Zwei Seelen, zwei Herzen, eine Liebe von lea030603 ================================================================================ „André!! André, wo steckst du !?!“ tönte es am nächsten Morgen durch das ganze Haus. Sophie Grandier wurde langsam ärgerlich. Sie konnte ihren Enkel nirgendwo finden, weder im Garten, noch im Stall. Er war auch nicht zum Frühstück erschienen. Oscar konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Sophie liebte ihren Enkel, aber sie war auch ziemlich streng mit ihm. Es gab oft Momente, in denen André Oscar leid tat. Und manchmal bezog er auch Prügel von seiner Großmutter, vor allem, wenn sie glaubte, er hätte Oscar nicht genügend beschützt. „Sophie, sieh doch mal in seinem Zimmer nach. Vielleicht schläft er ja noch.“ meinte Oscar mit einem Grinsen. Sofort raffte Madame Grandier ihre Röcke zusammen und stapfte die Treppen hoch. „Na, der bekommt was zu hören!“ -Gott sei Dank hat sie ihr Nudelholz nicht dabei, dachte Oscar und erinnerte sich daran, als sie André das letzte mal mit dem Stück Holz traktiert hatte. Sophie stürmte in Andrés Zimmer und sah ihn tatsächlich selig in seinem Bett schlafen. Sie stellte sich vor ihn, die Hände in die Hüften gestemmt. „André! Wach auf!“ Keine Reaktion. Da nahm sie kurzer Hand den Wasserkrug von seinem Tisch und schüttete es über ihren schlafenden Enkel. André riss die Augen auf und schoss in die Höhe. „AHH, Großmutter!! Was soll dass?!“ Mit bösem Blick sah Sophie André an. Dieser schüttele den Kopf und die Wassertropfen flogen durch das Zimmer. „Du fragst allen ernstes, was das soll? Lady Oscar muss nach Versailles und du liegst noch schlafend im Bett. Noch dazu mit einem schmutzigen Hemd! Das muss Rosalie jetzt stundenlang waschen, du Flegel! Jetzt steh schon auf, zieh dir frische Kleidung an und begleite Lady Oscar in den Palast!“ André wusste, dass er seiner Großmutter jetzt nicht widersprechen sollte. Sonst konnte diese Angelegenheit für ihn noch schlimmer ausgehen. Ohne Widerworte stand er auf und zog sein Hemd aus. Da vernahm er an der Tür eine Stimme: „Sophie, sei nicht zu streng zu André.“ Er drehte sich um, das Hemd schon offen und sah in Oscars Augen. „Lady Oscar!“ rief Madame Grandier entsetzt. „Was macht ihr hier? Raus hier!“ Oscar platzte ihrer Meinung nach in eine unmögliche Situation. Energisch schob sie ihre Ziehtochter vor die Tür. Da drehte Oscar ihren Kopf nach einmal nach André um und ihre Blicke trafen sich so intensiv wie noch nie. Und das verwirrte Oscar, als sie alleine im Flur stand und auf André wartete. Fünf Minuten später kam André zwar umgezogen, aber immer noch nicht wach aus seinem Zimmer. Er sah Oscar nicht an, sondern ging an ihr vorbei. Sie starrte ihm nach und konnte sehen, dass aus seinen langen braunen Haaren, die mit einem hellblauen Band zusammen gehalten wurden, Wasser tropfte. -Was ist nur mit dir los, André? Du warst gestern schon so merkwürdig-. „Komm schon, Oscar! Wir sind eh schon spät dran!“ rief André unwirsch. „Ich komme ja schon.“ Schweigend sattelten sie ihre Pferde und ritten in Richtung Schloss. Oscar konnte sich das Verhalten ihres Freundes nicht erklären und machte sich Sorgen. Er war noch nie so abweisend ihr gegenüber. „André, was ist los? Was hat dir Sophie diesmal angetan?“ Auch diesmal sah er sie nicht an, sondern starrte nur geradeaus. „Es ist nichts, ehrlich.“ Für Oscar klang das nicht überzeugend. „Das stimmt doch nicht. Du hast doch was, sag schon.“ Plötzlich schoss sein Kopf in ihre Richtung und seine Augen funkelten sie böse an. „Es ist nichts, Oscar! Und jetzt lass mich bitte in Ruhe!“ Oscar erschrak bei seinen Worten. Seit sie sich kannten, hatte André noch nie so mit ihr gesprochen. Sie sah den verbitterten Ausdruck in seinem Gesicht. Sie beschloss, nicht weiter nach zu fragen und schwieg. Ihr stand ohnehin noch ein ernstes Gespräch bevor. Sie musste Girodelle klar machen, dass sie ihn nicht heiraten konnte. Das Wetter passte an diesem Tag überhaupt nicht zu Andrés Laune. Die Sonne brannte schon fast unbarmherzig herunter für diesen Monat, keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. Überall hörte man die Vögel singen und die Menschen in Versailles waren sehr fröhlich und lachten ausgelassen, angesteckt von dem sonnigen Maitag. André wäre es lieber gewesen, wenn es aus Strömen geregnet hätte. Während der wöchentlichen Truppeninspektion stand André etwas abseits. Er beobachtete Oscar. Sie saß stolz und aufrecht auf ihrem Schimmel und jeder Soldat akzeptierte und respektierte sie als Kommandanten. André war sehr stolz auf sie, auch wenn das bedeutete, dass er auf sie verzichten musste. Sein Blick wanderte zu Girodelle, der neben Oscar stand. Der wiederum warf Oscar die ganze Zeit über vielsagende und Andrés Meinung nach zu zärtliche Blicke zu. -Anscheinend hat er wirklich ehrliche Absichten, dacht er traurig und sah zu Boden. Er konnte den Anblick, seine Oscar neben ihrem zukünftigen Ehegatten nicht mehr ertragen. Er stieg auf sein Pferd und ritt unbemerkt davon. Der Park von Versailles war zum Glück groß genug, um sich einen versteckten und ruhigen Platz zu suchen. André band sein Pferd an einen Baum und legte sich im Schatten der Blätter ins Gras. Er wusste nicht, wie er die Heirat verhindern konnte. Schließlich konnte er nicht einfach zu Oscar gehen und ihr sagen, dass er sie mehr liebte als irgendetwas sonst auf dieser Welt. Sie würde ihn