einzige stumme Träne lief ihre Wange herab. „Lydia.. ich liebe dich, Schwester..“ Kapitel 16: Engel der vergessenen Zeit - 16 -------------------------------------------- Die Flammen züngelten meterhoch, nun da sie nicht mehr zurückgehaltern wurden, entzündeten alles, worauf sie trafen, einschließlich der Schaumkronen der Wellen. Es war ein einzigartiges Schauspiel, erhaben der Tanz zwischen Feuer und Wasser, die durch Xilias Lichtfäden miteinander verschmolzen. Die Göttin hatte den Wasserspiegel ruckartig ansteigen lassen, um das Feuer unter ihre Kontrolle zu bekommen, doch gegen Lenyas Willen kam sie nicht an, die Magie, die von ihr ausging, war nicht zu übertreffen, das Feuer brannte so heiß und ungehalten, dass es das Wasser verdunsten ließ, bevor es etwas ausrichten konnte. Trotzdem rettete es Xilia und Lydia das Leben. Lenyas Feuer war überall, ihre Federn brannten, Haut und Haar standen in Flammen. Das Feuer war übermächtig, das Mädchen verschwand wie eine Schattenfigur in der undurchdringbaren Mauer aus Hitze und Flammen. Lydia schrie, immer wieder durchzuckten sie Schübe der Magie, die Lenya freigesetzt hatte. Die Flammen durchzogen sie, unterwarfen sich ihrer Kontrolle. Sie kannte dieses Gefühl, hatte es schon einmal gespürt, doch dieses Mal war es schlimmer als je zuvor. Sie wollte sich weigern, die Magie anzunehmen, die sich ihr erneut offenbarte, die Schmerzen waren nahezu grenzenlos. "NEIIIN!", schrie sie immer wieder, immer wieder spürte sie neue Wellen aus Flammen in sich eindringen, die keinen Zweifel daran ließen, was geschehen war. Lenya hatte gehandelt, war dem Gelübde gefolgt - bis in ihren eigenen Tod. Eine kurze Zeit später war es still geworden. Das Feuer war zurückgegangen und hatte dem Wasser erneut die Oberhand gegeben. In Windeseile waren die verbrannten Lichtfäden neu gewoben, nur vereinzelnd tummelten sich noch Flammen in den Kronen der Wellen. Lenyas Opfer hatte die Situation schlagartig geändert, doch Xilia wagte es nicht anzugreifen, und Lydia konnte es nicht. Die Göttin, deren Flosse im hohen Wasser wieder sichtbar geworden war, konnte kaum glauben, welch eine enorme Magie das Mädchen entfesselt hatte. Natürlich, sie hatte ihr Vorhaben durchschaut, hatte sie auch aufhalten wollen, doch letztendlich konnte sie es nicht. Sie, die Schutzgöttin Jaribyas konnte nicht gegen den erschreckenden Zauber ankommen. Wie schon so viele Male zuvor, spürte sie nur allzu deutlich, dass ihr Volk dem Untergang geweiht gewesen war, lange bevor das Reich tatsächlich zerstört wurde. Es war gutherzig gewesen, friedfertig. Aus den Belangen anderer hatte es sich stets herausgehalten, nie auch nur daran gedacht, einen Krieg zu führen oder sich zu verteidigen. Und so war auch ihre Göttin letztendlich schwach, wenn es ums kämpfen ging. Immer und immer wieder hatte sie das nun erfahren müssen. Es war der Preis, den sie zu zahlen hatte. Lydia lag in sich zusammengekauert am Boden, vereinzelnd zuckte sie, doch davon abgesehen, bewegte sie sich kaum. Sie starrte mit leerem Blick auf die Stelle, an der ihre Schwester eben noch gestanden hatte, dort, wo nun nichts als Wasserdampf und Dunst auszumachen war. Auch er musste noch dort sein, geschwächt zwar, jedoch nicht besiegt. Das teuflische Feuer gehörte ihm, und auch wenn es ihm nicht gehorchte, so konnte es ihn doch nicht ohne weiteres besiegen. Lydias Atem ging langsam, regelmäßig zwar, trotzdem fiel es ihr schwer. Ihre entsetzte Ruhe hatte den Feuersturm in dem Moment beruhigt, als sie Lenyas Kraft empfangen hatte. Dennoch. Die tobenden Flammen spiegelten viel eher wider, was in ihrem Kopf vor sich ging. Sie war weg. Ihre süße kleine Schwester war einfach verschwunden. Sie würde niemals wiederkehren. Sie hatte ihr noch so vieles sagen, noch so viel Zeit mit ihr verbringen wollen. All das war nun unmöglich. Lydias Blick führte ins Leere, ein großes Loch schien aufgerissen worden zu sein, dort an der Stelle, wo Lenya gewesen war. Nun war sie wieder die einzige Wächterin der Heiligen Flamme, die einzige, deren Aufgabe es noch war, die Magie zu schützen. Lydia verstand es nicht, wollte es nicht verstehen. Warum war Lenya überhaupt zurückgekehrt? War sie gefangen und in den Turm gebracht worden? Unzählige Fragen gingen Lydia durch den Kopf, allen voran eine einzige: Warum? Nein. Sie hatte die Amphore geöffnet, hatte sich ihm ganz offensichtlich entgegen gestellt. Lenya war aus freien Stücken zurückgekehrt. Um den Willen des Feuers auszuführen. Diese Magie war teuflisch, es bestand kein Zweifel daran. Trotzdem wollte Lydia es nicht glauben, nicht wahr haben, was geschehen war. Sie konnte sich noch immer nicht bewegen, gebannt von einer Kraft, die sich wie Fesseln um sie legte. Was sollte sie mit einer Magie, die ihre Schwester getötet hatte? Wieso sollte sie sie bewahren? Es wäre so viel einfacher gewesen, nicht wegzulaufen, sich einfach dem Unausweichlichen zu stellen. Lenya wäre niemals eine Wächterin geworden.. Das Gefühl, das Lydia schon die ganze Zeit über plagte, steigerte sich nun scheinbar ins Unendliche. Sie war für Lenya verantwortlich gewesen, es war ihre Schuld, dass sie die Magie der Flammen gehabt hatte, allein ihre Schuld, dass sie nun.. Lydia wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken, wollte überhaupt nicht mehr nachdenken, doch sie hatte keine Wahl. Sie konnte nicht anders. Warum war das geschehen? Hätte sie ihn doch nur