Freunde mit gewissen Vorzügen von Maginisha ================================================================================ Kapitel 15: ------------ Er saß am Boden und wartete. Das tat er oft, wenn er hier war. Hier gab es keine Zeit, keinen Raum, nur die Stille und seine Gedanken. Zur Bewegungslosigkeit verdammt, war er gezwungen innezuhalten, zu rasten, zu ruhen. Manchmal blieb er stehen, den festen Stoff um seinen Körper gewickelt wie einen Schutzpanzer. Er nahm ihm die Entscheidung ab, ob er etwas tun sollte oder nicht. Er konnte nichts tun. Er blieb stehen, bis irgendwann seine Beine unter ihm nachgaben und er fiel. Dann blieb er liegen. Er spürte den Schmerz nicht, der andere vor der Erschöpfung gewarnt hätte. Deswegen hatte Schuldig gesagt, dass er sich setzen sollte. Heute Nacht würden sie jagen gehen. Er mochte es, wenn sie das taten. Sie hatten bereits zusammen gejagt. Schuldig war ein guter Jäger.   Sie hatten die Lämmer gejagt, die sich hinter ihrem Gott zu verstecken suchten. „Glaubst du an Gott?“, hatte er sie alle gefragt und sie hatten genickt. Aber als er ihnen sagte, dass er sehen wolle, ob Gott ihnen antworte, wenn sie ihn um Hilfe baten, hatten sie geschrien. Er hatte sie zur Schlachtbank geführt, so wie Gott es mit seinem eigenen Sohn getan hatte. Sie hatten ihre Schreie zum Himmel geschickt, doch ihr Hirte war nicht erschienen, um sie zu retten. So hatte der Wolf die Lämmer gerissen und war mit vollem Bauch in seine Höhle zurückgekehrt. Es gab keinen Gott, der sie hätte retten können.   Er hörte, wie sich die Schlüssel im Schloss drehten. Die Tür öffnete sich. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, wer dort kam. Die Schritte hatten es ihm bereits verraten. Leicht, weit ausgreifend, federnd. Er ging immer wie ein König, ein Löwe. Ein Löwe, der mit dem Schweif seine Spuren verwischte. Der seine Mähne schüttelte und brüllte, wenn man ihm nicht genug Respekt zollte. Der seine Krallen in weiches Fleisch versenkte und diejenigen zerriss, die sich ihm in den Weg stellten. Der jagte, um seine Macht zu beweisen. Der tötete um des Vergnügens willen und nicht um zu fressen. Der Gott verletzte, indem er mehr nahm, als er benötigte. Der Gottes Gaben verschwendete und sie in den Schmutz zog. Ein guter Gefährte.   „Hey, Farfarello. Es wird Zeit.“   Schuldig begann die Schnallen, der Zwangsjacke zu öffnen. Mit jedem Handgriff kam ein Stück Freiheit zurück. Die Freiheit sich zu bewegen. Die Freiheit, zu laufen. Die Freiheit zu jagen. Er lächelte. „Aufgeregt?“ Schuldig zwinkerte ihm zu. „Du wirst nicht mehr lange warten müssen. Nagi hat gesagt, er hat sie gerade gesichtet.“   Nagi. Der Junge. Der Zögling. Die Schlange, die sich noch nicht gehäutet hatte. Sie log, sie manipulierte, sie war schlau. Aber sie hatte ihr volles Potential noch nicht erreicht. Sie wartete noch auf den rechten Augenblick, um sich zu zeigen und sich der Jagd anzuschließen. Er war sich nicht sicher, ob sie jagen würde. Sie war genügsam, zufrieden, wenn man sie in Ruhe ließ. Sie würde wachsen und irgendwann die Welt umschlingen in ihrem Würgegriff. Vielleicht würde er ihr zeigen müssen, wie man jagt.   Er hob seinen Kopf, um Schuldig an den Reißverschluss zu lassen, der die Jacke vor seiner Brust verschloss. Sein einzelnes Auge fixierte den Mann vor sich.   „Was hat Crawford gesagt?