Spherium von Yuugii (Kaiba/Yuugi) ================================================================================ Kapitel 24: Kapitel 24 ---------------------- Die Autofahrt war unangenehm ruhig und die Atmosphäre so gespannt, dass Seto glaubte, gleich zu ersticken. Mokuba krallte sich an seinen Oberarm fest und schluchzte immer wieder. Tantchen wollte sie nicht haben und hatte sie hinterrücks zur Adoption ausgesetzt. Er war zwar erst 10 Jahre alt, aber er hatte verstanden, dass seine eigene Familie sie nicht haben wollte. Mokuba war fünf und viel zu jung, um zu verstehen, was geschah. Immer wieder fragte er, wo die Frau im Hosenanzug sie denn hinfuhr und wann sie denn endlich nach Hause gehen konnten. Mokuba wollte seine Spielzeuge wiederhaben und in seinem Bett schlafen. Er vermisste sein Lieblingskuscheltier und den Sandkasten im Garten. Er wollte in ihren Garten gehen und dort auf der Schaukel spielen, nach Gottesanbeterinnen suchen und Schneckenrennen veranstalten. Auf jede Frage und auf jede Bitte bekam er stets dieselbe Antwort zu hören: das geht nicht mehr. Seto taten diese Worte unheimlich weh. Mokuba verstand die Welt nicht mehr. Aber er durfte nicht zulassen, dass diese Seele zerbrach. Auf keinen Fall wollte Seto, dass dieses Kind mit der Grausamkeit der Erwachsenen in Berührung kam und den Rest seines Lebens Tränen vergoss. Der Brünette legte vorsichtig eine Hand auf Mokubas Rücken und flüsterte ihm aufmunternde Worte zu. Diese Worte waren Lügen. Er hatte gelernt zu lügen, um sich selbst zu schützen und je mehr er Mokuba Mut zusprach, desto mehr wollte er glauben, dass diese Lügen die Wahrheit waren. Er versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass diese leeren Worte die Realität waren. „Alles wird gut, Moki“, sagte er. Er täuschte Überzeugung vor und schenkte ihm ein breites Lächeln. „Ich bin ja bei dir. Keine Angst“, überzeugte er seinen kleinen Bruder, der allmählich aufhörte zu weinen. Endlich erreichten sie ihr Ziel. Ein großes Metalltor und eine steinerne Mauer umgab das Grundstück. Das erste, was ihm in den Sinn kam, als er diesen Anblick erblickte, war das Wort Gefängnis. Die Welt sperrte sie in dieses Haus ein und versteckte sie vor der Außenwelt. Diese Kinder, die niemand haben wollte. Kinder, die unerwünscht waren und nur Kosten mit sich brachten. Als sie aus dem Auto ausstiegen, drängte sich Mokuba nah an ihn, drückte sein Gesicht in seinen Rücken und Seto spürte, wie der kleine Körper hinter ihm vor Angst erzitterte. Mokuba wollte hier nicht bleiben. Das hier würde niemals ihr Zuhause sein. Die Frau, die sich unnatürlich herausgeputzt hatte und diesen Hosenanzug trug, führte die beiden zum Gebäude, wo bereits der Leiter des Ganzen auf sie wartete. Ein älterer Herr. Weißes Haar und eine Brille, die er auf der Nasenspitze trug. Seto konnte ihn jetzt schon nicht ausstehen. Er wollte hier nicht länger bleiben als nötig. In seinem Kopf stellte er sich immer wieder die Frage, wie er ihn und Mokuba hier wegschaffen konnte und wie ihre Zukunft werden würde. Für ihn stand fest, dass man Erwachsenen nicht trauen durfte. Der Mann lächelte und beugte sich zu den beiden Kindern. Mokuba versteckte sich hinter seinem Bruder und murmelte etwas. Seto war sich sicher, dass er 'Ich will hier nicht bleiben, Seto' gesagt hatte. „Das sind also Seto und Mokuba. Wir freuen uns, dass ihr hier seid“, sagte er. Seto beäugte ihn misstrauisch. »Eigentlich meinst du doch: noch zwei Mäuler mehr zu stopfen. Keine Sorge, Alterchen... wir werden hier