besiegt, wäre sie doch nur nicht so unglaublich schwach gewesen, naiv genug zu glauben, sie hätte ihre Schwester schützen können. Sie hätte an ihrer Stelle sein müssen, Lenya war so unschuldig gewesen, hatte immer gelächelt, immer alles getan, was Lydia wollte. Niemals hatte so etwas passieren dürfen. Lydia zog ihre Finger krampfhaft zusammen, schloss, sich auf die Lippe beißend, die Augen. Rühren konnte und wollte sie sich weiterhin nicht. Sie fühlte sich unglaublich leer, ganz so, als wäre sie mit ihrer Schwester gestorben. Aber sie durfte es nicht, durfte ihr jetzt nicht folgen, musste die Aufgabe erfüllen. Das war wohl die Strafe, die Gott ihr auferlegt hatte. Manchmal fragte sie sich, wer dieser Gott war, der ihre ganze Existenz an das eine Gelübde gebunden hatte, das ihr jede Freiheit nahm und die Wächter zwang ihr eigenes Leben zu vergessen. Und ob der Teufel nicht Recht damit hatte, ihn zu verfluchen.. Kapitel 17: Engel der vergessenen Zeit - 17 ------------------------------------------- Dichter Nebel umhüllte ihn, nahm ihm die Sicht auf seine Opfer und weckte gleichzeitig ein unbändiges Verlangen in ihm. Er hatte sie gespürt, die Macht, die ihm gehörte, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Seine Gier nach ihr war größer, als je zuvor. Höhnisches Gelächter war alles, was er für die völlig abwesend wirkende Lydia übrig hatte, nun waren es nur noch zwei Personen, die ihm gefährlich werden konnten, eine von ihnen war am Boden zerstört, und die andere hatte er schon einmal besiegt. Die Wendung, die er erhofft hatte, war viel schneller eingetreten, als er es für möglich gehalten hatte. All das, ohne dass er sich großartig die Finger hatte beschmutzen müssen. Das Wasser stand ihm bis zu den Knien, schwappte noch immer im Turmzimmer umher, es war ihm lästig, doch wirklich beeinträchtigen konnte es ihn nicht. Was kümmerte es ihn, mit welchem Element die Frauen angriffen? Letztendlich würde er sie alle besiegen. Lenyas ach so heldenhaftes Opfer kam ihm sehr zu Gute. Einen Gegner weniger und noch dazu hatte sie die Lichtfesseln geschmolzen, die ihn zum Stillhalten gezwungen hatten. Nun war er wieder frei, frei um endlich handeln zu können. Er lachte weiter, trat durch den Nebel auf Lydia zu. Er beugte sich zu ihr herunter, griff in ihr volles Haar, zog kräftig daran. Lydia ließ es geschehen. Er sah sie finster grinsend an, ihr Zustand gefiel ihm, er mochte ihre Verzweiflung, die Leere in ihr. Lydia reagierte nicht. Was auch immer er tun wollte, Lydia konnte oder wollte es nicht verhindern, sie wehrte sich nicht gegen ihn, ja beachtete ihn überhaupt nicht. Doch nicht nur die verzweifelte Wächterin stand dem Teufel gegenüber, die Wassergöttin Xilia fixierte ihn die gesamte Zeit über mit einem Blick, den man ihr, trotz all des Hasses, der ihn ihr schlummerte, nicht zugetraut hätte. Er war absolut tödlich, ohne jede Gnade. Das Mädchen in den Tod zu schicken, das ihr die Freiheit wiedergegeben hatte.. Es lag nicht im Sinne einer Göttin auf eine solch grausame Weise ihre Dankbarkeit zu zeigen, insbesondere da sie es vorausgesehen hatte, ohne etwas verhindern zu können. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie Lydia, schüttelte bedauernd den Kopf. Es war an der Zeit, ihren gemeinsamen Gegner endlich zu beseitigen. Hinterhältig grinsend trat sie auf ihn zu, schenkte ihm ihr boshaftestes Lächeln und legte ihre Hände über seine Schultern. Sofort bohrten sich ihre Finger in seine Haut, ganz so, wie sie auch Lydia verletzt hatten. Er ließ das Mädchen sofort fallen, die Wächterin fiel ins Wasser, blieb stumm dort liegen, wo sie aufkam. Das Gift in Xilias Nägeln kümmerte ihn kaum, belustigt sah er sie an, ihr Hass auf ihn wirkte gerade zu lächerlich, peinlich. Dass eine Göttin so tief hatte sinken können.. Es war gerade zu erbärmlich, wie sie ihn immer wieder unterschätzte, genau wie vor so vielen Jahren. Es war alles so wie damals. Xilia sah dies ein wenig anders, für sie hatte sich einiges geändert, die Entschlossenheit, die sie nun an den Tag legte, hätte sie in einer anderen Situation selbst überrascht. Doch die Zeit in der Amphore hatte tiefe Spuren hinterlassen, die Göttin war zwar gefangen gewesen, jedoch daran gewachsen. Eine bessere Schule hatte sie nie erfahren, und nun da sie ihrem Feind erneut gegenüberstand, war sie reifer als je zuvor. Der dichte Nebel, der noch immer wie dunkle Wolken über das Wasser kroch und alles in sich verbarg, bot Xilia alles, was sie brauchte. Sie wusste, ihre Giftnägel konnten ihm nichts anhaben, schließlich hatte sie ihn schon einmal damit angegriffen, als Ablenkung jedoch waren sie äußerst vielseitig und erfolgreich. Denn er wusste nicht, dass sie daraus gelernt hatte, glaubte in all ihrem Gram würde sie ihre Fehler wiederholen. Es war ihre Gelegenheit ihm zu zeigen, was es hieß, eine Göttin zu unterschätzen. Leise lächelnd schaute sie ihm direkt in die Augen, es war völlig klar, dass er in ihr keine Gefahr sah, und eben dieses war ihr größter Vorteil. Sein herablassender Blick motivierte sie, weckte den Drang ihn zu demütigen, genau wie er es einst mit ihr getan hatte. Eisiger Wind drang in das Turmzimmer, fegte über das Wasser und wirbelte durch den Nebel. Die Temperaturen fielen im Sekundentakt, ließen die letzten Flammen erlöschen. Jede Art von Wärme verschwand, als hätte es sie niemals gegeben. Knisternd und schillernd bildeten sich