Freunde mit gewissen Vorzügen von Maginisha ================================================================================ Kapitel 29: ------------ Schuldig hatte nicht gezählt, wie viele Schritte er schon gemacht hatte. Die Zeit dieser inneren Welt lief anders und so wusste er, dass in der realen Welt nur Augenblicke vergangen sein konnten. Hier drinnen jedoch schien die rotbraune Weite einfach kein Ende nehmen zu wollen. Er fluchte leise und wollte schon umkehren, als er ein Geräusch hörte. Es war eine Art Schaben und Kratzen. Leise, unregelmäßig, so als würde ein Gegenstand über eine harte Oberfläche gezogen. Er sah sich um und lauschte. Das Geräusch kam von links. Er wandte sich in die Richtung und erblickte plötzlich etwas, das er vorher hier noch nie gesehen hatte. Es war ein Loch im Sand, ungefähr eine Hand groß und etwa genauso tief. Er kniete sich nieder und untersuchte das Loch. Etwas oder jemand hatte sich durch die feine Sandschicht gegraben und war kurze Zeit später auf undurchdringlichen Felsen gestoßen. Er runzelte die Stirn und stemmte sich wieder in die Höhe. Als er weiterging, sah er ein weiteres Loch, dann noch eines und noch eines, bis er schließlich auf ein weites Feld vollkommen identischer Löcher starrte. Das kratzende Geräusch war lauter geworden und jetzt endlich sah er inmitten der Löcher eine kleine Gestalt hocken. Er ging rasch auf sie zu und erkannte, dass es das Mädchen war, das er gesucht hatte. Sie kniete am Boden und hatte eine kleine Schaufel in der Hand. Damit war die gerade dabei, ein weiteres Loch auszuheben. Wie schon die unzähligen Male zuvor, war sie auf die harte Schicht unter der Oberfläche gestoßen und die kleine, orange Plastikschaufel in ihren Händen war nicht in der Lage, das Gestein zu durchringen. Als das Loch groß genug war, stand das Mädchen auf, ging zu einem Platz, an dem noch kein Loch war, und begann zu graben. Es war ein sinnloses Unterfangen und er fragte sich, wie lange sie sich wohl schon damit beschäftigte.   "Hey!", rief er. "Ich bin gekommen, um dich hier rauszuholen." Das Mädchen hielt in seinem Tun inne und drehte den Kopf zu ihm herum. Große, dunkle Augen sahen ihn forschend an. Sie schien einen Augenblick zu überlegen, dann drehte sie sich wieder zu ihrem Loch und begann erneut zu graben. „Hör auf damit“, knurrte er sie an. „Du kommst nicht hindurch. Was sollen überhaupt diese Löcher?“ „Alles ist auf der anderen Seite“, antwortete sie. Er runzelte die Stirn. „Was alles? Auf welcher Seite?“ Sie seufzte. „Ich habe überall auf dieser Seite gesucht und ich habe nichts finden können. Nur ich bin hier. Also muss alles andere auf der anderen Seite der Felsen sein.“ Das klang vage logisch, war aber vollkommener Blödsinn. Innere Welten funktionierten nicht so. Nicht soweit er wusste. Obwohl... Vielleicht hatte sie Recht. Sie war in dieser Welt, die sie auf welche Weise auch immer geschaffen hatte, gefangen. Wenn sie sie zerstörte, kam sie möglicherweise frei. „Du brauchst ein besseres Werkzeug“, sagte er und wies auf die keine Schaufel. „Damit wirst du nicht durch den Stein kommen.“ „Aber ich habe nichts anderes. Ich habe gesucht und gesucht. Das ist alles, was ich gefunden habe.“ Schuldig rollte mit den Augen. „Also schön, Prinzesschen, pass auf. Du nimmst jetzt diese Schaufel und machst daraus eine Waffe. Was richtig schön Spitzes. Einen Speer vielleicht. Los, mach!“ Sie sah ihn an und wusste anscheinend nicht, was sie tun sollte. Zögernd wollte sie sich wieder dem Graben zuwenden, wagte allerdings nicht, sich ihm zu widersetzen. Unschlüssig hielt sie die Schaufel in ihren Händen.   Schuldig schnaubte frustriert. Was auch immer dazu geführt hatte, dass sie diese Welt erschaffen hatte, war anscheinend fort. Vielleicht hatte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen, der für einen gewissen Zeitraum Areale ihres Hirns zum Einsatz gebracht hatte, die ihr die notwendigen Fähigkeiten verliehen hatten. Jetzt allerdings konnte sie diese Welt weder verlassen, noch verändern. Wenn er sie hier rauskriegen wollte, musst er ihr zeigen, wie. Er nahm ihr die Schaufel aus der Hand. Sie wollte zunächst protestieren, schwieg dann aber. „So geht das“, knurrte er ärgerlich und konzentrierte sich. Es war schwierig, weil das hier nicht seine Welt war, in der er nach Lust und Laune schalten und walten konnte. Aber er war nicht umsonst Meister darin, die Gedanken anderer zu manipulieren, Wenn er wollte, dass das hier etwas anderes wurde, dann wurde es das auch! Die Schaufel in seinen Händen wuchs, sie veränderte sich und kurz darauf hielt er einen fast mannsgroßen Speer mit silberner Spitze in den Händen. Er drückte ihm dem Mädchen in die Hand. „Damit stößt du jetzt so fest zu, wie du kannst. Das wirst du ja wohl können, oder?