Brennendes Wasser von Sennyo (Engel der vergessenen Zeit) ================================================================================ Kapitel 1: Engel der vergessenen Zeit - 1 ----------------------------------------- Die Zeit schien still zu stehen, als ihre Stimme die Stille durchbrach. „Egal was du hörst, dreh dich nicht um!“ Ihre Worte waren nicht schwer zu verstehen, wenn auch schwer nachzuvollziehen. Lenya verstand nicht, weswegen sie gezwungen war zu laufen. Sie verstand nicht, weswegen Lydia wollte, dass der Kontakt zwischen ihnen abbrach. Sie war doch ihre Schwester! Obwohl sie wusste, dass sie es nicht sollte, verlangsamte sie ihren Schritt und drehte sich um. „Lenya, lauf! Sie dürfen dich nicht in die Finger kriegen!“ Lydia klang verzweifelt. Irgendwie musste sie ihre drei Jahre jüngere Schwester dazu bringen zu fliehen. „Lauf endlich! Nun mach schon! LAUF!!!!“ Lydia schrie sich fast die Lunge aus dem Hals. Und Lenya lief. Sie lief so schnell sie konnte. Mit all der Kraft, die sie aufbringen konnte, lief sie die Straßen entlang und ließ ihre Schwester zurück in der Finsternis der Nacht. „Was hast du getan?“, Lydia zuckte erschrocken zusammen und fühlte eine schwere Hand auf ihrer Schulter. Ruckartig drehte sie sich um und sah in das ausdruckslose Gesicht eines Mannes, der schon seit ihrer Geburt hinter den Mädchen her gewesen war. Lydia fühlte die Angst in sich aufsteigen. Sie wich unweigerlich zurück. Doch der Mann folgte ihr, packte sie hart an beiden Armen und schüttelte sie, als hätte sie soeben eine große Dummheit begangen. „Das wirst du bereuen“, zischte er ihr zu und sah sie bedrohlich an. Seine Augen funkelten in der Dunkelheit. Lydia riss sich los. Abscheu und Wut kochten in ihr hoch, ließen sie vergessen, dass sie keine Wahl hatte. Dieser Mann war ihr Schicksal, sie hatte es ihr Leben lang gewusst. Dennoch. Sie wollte sich damit nicht abfinden, wollte zumindest ihre Schwester davor bewahren. Lenya. Sie war alles, was ihr geblieben war. Wenn Lenya etwas passieren würde, wäre alles umsonst gewesen. Lydia stellte sich ihm entgegen. „Lass meine Schwester in Ruhe! Sie hat damit nichts zu tun!“ Doch der Mann lachte nur. „Deine Schwester gehört mir. Das weißt du“, antwortete er gelassen. „Das ist nicht wahr!“ Lydia schrie förmlich. Sie wusste nicht, was sie machen sollte, sie hatte unglaubliche Angst vor der Person, die vor ihr stand. „Lass die Finger von Lenya!“ Doch das hätte sie nicht sagen dürfen. Ungehalten schleuderte der Mann Lydia gegen die Hauswand vor der sie standen. Das Mädchen fiel benommen gegen die Mülltonnen und blieb dort liegen. Die Tränen schossen ihr in die Augen, als er sich zu ihr herunterbeugte und ihren Kopf hochzog, so dass sie ihn ansehen musste. „Du hast dir und deiner Schwester keinen Gefallen getan, als du sie wegschicktest. Und das Eine sage ich dir, Lydia. Ich werde Lenya finden, koste es was es wolle!“ Sie wieder zu Boden drückend, richtete er sich auf und ging. Ein weiterer Mann, groß und kräftig, mit dunklerer Haut, trat auf Lydia zu, hob sie unsanft vom Boden auf, warf sie sich über die Schulter und folgte ihm in einigem Abstand. Lenya hatte Tränen in den Augen, während sie die verzweifelten Worte des großen, schlanken Mädchens, das ihre Schwester war, noch immer im Ohr hatte. Noch nie hatte sie Lydia so erlebt, noch nie war sie so eingeschüchtert, so nervös gewesen. Es war bereits spät am Abend gewesen, als sie plötzlich bei ihr aufgetauchte, ihre Sachen zerrissen und dreckig. Über ihrer sonst so reinen und weißen Haut bahnten sich Blut und Dreck ihre Wege, ihr dunkles, langes Haar war zerzaust und verklebt. Erschrocken war Lenya auf ihre Schwester zugelaufen, hatte sie sogleich in die Arme genommen. Doch Lydia hatte sie schweratmend zurückgestoßen, ihre Hände genommen und begonnen schnell und eindringlich auf sie einzureden. „Hör mir gut zu“, hatte sie gesagt und ihre Stimme hatte gezittert, „du musst so schnell wie möglich von hier verschwinden. Sie werden dich suchen, sie werden dich jagen, aber du darfst nicht in ihre Fänge geraten. Sie werden alles tun um dich zu kriegen. Das darf nicht geschehen, hörst du? Sie dürfen dich niemals finden! Du musst verschwinden. Jetzt, sofort. Du musst gehen. Wir werden uns niemals wiedersehen. Es ist zu gefährlich. Lenya, lauf! Du musst leben!“ Ihr Blick war gesenkt gewesen. Lenya hatte sehen können, wie ihre Schwester vor Schmerz das Gesicht verzogen hatte; die Tränen, die ihre Wangen herabgelaufen waren, hatten tiefe Schnittwunden darauf sichtbar werden lassen. Doch mit keinem Wort hatte Lydia erwähnt, was geschehen war; wer ihr all das angetan hatte. Entschlossen hatte sie Lenya dazu gebracht, wegzulaufen, doch diese wusste noch immer nicht, wovor und lief deswegen nur widerwillig. Sie wollte alles erfahren, sie wollte alles wissen, doch keine Antwort konnte ihre Verwirrung und Unsicherheit lindern. Sie wusste nur eins: Lydia hatte Angst gehabt – große Angst. Vor ihnen. Doch Lenya konnte sich nicht erklären, wer SIE waren, was SIE taten oder was SIE mit ihnen vorhaben könnten. Sie wusste es einfach nicht. Doch eines wusste sie ganz sicher. Ihr Geheimnis durfte niemals an die Öffentlichkeit gelangen. Niemals durfte irgendjemand an die Macht gelangen, die die beiden Schwestern bewachten. Dies war der einzige Grund gewesen, aus dem Lenya ihre Schwester überhaupt zurückgelassen hatte. Sie unterlag einem uralten Gelübde, das ihr gebot zu fliehen, sobald das Geheimnis in Gefahr war, gelüftet zu werden. Niemals hätte sie erwartet, das dies jemals geschehen würde. Doch nun war es geschehen. Lenya kämpfte schwer mit ihrem Gewissen. Sie durfte nicht zögern, doch sie tat es. Zu wissen, dass sie Lydia dort alleingelassen, sie ihrem Schicksal überlassen hatte, ließ sie verzweifelt erkennen, was ihr von klein auf immer wieder erklärt worden war. „Im Falle des Falles musst du hart sein und all deine Gefühle ausschalten. Das Geheimnis muss um jeden Preis gewahrt werden.“ Lenya atmete einmal ganz tief durch und blieb dann stehen. Das also war ihr Schicksal. Der Teufel selbst war schuld daran. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)