entweder für total verrückt erklären oder ihm eine reinhauen. Schließlich war sie eine adlige und adlige verliebten sich nicht in bürgerliche. Und selbst wenn sie es tat, müsste sie auf ihren Namen, ihren Titel und Rang und ihre Familie verzichten. Und das würde sie kaum tun. Es sah so aus, als wäre seine Situation aussichtslos. Er musste das jetzt endlich begreifen, auch wenn es ihm das Herz zerriss. Oscar überlegte die ganze Zeit über, wie sie das Gespräch mit Girodel beginnen sollte. Ihr entgingen die Blicke nicht, die er ihr zuwarf. Wenn er wirklich ehrliche Gefühle für sie hegte, wollte sie ihm auch nicht weh tun. Sie mochte Girodelle und schätzte ihn als Soldaten. Aber eine Ehe mit ihm kam für sie nicht in Frage. Oscar hoffte, nach der Truppeninspektion mit ihm sprechen zu können. Doch danach war noch viel zu tun und Marie Antoinette hatte auch noch was mit ihr zu besprechen. Danach fand sie den Grafen nicht mehr. --Dann verschiebe ich das Gespräch mit Girodelle eben auf morgen und spreche heute mit Vater, dachte sie, als sie ihr Pferd nahm und nach Hause reiten wollte. „André! André, wo bleibst du denn? Reiten wir nach Hause!“ rief sie. Niemand antwortete. Sie sah sich um. André war weit und breit nicht zu sehen. -Merkwürdig, bei der Inspektion war er doch noch da- Im Hof traf sie auf eine Gruppe ihrer Soldaten. Als diese ihren Kommandanten erblickten, blieben sie stehen und salutierten. Oscar erwiderte den Gruß und fragte: „Habt ihr André irgendwo gesehen?“ Sie schüttelten den Kopf. „Nein, Kommandant!“ Niedergeschlagen ließ sie die Hand sinken. „Danke.“ Langsam ging sie wieder zurück zu ihrem Schimmel und lief mit ihm auf das Tor zu. Vielleicht war André schon voraus geritten. Das sah ihm aber gar nicht ähnlich und die Sorge um ihren Freund kam wieder auf. Am Tor wartete Girodel mit seinem Pferd auf sie. Der Wind wehte durch sein Haar und er sah Oscar mit seinen großen blauen Augen direkt an. Jetzt konnte sie es ihm endlich sagen. „Erlaubt ihr mir, euch zu begleiten? Ich bitte euch.“ fragte Girodel als erster. Oscar nickte und gemeinsam ließen sie den Palast hinter sich. Der Himmel brannte wie Feuer durch den Sonnenuntergang, sie kamen an ein paar Windmühlen vorbei, deren Flügel durch den aufkommenden Wind fast flogen. Als Girodel zu sprechen anfing, ritt Oscar hinter ihm. „Seit ein paar Monaten, Lady Oscar, kann ich euch nicht mehr vergessen. Ständig ist euer Bild in meinen Gedanken und in meinen Träumen. Tag und Nacht denke ich nur noch an euch. Ich finde keine Ruhe mehr.“ Langsam drehte er seinen Kopf nach Oscar und sah sie an. „Ich möchte, dass ihr meine Frau werdet.“ Er machte eine kleine Pause und fuhr leise fort: „Ich liebe euch, Oscar, von ganzem Herzen.“ Da senkte er den Kopf, schloss die Augen und seufzte. „Ach, das klingt alles so banal, so abgedroschen. Eure Gegenwart verwirrt mich.“ Der Graf blickte wieder nach vorne. „Statt Unfug zu reden, möchte ich mich einfach vor eure Füße werfe. Ich habe nur einen einzigen Wunsch: mein Leben lang euch zu dienen.“ Da beugte er seinen Oberkörper nach vorn, schloss seinen Augen wieder und fasste sich mit der linken Hand ans Herz. Als er sich abermals zu Oscar umdrehte, sah er, dass sie traurig zu Boden sah. „Ich werde nicht aufhören, euren Vater zu bitten, mir seine Tochter zur Frau zu geben. Ich kann nicht anders. Die Liebe zu euch bestimmt mein ganzes Leben, mein ganzes Denken, mein Sein.“ Da hielt Oscar ihr Pferd an und auch Girodelle wendete sei Pferd in ihre Richtung. „Graf de Girodel, ich halte es für besser, wenn ihr jetzt zurückreitet. Es tut mir sehr leid, aber ich kann euch nicht heiraten. Zwischen uns wird es keine Verbindung geben. Nicht heute und nicht in Zukunft.“ Girodel saß wie erstarrt auf seinem Pferd und starrte sie an. Er hoffte, sich verhört zu haben. „Lady Oscar...“ „Entschuldigt mich. Ich möchte jetzt alleine sein.” Oscar ließ ihr Pferd steigen, ritt schnell davon und ließ den Grafen stehen. Traurig sah er ihr nach. Er hatte noch nie einer Frau seine Liebe gestanden. Er hatte ja auch noch keine Frau so geliebt wie Oscar. Es tat sehr weh, von ihr so zurückgewiesen zu werden. Er musste unbedingt noch einmal mit ihr reden, oder mit ihrem Vater. So nahm er die Zügel in die Hand und ritt ihr langsam hinterher. André war schon seit einer ganzen Weile zu Hause. Zum Glück hatte niemand seine Ankunft bemerkt. Vor allem nicht seine Großmutter. Sie hätte ihm sicher wieder eine übergebraten, da er ohne Oscar zurückkam. Sofort ging er auf sein Zimmer, zog sich um und warf sich auf sein Bett. Und wieder kamen die Tränen. -Was ist nur los mit mir? Ich spüre mich plötzlich nicht mehr. Ich spüre nur noch diesen Schmerz. Ich habe das Gefühl, als wären mein Körper und meine Seele getrennt. So muss es sein, wenn man tot ist- Jetzt tat es ihm leid, dass er Oscar am Morgen so behandelt hatte, dass er sie so angefahren hatte. Sie machte sich Sorgen um ihn, das wusste er. Doch er konnte es ihr nicht sagen und versuchte, sich so zu schützen. Er stand auf, ging zum Fenster und fuhr sich frustriert durch die Haare. Da erblickte er auf dem Hof Girodel. -Was macht der denn schon wieder hier?