“ Sie zögerte und betrachtete den Speer in ihrer Hand. Unmerklich war es dunkler um sie herum geworden. Der farblose Himmel hatte ein helles Grau angenommen, dessen Tiefe und Intensität von Augenblick zu Augenblick anschwoll. „Nun mach schon!“, rief er ärgerlich. Diese dumme Gans hielt ihn länger auf, als er gedacht hatte. „Den Speer in den Boden rammen. Ach gib schon her!“   Er griff nach der Waffe, riss sie ihr aus den Händen und stieß mit aller Kraft zu. Wo sie Spitze auf den Stein traf, bildeten sich Risse. Das Mädchen zuckte zusammen. Wind kam auf, der die rotbraunen Staubkörner umherwirbeln ließ. Schuldig hob erneut den Speer und stieß zu. Dieses Mal erklang ein Geräusch wie herannahender Donner. Mit ein wenig Kraftaufwand, zog er den Speer wieder auf dem Boden, sah sie an und stieß ein drittes Mal zu. Etwas brach. Er fühlte es mehr, als das er es sah. Der gezackte Riss, der sich zwischen seinen Füßen hindurch rasend schnell in Richtung Horizont ausbreitete, war nur eine Illusion des Geistes, der diesem Irrsinn hier innewohnte. Es mochte sein, dass sie nicht in der Lage war, diese Welt zu verändern, wie es eigentlich der Fall sein sollte, nachdem sie sie errichtet hatte. Aber sie war in der Lage zu verstehen, was er ihr als Bild anbot und darauf entsprechend zu reagieren. Der Himmel, der einst so weit erschienen war, hing jetzt zum Greifen nah über ihnen. Donner rollte über sie hinweg und Blitze zuckten in einem unsichtbaren Sturm, der um sie herum tobte. Ein Blitz fuhr ganz in der Nähe in den Boden und ließ sie aufschreien. „Komm, Prinzesschen. Es wird Zeit zu gehen.“ Er bot ihr seine Hand an und lächelte. Vorsichtig legte sie ihre Finger in seine. Das Lächeln wurde breiter, als sich seine Hand um ihre schloss, er sie festhielt und zu sich heranzog. „Gute Reise“, flüsterte ihr ins Ohr und schleuderte sie mit einer plötzlichen Bewegung in die Luft. Ihr Körper wurde vom Sturm nach oben gewirbelt, krachte gegen die Illusion eines Himmels und ließ ihn in Stücke zersplittern. Dahinter quollen Dinge hervor. Tausende und abertausende von Erinnerungen, Gedanken, Wünschen, Träumen. Alles, was ein menschlicher Geist normalerweise beinhaltete und von dem sie sich so lange abgespalten hatte. Ein Gefängnis mitten in ihrem Selbst.   Der Boden unter seinen Füßen zerbarst. Er wirbelte herum und lief los zu dem Punkt, wo er Ken zurückgelassen hatte. Hinter ihm heulte der Sturm, brüllte, drohte auch ihn zu verschlingen. 'Das steht aber auch in keinem Lehrbuch', dachte er bei sich und beschloss, sich später über diese Anomalie Gedanken zu machen. Zunächst musste er diese zusammenbrechende Welt verlassen, bevor sie ihn mit in Fetzen riss. Er warf noch einen letzten Blick auf die unendlichen Weiten. Dies war eine Welt, die einem großen Geist Platz geboten hätte. Vollkommen verschwendet an so ein kleines Mädchen, das damit nichts anzufangen wusste und auch nicht in der Lage war, sie zu kontrollieren. Hier hätte man Imperien errichten können und sie spielte nur im Sand. Eine Ironie des Schicksals.   Er erreichte Ken und den anderen Ken innerhalb weniger Augenblicke. Beide waren aufgesprungen und sahen sich um. Die Zerstörung raste jetzt von allen Seiten auf sie zu, auf diesen letzten Punkt, den der Abgrund verschlingen würde. „Zeit zu gehen“, erklärte Schuldig und griff nach Kens Arm. Er wies auf den anderen Ken, der ihn aus hungrigen Augen musterte. Geifer tropfte von seinem Kiefer und hinterließ feuchte Spuren im Sand. „Willst du den mitnehmen oder hierlassen?“ Ken schien zu überlegen. „Was passiert mit ihm, wenn ich ihn hierlasse?“ Schuldig zuckte mit den Schultern. „Vermutlich wird er sich einen neuen Wirt suchen. Die Kleine nehme ich an.“ Ken sah ihn entsetzt an. „Niemals. Er kommt mit.“ Schuldig lachte innerlich. Die Reaktion dieser Weiß war so berechenbar. Er musste Ken ja nicht unbedingt verraten, dass der anderen Ken viel eher mit dieser Welt untergehen würde. Warum diese nette kleine Überraschung so einfach verschwinden lassen. Es war ein bisschen, wie eine Landmiene auf einem Spielplatz zu vergraben. Früher oder später würde sie jemand finden und dann würde es einen netten, kleinen Knall geben. Jetzt aber mussten sie erst einmal hier weg. Er schloss die Augen und holte tief Luft, als der Sturm sie erreichte und der Boden unter ihren Füßen wegbrach.       