Kristalle im Nebel, spitz wie tausend Nadeln. Und jede einzelne von ihnen zeigte nun auf ihn, spiegelte all den Hass wider, den die Göttin in all der Zeit aufgebaut hatte. Spielerisch tanzte sie um ihn herum, tanzte kontrolliert und mit Bedacht, tanzte wie noch nie zuvor. Die Kristalle flogen wie Geschosse aus dem Nebel auf ihn zu, unvorhergesehen, leise, zielsicher. Tanzend wich Xilia ihnen aus, hüllte sich in den Nebel, lachte. Nun endlich war ihre Zeit gekommen, die Zeit, da sie handeln konnte. Die Eiskristalle trafen und verletzten ihn, er hatte sie nicht kommen sehen. Sie hatten ihn überrascht, während er noch das Gift der Schutzgöttin neutralisierte, drangen tief in sein Fleisch ein. Voller Hohn klang nun ihr Gelächter, doch trotz allem war es nichts weiter als Eis. Ihm machte die Kälte nicht zu schaffen, wohl aber Lydia, die, in sich zusammenkauernd, noch immer am Boden lag, wie in einer Pfütze aus verzaubertem Wasser. Zitternd kniff sie die Augen zusammen, wollte sich weigern, die Realität noch weiter wahrzunehmen, wollte einfach alles vergessen und verschwinden, doch sie konnte es nicht, konnte sich nicht einmal gegen die eisigen Temperaturen wehren. Sie, die sie die Heilige Flamme noch immer bewachte, und das Feuer zu kontrollieren vermochte, war der Kälte kraftlos ausgeliefert. Xilias Eis griff ihn weiter an, die Nadeln trafen ihn noch immer und noch immer tanzte sie, doch wie lästige Insekten wischte er sich das gefrorene Wasser von der Haut. Die Verletzungen störten ihn nicht, er hatte schon unzählige Narben davongetragen, niemals hatte er sich um sie gekümmert, niemals hatten sie ihn behindert. Unzählige Kämpfe hatte er schon geführt, doch dass dabei auch sein Blut geflossen war, darum ging es nicht. Schmerzen hatte er in seinem langen Leben keine Beachtung geschenkt und auch kaum gespürt. Er drehte sich um, sein Blick traf Xilia und strafte sie mit Hohn und Verachtung. Er lachte, übertönte sie damit, wischte wieder Eiskristalle weg, als wären sie nicht mehr als Tropfen. „Ist das alles?“, fragte er gehässig, „Hast du nicht mehr zu bieten?“ War es Langeweile? Seine Gegner stellten für ihn keine Gefahr dar, so hatte er an ihrer Demütigung keinen Spaß. Die Wächterinnen hatte er so gut wie besiegt und die kläglichen Versuche der Göttin waren gerade zu lachhaft. Er verschwendete mit ihr lediglich Zeit. Zeit, die er anders zu nutzen wusste. Er musste Lydia die Macht abnehmen, die ihm gehörte. Eine geheime Magie, die das Tor zum Paradies erneut würde öffnen können, und deren Flammen Verwüstung und Zerstörung zu bringen wussten. Kapitel 18: Engel der vergessenen Zeit - 18 ------------------------------------------- Alles war so leer, alles war so kalt, alles war so absurd, so völlig irreal streifte die Wirklichkeit immer wieder Lydias Gedanken und konnte sie doch nicht erreichen. Die Temperaturen fielen weiter, das Wasser bot keinen ausreichenden Schutz für die verzweifelte Wächterin, konnte sie nicht warm halten, doch sie merkte davon nichts. Die Kälte und das Eis waren allgegenwärtig, füllten jeden Raum aus, sowohl in dem Turmzimmer als auch in Lydias Herzen. Vereinzelnd rieselten Kristalle auf sie herab, Kristalle mit messerscharfen Kanten, Kanten, die ohne weiteres in ihre zarte Haut schnitten. Lydia zuckte immer wieder zusammen, zitternd, frierend, die Welt und alles Leben verachtend. Sie hörte Stimmen voller Hass und Abscheu, Verachtung und Hohn gaben sich die Hand. Was sie sagten, konnte sie nicht verstehen, es war, als stammten sie aus einer anderen Zeit, ein Raum weit weg von dem Ort, an dem sie sich befand. Die Stimmen hatten unterschiedlicher nicht sein können, doch klangen sie in demselben Ton, wirkten kalt und befremdlich. „Du solltest mich nicht unterschätzen, du wirst schon sehen was du davon hast...“ Grimmig sprach die Frau, drohte, durstete nach Vergeltung. Lydia versuchte zu verstehen, worum es ging, doch sie konnte sich nicht konzentrieren, ihre Gedanken drifteten immer wieder ab, landeten bei ihrer Schwester, schnürten ihr die Kehle zusammen. Es war, als risse man ihr das Herz aus dem Leib, immer und immer wieder, mit einem Skalpell, mit einem einfachen Messer, mit bloßen Händen. Lydia konnte nicht begreifen, was sie fühlte, ebenso wenig verstand sie, dass sie im Begriff war, Lenya zu folgen. „Gib doch endlich auf, Hexe!“, forderte eine finstere Stimme, „Du konntest beim letzten Mal nichts gegen mich ausrichten, du wirst es auch dieses Mal nicht schaffen!“ War er sich sicher? Die Wächterin hätte am liebsten laut aufgeschrien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Das Eis auf ihrer Haut brannte, die feurige Magie in ihr ließ sie erstarren. Die Schnitte wurden immer tiefer, immer schmerzhafter, die Wunden waren bedeckt von Blut und Wasser. Lydia konnte nicht länger an sich halten, sie erbrach sich bei dem Anblick des verhassten Mannes, der ihr alles genommen hatte, verstand schließlich wo sie war. Ihr Blick verschleierte sich hinter Tränen, die sich ihre Wege über ihre Wangen bahnten und schließlich ins Wasser fielen. Glitzernde Tropfen des Eises, das in dem Mädchen langsam schmolz und sie zittrig und schwach zurücksinken ließ. Aufgeben. Es kam nicht in Frage, nicht nach all der Zeit, nicht nachdem Lenya sie so selbstlos befreit hatte. Oder war es Leichtsinn gewesen? Xilia glaubte nicht an Vorhersehung, doch die Wächterin hatte es offensichtlich getan. Was auch immer