nicht bleiben«, waren Setos Gedanken als dieser alte Mann dieses unheimlich freundliche Lächeln vortäuschte und ihm ungefragt über seinen Kopf streichelte und so etwas wie Fürsorge heuchelte. Seto hatte schon längst erkannt, dass das hier ein Spiel war, in der jeder eine Maske aufsetzte und eine Rolle spielte. Als ob er diesen Kerl wirklich interessierte, wer diese Kinder waren. Am Abend würde er das Grundstück verlassen, zu seiner eigenen Familie zurückkehren und keinen einzigen Gedanken an das Waisenhaus, geschweige denn an die Kinder, die hier lebten, verschwenden. Erzürnt stieß Seto die Hand des Mannes weg und drehte sich zu Mokuba, griff nach dessen Hand und umschloss sie fest in seiner eigenen. „Vielen Dank, dass sie die beiden aufnehmen. Wir haben überall gefragt, aber nirgendwo waren noch Plätze frei. Wir wollten die beiden nur ungern trennen“, erklärte die Frau und zeigte mit der Hand auf die beiden Kinder. Seto fühlte sich, als wäre er ein eine lebendige Ware, die hin und her gereicht wurde. Das Ganze machte ihn wütend. Sie alle taten so, als würde es sie interessieren, dass diese Kinder keine Eltern hatten und spielten ihnen Freundlichkeit vor, doch in Wirklichkeit hatte Seto diese ekelhaften Erwachsenen schon längst durchschaut. „Wie alt bist du denn, Seto?“, fragte der ältere Herr und ging auf die Knie, um so auf einer Augenhöhe mit dem Brünetten zu sein und so sein Vertrauen zu gewinnen. Doch Seto wusste, dass das alles nicht echt war. Er spielte nur den netten Opa, der mit einem Lachen die Kinder empfing, aber es war doch mehr als nur offensichtlich, dass das Ganze hier nur ein Job war. Der alte Kerl wurde doch dafür bezahlt, so nett zu tun. „Ich bin zehn Jahre alt. Mein Bruder ist fünf“, erklärte Seto sachlich, ohne auch nur mehr von sich preiszugeben als irgend notwendig. Kritisch beäugte er den Mann und stellte sicher, dass ein Abstand von einem Meter zwischen ihnen blieb und dass Mokuba dicht an seiner Seite blieb. Seto drückte die kleine Hand, die er in seiner umschloss und hoffte, dass dieser sich etwas beruhigte. Ungehalten kullerten die Tränen über das Gesicht des Schwarzhaarigen, der immer noch nach seinem Zuhause klagte und nicht verstehen konnte, wo denn das Tantchen blieb. Wieso kam sie nicht und holte die beiden ab? Mokuba kannte seine Mutter nicht. Sie war direkt nach der Geburt verstorben, zumindest wurde es ihm so gesagt. Weil er sie nicht gekannt hatte, vermisste er sie auch nicht. Seinen Vater liebte er und er hatte nicht so ganz begriffen, warum sie ihn nicht mehr sehen konnten. Er war bei einem Autounfall verstorben und ihre Verwandten hatte sämtliche Wertgegenstände an sich gerissen. Doch niemand wollte die Verantwortung für zwei Kinder erben. Das liebe Tantchen hatte sie zur Kindertagesstätte gefahren und nicht mehr abgeholt. Mokuba und Seto kamen in ein gemeinsames Zimmer, mit einem Etagenbett. Die Bettdecken waren geziert von kleinen Raketen und Astronauten, an den Wänden befanden sich bunte und stimmungsvolle Muster, der große Schreibtisch war perfekt um Hausaufgaben zu erledigen und im Regal befanden sich viele Lernbücher, auf die Seto direkt ein Auge geworfen hatte. Die anderen Kinder waren freundlich und nahmen die beiden Neulinge direkt auf, doch Seto wurde den Gedanken nicht los, dass er hier nicht bleiben wollte. Wer hier landete, hatte keine Zukunft. Seto warf einen Blick auf Mokuba, der mit anderen Kindern am Boden saß. Sie spielten mit Feuerwehrautos und lachten immer wieder drauf los. Für einen Moment wirkte es