- Eigentlich mochte er den Grafen, er hat sich bisher immer gut mit ihm verstanden. Doch seit gestern Abend war er für André wie ein rotes Tuch. Verärgert biss er die Zähne zusammen, schnappte sich seinen Degen und ging nach unten. Oscar tat es leid, Girodel einfach so stehen zu lassen. Das hatte er nicht verdient. Das hatte niemand verdient. Immerhin war sie auch schon mal in so einer Situation gewesen. Und es tat unwahrscheinlich weh. Aber ihr war die ganze Sache auf einmal unangenehm. Ihr hatte noch niemand eine Liebeserklärung gemacht. Sie fühlte sich auf einmal so schwach und hilflos. Was würde Girodelle nun tun? Seinen Antrag würde er jedenfalls nicht zurücknehmen, da war sie sich sicher. Also musste sie ihren Vater überreden, dass für sie eine Heirat ausgeschlossen war. Sie ritt auf den Hof, übergab ihr Pferd dem Kutscher, der gerade ihren Weg kreuzte und lief ins Arbeitszimmer ihres Vaters. Der General saß eine Pfeiffe rauchend an seinem Schreibtisch, als Oscar eintrat. „Vater? Ich muss was mit euch besprechen.“ General de Jarjayes stand auf und ging auf seine Tochter zu. „Ja, ich auch mein Kind. Setz dich.“ „Ich flehe euch an, den Heiratsantrag von Graf de Girodelle zurückzuweisen. Ich möchte niemanden heiraten. Unter gar keinen Umständen.“ „Bitte reg dich nicht auf. Setz dich hin und las uns in Ruhe über alles reden, meine Tochter.“ „Gut.“ Oscar nickte und setzte sich an den kleinen runden Holztisch. Auf diesem stand eine Vase mit rosafarbenen Rosen. Sie nahm eine aus der Vase und drehe sie in ihren Händen, als ihr Vater plötzlich anfing zu weinen. Er schlug sich die Hände vor sein Gesicht und schluchzte: „Es tut mir leid, Oscar. Vergib deinem Vater, dass er bei deiner Erziehung so jämmerlich versagt hat. Es ist alles meine Schuld. Ich hätte dich nicht wie einen Knaben erziehen dürfen. Ich habe wider der Natur gehandelt und dich unglücklich gemacht. Dieses Vergehen musste sich furchtbar rächen. Ich habe nur Unglück über dich gebracht.“ Er schloss die Augen und aus lauter Gram senkte er den Kopf, die Hände zu Fäusten geballt. „Nein Vater.“ sprach Oscar in sanftem Ton. „Eure Vorwürfe macht ihr euch ganz unnötig. Denn in meinem tiefsten Inneren habe ich mich immer als Frau gefühlt. Und sogar die leidenschaftliche Liebe zu einem Mann habe ich schon kennen gelernt.“ Erstaunt sah ihr Vater bei ihren Worten auf. Damit hätte er nicht gerechnet. Er wollte etwas dazu sagen, doch Oscar fuhr fort: „Nicht den Schatten eines Vorwurfs trage ich euch gegenüber in mir. Sondern ganz im Gegenteil, nur innige Dankbarkeit und Liebe für eure wunderbare Erziehung, die mich stark und mutig gemacht hat.“ Da erhob sich der General von seinem Stuhl gegenüber Oscar, legte seine Hände auf den Tisch und beugte sich zu seiner Tochter. „Nein, Oscar. Du willst mich mit diesen Worten nur beruhigen, du willst mich trösten, sagen, dass das alles nicht wahr ist. Aber ich habe große Fehler gemacht, Oscar. Du bist einer wunderschöne junge Frau in der Blüte des Lebens. Ich will, dass du glücklich wirst.“ Während ihr Vater sprach, zupfte Oscar die Blätter der Rose ab und ließ sie in ihre Hand fallen. „Glücklicher als jede andere.“ sprach General de Jarjayes weiter. „Das hast du verdient, mein Kind. Ich werde alles dafür tun, was in meiner Macht steht. Wenn du Graf de Girodelle nicht magst, werden wir einen anderen Gemahl für dich auswählen. Es geschieht alles nach deinem Wunsch.“ Oscar schloss die Augen, hob ihre Hände an den Mund und blies die Rosenblätter in die Luft. „Wenn ihr mich wirklich glücklich machen wolle Vater, dann lasst mich weiterhin als Soldat leben. Ich möchte eines Tages wie ihr General werden. Ich bin glücklich und ich vermisse nichts. Bitte respektiert das.“ Er nickte mit dem Kopf und Oscar erhob sich. Während Oscar mit ihrem Vater sprach, war André hinaus zu Girodel gegangen. Er war bereit, für Oscar zu kämpfen, so wie er es schon seit ganzes Leben tat. Bestimmt, aber nicht zu schnell ging er die Treppe des Haupteingangs auf den Grafen zu, seinen Degen versteckte er hinter seinem Rücken. „Guten Abend, André. Wo warst du denn vorhin? Oscar hat dich gesucht.“ begrüßte er André. Doch statt einer Antwort sah André Girodel nur an. Der Ausdruck in seinen Augen gefiel dem Grafen nicht. -Was hat er denn heute nur?- Er ging auf das Schweigen des jungen Mannes nicht ein und stellte eine weitere Frage: „André, weißt du, wo Oscar ist?“ Andrés Gesicht blieb wie versteinert und sein Blick heftete sich auf die Augen seines Gegenübers. „Nein, und selbst wenn ich es wüsste, würde ich es euch bestimmt nicht sagen!“ Girodel zuckte leicht zusammen. Er merkte, dass die grünen Augen Andrés immer feindseliger wurden. „André, was ist los mit dir?“ „Nichts. Aber wenn ihr Oscar wirklich heiraten sollet, garantiere ich für nichts mehr!“ Da ging dem Grafen ein Licht auf. „Ach so ist das, du liebst sie. André, ich mag dich wirklich, aber du bist ein Bediensteter. Du hättest bei Oscar nie eine Chance.“ Das brachte bei André das Fass zum Überlaufen und er zog seinen Degen. „Dann lasst es uns darauf ankommen, Graf!“ Dieser wich erschrocken zurück. „Das ist nicht dein Ernst, André! Du willst um sie kämpfen?“ André ging einen Schritt auf ihn zu. „Ja, das werde ich.“ Er hielt Girodel seinen Degen genau vors Gesicht und starrte in seine Augen. -Er meint es tatsächlich ernst. Gut, soll er sein Duell haben!- André sah, wie die Hand des Grafen an seinen Degen fuhr und ihn zog. „In Ordnung, kämpfen wir. Wenn ich verliere, ziehe ich meinen Antrag zurück. Wenn du verlierst, wirst du dich nie wieder zwischen Oscar und mich stellen.