letztendlich der Grund gewesen sein mochte, darum konnte die Göttin sich nicht sorgen, doch aufgeben durfte sie deswegen nicht. Zu viel Zeit hatte verstreichen müssen für diesen Moment. Wenn er glaubte, sie würde das alles einfach so hinnehmen, dann war er nicht nur naiv, sondern auch dumm. Dem Eis, das sie ohne Unterlass auf ihn schleuderte, war kein Ende gesetzt, und auch die Temperaturen konnten noch weiter fallen. Sollte er sie nur auslachen, er würde schon sehen, was er davon hatte. Xilia wusste genau, was sie tat, wusste genau, dass es ihm nichts ausmachte, doch sie tanzte weiter, lenkte ihre gefährlichen Geschosse weiterhin auf ihn und schwieg dabei. Im ganzen Zimmer ertönten Geräusche, die unheimlicher nicht hätten klingen können. Der Wind heulte über das brausende Wasser hinweg, ließ den Nebel umher wirbeln, das Eis knisterte, die Kristalle schlossen. Untermalt von kaltem blauen Licht, das nun nicht mehr aus der Amphore schien, sondern den Raum durch Xilias peitschende Lichtfäden hell erleuchtete. Der Tanz der Göttin wurde wilder, je kälter es wurde und so wurden auch die Eiskristalle größer und schärfer. Während er ihnen noch auswich und das Wasser von seiner Haut strich, knüpfte Xilia mit geschickter Hand ein enges Netz aus ihren Fäden. Ein Netz, das jedem nachempfunden war, welches sie in der Amphore gespannt hatte. Sie tanzte um ihn herum, flocht das Licht gekonnt zu Fäden, lenkte ihn weiterhin mit dem Eis ab. Doch noch immer lachte er bestialisch, herablassend, voller Hohn. Xilia ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen, sie kannte dieses Verhalten bereits, es war nicht anders gewesen vor so vielen Jahren. Doch dieses Mal würde sie nicht darauf hereinfallen, auch wenn er es immer noch glaubte. Die Maschen des Netzes wurden mit jeder Sekunde enger, berechnend sah die Nixe zu ihm, ließ ihn nicht aus den Augen. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, sie hatte weder Zeit zu zögern noch durfte sie scheitern. Im Augenblick konnte sie nur hoffen, doch selbst dazu blieb keine Zeit. Ihr Volk eines Tages rächen zu können, war all die Zeit ihr einziger Halt gewesen, doch nun, da es soweit war, da der langerwartete Augenblick endlich gekommen war, hing es nicht von ihr ab, was geschah. Xilia kämpfte, zog ihr Netz um ihm immer enger, doch trotz allem konnte sie ihn nicht angreifen, während sie sich verteidigte. Ohne das Netz und die Eiskristalle jedoch wäre sie ihm schutzlos ausgeliefert, seinen Kräften absolut nicht ebenbürtig, das wusste sie. Eigene schmerzliche Erfahrungen hatten es sie gelehrt, ihn nicht zu unterschätzen. Ihr Blick fiel auf Lydia und ein tiefsitzender Schmerz durchzog ihre Brust. Blutverschmiert lag sie da, kauerte sich neben ihrem Erbrochenen. Sie war nicht imstande gewesen, sich zu rühren. Sie zitterte vor Kälte, zuckte bei jedem neuen Eiskristall, der auf sie einschlug zusammen, gab leise Schreie von sich. Doch es waren ihre Tränen, die die Wassergöttin so sehr bewegten, dass sie erschauderte. Sie musste alles geben, für Lenya, die ihr die Freiheit wiedergegeben hatte, und besonders nun für deren Schwester. Die Eiskristalle konnte sie dennoch nicht umlenken. Das Eis war nicht ihr Element, sie konnte zwar das Wasser kontrollieren, doch seine Bahnen waren auch für sie nicht immer einfach zu deuten. Aber die Eiskristalle waren fester Bestandteil in ihrer Verteidigung, allein sie waren der Grund, weswegen die tiefen Temperaturen nötig waren, die der Wächterin so zu schaffen machten. Die einzige Hoffnung, die Xilia für Lydia aufbringen konnte, war jene, dass es schnell ging. Der Kampf durfte nicht lange dauern, das würde keine von ihnen durchhalten können. Zu viel Kraft steckte auch für Xilia in dem Verteidigungsnetz, das nun den gesamten Raum ausfüllte. Enge Maschen aus leuchtenden Fäden, Fäden, die vor einiger Zeit auch Lydia gefangen gehalten hatten. Doch nun sollten sie einen anderen Zweck erfüllen. Die Nixe blickte immer wieder zu Lydia. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass diese ihren Plan schnell durchschaute, und ihrer Schwester damit die letzte Ehre erweisen würde. Sie sollte auf keinen Fall umsonst gestorben sein. Kapitel 19: Engel der vergessenen Zeit - 19 ------------------------------------------- Er betrachtete die Situation entspannt und gelassen, ganz so, als wäre er nichts weiter als ein Außenstehender, dem eine Geschichte erzählt wurde. Eine wundersame Geschichte zwar, dennoch ohne Bedeutung. Ihm war es gleich, wie lang der Kampf noch andauern würde, letztendlich war er seinem Ziel noch nie näher gewesen. Seine uralte Magie sollte endlich wieder ihm gehören, noch dazu verlor er einen gefährlichen Feind. Letzten Endes hatte sich das Ganze doch zu seiner Zufriedenheit entwickelt. Xilias Eingreifen war unerwartet gewesen, unvorhersehbar wie ein Sturm im Frühjahr. Doch auch sie war nicht in der Lage ihm die Stirn zu bieten, war ihm bei weitem nicht ebenbürtig. Eine Göttin zwar, in all ihrem Glanz erstrahlend, doch letztendlich machtlos. Nicht ohne Grund war ihr Volk vernichtet worden, immer und immer wieder dachte er mit Genugtuung daran. Die Erniedrigung seiner Feinde machte ihm Mut und gab ihm Kraft, und in diesem Augenblick durchflutete ihn nahezu grenzenlose Macht, die nur durch Lydias Tod noch gesteigert werden konnte. Denn dann würde sie endlich wieder ihm gehören, eine unbeschreibliche Magie, nach der er schon