“   Crawford, der Adler, der König der Lüfte. Der Adler kämpfte nur selten. Jagte nur, wenn es notwendig war. Er beschützte diejenigen, die ihm würdig erschienen, doch seine Auswahl war sehr begrenzt. Denn seine Augen sahen alles. Alles. Er hatte Farfarello aus den Tiefen empor gehoben, in die Gott ihn geworfen hatte. Der Adler hatte ihn befreit und daher jagte er für ihn. Für ihn und für die Rache. Die Rache an Gott, der ihm alles genommen hatte.   Schuldig schnaubte. Die beiden Könige kämpften manchmal um die Vorherrschaft. Der Löwe mochte es nicht, wenn man ihm zu viel vorschrieb. Aber er wusste, dass der Adler aus der Luft den besseren Überblick hatte. Deshalb beugte er das Haupt und ließ zu, dass der Adler ihm sagte, was er zu tun hatte. Der Adler kontrollierte auch die Schlange, die sich in seinen Klauen wand. Und er hatte den Wolf in Ketten gelegt, damit dieser nicht nach Gutdünken unter den Schafen wilderte. Aber in dieser Nacht war er frei. In dieser Nacht würde er jagen. Aber nicht nach Schafen. Diese Nacht bot eine andere Beute.   „Er hat gesagt, es geht in Ordnung. Und das übliche Blahblah. Du kennst ihn ja.“   Schuldig löste die Riemen an seinen Beinen und machte ein paar Schritte auf die Tür zu. Als Farfarello ihm nicht folgte, drehte er sich noch einmal um.   „Na los, komm schon. Ich werde dich garantiert nicht tragen.“   Farfarello legte den Kopf schief.   „Ah-ah. Auf keinen Fall. Dein Gott hat dir zwei gesunde Beine gegeben, als benutze sie auch.“   „Würde es Gott verletzten, wenn ich es nicht tue?“ „Es würde vor allem mich verletzten. Wenn du also deinen gedanklichen Ausflug in Brehms Tierleben beendet hast: Lass uns ein paar Kätzchen fangen gehen.“   Farfarello folgte Schuldig langsam. Der war ausgesprochen guter Laune. Außerdem schien er Gefallen an diesem fremdartig klingenden Wort gefunden zu haben. Vermutlich aus seiner Muttersprache. Kätzchen. Farfarello lächelte. Ja, bestimmt würde es Spaß machen, den Kätzchen die Krallen zu ziehen.             Feiner Regen hing wie ein Vorhang über den Straßen. Er ließ die Luft kälter wirken, als sie eigentlich war, und trieb die Menschen in ihre Häuser. Irgendwo in der Ferne grollte leiser Donner. Die Steine unter seinen Stiefeln glänzten, waren rutschig von der allgegenwärtigen Feuchtigkeit, die durch das alte Gemäuer kroch. Ein verfallener Zaun hatte sie nicht am Eindringen in das verwilderte Grundstück gehindert, das wohl einst einen kleinen Garten beinhaltet hatte. Jetzt wuchsen hier nur noch dürres, gelbes Gras und ein paar aus der Form geratene Thujas, die sich schlichtweg geweigert hatten einzugehen. Abyssinian gab Siberian ein Zeichen, sich nach einem Seiteneingang umzusehen. Er selbst ging auf die schwere, hölzerne Vordertür zu. Dunkle, metallene Beschläge hielten das Holz an seinem Platz, während die Mauern um sie herum zusehends verfielen. Gelber Backstein, der Wind und Wetter zu lange getrotzt und schließlich verloren hatte. Er legte seine Hand auf die Tür und drückte. Die Tür klemmte und er legte mehr Kraft in die Bewegung. Mit einem gequälten Geräusch gab sie schließlich seinem Wunsch nach und öffnete sich. Von drinnen schlug ihm ein modriger Geruch entgegen. Steine, faulendes Holz, mit Stockflecken bedeckter Stoff und eine Nuance, die er nicht einordnen konnte. Vielleicht etwas, das mit dem ursprünglichen Verwendungszweck des Ortes zusammenhing. In all diese Eindrücke mischte sich jedoch noch etwas anderes, dass er nur allzu oft gerochen hatte. Ein Gestank von Verwesung, geronnenem Blut und Tod. Er wusste sofort, dass sie den Ort gefunden hatten, wo die Opfer getötet worden waren.   