“ André zögerte keine einzige Sekunde. Er wusste, nein er fühlte, dass er gewinnen würde. Für Oscar. Er nickte. „Ach und noch was, Girodel. Das, was ihr wisst, bleibt unter uns. Sagt es Oscar mit keinem Wort.“ „Wie du willst.“ Sie kreuzte ihre Klingen und sahen sich noch einmal mit bösen Blicken an. Beide kämpften sie für eine Sache, für eine Frau. André wusste, dass er im Fechten mit Girodelle mithalten konnte. Und er wusste, dass er ihn besiegen würde. „Allez!“ rief André und setzte zum Ausfallschritt an. Noch bevor Girodel wirklich wusste, was passierte, hatte André pariert und seine Klinge nach außen weggeschlagen. Der Graf drehte sich um die eigene Achse, riss den Degen zur Seite und verfehlte nur knapp Andrés Schulter. Der wirbelte zur Seite und hielt den Degen in einer Prim. Girodel Klinge rutschte ab und er strauchelte. Keuchend stand er mit hängenden Armen da und starrte André an. Wut kam in ihm hoch. Wut, dass er gegen André nicht ankam und Wut über André, der scheinbar keine Probleme hatte. „Dir werd ich´s zeigen.“ Murmelte er und legte an Tempo zu. Jetzt bekam André die ganze Kraft Girodel zu spüren. Er war zwei Jahre jünger als der und hatte im Gegensatz zu dem Grafen keine militärische Ausbildung genossen. Aber er würde nicht aufgeben. Er sah Oscar vor seinem Auge und er wusste, worum er kämpfte. Girodel drehte nach links, hielt seinen Degen nach unten. André schnellte auf ihn zu und versuchte, ihn wegzuschlagen. Sein Gegner parierte und zielte mit der Spitze seiner blankpolierten Waffe auf seine Schulter. André machte zwei schnelle Schritte nach hinten und duckte sich. Als Oscar aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters, hörte sie durch die offene Eingangstür Kampfgeräusche, Degen die klirrten, der Kiesel im Hof knirschte. Auch vernahm sie das Keuchen zweier Männer. Sie ging die Treppe nach unten und sie sah, wie sich André und Girodel einen erbitterten Kamp lieferten. Was war nur in die beiden gefahren? Sie merkte, dass das kein freundschaftlicher Kampf oder ein Training war. Die Augen der beiden machten ihr klar, dass es sich um etwas ernsteres handelte. „André! Girodel! Was soll das! Hört sofort au!“ schrie sie und versuchte, dazwischen zu gehen. Doch André stieß sie weg. „Halte... dich da raus, Oscar! Das ist... eine Sache zwischen Girodel und mir!“ Er hatte sichtlich Mühe zu sprechen. Dieser Kampf verlangte alles von ihm ab. Oscar verstand gar nichts mehr. Sie zog sich zurück und beobachtete den Kampf. Zur Sicherheit lag ihre Hand auf ihrem Degen um notfalls eingreifen zu können. André drängte Girodelle immer weiter zu dem Brunnen, der in der Mitte des Hofes stand. Mit Mühe wehrte dieser die Attacken seines jüngeren Gegners ab. Als André schon glaubte, Girodel zu Fall zu bringen, wandte der einen Trick an und mit einem Hieb flog Andrés Degen durch die Luft. Ein schneidendes Geräusch erklang, als der Degen knapp neben André in den Boden stach. Oscar hielt die Luft an und André zog wütend seine Waffe aus dem Boden. Nun hatte der Graf wieder die Oberhand, da passierte es: Stoff zerriss, Haut und Muskeln wurden zerschnitten und der süße Duft von Blut lag in der Luft. André blieb stehen, riss die Augen auf und schrie vor Schmerz. Er ließ seinen Degen fallen und drehte sich langsam zu Oscar um. Sie sah, wie das Blut sein Hemd rot färbte, an seinen Beinen entlang lief und auf den Boden tropfte. „Andre`! Oh mein Gott, André!!!“ schrie sie verzweifelt und rannte auf ihren Freund zu, der sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Girodel stand fassungslos da. Was hatte er da nur getan? Auch er ließ vor Schreck seinen Degen fallen. André fühlte sich, als würde sich sein Inneres nach Außen kehren. Er fasste sich an seinen Bauch und fühlte den Riss und das Blut. Als er einen kurzen Moment unaufmerksam war, zog ihm Girodel seinen Degen über den unteren Teil seines Bauches und schlitzte ihn von links nach rechts auf. Das Blut schoss nur so aus der Wunde. Ihm wurde schwarz vor Augen und seine Beine knickten weg. Oscar fing ihn auf und legte ihn vorsichtig auf den Boden. Ihr Gesicht war starr vor Schreck. „André, bitte nicht! Sag doch was! Bitte!“ Ihr Freund fing an zu zittern und die Schmerzen raubten ihm fast den Atem. Oscar zog ihre Uniform-Jacke aus und drückte sie leicht auf seine wunde. „Ich muss die Blutung stillen, André! Bitte halte durch!“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. André sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, sein Körper und sein Gesicht spannten sich vor Schmerz immer wieder an. „Os... Oscar... hilf mir!!“ brachte er kaum hörbar hervor. Ein Ruck ging durch ihren Körper und sie sah Girodel an, der immer noch schreckensbleich an der selben stelle stand. „Girodel, verdammt noch mal! Tut was! Holt einen Arzt oder wollt ihr, dass André wegen euch verblutet?!“ schrie sie ihn an. „Ja... Jawohl, Kommandant! Ich beeile mich!“ rief er, rannte zu seinem Pferd und donnerte vom Hof. Oscar sah wieder zu André. Er hatte seine Augen halb geschlossen, seine Lider flackerten und er keuchte und stöhnte vor Schmerz. Ihren Freund so leiden zu sehen, schnürte ihr die Kehle zu. “André, bitte halte durch! Es ist bald ein Arzt hier!“ Mit letzter Kraft hob er seinen Arm, Oscar ergriff seine Hand und drückte sie fest. „Bitte... verzeih mir, Oscar.“ sprach André mit zusammengebissenen Zähnen. Noch nie hatte er solche Höllenschmerzen erlitten. „Aber warum?