viel zu lange die Finger ausstreckte. Nichts konnte ihn jetzt noch aufhalten, bestialisch lachend betrachtete er die am Boden liegende Wächterin, die kraftlos gegen die Bewusstlosigkeit ankämpfte. Ein Anblick, den er niemals aus seinem Gedächtnis würde löschen wollen. Xilias Lichtnetz war ebenso lächerlich. Unwirksam. Es konnte ihn weder aufhalten noch vernichten, da die Göttin jedoch ihre gesamte Macht benötigte um es aufrecht zu erhalten, hatte er nicht viel von ihr zu erwarten. Sie konnten noch so viel kämpfen. Es war vorbei. Er wusste es, und sie sicher auch. Es war nur noch eine Frage der Zeit – und er hatte alle Zeit der Welt. Lydia war verkrampft, litt Höllenqualen, schrie innerlich vor Schmerzen, die sie nie gekannt hatte. Sie wollte ankämpfen gegen die Tränen, doch dazu blieb keine Kraft. Sie konnte kaum atmen, dennoch gelang es ihr irgendwie bei Bewusstsein zu bleiben. Sie war eine Wächterin. So hart es auch war, sie musste tun, was sie schon immer gewusst hatte. Das Gelübde war bindend, duldete kein Zögern. Die Heilige Flamme musste weiter brennen, Lenya hatte alles dafür getan um ihr, die sie die Magie nun schon wesentlich länger kontrollierte, schließlich die eine Möglichkeit, die eine Chance zu geben, die alles entscheiden sollte. Sie durfte Lenyas Willen nicht verachten, ihr Tod war ein Teil ihres Kampfes gewesen. Noch hatte sie ihn nicht verloren. Und auch wenn Lydia sich im Moment nichts sehnlicher wünschte als ihrer Schwester zu folgen, sie wusste, dass es nicht sein durfte. Sie biss sich auf die Zunge, richtete sich mühsam auf. Ihre Beine wollten sie kaum tragen, doch Lydia brach nicht zusammen. Noch immer liefen die Tränen über ihre blutverschmierten Wangen, das Wasser auf ihrer Haut schien zu brennen. Warum nur war sie so schwach? Jeder Tropfen ihres Seins schien ihr Bewusstsein zu verlassen. Nur ein einziger Gedanke hielt die erschöpfte Frau auf den Beinen, magische Flammen, die Lydia tief in ihrem Herzen hütete. Ihr Blick war ausdruckslos, ihr Körper blass wie an einem trüben Wintermorgen. Ein tiefer Wille gab ihrem leeren Anblick einen Hauch von Leben, sie war wie in Trance, geführt von einem inneren Feuer, das im blauen Licht erblasste. Es gab nur einen einzigen Versuch. Die Heilige Flamme musste brennen. Sie durfte nicht erlöschen. Alles hing nur von ihr ab. Es kam nun darauf an, wie viel Kraft wirklich in Lydia steckte. Sie fühlte sich schwach. Über den Tod erhaben war jemand, der keine Gefühle zuließ. Keine Angst, keinen Schmerz, keine Liebe. Jemand, der gleichgültig in der Welt wandelte, weit ab von allem, das das Herz berühren konnte. Kälter als der schwärzeste Schatten. Dunkler als die eisigste Nacht. Ihre Aufgabe verlangte es, doch Lydia konnte es nicht. Sie hatte geglaubt, die Macht des Feuers gäbe Sicherheit, Schutz gegen die Kälte. Sie hatte es geglaubt, einst, vor langer Zeit. Nichts hatte davon noch Bedeutung, nichts war ihr geblieben. Nichts, bis auf ein Versprechen, dass sie einst gegeben hatte; die Heilige Flamme zu schützen und notfalls dafür zu sterben. Erneut wurden Zweifel in ihr laut, Zweifel, die sie nicht hegen durfte, es aber dennoch tat. Mit welchem Recht konnte ein Gott seine treuen Diener zum Tode verurteilen? Wer war er, der sie fesselte und sie zwang ihr eigenes Leben zu vergessen? Warum ließ er zu, dass jene, die am härtesten kämpften, dafür noch gestraft wurden? Hatte der Teufel nicht doch Recht? Recht damit ihn zu verfluchen? Es war egal. Es war nicht mehr wichtig. Es gab nur noch eine Sache, die Lydia tun musste und sei es, dass sie dabei zu Grunde ging. Eine einzige Aufgabe, die sie dazu brachte, aufzustehen und zu kämpfen. Sich ihrem Feind entgegen zu stellen, mit all der Macht, die sie aufbringen konnte. Doch es war nicht das Gelübde, für das sie kämpfte. Es war Lenya. Kapitel 20: Engel der vergessenen Zeit - 20 ------------------------------------------- Sie wusste, dass sie ihre Schwester nicht zurückholen konnte, wusste, dass sie niemals wieder in ihre strahlenden und unschuldigen Augen würde blicken können. Niemals wieder. Lydia schluckte verbittert, die Kälte in ihrem herzen konnte auch die Magie der Flammen nicht vertreiben. Doch es war Lenyas Wille gewesen, dass sie weitermachte, dass sie nicht aufgab. Deswegen und nur aus diesem Grund stellte sich die junge Wächterin nun dem Mann entgegen, der ihr all das angetan, der ihr Leben zerstört hatte. Noch bevor es wirklich hatte beginnen können.. Das Feuer schien durch ihre Augen, zeugten von der Kraft, die er schon bald von neuem besitzen würde. Der Glanz in ihren leeren Augen erregte ihn, er war seinem Ziel noch nie so nah gewesen. Die verzweifelte Göttin kümmerte ihn nun nicht, ebenso wenig ihre lächerliche Lichtmagie, oder die Eiskristalle. Sie war nicht wichtig, weder gefährlich, noch auch nur einer einzigen Sekunde seiner Aufmerksamkeit würdig. Alles was er brauchte, war Lydia. Selbstbewusst trat er auf sie zu, lachte höhnisch bei ihrem mitgenommenen Anblick. Erneut zeigte die Wächterin keine Reaktion. „Hast du endlich eingesehen, dass du gegen mich keine Chance hast?!