Yoji schrak zusammen, als Ken plötzlich aufschrie und sich wild keuchend umsah. Er ließ Schuldigs Arm los, als hätte er sich verbrannt und stolperte einen Schritt rückwärts. „Wo ist...wo sind...“, stammelte er und atmete erleichtert auf, als er merkte, dass er sich wieder im Krankenzimmer befand. Im selben Augenblick begann ein Monitor neben dem Bett, der bisher geschwiegen hatte, einen Signalton von sich zu geben. Es war ein tiefes, sich wiederholendes Summen und etwas daran sagte Yoji, dass dieser Ton mit einem Alarm im Schwesternzimmer verbunden sein würde. Sie mussten hier weg. Omi, der ebenfalls aufgesprungen war, nahm sich des leicht desorientierten Kens an, während Yoji Schuldig auf die Füße zog. Er sah ihm direkt in die Augen. „Hat es funktioniert?“, fragte er. Der Ausdruck auf Schuldigs Gesicht sprach Bände. „Natürlich hat es funktioniert.“ Der Mann grinste überheblich. „Du sprichst hier mit einem Profi. Sieht hin.“ Yoji schielte an ihm vorbei auf das Bett. Ayas Augenlider flatterten, ihre Hände bewegten sich auf der Bettdecke, als versuchte sie etwas zu greifen. Sie murmelte etwas. „Gut“, nickte er. „Dann nichts wie raus hier.“ „Kein Dank?“, fragte Schuldig, aber Yoji knurrte nur und schob ihn aus der Tür.   Er hörte bereits, wie eilige Schritte den Flur hinuntereilten. Sie wandten sich zur anderen Seite und hasteten eine Treppe hinunter. Zu ihrem Glück war es immer noch recht früh, sodass sie relativ unbehelligt den Ausgang des Krankenhauses erreichten. Er wollte schon aufatmen, als er eine er einsamen Gestalt gewahr wurde, die auf dem Vorplatz des Krankenhauses stand und ihnen entgegensah. Im dämmrigen Zwielicht waren die Gesichtszüge nicht zu erkennen, aber das war auch nicht notwendig. Er wusste, dass der Mann, der dort mit dem Katana in der Hand auf sie wartete, Aya war. Er hatte seinen Mantel auf den Boden gelegt und die schmale Silhouette verriet Kampfbereitschaft. Yoji blieb stehen und schluckte hart. Jetzt war der Augenblick der Wahrheit gekommen. „Sieh an, dein Lover ist auch hier“, sagte Schuldig gedehnt. „Was für eine Überraschung. Willst du ihm die gute Nachricht überbringen oder soll ich das machen?“ Yoji warf einen Blick auf Schuldig, der sich offenkundig wunderbar amüsierte. Er hoffte, er betete, dass dem arroganten Telepathen das Lachen gleich im Halse stecken bleiben würde. Andernfalls würde er sich wohl mit einem Katana zwischen den Rippen auf dem Boden wiederfinden. Er strafte die Schultern und ging auf Aya zu.   Der andere setzte sich ebenfalls in Bewegung. Zwei einsame Gestalten, die sich auf dem großen Platz wie an einer Schnur aufeinander zu bewegten. Als sie nur noch etwa einen halben Meter voneinander entfernt waren, blieben sie beide stehen. Der Ausdruck auf Ayas Gesicht war schwer zu lesen. Ein Teil der eisigen Maske, die er so lange getragen hatte, war noch vorhanden. Doch da waren kleine Zeichen, die Yoji zu lesen gelernt hatte. Die leichte Änderung in seinem Atemrhythmus, das winzige Zucken in seinem Mundwinkel, das leichte Flattern in seinen Augen. Hoffnung stieg in Yoji auf. Hatte er sich doch nicht geirrt? Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Aya kam ihm zuvor. „Hat er es geschafft?“ Yoji nickte langsam. „Sie ist...sie war gerade dabei aufzuwachen, als wir gingen.“ Zunächst geschah gar nichts. Aya sah ihn einfach nur weiter an. Dann plötzlich trat er einen Schritt vor, schloss die Lücke zwischen ihnen und zog ihn in eine Umarmung. Yoji atmete auf und legte seine Stirn gegen Ayas. „Danke“, flüsterte Aya. „Ich hatte Angst, du hättest es nicht verstanden. Hatte Angst, er würde unseren Plan durchschauen.“ Yoji lachte leise. „Und ich hatte gefürchtet, ich hätte mich geirrt. Dass du mich jetzt in zwei Hälften teilen würdest.“ Aya sah auf. „Niemals“, antwortete er und für einen Augenblick war da eine Wärme in seinem Blick, die Yoji durch und durch ging. Er spürte die Tränen in seinen Augen und schloss sie schnell. Er zog Aya zu sich und neigte den Kopf, um ihn zu küssen. In diesem Moment hörte er Schuldig Stimme hinter sich. „Was soll das? Was ist hier los?“ Yoji drehte sich zu ihm herum. „Siehst du nicht, dass du störst?