“ fragte Oscar und strich mit ihrer freien Hand immer wieder über sein Gesicht. Die Schmerzen wurden fast unerträglich und André spürte, dass er keine Kraft mehr hatte. „Wegen... heute morgen...“ hauchte er. „Aber André, du...“ Da spürte sie, wie sein Arm auf einmal schlaff wurde und sie sah, dass er die Augen geschlossen hatte. Er rührte sich nicht mehr. Ihr Herz setzte für einen Moment aus. Nein, das durfte einfach nicht sein. „André! Bitte mach die Augen auf! ANDRE`!! NEIN!“ Oscar hatte Angst. Verzweifelt schrie sie: „HILFE!! Warum hilft uns keiner?! BITTE! Vater!!“ Ihr rannten die Tränen übers Gesicht. Da erschien auf dem Treppenabsatz Rosalie. „Lady Oscar, was ist…? Oh mein Gott Andre`! Was ist mit ihm?“ Das Mädchen wurde bleich. „Rosalie, hol meinen Vater!“ Doch sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich hole den Arzt. Doktor Moreau ist gerade hier.“ „Ja, aber beeile dich!“ Sofort rannte sie ins Haus zurück. Rosalie hatte Lady Oscar, seit sie bei den Jarjayes war, noch nie so verzweifelt und hilflos gesehen. Bei Andrés Anblick traten ihr Tränen in die Augen. Sie sah das Blut auf dem Boden, sein Gesicht, dass zwar reglos und bleich, aber doch starr vor Schreck und schmerzverzerrt war. Er musste unglaubliche Schmerzen haben. Rosalie hatte den beiden einiges zu verdanken, als sie etwa vor zehn Jahren durch einen Zufall auf Lady Oscar traf. Sie hatte das drei Jahre jüngere Mädchen aus einem Armenviertel von Paris bei sich aufgenommen, als ihre Mutter von der Kutsche einer Adligen getötet wurde. Rosalie schwor sich, ihre Mutter zu rächen, Oscar unterstützte sie dabei. Wie auch bei der Suche nach Rosalies leiblicher Mutter. Dieses Geheimnis, dass sie die Tochter einer Adligen war, erfuhr Rosalie kurz vor dem Tod ihrer Mutter. Seit dieser Zeit lebte und arbeitete sie bei den Jarjayes und Oscar und André wurden sehr gute Freunde. Als Rosalie wieder im Haus verschwand, brachen bei Oscar alle Dämme. Hilflos saß sie da und weinte, Andrés Hand immer noch in ihrer. „Bitte, André, halte durch. Lass mich nicht alleine. Ich brauch dich.“ Sanft strich sie wieder über sein Gesicht. Kaum zwei Minuten später kam Oscars Vater in Begleitung von Doktor Racon, dem Leibarzt de Jarjayes die Treppen runter gerannt. „Oh Gott Oscar! Was ist passiert?“ rief der General während der Arzt neben André kniete und seinen Puls fühlte. Oscar brachte kein Wort heraus, sondern starrte nur in Andrés Gesicht. Sie bemerkte nicht, wie ihr Vater ihre Jacke wegnahm und ganz bleich wurde, als er den Schnitt in Andrés Bauch sah. Auch der Arzt sah die furchterregenden Wunde. „Er lebt!“ meinte er dann nach fast unendlich langen Sekunden. Erst da merkte Oscar, dass sie die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte, als sie bei den Worten des Arztes tief ausatmete. Doktor Racon sah den General ernst an. „General, helft mir, ihn in sein Zimmer zu tragen. Ich muss ihn sofort operieren. André hat sehr viel Blut verloren, doch sein Puls ist stabil. Durch die Schmerzen hat er das Bewusstsein verloren.“ Er richtete sich auf und hob Andre unter den Armen an, der General nahm seine Beine und sie trugen ihn über die Treppe nach oben. Oscar blieb an Andrés Seite und hielt weiter seine Hand. Die beiden Männer legten André vorsichtig in sein Bett. „Rosalie, hol mir bitte ein paar Tücher und eine Schüssel warmes Wasser.“ sagte der Arzt zu dem Mädchen. „Ja, natürlich.“ Dann wandte er sich an Oscar. „Lady Oscar, ich bitte sie, vor der Tür zu warten.“ „Nein! Ich bleibe bei ihm! Er braucht mich!“ rief sie. Ihr Vater legte ihr seine Hände auf die Schulter und zog sie sanft vom Bett hoch, wo sie sich neben André gesetzt hatte. Zärtlich sprach er zu seiner Tochter: „Komm, mein Kind. Du kannst André jetzt nicht helfen. Der Arzt kümmert sich um ihn. Nun komm.“ Widerstrebend ließ sie die Hand ihres Freundes los und flüsterte ihm noch ein “Du schaffst das. Halte durch“ zu und ging mit ihrem Vater aus dem Zimmer. Draußen brach sie weinen in den Armen ihres Vaters zusammen. „Vater, André darf nicht sterben!“ Unentwegt strich der General beruhigend über den Kopf seiner Tochter, die er so aufgelöst, voller Angst und Verzweiflung noch nie gesehen hatte. „Er wird nicht sterben. André ist ein Kämpfer, er steht das durch. Aber wie ist dass den passiert?“ Er brachte Oscar zu einem Stuhl, erleichtert ließ sie sich nieder. „Girodelle und André hatten draußen gekämpft und auf einmal... Girodel zog ihm den Degen... über seinen Bauch.“ Da fuhr sie plötzlich hoch. „Oh Gott, Sophie! Vater, wo ist sie? Sie muss es wissen!“ De General nickte heftig. Da kam Rosalie wieder aus dem Zimmer. „Ah, Rosalie. Sag doch bitte Andrés Großmutter Bescheid. Sie ist in der Waschküche.“ „In Ordnung, General.“ Rosalie sah Oscar traurig und mitfühlend an, dann ging sie die Treppen nach unten. Tränenüberströmt kam Sophie ein paar Minuten später zu Oscar und ihrem Vater. „Das ist so furchtbar! Wie geht es André?“ Oscar zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Der Arzt ist gerade bei ihm und operiert ihn.“ Erneut brach die alte Dame in Tränen aus. „Oh nein, mein armer Junge!“ Plötzlich rannten zwei Männer die Treppe hoch. „Girodel!“ rief Oscar entrüstet. “Lady Oscar, ich habe den Arzt mitgebracht.“ sagte er ganz außer Atem. „Ja, das ist gut. Ich denke, Doktor Racon kann Hilfe brauchen. Kommt, ich bringe euch zu dem Patienten.“ Der General begleitete den Arzt in Andrés Zimmer. Oscar sah Girodel feindselig an, doch der Graf hielt ihrem Blick stand. „Wie geht es André?