“ Seine Stimme durchschnitt die eisige Luft wie eine scharfe Klinge. Lydia reagierte nicht. Sie widersetzte sich auch nicht, als er seine dreckige Hand an ihre geschundene Wange legte. Stattdessen legte sich zum ersten Mal seit Tagen ein stumpfes Lächeln auf ihre Lippen. Das Feuer in ihr war erwacht, lenkte jede ihrer Bewegungen, strömte mit glühenden Flammen durch ihr Blut. Mit festem Blick sah sie ihn an, angewidert von seiner ganzen Erscheinung, angewidert von allem, was er war. Er stockte kurz, ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Ihr Lächeln zeigte ihm, dass er es fast geschafft hatte, jeglicher Verstand hatte die Wächterin verlassen, wenn sie glaubte, ihm überlegen zu sein. Hatte die eisige Kälte also Wirkung gezeigt. Zufrieden und noch immer erregt, starrte er in ihre Augen, war so gebannt von ihrer Magie, dass er kaum die Worte wahrnahm, die ihre spröden Lippen formten. „Du willst die Magie?!“, Lydias Stimme besaß plötzlich eine Festigkeit, die sie selbst erstaunte. „Du willst die Macht, die einst dir gehörte?“ Höhnisch sah nun die Wächterin ihn an. Das Feuer pulsierte in ihren Adern, ließ sie all die Kälte vergessen. Ihr Körper schien von innen heraus zu leuchten. „Viel zu lange schon, habe ich mich im Verborgenen halten müssen“, flüsterte sie mit eisiger Stimme, ließ den Blick dabei nicht von ihm ab. Und noch während ihre Flügel sich wieder frei über ihren Körper legten, war sie bereit, alles zu tun, um die Heilige Flamme zu schützen, und ihrer Schwester würdig zu sein. „Du willst die Macht?“, immer leiser und doch deutlich und klar, verließen die Worte ihren Mund, „Dann kämpfe darum!“ Der Engel in ihr war zu neuem Leben erwacht. Stärker als je zuvor stand sie nun ihrem Feind gegenüber, der schließlich doch erkannte, was geschehen war. „Du bist es“, sprach er und er wusste nicht, ob es ihn freute oder nicht, „Du bist diejenige, die mir damals die Magie genommen hat!“ Er hatte nicht erwartet, sie noch einmal wiederzusehen, doch wie es schien hatte er Lydia genug geschwächt, um es möglich zu machen. Endlich. So würde seine Rache vollkommen sein. Sie würde dafür bezahlen, was sie getan hatte! Ja, er war froh sie zu sehen! Nun bot sich ihm die Möglichkeit sie endgültig zu vernichten! Sie war ein Gegner, der seiner würdig war, und er würde sie zerschmettern! Die schwache Wächterin war keine Herausforderung, so jedoch.. Es boten sich ihm völlig neue Möglichkeiten. Möglichkeiten, die er nie in Betracht gezogen hatte. Ihr Tod würde nicht nur seinen erneuten Aufstieg bedeuten, sondern gleichzeitig auch das Ende einer Ära. Einer Ära, die von einem Gott bestimmt wurde, der unschuldige Mädchen für sich kämpfen, sie für sich sterben ließ. „Sieh an, du erinnerst dich an mich.“ Ihre Stimme durchschnitt die Kälte, Flammen zügelten um sich durch den Raum, brachten Xilias Eiskristalle zum schmelzen. Die Göttin stand nur stumm daneben; hier geschah etwas, das sich ihrem Einfluss voll und ganz entzog, etwas, dass sie nicht verstand. Sie spürte eine Kraft in Lydia, die sie erschreckte. Doch sie kümmerte sich nicht darum. In höchster Konzentration webte sie die Maschen ihres Lichtnetzes, zog sie fester. Es war unmöglich ihrem Netz noch zu entgehen, wie ein Spinnennetz spannte es sich durch den ganzen Raum, ließ ihn dabei in glänzendem Blau erstrahlen. Doch das Licht, das von diesem Netz ausging, war nicht zu vergleichen mit dem Glanz, der Lydias Augen leuchten ließ. „Ich habe dich einmal besiegt“, flüsterte sie, „Ich werde es auch ein zweites Mal schaffen..“ Sie klang fast wie er eine Weile zuvor, als er der Nixe gegenüber stand, und sie hämisch belachte. Doch dieses Mal war nicht er es, der drohte. Belustigt, aber keinesfalls beunruhigt, stellte er fest, dass sie sich verändert hatte. Er kannte ihren Blick, kannte ihren Ausdruck. Er war derselbe wie so viele Jahre zuvor. Doch nie hatte er damit gerechnet, ihr noch einmal gegenüberzustehen, sie, die ihn in die Knie gezwungen hatte, vor so langer Zeit. Dennoch, sie war nicht mehr die, die sie einst war. All die Jahre der Wiedergeburt hatten sie verändert, hatten sie die Menschlichkeit gelehrt – und damit die Schwäche. Lydias Körper war schwach, voller Schnitte, blutend. Er wusste es und auch ihr konnte es nicht entgangen sein. Unvergessen, wie viel Schmerz das junge Herz schon hatte ertragen müssen, wie sehr es sich wünschte, einfach aufgeben zu dürfen. Doch es wurde gezwungen, immer weiter zu machen, einfach weiter zu schlagen, sich gegen alles zu widersetzen, was die Vernunft ihm sagte. Und dennoch, er durfte sie nicht unterschätzen. Auch wenn ihr Körper schwach war, sie war dennoch gefährlich, hatte die Kontrolle über die Heilige Kraft und es war gewiss, dass sie nicht zögern würde, seine Macht gegen ihn zu verwenden. Ihr Blick sagte es ihm, die Flammen loderten und kannten nur einen Gedanken: Rache. Kapitel 21: Engel der vergessenen Zeit - 21 ------------------------------------------- Draußen war es dunkel geworden, das Licht des Tages war verblasst und wartete auf einen neuen Morgen. Tiefes Unbehagen durchströmte alles Leben, den Wind und das Wasser. Xilias Kräfte gingen zu Neige. Die Schutzgöttin des verlorenen Reiches von Jaribya kämpfte verbissen um das Überleben ihres Volkes, das längst dem Untergang geweiht war. Ohne Xilia konnten sie nicht überleben, viel zu lange schon hatte sie es gewusst und dennoch nicht gehandelt, viel zu lange hatte sie sich selbst der Illusion hingegeben, das friedvolle Leben ihres Volkes wäre von Dauer. Doch der Verlust ihrer Schutzgöttin hatte den Untergang gebracht, ohne Xilia war die Bevölkerung von Jaribya hilflos, hoffnungslos und schutzlos ausgeliefert. Die totale Zerstörung eines Reiches war ohne koordinierten Widerstand