“, fragte er halb lächelnd, halb ärgerlich. Schuldig funkelte Aya schadenfroh an. „Hat er dir gesagt, was er getan hat? Was ich getan habe?“ Aya nickte. „Er hat genau das getan, worum ich ihn gebeten habe. Er hat dich an meiner Stelle zu meiner Schwester gebracht. Ich bin fast geneigt, mich bei dir zu bedanken, wenn ich nicht genau wüsste, dass du das nur getan hast, um mich und Weiß zu vernichten.“ Schuldigs Gesichtszüge entglitten ihm zusehends. Er sah von einem zum anderen. „Was soll das heißen? Ihr...ihr habt mich...reingelegt?“   Ayas Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln, das Yoji noch nie bei ihm gesehen hatte. „Wenn du nicht so selbstverliebt wärst, hättest du vielleicht gemerkt, was vor sich geht. Aber du hast nur gesehen, was du sehen wolltest. Du wolltest denken, dass Yoji mich verrät. Du wolltest glauben, dass ich mich vor er Einsamkeit fürchten muss. Und vor gar nicht so langer Zeit hättest du damit auch noch Recht gehabt. Das hat es mir einfach gemacht, das zu denken, was du glaubtest, das es in meinem Kopf vorgeht. Eigentlich peinlich, dass du zweimal auf den gleichen Trick hereinfällst. Aber du kennst mich nicht. Ich bin nicht allein. Ich habe Yoji und ich habe meine Freunde. Wir sind füreinander da und passen aufeinander auf. Wir sind ein Team. Derjenige, der sich wirklich vor der Einsamkeit fürchtet, bist du.“ Schuldig war bleich geworden. „Das ist nicht wahr“, fauchte er. „Ich bin nicht allein. Jemand wie ich ist niemals allein. Deine Arroganz ist so was von zum Kotzen, weißt du das?“ „Meine Arroganz?“, fragte Aya und machte ein abfälliges Geräusch. „Ich glaube, du verwechselst da etwas. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir das zwischen uns endlich zum Abschluss bringen.“   Er griff nach seinem Katana und wollte es aus der Scheide ziehen, als Yoji ihn zurückhielt. „Das hier ist der Tag, an dem deine Schwester wieder aufgewacht ist. Wir sollten ihn nicht mit Blutvergießen beginnen. Lass uns einfach zu den anderen gehen. Es war eine lange Nacht und ich sterbe, wenn ich nicht gleich eine rauchen kann und einen Kaffee bekomme. Dann hast du mich auch noch auf dem Gewissen.“ Aya sah ihn an, überlegte einen Augenblick und steckte die Waffe wieder zurück. „Du hast Recht. Lassen wir ihn laufen. Allein ist er keine große Gefahr. Nicht für uns.“   Sie gingen rechts und links an Schuldig vorbei und Yoji ließ es sich nicht nehmen, danach wieder nach Ayas Hand zu greifen. Der runzelte die Stirn und wollte sie ihm wieder entziehen, aber Yoji hielt seine Finger fest. „Ich denke, das habe ich mir verdient. Immerhin habe ich eine Beinahe-Tod-Erfahrung hinter mir. Du sahst echt zum Fürchten aus, wie du da standest mit deinem Schwert. Gönn mir ein bisschen Nähe. Ich habe dich vermisst.“ Aya schüttelte den Kopf, ließ ihn aber gewähren und gemeinsam gingen sie zu Omi und Ken zurück, die immer noch in der Nähe des Eingangs auf sie warteten. „Was ist mit ihm ?“, fragte Omi und wies auf Schuldig. „Ich glaube, seine Welt bricht gerade zusammen“, erwiderte Yoji mit einem Grinsen. „Er kann einfach nicht begreifen, dass wir ihn ausgetrickst haben.“ „Ich eigentlich auch nicht“, sagte Ken und kratzte sich im Nacken. „War ne ziemlich riskante Nummer. Ich hätte nicht gedacht, dass Aya dir das durchgehen lässt. Ich meine, er hat doch gesagt, er will nicht, dass wir herkommen.“ Yoji grinste breit. „Du hättest besser zuhören sollen, Ken. Er hat gesagt, dass Schuldig uns nur helfen würde, wenn er denkt, dass er uns eigentlich schadet. Also musste Aya ihn glauben lassen, dass er eigentlich nicht will, dass seine Schwester aufwacht. Außerdem hat er etwas gesagt, von dem ich wusste, dass es nicht die Wahrheit ist. Das ist wie diese Geheimsprache, die Kinder benutzen. Du sagst ein bestimmtes Wort und danach hat alles, was du sagst, genau das Gegenteil zu bedeuten.“ Omi sah ihn aus großen Augen an. „Ihr habt Schuldig mit einem Kindertrick hereingelegt?“ Yoji zuckte mit den Schultern. „Hat doch funktioniert. Liegt wahrscheinlich daran, dass dieser Bastard nie ein Kind war. Und wenn doch, dann bestimmt ein ganz schreckliches Balg.“ Er grinste und platzierte einen Kuss auf Ayas Lippen, bevor dieser sich dagegen wehren konnte. Der schob Yoji von sich weg und boxte ihm in die Seite. „Lass das, was sollen die anderen denn denken.“ „Na das, was sie sowieso schon denken. Dass niemand der unglaublichen Sexiness von Yoji Kudo widerstehen kann. Nicht einmal Mister Aya ich bin ein Eisblock Fujimyia.