“ „Wie es ihm geht? Wie würde es euch denn gehen, wenn man euch den Bauch aufgeschlitzt hätte?“ Betroffen senkte er seinen Blick. „Es tut mir alles so schrecklich leid. Das war ein tragischer Unfall. Wenn ich könnte, würde ich alles ungeschehen machen.“ Ihm tat es wirklich leid, da er André sehr mochte. „Das hilft ihm jetzt auch nichts. Ihr könnt nur hoffen, dass er das überlebt!“ fuhr Oscar ihn an. Sie trat einen Schritt auf ihn zu, in ihrem Blick sah er nur Wut und Verzweiflung. „Wenn André sterben sollte, mache ich euch dafür verantwortlich!“ Erschrocken wich er zurück. „Das... das ist nicht euer Ernst! André wollte diesen Kampf. Er hat mich herausgefordert.“ Versuchte sich Girodel zu verteidigen. „Was sagt ihr da? Weshalb sollte André so etwas tun?“ „Das fragt ihr ihn am besten selbst. Ich habe ihm versprochen, euch nichts zu sagen.“ „Ich glaube, es ist besser, wenn ihr jetzt geht, Girodel.“ „Aber...“ Doch Oscar drehte sich um. „Ach und noch was. Ihr übernehmt vorerst meinen Posten. Ich bleibe solange bei André, biss es ihm wieder besser geht.“ Girodel nickte, machte auf dem Absatz kehrt und ging langsam nach unten. Er drehte sich noch einmal um. Er wusste, dass er Oscar verloren hatte. Sie würde ihn niemals heiraten. Nicht, nachdem er beinahe ihren besten Freund getötet hätte. André wird in ihrem Leben immer eine besondere Rolle spielen, dachte er traurig, als er auf sein Pferd stieg und nach Hause ritt. Oscar wusste nicht, wie lange sie auf dem Stuhl vor Andrés Zimmer gesessen hatte. Es war bereits stockdunkel, als die beiden Ärzte die Tür öffneten und zu Oscar und dem General raten. Sophie hatte er schon vor einer Weile in ihr Bett gebracht. Sie war außer sich vor Sorge um ihren Enkel und hatte sich in den Schlaf geweint. Oscar fuhr auf. „Herr Doktor, wie geht es André?“ Doktor Racon sah Oscar ernst an. „Er wird durch- kommen. Zum Glück wurden keine Organe oder die Bauchschlagader getroffen. Trotzdem hat er sehr viel Blut verloren und er ist noch immer nicht bei Bewusstsein. Aber er wird es schaffen.“ Oscar fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Sie hatte wahnsinnige Angst um André. „Ich danke euch. Kann ich zu ihm?“ Der Arzt nickte. „Natürlich.“ Leise öffnete Oscar die Tür und betrat das Zimmer. Langsam ging sie auf das Bett zu. André lag reglos da, sein Gesicht wurde durch zwei Kerzen, die links und rechts neben seinem Bett standen, erhellt. Er war leichenblass, Oscar erschrak. Doch dann hörte sie, dass er zwar flach aber ruhig und gleichmäßig atmete. Vorsichtig setzte sie sich zu ihm an den Rand des Bettes und sah ihn an. Rosalie hatte ihm ein frisches Hemd angezogen und auch die Bettwäsche gewechselt. Kein einziger Blutfleck war zu sehen. Es war, als würde André nur fest schlafen. Doch Oscar wusste nur zu gut um die Wunde, die nun vernäht und verbunden war. Tränen traten ihr in die Augen, als sie daran dachte, wie ihr Freund vor ein paar Stunden blutüberströmt in ihren Armen lag und sie aus schmerzverzerrten Augen ansah. „Oh Gott, André. Warum hast du das getan? Warum hast du dich mit Girodelle duelliert?“ flüsterte sie, nahm seine Hand in ihre und drückte sie an ihre tränennasse Wange. Seine Handfläche war so kalt! „Bitte mach die Augen auf, André. Du darfst nicht sterben, hörst du? Du darfst nicht sterben!“ Nur kurz ließ Oscar seine Hand los, um einen Sessel an sein Bett zu holen. Sie setzte sich wieder, nahm seine Hand und blieb die ganze Nacht an seiner Seite. Mit der Zeit übermannte sie die Müdigkeit und sie schlief erschöpft ein. Als sie am nächsten Morgen erwachte, stand ihre Mutter am Bett. „Oh, guten morgen Mutter.“ Oscar stand auf. „Guten morgen Oscar. Es ist so schrecklich, dein Vater hat es mir erzählt. Wie geht es ihm?“ Traurig sahen beide in das Gesicht des jungen Mannes. „Immer noch unverändert. Auch sein Bewusstsein hat er noch nicht wieder erlangt.“ Madame de Jarjayes ging um das Bett auf ihre Tochter zu. Sie legte ihre Hand auf ihren Arm und sah sie liebvoll an. „Komm, mein Kind. Gehen wir frühstücken.“ „Nein, Mutter. Ich bleibe hier, ich lass ihn nicht alleine.“ „Aber du musst doch was essen. Ich werde Rosalie bitten, dir etwas zu bringen.“ „Danke Mutter.“ Kurz darauf war Oscar wieder alleine mit André. Wieder nahm sie seine Hand in ihre. „Guten morgen, André. Bitte, mach die Augen auf. André, hörst du mich? Bitte!“ Noch nie hatte sie sich so hilflos gefühlt. Sie wusste, dass sie ihm nicht helfen konnte. Sie konnte nur bei ihm bleiben und ihm Kraft geben. Da klopfte es an der Tür. „Komm herein, Rosalie.“ Das blonde Mädchen brachte ein Tablett mit dem Frühstück für Oscar. „Guten morgen, Lady Oscar.“ „Guten morgen Rosalie. Danke, aber ich habe keinen Hunger.“ Mit einem Seitenblick auf André stellte Rosalie das Tablett auf den Tisch. „Aber ihr müsst was essen, Lady Oscar, bitte.“ Langsam stand Oscar auf und setzte sich an den kleinen Tisch. Sie biss in ein Croissant und trank ihren Tee. „Rosalie, wie geht es Sophie? Schläft sie noch?“ Ihre Freundin nickte. „Ja, die Ärmste macht sich schreckliche Sorgen um André. Ich im übrigen auch. Der Arzt kommt in ungefähr zwei Stunden und wechselt den Verband. Ich... ich lass euch nun wieder alleine.“ Kaum war Rosalie verschwunden, ging Oscar wieder zurück zu André. Liebevoll lächelte sie ihn an und strich sanft über seine Wange. „Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst, André. Ich lasse es nicht zu. Ich hab doch nur noch dich.