schnell erreicht, problemlos durchgesetzt. Jaribya starb. Xilias Freiheit hatte ihren Sinn schon vor langer Zeit verloren, dennoch kämpfte sie weiter. Ihr Reich war verloren, all sein Glanz längst vergessen. Auch Rache allein konnte sie nicht über ihre Grenzen hinaus wachsen lassen. Doch etwas anderes hatte sich in ihren Gedanken festgesetzt, trieb sie an, immer weiter zu machen. Nie wieder wollte sie zusehen und auf die Katastrophe warten, nie wieder würde sie es akzeptieren, nicht im rechten Moment gehandelt zu haben. Ob ein solcher Moment gekommen war, oder ob er überhaupt jemals kam, Xilia wusste es nicht. Es war ihr auch egal. Lenya hatte den Anfang gemacht und auch Lydia hatte sie angetrieben. Nur ihr war es zu verdanken, dass die Nixe ihre Wut entflammen konnte, und Lenya hatte ihr Leben dafür gegeben, sie zu befreien. Xilia verdankte den Schwestern mehr als ihre Freiheit, und sie wusste es. Und auch jetzt wieder spürte sie es. Spürte, dass sie allein nicht überleben konnte, spürte die Magie in Lydia, die die ihre so weit überstieg. Doch dieses Mal würde sie nicht untätig sein, nicht abwarten. Dieses Mal war sie zu allem bereit, war gewillt bis ans Letzte zu gehen um für das zu kämpfen, woran sie glaubte. Für Lenya konnte sie nichts mehr tun, doch Lydia würde nicht sterben. Die Wassergöttin spürte ein unerwartetes und bedrohliches Gefühl in sich aufsteigen, doch es ging nicht von ihm aus. Besorgt betrachtete sie die Wächterin und schauderte. Sie konnte es sich nicht erklären, doch sie hatte Angst. Angst vor der Macht, die in Lydia schlummerte, Angst vor deren Unkontrollierbarkeit. Dies war nicht die Lydia, die sie in der Amphore kennengelernt hatte, nicht das Mädchen, das in ihrem Netz gefangen war, nicht der Mensch, der soeben seine Schwester und damit die einzige Bezugsperson verloren hatte. Es war die Wächterin der Heiligen Flamme, erbarmungslos und kalt, die dort ihrem Gegner gegenüberstand und förmlich mit ihm spielte. Sie war ihm überlegen, hatte bei weitem mehr Kraft als er und auch die Macht des Hasses konnte er nicht gegen sie verwenden. Er konnte sie nicht besiegen. Und dennoch. Xilia stockte. Das war nicht richtig. Es war vielleicht die einzige Gelegenheit ihn endlich zu schlagen. Trotzdem. Die Göttin zögerte, betrachtete die beiden weiterhin. Untätig. Sie hatte nie wieder zusehen wollen. Sie musste handeln, war die Einzige, die es noch konnte. Und doch. Nein. Ein Regen aus Feuerkugeln ging auf ihn nieder, der lachend und überwältigt die Wächterin anstarrte. Kaum eine Sekunde ließ sie ihm, seine Gegenangriffe waren rar und uneffektiv, konnten sie nicht treffen. Viel zu schnell wehrte der Engel sie ab, drehte und wendete sich aus seinen Fängen noch bevor er sie erreichen konnte. Er hatte gewusst, dass sie gefährlich sein konnte, doch niemals hatte er erwartet, seiner eigenen Magie hilflos ausgeliefert zu sein. Nie zuvor hatte jemand genug Willensstärke besessen ihm ernsthaft Schaden zufügen zu können. Er lachte, während er weiterhin ihren Angriffen auswich. Er lachte teuflisch. „Das also ist aus Gottes treuester Dienerin geworden!“, höhnte er voller Inbrunst, „eine seelenlose Kampfmaschine! Nicht mehr und nicht weniger!“ Die Wächterin zeigte keinerlei Reaktion auf seinen Hohn, griff nur weiter an, ohne Unterlass. Sie stand ihm gegenüber, war ihm überlegen. Sie wollte ihn endlich vernichten. Ein für alle Mal, niemals wieder sollte er seinen Schatten über die Welt legen. Sie konzentrierte sich, das Feuer pulsierte in ihrem Körper, setzte eine Magie frei, die Ihresgleichen suchte. Die Flammen züngelten erneut nach oben, ließen den Raum erleuchten in einem flackernden Licht, das unheimlicher nicht hätte scheinen können. Ein einziger Angriff würde ausreichen, ihn für alle Zeit zu vernichten. Ein einziger gezielter Angriff. In Lydias Hände legten sich grelle Feuerkugeln. Kugeln, die all ihren Hass aufsogen; die Magie, die sie lenkte, war tödlicher als je zuvor. Ein Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht, als sie ihren Gegner fixierte. Gleich war alles vorbei, alles worauf sie je gehofft hatte, würde sich erfüllen. Und dann würde sie endlich Ruhe finden können. Sie konzentrierte sich, starrte ihn an und schließlich, ganz plötzlich und doch nicht unerwartet, griff sie ihn an, schleuderte die Feuerkugeln von sich, die todbringende Kraft, die alles beenden würde. Doch noch bevor sie ihr Ziel erreichen konnten, wurden sie von gewaltigen Wassermassen abgefangen, und entluden all ihre Magie in der Luft. Kapitel 22: Engel der vergessenen Zeit - 22 ------------------------------------------- Der Wasserdampf war allgegenwärtig. Erschöpft aber zufrieden mit sich, sah die Göttin sich um. Sie wusste nicht, ob sie soeben einen großen Fehler begangen hatte, doch sie hatte nicht länger zusehen können. Es war gewiss nicht Lydias Wille, was hier geschah. Und Lenya war gewiss nicht dafür gestorben, dass ihre Schwester sich selbst verlor. Wenn dies der Will der heiligen Flamme war, wenn es das Schicksal der Wächterinnen war, dann widersetzte sie sich dem. Xilia war nicht bereit das zu akzeptieren, es einfach hinzunehmen. Zu lange hatte sie in der Amphore ausharren müssen, als dass sie jetzt einfach zusah, wie alles vernichtet wurde. Nein, auch wenn sie nun vielleicht alles zerstört hatte, sie musste es einfach tun. Überrascht und entsetzt zugleich starrt die Wächterin sie an. „Was tust du?!