Die Bankreihen in der steinernen Halle waren nicht mehr vollständig. Einige lagen zertrümmert an Ort und Stelle, einige fehlten, andere wiederum sahen aus, als könnten jederzeit Gläubige auf ihnen Platz nehmen. Ein näherer Blick hingegen zeigte, dass der Schein trog. Das Holz war alt und feucht, ebenso marode wie das Bauwerk um sie herum. Der einstmals rote Teppich, der sich zwischen den Bänken spannte, war dunkel vor Feuchtigkeit und voller Löcher.   Er trat zwischen die Sitzreihen und ließ den Blick schweifen. Neben dem zentralen Sitzbereich gab es zwei Säulengänge die rechts und links zum Altarraum führten. Über dem Eingang der Kirche lag eine größere Empore, die über eine steile Treppe betreten werden konnte. Große, mit Querstreben verbundene Metallröhren ragten dort in die Höhe und er vermutete, dass sich dort oben eine Orgel befand, wie man sie in solchen Gebäuden zur musikalischen Begleitung benutzte. Er erinnerte sich, vor lange Zeit einmal das Spiel eines solchen Instruments vernommen zu haben. Es war ihm laut und düster vorgekommen und die Kirche, in der sie sich befunden hatte, viel zu kalt.   Ein Scharren von Füßen auf dem steinernen Boden ließ ihn herum fahren. Er entdeckte Siberian, der vorne im Altarraum stand. Er hatte den Blick auf etwas gerichtet, das ihn augenscheinlich entsetze. Mit wenigen, schnellen Schritten war Abyssinian bei ihm. „Was ist?“, wollte er wissen, obwohl er im Grunde nicht fragen musste. Der Geruch nach Blut und Tod war hier vorne nur umso stärker.   Hinter dem steinernen Altar war das hölzerne Kreuz, das vormals an der Wand gehangen hatte, aufgebahrt worden. Die Figur, die daran befestigt war, hing mit dem Gesicht nach unten, während drei aufgeklappte Ständer das Kreuz zu einer Art perversem Tisch werden ließen. Das Holz war am Fußende und den beiden Querstreben voller Löcher. Dort mussten die Opfer befestigt worden sein, ebenso wie es die Figur auf der Rückseite zeigte. Kratzer überzogen das restliche Holz. Kratzer und dunkle Spuren eingetrockneten Blutes, das auf dem Boden nur nachlässig entfernt worden war und Übelkeit erregende, verwischte Spuren hinterlassen hatte.   „Er muss sie hier getötet haben“, verbalisierte Siberian unnötigerweise das Offensichtliche. „So ein Monster.“ „Gibt es irgendwelche weiteren Hinweise?“ Seine Stimme klang hohl in der steinernen Halle, sein Atem wurde in der Kälte der Nacht sichtbar. „Einbruchsspuren ja, aber ich weiß nicht, wie alt sie sind. Möglicherweise hat jemand schon vorher die Sakristei ausgeräumt, wenn denn dort überhaupt noch etwas zu holen war. Es sieht aus, als hätte jemand danach noch darin randaliert. Einige Bruchkanten der Schränke sind frischer als andere. Aber keine Hinweise auf den Verbleib des Täters.“ „Wir werden warten. Ich beziehe Stellung oben auf der Empore.“ „Gut, ich werde mich im Beichtstuhl verstecken.“ Siberian lachte, als er das sagte. Abyssinian sah ihn fragend an. „Es ist...ein Ort, um seine Sünden Gott anzuvertrauen. Um Vergebung zu erlangen. Ich glaube, ein unpassenderes Versteck kann es für mich nicht geben.“ Er grinste und ging zu einem hölzernen Kabinett an der Seite der Kirche. Schwere, stockfleckige Vorhänge schirmten den Innenraum vor neugierigen Blicken ab. Abyssinian bedachte die Konstruktion mit einem nachdenklichen Blick und machte sich dann daran, die abgetretenen Stufen zur Empore emporzusteigen.   