“   Omi lachte auf und Ken gab ein eigenartiges Geräusch von sich. „Ich glaube, an den Gedanken muss ich mich erst noch gewöhnen“, murmelte er und betrachtete seine Schuhe, als wären sie das achte Weltwunder. „Ich meine, ihr beide...das ist wie...wie...“ „Kaffee und Zigaretten“, sagte Yoji. „Hä?“ Ken sah ihn verständnislos an. „Ich brauche jetzt Nikotin und Koffein, sonst breche ich zusammen“, erklärte Yoji mit einem Augenzwinkern. Ken lächelte schief. „Okay. Obwohl ich nicht...ich meine...es ist ja nicht...aber ich...“ Er wurde rot bis über beide Ohren. „Ich dachte nur immer, du magst keine Männer.“ Yoji überlegte, ob er darauf antworten sollte. Nicht etwa, weil es etwas mit Aya und ihm zu tun hatte, sondern weil es etwas über ihn selbst preisgab, von dem er es sich erst seit Kurzem bewusst war. Die Erkenntnis war neu und kostbar, aber er hatte das Gefühl, dass sein Freund eine ehrliche Antwort verdiente. „Ich habe Männer gehasst, weil ich einem von ihnen nicht vergeben konnte, was er getan hat. Von dem ich glaubte, dass er es getan hatte. Ich habe versucht, seine Schuld wieder gutzumachen. Inzwischen habe ich verstanden, dass es dabei nicht um Männer oder Frauen ging, sondern nur um zwei bestimmte Personen. Jeder ist ein eigener Mensch und Menschen machen nun mal Fehler. Es ist ungerecht, andere dafür büßen zu lassen, was einer von ihnen einem angetan hat. Und irgendwann ist es auch an der Zeit loszulassen. Sich selbst zu vergeben und weiterzugehen.“   Als er die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm plötzlich bewusst, dass Ken in einer ganz ähnlichen Lage war. Er hatte Kase nie verzeihen können, was er ihm angetan hatte und selbst die Tatsache, dass er sich inzwischen gerächt und seinen ehemals besten Freund getötet hatte, hatte nicht dazu geführt, dass er die Sache vergessen und vergeben konnte. Dafür brauchte es Zeit und vielleicht auch jemanden, der einem dabei half. Er gab Ken einen kleinen Stupser gegen die Schulter. „Lass es für heute gut sein, Ken. Wenn du mal über was reden willst, dann machen wir das, wenn wir beide betrunken genug dafür sind, okay?“ „Gute Idee“, antwortete Ken nicht sehr überzeugt. „Es ist nur...diese ganze Sache mit Schuldig. Ich habe das Gefühl, dass ich mehr hätte tun müssen. Dass ich...“ Seine Stimme erstarb und er zuckte hilflos mit den Schultern. Yoji sah ihn ernst an. „Ich weiß, was du meinst. Dir muss klar sein, was immer auch Schuldig mit dir gemacht hat, war allein seine Schuld. Der Mann ist ein Telepath, Ken. Wenn er gewollt hätte, wärst du wahrscheinlich nackt auf einem Esel durch Shinjuku geritten und er hätte sich dabei ins Fäustchen gelacht. Von daher sollte er sich schon mal warm anziehen, denn wenn ich ihm das nächste Mal begegnen, wird es keine Gnade geben. Niemand vergreift sich ungestraft an meiner Familie.“ Er warf sich übertrieben in die Brust und bemühte sich um eine möglichst heldenhafte Positur. Auf Kens Gesicht erschien, wie er gehofft hatte, ein kleines Lächeln. Er verdrehte die Augen und boxte Yoji vor die Brust, sodass er wieder in sich zusammenfiel.   „Familie?“, mischte sich Omi ein und grinste breit. „Dabei fällt mir ein, dass ich Ken unbedingt noch die Fotos zeigen muss, die ich heimlich von dir geschossen habe. Die mit den gefärbten Haaren.“ Yoji fühlte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich. „Davon gibt es Fotos? Vergiss, was ich gerade gesagt habe. Ich enterbe dich, du undankbares Exemplar von einem Sohn!“ Aya räusperte sich und sah Omi eindringlich an. Der grinste nur noch breiter und schüttelte den Kopf. „Ihr werdet nie rauskriegen, wo ich die gespeichert habe. Also seit in Zukunft vorsichtig. Wenn ihr nicht spurt, könnte es sein, dass ich den Fangirls das eine oder andere Bild zukommen lasse.“ Er wurde wieder ernst. „Wir müssen uns mit Kritiker in Verbindung setzen. Unsere Tarnung ist aufgeflogen. Ich fürchte fast, wir müssen den Laden räumen. Obwohl Schwarz uns vermutlich ohnehin finden wird, wenn sie wollen. Aber da ist ja auch noch Ayas Schwester. Was wird mit ihr? Wirst du sie wiedersehen?“ Aya schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Ich muss...nachdenken.“ „Ja aber bitte nicht jetzt und nicht hier“, warf Yoji entschieden ein. „Wirklich Leute, ich brauche jetzt irgendwas zum Aufbauen.