“ flüsterte sie unter Tränen. Wie an einen rettenden Anker klammerte sie sich an seine Hand. Und zum ersten mal bemerkte sie, was für wunderschöne Hände André hatte. Sie waren groß und kräftig aber dennoch schlank und feingliedrig. Sie legte ihre Hand unter seine und ihre zarte weibliche Hand wurde gänzlich von seiner bedeckt. Und plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihr Leben genau so war wie diese beiden Hände. Seit Oscar denken konnte, war André an ihrer Seite und beschützte sie, wo er konnte. „Ich kann mich doch nur in Versailles so frei bewegen, weil du immer bei mir bist, mich beschützt. Dafür kann ich dir nicht genug danken. So oft hast du mir schon das Leben gerettet, sogar schon als Kind. Erinnerst du dich? Du warst damals sechs, ich fünf. Wir spielten am unteren See. Fast wäre ich ertrunken, hättest du mich nicht gerettet und aus dem Wasser gezogen. Als wir miteinander kämpften hast du deine Kraft zurückgehalten, um mich nicht zu verletzen, das weiß ich.“ Seine ganze Kraft spürte sie zum ersten mal, als André sie vor dem von Madame de Polignac manipulier-ten Kronleuchter schützte. Der Leuchter stürzte genau in dem Moment von der Decke, als Oscar die Treppe, über der er hing, runterlief. André rannte auf sie zu und warf sie die Treppe hinunter. Doch er hielt sie so im Arm, dass sie sich nicht wehtat. „Ich danke dir, André. Für alles.“ Zwei Stunden später sah Doktor Racon nach André. Er säuberte die Wunde und wechselte den Verband. Während dieser Minuten wartete Oscar wie vergangene Nacht vor seinem Zimmer. „Lady Oscar, wie geht es meinem André?“ rief auf einmal eine Stimme. Oscar sah zur Treppe. Sophie rannte nach oben. „Oh Sophie! Setz dich. Komm schon.“ Ihre Amme sah furchtbar aus. So hatte Oscar sie noch nie gesehen. Ihre Wangen waren eingefallen, Haarsträhnen lugten unter ihrer weißen Haube hervor und unter ihren Augen, die sie müde und erschöpft ansahen, waren schwarze Ringe zu sehen. Die Ärmste. „Der Arzt ist gerade bei ihm. Aber sein Zustand hat sich nicht verschlechtert.“ Sophie atmete hörbar aus. „Gott sei Dank“ Die Tür ging auf und Doktor Racon trat zu den beiden Frauen. Sofort sprang Sophie von ihrem Stuhl auf. „Herr Doktor, bitte sagen sie, wird meine Enkel überleben?“ „Ich denke ja. Sein Körper ist kräftig und die Wunde hat sich nicht infiziert. Sein Puls ist soweit auch wieder stabil. Wenn er allerdings nicht nach der dritten Nacht wieder zu Bewusstsein kommt, dann...“ Der Arzt sprach nicht weiter. „Nein! Oh mein Gott!“ schluchzte Sophie, sank auf den Stuhl zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Auch in Oscar zog sich alles zusammen. Soweit dürfte es nicht kommen! Sie würde es verhindern! Der Arzt beugte sich zu der alten Dame hinunter und sagte in beruhigendem Ton: „Keine sorge, Madame Grandier. Ich bin sicher, André schafft das. Er ist stark. Falls er Fieber bekommen sollte, gebt ihm das.“ Er drückte ihr ein kleines Fläschchen in die Hand. „Das ist Chinin, ein fiebersenkendes Mittel. Gebt immer nur einen Teelöffel in ein Glas Wasser und flöst es ihm ein.“ Sie nickte kraftlos. Doktor Racon richtete sich auf und drehte sich zu Oscar um. „Ich komme morgen wieder. Auf Wiedersehen, Lady Oscar.“ „Auf Wiedersehen, Doktor. Und habt vielen Dank.“ Sie wandte sich wieder ihrer Amme zu. „Komm, Sophie.“ sagte sie, stützte die aufgelöste Dame und gemeinsam gingen sie zu André. Sophie setzte sich in den Sessel, in dem vorhin Oscar saß. Sie selbst setzte sich auf den Rand der anderen Seite des Bettes. „Oh mein armer kleiner Junge.“ schluchzte seine Großmutter und strich ihm immer wieder über sein Gesicht und sein Haar. „Ich habe deinen Eltern doch versprochen, auf dich aufzupassen. Du bist doch noch so jung, du hast dein ganzes Leben noch vor dir.“ Sie nahm seine Hand, küsste sie und drückte sie an ihre Wange. „Dein Vater war so stolz, als du geboren wurdest. Er hatte sich so sehr einen Sohn gewünscht. Du solltest den Namen Grandier weiterführen. André, bitte halte durch!“ Oscar schluckte ihre Tränen mühevoll runter. Sie wusste, wenn André sterben würde, wäre das für Sophie das Ende. André war wie ihr eigener Sohn. „Sophie, erzähl mir von seinen Eltern, bitte.“ Die alte Dame blickte ihre Ziehtochter an. Dann sah sie wieder zärtlich ihren Enkel an und versank in einer anderen Zeit. „Seine Eltern waren wundervolle Menschen und sie liebten André abgöttisch. Er hat so viel von den beiden geerbt. Von seinem Vater, meinem Sohn hat er seinen schönen Mund, die feine gerade Nase. Seine Mutter hatte die selbe weiche helle Haut und sein warmes Lachen. Aber vor allem seine Augen. Marianne, seine Mutter hatte stechend grüne Augen, die meinen Sohn faszinierten. André hat die selben großen leuchtend grünen Augen wie seine Mutter. Aber sie vererbten ihm auch sein großes Herz, seine Güte und die Gabe, en Menschen die er liebt treu und ohne Wenn und Aber zur Seite zu stehen und sie wenn nötig mit seinem Leben zu verteidigen. Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Loyalität, das sind Eigenschaften, die seine Eltern ihm gaben. Ich bin so stolz auf alle drei.“ Oscar betrachtete André und plötzlich sah sie ihn in einem ganz anderen Licht. Die Tatsache, dass er ohne Eltern aufwuchs, tat ihr weh. „Wie... wie sind sie ums Leben gekommen?