“, fauchte sie, „Bist du noch bei Verstand?! Du hast ihn gerettet!“ Selbiges hatte wohl auch der Teufel erkannt. Unverhohlen sah er die beiden Frauen an, einerseits erleichtert, dass er dem Angriff entkommen war, andererseits jedoch entsetzt, dass es ausgerechnet Xilia war, die dafür verantwortlich gewesen ist. Doch das war weder zu ändern noch schwerwiegendes Problem. Er lachte. Sie würde schnell bereuen, was sie getan hatte. Das viel größere Problem war noch immer Lydia. Ein weiteres Mal würde auch Xilia ihren Angriff nicht stoppen können und so musste er sich dringend etwas einfallen lassen. Er musste sie beseitigen, bevor sie noch mehr Ärger machen konnte. Die Nixe sah die Wächterin entschlossen an. „Ich teile deinen Wunsch ihn zu vernichten“, sagte sie, und bedauerte, dass sie es hatte aufhalten müssen, „Doch dies ist nicht der richtige Weg!“ Nicht ihre Worte sagten aus, was sie fühlte, es war ihr ganzer Körper, der nun, da Xilia mit ihrem Herzen und ihrem Verstand im Reinen war, Bände sprach. „Geh zur Seite!“, zischte die Wächterin, wütend und entsetzt zugleich, „Du bist nicht mein Gegner!“ Die Angesprochene lächelte. Also hatte sie das Mädchen richtig eingeschätzt. Es wollte töten, doch nicht ohne Sinn. Zwar hatte auch Xilia ihr allen Grund gegeben, sie zu hassen, doch reichte es nicht aus. Priorität hatte die Beseitigung des Teufels. Er musste vernichtet werden. Jetzt. Sofort. Sie wollte keine Sekunde mehr warten. Doch die Wassergöttin stellte sich ihr entgegen. „Ich werde dich erneut aufhalten.“ Beharrlich sah sie sie an, fest entschlossen alles zu tun, was getan werden musste. Solange, bis Lydia wieder die Oberhand erhalten hatte. Und wenn Stunden, Tage, ja sogar Wochen vergehen mussten, Xilia hatte gelernt zu warten, hatte es lernen müssen. „Du kannst mich nicht aufhalten!“, rief die Wächterin ungehalten, und zuckte bedrohlich bis in die Spitzen ihrer Flügel. „Tritt zur Seite, oder ich muss dich beseitigen!“ Er lachte, und auch Xilia teilte seine Gedanken. Gottes Dienerin urteilte selbstgerecht über Gut und Böse, maßte sich an über andere zu richten, ganz wie es ihr gefiel. Seine macht reichte weit, auch ohne die Magie der Flammen. Selbst der himmel war von seinem Willen erfüllt. Die Frauen würden sich gegenseitig zerreißen, er musste gar nichts tun. Dennoch war es nicht seine Art zu warten, ganz im Gegenteil; nun, da er seinem Feind erneut gegenüberstand, wollte er die Gelegenheit keinesfalls ungenutzt verstreichen lassen. Es war an der Zeit, da er die Sache selbst in die Hand nahm, da er die ketten sprengte, die seine Kraft im Zaum hielten. Er wand sich aus Xilias Lichtnetz, problemlos entkam er den Stricken, die nicht länger von der Göttin gehalten wurden. Auch Eiskristalle kamen nicht mehr auf ihn zu, nun da Xilias Aufmerksamkeit einer Anderen galt. Doch nicht sie sollte die Wächterin besiegen, diese Ehre fiel allein ihm zu. Ihm, der er sie einst aus den Armen ihrer Eltern gerissen hatte, um endlich wieder das werden zu können, was er einst gewesen war. Er wollte nicht länger in schatten seiner Selbst sein, er wollte aus dem Schatten hinaustreten und die Finsternis verbrieten, die ihn seinem Herzen schon seit Anbeginn der Zeiten herrschte. Sie würde ihm gehören. Noch immer strahlte das Turmzimmer in allen erdenklichen Blautönen, die sich in unendlich viele Lichtflecken brachen. Sie waren durchsetzt von Flammen. Doch nichts, absolut gar nichts, konnte ihn noch aufhalten. Geschickt und mit boshaftem Blick machte er sich an einige der Eiskristallen zu schaffen, die die Wände formten und zog, von den zwei Anderen unbemerkt, einige spitze Steine heraus, mit denen er die übrigen lästigen Fäden mühelos zerschnitt. Lange hatten sie auf ein Zeichen gewartet, darauf, dass irgendetwas geschah, doch kein Laut drang zu ihnen durch. Sie wollten wissen, was im Turm vor sich ging, sie mussten es erfahren, schließlich war es ihre Aufgabe, seit sie einst von ihrem Meister zu Turmwachen ernannt worden waren. Sie hatten ihm Schande bereitet, sein Gebot gebrochen, als sie seinem untergebenen Diener, dem Kobold, von der Wahrheit unterrichtet hatten. Nun war der Meister schon seit stunden in diesem Turm verschwunden, und es gab keinerlei Anzeichen dafür, das alles problemlos verlief. Möglicherweise war dies die einzige Gelegenheit, die sie hatten, um ihre Schuld wieder gutzumachen. Sie konnten nicht wissen, dass der Kobold nie dazu gekommen war, ihren Verrat auszusprechen. Dennoch war ihr Meister sehr zornig gewesen, als sie in den Raum gestürmt waren und dadurch seine Ruhe störten. Es war ihre Pflicht ihre Fehler zu sühnen und dem Meister zu dienen. Fest entschlossen und dennoch alles andere als sicher, stießen sie zwei Männer die schwere Tür auf, und traten in einen Raum, in dem sie ihren Aufstieg zum Turm tätigten. Unzählige Male schon waren sie die langen kalten Stufen hinaufgestiegen, doch nie zuvor waren sie dabei so von Angst erfüllt gewesen. Das seltsame blaue Licht, das nun schon seit geraumer Zeit die Finsternis erhellte, erleuchtete die Stufen gespenstisch, ließen sie noch bedrohlicher wirken. Schweren Mutes erreichten sie schließlich das Turmzimmer, sahen sich ein letztes Mal bedrückt an und traten dann hinein. Was sie sahen, nahm ihnen fast die Luft zum Atmen. Es Mädchen mit angezogenen, blutbeschmierten Flügeln lag regungslos auf dem Boden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)