“ In diesem Moment knurrte Kens Magen vernehmlich. Omis Gesicht hellte sich auf. „Hier in der Nähe gibt es ein Café, das die ganze Nacht geöffnet hat. Lasst uns dahin gehen. Ich sterbe auch gleich vor Hunger.“ Yoji lachte und klemmte sich Omi unter den einen und Ken unter den anderen Arm, während Aya ihnen mit einem letzten Blick zum Krankenhaus folgte. Niemand sah zurück zu der einsamen Gestalt, die immer noch auf dem Vorplatz des Krankenhauses stand und nicht wusste, wohin sie gehen sollte.           Schuldig stand mit gesenktem Kopf auf dem Vorplatz des Krankenhauses. Er konnte es immer noch nicht wirklich glauben. Sie hatten ihn geschlagen. Die erbärmlichen Weiß hatten ihn tatsächlich geschlagen. Ihn! Mastermind! Er fühlte den Wunsch in sich aufsteigen, ihnen die Gedärme mit bloßen Händen herauszureißen. Dann aber verwarf er den Gedanken wieder. Das war nicht sein Stil. Er hob den Kopf und straffte sich. Da standen sie, lagen sich in den Armen, feierten ihren kleine Sieg. Diese Ignoranten. Ihr Triumph würde nicht von langer Dauer sein. Er würde zurückkommen und sich bitterlich rächen. Aber zunächst einmal musste er hier weg. Selbst er wusste, dass er an dieser Stelle, geschwächt, allein und ohne Plan, nichts gegen sie würde ausrichten können. Er musste neu Stellung beziehen. Ein taktischer Rückzug und nicht etwa eine Flucht, nach der es für einen ignoranten Beobachter vielleicht aussehen mochte. Er fürchtete die Kätzchen nicht. Wenn es jemanden gab, den man fürchten musste, dann war er es. Schließlich setzte er sich in Bewegung. Er wusste nicht wirklich, wo er sich befand, aber wozu gab es Taxifahrer? Er ließ einen Wagen anhalten und nannte dem Fahrer eine Adresse. Er wusste nicht, ob sie dort sein würden, aber es war die naheliegendste Vermutung. Wenn nicht, würde er zumindest alles vorfinden, was er benötigte. Er schloss die Augen, als das Taxi sich in Bewegung setzte. Er wollte die Welt da draußen nicht sehen.   Der Wagen hielt vor dem Apartment und er wusste in dem Moment, in dem er ausstieg, dass sie da waren. Zumindest zwei von ihnen. Sein Blick wanderte an dem Apartmentgebäude nach oben und fand das Fenster, das sein helles Licht zu ihm herunter schickte. Er zögerte, bevor sich ein Gedanke in seinem Kopf formte. Was, wenn der Mistkerl das alles geplant hatte? Er würde ihm höchstpersönlich seine verdammte Knarre an den Kopf halten und ihn fragen, was er wohl für die nächste Zeit für sich voraussah. Mit einem entschlossenen Gesicht drückte er auf den Klingelknopf. Es dauerte nicht lange, bis der Summer betätigt wurde. Keine Fragen. Das bestätigte seine Theorie. Wütend wartet er auf den Aufzug und erging sich in Fantasien, Crawford mit seiner eigenen Krawatte zu strangulieren.   Er hatte das Apartment kaum erreicht, als sich die Tür bereits öffnete. Er trat ein und sah gerade noch, wie der amerikanische Mistkerl im Arbeitszimmer verschwand. Ohne lange zu überlegen, folgte Schuldig ihm. „Ich bin wieder da“, sagte er überflüssigerweise. Crawford nickte und zeigte auf einen der Stühle, während er selbst hinter dem Schreibtisch Platz nahm. Schuldig konnte kaum an sich halten, die Gedanken seines Gegenübers zu lesen. „Lass es und setz dich“, sagte Crawford. Er seufzte. „Ich habe einen Fehler gemacht.“ Schuldigs Augen wurden groß. Dass Crawford so etwa zugab, kam in etwa...nie vor. „Einen Fehler?“, schnarrte er. „Vielleicht den, dass du mich bei diesen unsäglichen Weiß allein zurückgelassen hast?“ Crawfords Mundwinkel zuckten leicht. „Nein, das meine ich nicht. Ich habe die Sache einfach nicht ernst genug genommen. Ich meine, es ging um Weiß. Keiner von ihnen war nachweislich wichtig.“ „Und was meinst du dann?“ Schuldigs nicht unbedingt sprichwörtliche Geduld neigte sich dem Ende entgegen. Er was müde und hungrig, hatte eine beschissene Nacht gehabt und überhaupt keine Lust mehr, Spielchen zu spielen. „Ich hätte in Betracht ziehen sollen, was das Ganze mit dir macht. Du bist zu hoch geflogen, der Sonne zu nahe gekommen. Als ich das gemerkt habe, wollte ich es beenden, aber ich hatte den Zeitpunkt verpasst. Es war bereits eine Entwicklung in Gang gesetzt worden, die ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aufhalten konnte.“ „Eine Vision?“ Crawford nickte bedächtig. Schuldig spürte erneut den Drang in sich, die Informationen einfach aus dem Kopf des anderen Mannes herauszuholen, aber er wusste, dass er das nicht durfte. Zähneknirschend wartete er, dass Crawford weitersprach.   „An dem Tag, als du Siberian aus dem Keller geholt hast, kam Nagi zu mir. Er bat mich, die Sache zu beenden. Nachdem ich gehört hatte, wie du dich ihm gegenüber verhalten hast, war ich geneigt, der Bitte nachzugeben. Ich griff nach meiner Waffe, um das Problem aus der Welt zu schaffen, als mich die Bilder trafen.“ Crawford war außergewöhnlich ernst. Schuldig entschied sich, ganz entgegen seiner Gewohnheit zu schweigen. Als Crawford nicht weiter sprach, ließ er sich zu einem „Was für Bilder?“ hinreißen. „Eine neue Weltordnung unter der Herrschaft von SZ. Es war...faszinierend, grausam, durchgeplant, eine weltweite Diktatur, an deren oberster Spitze drei alte Affen saßen, die die Realität in ihren Händen hielten und sie nach Belieben neu formen konnten.“ „Und wir?“ „Schwarz hat in dieser Welt nicht mehr existiert.“   Die Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Schuldig hatte das Gefühl, dass er etwa zu trinken brauchte. „Hast du herausgefunden, wie es dazu kam?“ Crawford schüttelte den Kopf. „Nicht genau. In dem Moment, als ich es sah, war der Beschluss, den Weiß zu töten, nichtig geworden. Ich ahnte, dass die Sache aus dem Ruder laufen würde, aber das es notwendig sein würde, um Schwarz zu retten.“ „Alle von uns?“ Die Frage war aus Schuldigs Mund geschlüpft, ehe er es hatte verhindern können. Crawfords Miene verriet keinerlei Regung. „Es war ungewiss, wie es ausgehen würde.“ Schuldig lächelte dünn. „Ich hätte also wirklich sterben können und du hättest es zugelassen?“ „Es gab keinen Weg, auf dem ich dir hätte helfen können. Es musste von dir ausgehen.“ Crawford lehnte sich zurück. „Die Zeit hat die Angewohnheit, unsere Fehler auszubügeln. Dinge, die geschehen müssen, geschehen früher oder später. Manchmal sind wir in der Lage, die Art und Weise zu beeinflussen, aber im Großen und Ganzen sind wir ihrem Treiben recht hilflos ausgeliefert.“ „Das klingt pessimistisch für ein Orakel.“ „Ich sagte nicht, dass sich nicht ein Nutzen aus dem Wissen darum ziehen lässt. Und dass es nicht Wege gibt, sich mit dem, was geschehen muss, zu arrangieren.“ „Und welchen Nutzen ziehen wir daraus, dass ich Abyssinian geholfen habe, seine Schwester wieder aufzuwecken? Ich meine, es war eine interessante Erfahrung, aber wo liegt der Vorteil für uns?“   Crawford sah auf seinen Schreibtisch und begann in einigen Unterlagen zu blättern. Schuldig wusste nicht, ob er ihm auswich oder tatsächlich nach einer Antwort suchte. Schließlich hatte er einige Blätter herausgesucht und legte sie sorgfältig vor sich auf den Tisch. „Meinen Informationen zufolge hat Eszett in Tibet irgendwelche uralten Schrifttafeln aufgespürt, mit denen man Geister aus der Vergangenheit beschwören und in einen neuen Körper transferieren kann. Sie wollen dieses Ritual durchführen, um unendliche Macht und Unsterblichkeit zu erreichen. Allerdings benötigen sie dafür noch ein geeignetes Gefäß. Einen menschlichen Körper, der dem alten Führer als neue Heimat dienen soll.“ Schuldig überlegte einen Augenblick. Das Bild einer weiten Ebene strich durch seine Erinnerungen. Viel Platz für einen großen Geist. Ihm kam ein Verdacht. „Du meinst, sie wollen dieses Mädchen? Nun, da werden wir sie wohl enttäuschen müssen. Was immer diese Göre auch besonders gemacht hat, sollte sich heute Nacht in Luft aufgelöst haben.“ Crawford lächelte leise. „Sie werden nach einem Ersatz suchen müssen, aber ich bezweifele, dass sie einen finden werden, bevor die Zeit für das Ritual gekommen ist. Aber sie können es ja in 800 Jahren noch einmal versuchen.“ Schuldig blinzelte ein paar Mal, dann begann er zu lachen. Er lachte und lachte, bis ihm die Tränen kamen. Er wischte sich über die Augen und gluckste: „Ich wusste nicht, dass und so witzig sein kannst.“ Crawford teilte seinen Heiterkeitsausbruch nicht. „Du hast noch einiges aufzuarbeiten. Wir werden uns Eszett trotz allem stellen müssen. Die Führung duldet kein Versagen, das weißt du. Sie werden keine Ruhe geben und sie zu täuschen wird nicht einfach werden. Dafür ist es notwendig, dass Schwarz als Team zusammenarbeitet. Haben wir uns verstanden?“ Schuldig machte eine wegwerfende Geste. „Ja ja, schon verstanden. Was willst du machen? Teambildungsmaßnahmen? Gemeinsam Campen gehen oder so was?“ „Dir wird etwas einfallen“, antwortete Crawford. „Mir?