Das morsche Holz knarrte und ächzte unter seinen Schritten und er trat unwillkürlich vorsichtiger auf. Auch die schweren Holzdielen, aus denen die Empore gefertigt worden war, protestierten gegen den Eindringling. Er wagte es nicht, sich weit auf die Fläche hinaus zu begeben, aus Angst, sie könnte unter ihm einbrechen. So bezog er in der Nähe der Treppe Position hinter der Balustrade. Er ließ sich gegen einen der dicken Treppenpfosten sinken und richtete den Blick starr auf die kleine Tür, durch die der Täter vermutlich kommen würde, wenn er denn überhaupt kam. Er hatte kurz vor Aufbruch noch einmal mit Balinese diskutieren müssen, ob es nicht sinnvoller wäre, Kameras zu installieren. Aber sie konnten nicht riskieren, dass sie zu spät kamen, um das nächste Opfer zu retten. Oder den Täter zu schnappen, obwohl sich dieser anscheinend immer viel Zeit damit ließ, seine Opfer zu quälen. Obwohl die Idee nicht schlecht gewesen war, hatte er sie rüde abgeschmettert. Die Ausrüstung zu besorgen hätte noch einmal Zeit gekostet. Er hatte genug Zeit verschwendet. Mit einem Seufzer ließ er sich zurücksinken und wartete.   „Bombay hier. Status?“ Die Stimme in seinem Ohr ließ ihn auffahren. Verdammt, es wäre seine Aufgabe gewesen, diese Abfrage zu machen. Er hatte sich zu sehr ablenken lassen. „Siberian hier. Wir haben den Tatort gefunden und sind in Stellung.“ Bombays Stimme war leise. „Die Veranstaltung hier ist gleich zu Ende. Ich habe niemand entdecken können, der auf eure Beschreibung passt. Mach dich bereit, Balinese, falls er sich draußen ein Opfer sucht.“ „Balinese verstanden. Over.“ Abyssinian überlegte, ob er noch etwas sagen sollte, ersparte sich aber die unnötigen Worte. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Jeder war an seinem Platz. Eine Mission wie jede andere. Geordnet. Planbar. Nicht so wie das, was momentan in seinem restlichen Leben loswar. Ohne sein Zutun wanderten seine Gedanken zum gestrigen Tag.     Er war es gewohnt, auch an Sonntagen früh aufzustehen. Meist trainierte er nach einer leichten Mahlzeit lange; länger, wenn er nicht mit der Wäsche dran war oder im Laden arbeiten musste. Er duschte, zog sich um, erledigte die anfallenden Arbeiten, ging Aya besuchen, kam nach Hause, las, ging schlafen. Alles geregelt und ohne Überraschungen. Doch diesen Sonntag...   Allein in Yojis Bett aufzuwachen, den blonden Mann neben sich in der Bettdecke eingerollt, sodass nichts Wichtiges verdeckt war, war etwas gewesen, dass seine kleine Sonntags-Welt in den Grundfesten erschüttert hatte. Die Tatsache, dass er den Impuls gehabt hatte, sich gleich wieder auf ihn zu stürzen, war auch nicht eben hilfreich gewesen. Sie hatten es immerhin bis nach dem Frühstück geschafft, das aus eher zufälligen Fundstücken in Yojis Schränken bestanden hatte, die Finger voneinander zu lassen. Dann war das Frühstücksgeschirr mit ziemlicher Heftigkeit vom Tisch gefegt und durch einen nach Luft schnappenden Wohnungsinhaber ersetzt worden. Anschließend hatte er geduscht, aber Yoji hatte die Tatsache, dass er vergessen hatte, abzuschließen, als Einladung verstanden. Die Rechnung für die anschließende Wasserschlacht wollte er lieber nicht sehen. Sicher, dass seine niederen Triebe nun endlich befriedigt waren, hatte er es gewagt, nur mit einem Handtuch bekleidet das Schlafzimmer zu betreten. Yoji hatte anzüglich gegrinst, ihn aber in Ruhe gelassen. Er hatte sich vor das Problem gestellt gesehen, keine frischen Sachen mitgenommen zu haben. Die Übernachtung war nicht geplant gewesen. „Bedien dich ruhig“, hatte Yoji gesagt und auf seinen Schrank gezeigt. „Aber glaub nicht, dass ich dir ein Fach freiräume oder eine zweite Zahnbürste kaufe.