“ fragte sie leise. „Die beiden waren sehr krank. Für einen Arzt hatten sie kein Geld und als sie meines endlich annahmen, war es schon zu spät. An einem Samstagnachmittag wollte ich sie besuchen. Doch als ich kam, lagen sie bereits tot im Bett. André lag neben dem Bett auf dem Boden und schlief.“ Oscar riss die Augen auf. André musste mit fünf Jahren mit ansehen, wie seine Eltern starben. Ihr traten Tränen in die Augen. „Dass... das ist... furchtbar!“ Ihr wurde bewusst, dass André der Stärkere von ihnen beiden war. Was er schon alles durch-stehen musste. Jetzt verstand sie auch, warum er nie über seine Eltern sprach. Die Erinnerung an die beiden musste ihm unwahrscheinlich weh tun. Die beiden Frauen saßen noch lange so an Andrés Seite, jede hielt eine Hand. Sie sprachen nichts, hingen ihren eigenen Gedanken nach, doch der Inhalt war der selbe: André. Doch dann stand Madame Grandier auf. „Ich glaube, ich sollte mich so langsam um das Essen kümmern. Der General und seine Frau warten darauf. Ihr sagt mir doch sofort Bescheid, wenn sich sein Zustand verändert.“ Oscar stand ebenfalls auf und legte ihre Hand auf die Schulter ihrer Amme. „Natürlich, Sophie.“ sagte sie sanft. Die alte Dame beugte sich noch einmal über André, küsste ihn auf die Stirn und verließ den Raum. „Es tut mir so leid, André. Du warst doch noch ein Kind... Und doch bist du so ein wundervoller Mensch geworden.“ flüsterte Oscar. Oscar blieb den ganzen Tag bei André. Sie nahm sich ein Buch aus seinem Regal und las ihm vor. Sie glaubte, sich dadurch ablenken und André wieder zurück holen zu können. Plötzlich merkte sie, dass sich ihr Freund verändert hatte. Sie stand von ihrem Sessel auf und beugte sich über ihn. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet, seine Haut glühte und er fing an zu zittern. „Um Gotteswillen, André! Du hast ja Fieber!“ Sie erinnerte sich an das Fläschchen, dass der Arzt Sophie gegeben hatte. Es stand auf dem Nachttisch. Sie griff danach und gab einen Teelöffel in das Glas Wasser, das noch von Rosalies Frühstück da stand. Sie führte das Glas an seinen Mund. „André, du musst das trinken. Das Fieber darf nicht noch weiter steigen.“ Erleichtert sah sie, dass er seinen Mund etwas öffnete. Er hatte sie also gehört. Vorsichtig gab sie ihm das Fiebermittel zu trinken. Danach wischte sie mit einem Handtuch den Schweiß von seiner Stirn und legte ein mit kaltem Wasser getränktes Tuch darüber. Es war schon weit nach Mitternacht, als André durch das hohe Fieber zu fantasieren begann. Er stöhnte auf und drehte sich von einer Seite auf die andere. Oscar versuchte, ihn zu beruhigen und kühlte ihm immer wieder das Gesicht. Plötzlich murmelte er. „Oscar.“ Vor Freude ließ sie den Lappen, den sie gerade noch in ihren Händen hielt auf den Boden fallen. “Ja, André! Was ist mit dir?“ Doch er reagierte nicht. Er hatte seine Augen noch geschlossen. Nach einer kurzen Zeit sprach er wieder. „Oscar... du darfst... ihn nicht heiraten. Bitte... tu das nicht. Tu... mir das nicht an, bitte.“ Oscar erschrak bei diesen Worten. Was hatte er da eben gesagt? Es klang so verzweifelt. „André, wie meinst du das? Was würde ich dir damit antun? Ich werde Girodelle nicht heiraten, glaube mir.“ Allmählich wurde André ruhiger und das Fieber schien zwar noch nicht zu sinken, aber es stieg auch nicht mehr. In regelmäßigen Abständen gab sie ihm das Chinin und kühlte sein Gesicht und auch die Hände. Die ganze Zeit dachte sie über seine Worte nach. Auf ihre Frage, wie er das gemeint hat, hatte er nicht geantwortet, sondern war wieder in einen tiefen Fieberschlaf gefallen. Warum sollte sie André etwas antun, wenn sie Girodel heiraten würde? André war doch ihr bester Freund, oder nicht? Wenn Girodelle wirklich recht hat und André ihn herausgefordert hat, war sie der Grund für den Kampf? Wollte André damit verhindern, dass sie den Grafen heiratet? Aber warum? Sah er in Oscar mehr als nur seine beste Freundin? War er deswegen in letzter Zeit so merkwürdig? All diese Fragen schwirrten in ihrem Kopf, die Antworten darauf konnte ihr nur André geben. „Bitte André, komm wieder zu dir. Sag mir, was der Grund für den Kampf war.“ Oscar war total erschöpft und so legte sie sich neben André ins Bett, das zum Glück breit genug für sie beide war. Trotzdem konnte sie lange Zeit nicht einschlafen. Sie lag auf der Seite, die Beine angezogen und betrachtete Andrés Gesicht. Er war immer noch sehr blass, er schlief fiebrig. Sein Atem ging stoßweise und seine Augenlider flackerten. Oscar konnte nicht mehr tunt, als beten und bei ihm zu bleiben. Sie hielt Andrés Hand und wartete. Seine Hand war warm und zuckte leicht. Als der Morgen zu dämmern begann, spürte Oscar die warmen Hände Rosalies auf ihren Schultern. „Lady Oscar... seid ihr denn nicht müde? Ihr solltet mal wieder in eurem eigenen Bett schlafen. Oder habt ihr Hunger? Ihr sitzt jetzt schon den zweiten Tag hier.“ Tatsächlich hatte sie außer bei dem Besuch von Doktor Racon Andrés Zimmer keine Minute verlassen. Sie sah Rosalie nicht an, sondern blickte nur auf ihre mit André verschlungenen Hand. „Nein... ich bleibe hier...“ war ihre dahin gemurmelte Antwort. Rosalie ließ ihr ihren Willen. Leise verließ sie das Zimmer wieder. Sie wusste, dass es nichts nützen würde, Oscar gut zuzureden. André stand ihr näher als ihre Schwestern, auch das wusste sie. Sie beschloss, ihr das Essen später hoch zu bringen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)