“ Crawford hob eine Augenbraue. „Du hast uns den Schlamassel schließlich eingebrockt. Also setzt dich auf deinen Hintern und arbeite daran, es wieder auszubügeln. Aber zunächst einmal müssen wir Farfarello wieder einfangen. Nachdem du ihn nicht mehr beaufsichtigt hast, ist er allein auf einen Kreuzzug gegen Gott gegangen. Wir müssen ihn zurückholen.“ „Oh, mal was ganz Neues. War das alles?“ „Du weißt, was du zu tun hast.“ Schuldig seufzte. „Nagi. Alles klar. Ich hätte nicht...ach egal.“ Crawford schob seine Brille auf dem Nasenrücken nach oben. „Er ist stärker geworden dadurch. Wir brauchen ihn stark, wenn wir uns Eszett entgegenstellen wollen.“ Schuldigs Augen wurden schmal. „Du hast das doch alles geplant. Du wusstest, dass es so ablaufen würde.“ Crawfords Gesicht verriet nichts. Schuldig starrte ihn noch einen Augenblick lang an, dann sprang er auf und warf dem Mann hinter dem Schreibtisch einen bösen Blick zu „Fein. Spiel weiter das geheimnisvolle Orakel. Mir egal.“       Schuldig verließ den Raum und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Crawford atmete innerlich auf. Gut. Er hatte Schuldig erfolgreich auf eine falsche Fährte geführt. Indem er einen Fehler zugegeben hatte, hatte er Schuldig davon abgelenkt, dass sein eigentlicher Fehler schon viel früher stattgefunden hatte. Er sah noch die Flammen vor sich, die Masafumi Takatoris Villa verschlungen hatten. Crawford hatte gewusst, dass Schreient noch am Leben war und wie er sie retten konnte. Er hätte nur Nagi damit beauftragen müssen, die brennenden Trümmer aufzuhalten, um die Frauen daraus hervorzuholen. Der Junge hätte mit Freuden gehorcht. Aber Crawford hatte es nicht getan. Er hatte gedacht, er könnte so den Zerfall des Teams aufhalten, den er durch den Loyalitätskonflikt ihres jüngsten Mitglieds vorausgesehen hatte. Also hatte er Schreient sterben lassen. Ein Fehler, wie sich herausstellte. Sie waren der entscheidende Faktor gewesen, der Schuldig davon abgehalten hätte, sich dem Spiel mit Weiß in diesem Ausmaß zuzuwenden. So hatte Crawford statt Nagi Schuldig an das Schicksal verloren. Und wie es Schuldigs Art war, war er bei seinem Fehlschlag gründlicher gewesen, als Nagi es je hätte sein können. Großes Drama, wie üblich.   Er lehnte sich auf den Schreibtisch, schloss die Augen und legte die Hände an die Schläfen. Es gab so vieles, was er bedenken musste. So viel, was schiefgehen konnte. Manchmal empfand er seine Gabe, all dies zu sehen, eher als einen Fluch. Er hatte die Wahrheit gesagt, als er Schuldig erklärt hatte, dass vieles geschehen musste. Man konnte den Zeitpunkt beeinflussen, aber nicht die Geschehnisse an sich. Pfuschte man zu viel daran herum, wehrte sich das Schicksal, die Zeit oder wie auch immer man es nennen wollte. Das war einer der Gründe, warum er so selten über das sprach, was er sah. Die Menschen neigten dazu, sich gegen das Unvermeidliche aufzulehnen. Vor allem Leute wie Schuldig. Der Mann war gut, überaus talentiert, aber immer ein Risiko. So war es schon gewesen an dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal trafen, und so würde es bleiben, bis einer von ihnen irgendwann starb.   Er seufzte, öffnete die Augen wieder und sah in seinen Terminkalender. Ein Treffen mit diesem Musiker heute Nachmittag. Also schön. Der Mann hatte großes Potential, auch wenn er ihn bei einem ersten Treffen als eitel und überheblich empfunden hatte. Aber waren sie das nicht alle? Die Leute, die glaubten, die absolute Macht in Händen zu halten. Crawford hatte seine Lektion gelernt. Er hatte versucht, das Schicksal zu ändern; war wie alle anderen darauf hereingefallen, dass sein Wissen ihm die notwendige Fähigkeit dazu verlieh. Diesen Fehler würde er nicht noch einmal begehen.   Er blätterte im Kalender und sah sich die nächsten Tage an. Da war dieser Anwalt, Kinugawa. Er war ein interessanter Fall. Er setzte gefährliche Verbrechen auf freien Fuß und heizte so die Stimmung zusätzlich an. Nützlich. Und vermutlich ebenso überheblich wie alle anderen, denen er sich bediente. Aber lange würde es nicht mehr dauern, dann würden sie endlich an den Punkt gelangen, von dem er und Schwarz schon immer geträumt hatten. Eine Welt im Chaos, in der nur noch der Stärkere überlebte. Es lag in der menschlichen Natur, dem Ruf nach Anarchie und Gewalt zu folgen, wenn man die Unzufriedenheit und die Angst nur weit genug anfachte. Alles, was es dann noch brauchte, war ein kleiner Stoß in die richtige Richtung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)