“ Er hatte genickt und sich aus der Flut von untragbarer Kleidung eine dunkle Jeans, ein weißes T-Shirt und eine fast neue, graue Sweatshirtjacke herausgesucht. Die Tatsache, dass die Sachen ganz unten im Schrank in eine Ecke gequetscht gewesen waren, war ein Hinweis gewesen, dass Yoji sie quasi nie trug. Die Jeans war ein wenig zu lang gewesen, sodass er sie hatte umkrempeln müssen. Yoji hatte auf dem Bett gelegen und ihm zugesehen. „Du bist sogar in Lila sexy“, hatte er gesagt. Ein Blick auf die Jeans hatte ihm bestätigt, was er bereits befürchtet hatte. Im Sonnenlicht hatte der Stoff tatsächlich einen leichten Violettstich gehabt. Das hatte erklärt, warum sie unbeachtet herum gelegen hatte. Ihm war jedoch nicht genug Zeit geblieben, sich über die unglückliche Wahl Gedanken zu machen, da das Kleidungsstück kurz darauf wieder in die Ecke geflogen war. Als sie endlich wieder aus dem Bett gekommen waren, war es bereits Zeit für ein sehr spätes Mittagessen gewesen. An diesem Punkt hatte er sich endlich zusammengerissen und war gegangen. Er hatte nur schnell im Koneko vorbeigeschaut, da es auf dem Weg lag und er noch ein paar Blumen hatte holen wollen. Ken und Omi hatten den Laden am Vormittag alleine geöffnet und bereits wieder geschlossen. Als er den Laden betreten hatte, hatte Omi noch die Einnahmen gezählt. Es war eine eigenartige Situation gewesen.       Omi sah auf. Seine Augenbrauen hoben sich. „Oh, hallo Aya-kun. Wir...ich...wir dachten du seist.“ Aya würdigte das Gestammel keiner Antwort und machte sich an einem der Kühlschränke zu schaffen. Er wählte ein paar passende Blumen aus – Hyazinthen in verschiedenen Farbtönen – und band diese zu einem einfachen Strauß zusammen. Es war unübersehbar, dass Omi ihn beobachtete. „Was?“, schnappte er, warf die klebrigen Stengelabschnitte in den Abfall und wickelte den Strauß in Papier. „Nichts“, hatte Omi geantwortet, aber sein Blick war ganz kurz zu der Jacke gewandert, die er trug. „Wir haben...Ken hat deine Wäsche mitgenommen. War das in Ordnung?“ Er hatte sich ein wenig entspannt. Anscheinend lag es nur an seiner ungewöhnlichen Kleiderauswahl, dass Omi ihn so anstarrte. Zum Umziehen hatte er allerdings keine Zeit mehr. Er wollte den Nachmittag bei Aya verbringen und war ohnehin schon zu spät dran. „Ja, danke“, antwortete er knapp und verschwand aus dem Laden. Den nachdenklichen Blick, den Omi ihm dabei nachwarf, sah er schon nicht mehr.     Ein Geräusch ließ ihn wieder in die Realität zurückkehren. Wie lange hatte er hier mit Träumen verbracht? Er ärgerte sich über sich selbst. Unaufmerksamkeit auf einer Mission konnte ihn oder andere das Leben kosten. Er musste damit aufhören, diesen privaten Kram in seine Arbeitswelt zu lassen. Im Blumenladen mochte das nicht allzu schlimm sein, aber hier war das unverzeihlich. Er fasste den Griff des Katana fester und schob sich näher an den Rand der Galerie heran. Ein schmaler Lichtstreifen oder vielmehr ein etwas hellerer Schatten war unter der Galerie erschienen. Der andauernde Regen und die Wolken, die den Mond verdeckten, schluckten alles Licht und ließen nur diffuses Grau zurück. Trotzdem war er sicher, dass sich dort unten etwas bewegte. Jemand hatte sich Zutritt zur Kirche verschafft.   Eine Gestalt betrat den zerschlissenen, roten Teppich. Sie ging langsam, fast schleppend. Abyssinian spannte sich und schätzte die Entfernung ein. Wenn er auf die Balustrade kletterte und sprang, konnte er den Gegner noch im Flug erwischen und mit der Wucht des Aufpralls entweder zu Boden werfen oder in zwei Hälften spalten. Aber zuerst musste er sicher sein, dass es die Zielperson war. Bisher konnte er nicht viel mehr als einen sich langsam vorwärts bewegenden Schatten erkennen. Vorne im Altarbereich, war das Licht durch die hohen, bunt verglasten Fenster besser. Nur wäre der Gegner dann zu weit entfernt, um ihn noch zu erwischen. Er musste sich darauf verlassen, dass Siberian ihm den Rückzug durch die hintere Tür verwehren würde. Zu zweit würden sie ihn stellen und auch ohne Überraschungsmoment töten können. Er überlegte, den andere zu kontaktieren, beließ es jedoch bei einem stummen Gedanken, den er in Richtung von Siberians Versteck schickte. Seine Stimme hätte ihn verraten und das Ziel vertreiben können.   Die Person, von der er sich inzwischen immerhin sicher war, dass es sich um einen Mann handelte, hatte die Stufen, die zum Altar führten, fast erreicht. Er hatte etwa seine Größe, kurze, helle Haare und trug eine Art Weste, die die Arme freiließ. Angesichtes der draußen beherrschenden Temperaturen eine ungewöhnliche Wahl. Der Mann blieb vor den Stufen stehen und blickte nach oben zu den Bildern in den Fenstern. Abyssinian hatte sie vorher nicht beachtet, doch jetzt folgten seine Augen den Blick des Fremden. Die Scheiben, die vorwiegend in Blau gehalten waren, zeigten verschiedene Szenen, die vermutlich der christlichen Bibel entnommen waren. Meist zwei oder drei Menschen, die einander zugewandt waren. Szenen mit einem Kind, ein Engel war zu erkennen, die Gestalt mit dem Kreuz. Der Mann war vor den Stufen auf ein Knie gesunken, als würde er beten. Abyssinian sah, wie sich an der Seite der Kirche etwas bewegte. Siberian war aus seinem Versteck genommen und näherte sich von der linken Seite her. Er erhob sich und wollte ihm beistehen, als sich der Mann am Altar plötzlich zu Siberian herum drehte. Abyssinian erstarrte. Er kannte den Mann. Die kurzen, extrem hellen Haare, die Statur, das Messer und vor allem aber die Augenklappe, die er über dem linken Auge trug. Das war derjenige der an der Seite von Takatoris Leibwächter gegen ihn gekämpft hatte. Er wusste seinen Namen nicht, aber es bestand kein Zweifel, dass er es war. Ein skrupelloser, schneller, gefährlicher Gegner. Er musste seinem Teamkollegen beistehen.   Gerade, als er über die Brüstung nach unten springen wollte, hörte er hinter sich eine Stimme, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Sein Name ist Farfarello. Ich heiße Schuldig. Wir sind beide Mitglieder von Schwarz.“ Abyssinian wirbelte herum, die Waffe abwehrend vor sich gerichtet. Aber hinter ihm war niemand. Sein Blick irrte nach oben und er sah über sich auf dem Treppenpfeiler einen zweiten Mann stehen. Auch ihn erkannte er. Der rothaarige Bastard, der Bombay damals entführt und seine Schwester Ouka erschossen hatte. Der Mann, der sich Schuldig nannte, lächelte. „Hallo Kätzchen!“     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)