so, als wäre Mokuba glücklich. Seto wusste es jedoch besser. Hier konnte man nicht glücklich werden. Das einzige, was man tun konnte, war so zu tun als wäre man glücklich, um somit seine Schwächen und Ängste zu verbergen. Am Abend konnten sie beide nicht einschlafen. Immer wieder hörte Seto, wie sich Mokuba in seinem Bett umher wälzte. Er verübelte es ihm nicht. Auch er konnte nicht behaupten, wirklich müde gewesen zu sein. In seinem Kopf spukten tausend Gedanken und da waren so viele Emotionen, die er nicht zu bändigen wusste. Er war wütend, traurig, am meisten jedoch enttäuscht. Die Welt der Erwachsenen war grausam. Plötzlich wurden seine Gedankengänge jäh unterbrochen. „Seto? Schläfst du schon?“, wollte der Jüngere wissen, während er seine Bettdecke näher an sich zog. „Nein, ich bin noch wach. Moki... ist alles in Ordnung?“ „Meinst du, dass Tantchen vergessen hat uns abzuholen?“ „Moki... ich habe es dir doch schon erklärt. Wir können nicht mehr zurück. Nie mehr.“ Seto erhob sich, warf seine Decke unachtsam an die Bettkante und kletterte von dem Etagenbett herunter. Die letzten zwei Stufen übersprang er und landete gekonnt vor Mokubas Bett, kam diesen näher und zog ihm die Decke weg. Ungefragt legte er sich neben ihn und kuschelte sich an diesen. Sie konnten niemanden auf der Welt vertrauen und sie hatten nur noch sich selbst. Sie mussten lernen, selbstständig zu werden und sich einen Platz in dieser Gesellschaft hart zu erkämpfen. Seto würde nicht zulassen, dass irgendjemand seinen Bruder zum Weinen brachte oder verletzte. Da wussten sie noch nicht, was die Zukunft ihnen bringen würde und wie sehr sich Menschen verändern konnten. Kaiba schüttelte den Kopf. Warum nur erinnerte er sich ausgerechnet jetzt an damals? Wollte ihm sein Unterbewusstsein mitteilen, dass Yuugi anders war als jene, die ihn und seinen Bruder ausgenutzt hatten? Er wollte das nicht glauben. Stattdessen betätigte er seinen Kaffeeautomat. Er war es gewohnt, dass seine Angestellte sich um seinen Kaffee kümmerten, aber er war immer noch selbstständig genug, um zu wissen, wie dieses Gerät funktionierte. Das Brummen der Maschine lenkte ihn zeitweise ab und auch Yuugi schien gerade nicht das Bedürfnis zu haben, ihn weiter zuzutexten. Yuugi lehnte sich in die Coach und hielt sich seine schmerzende Wange. Die Creme kühlte zwar ein wenig, aber das stechende Brennen und das Pochen konnte er nicht ignorieren. Seinen Blick richtete er auf die Wand, ehe er seine Augen schloss und tief einatmete. Kaiba war ungewöhnlich freundlich zu ihm. Er wollte daran glauben, dass Kaiba sich geändert hatte und sich wirklich darum bemühte, an seinem Sozialverhalten zu arbeiten und mehr Interesse an anderen zu zeigen, dennoch beschlich ihn das Gefühl, dass dieser früher oder später einen fiesen Spruch zum Besten geben würde. Kaiba so menschlich zu erleben war schön und er hoffte sehr, dass es so bleiben konnte. Trotzdem blieb er wachsam. „Du musst mir nicht danken“, meinte Kaiba nach einer gefühlten Ewigkeit, ehe er mit zwei dampfenden Tassen sich wieder zu Yuugi setzte und ihm diese hinstellte. Yuugi öffnete wieder die Augen und sah ihn an. „Aber ich möchte es.“ „Du musst aufhören, immer so viel darüber nachzudenken, was andere über dich denken. Das zieht dich nur runter und du lässt zu, dass andere dich ausnutzen.“ „Ich weiß...“, gab Yuugi zu und setzte ein falsches Lächeln auf. Er wollte sich mit Nomura vertragen. Der Gedanke, dass dieser Mann ihn hassen könnte, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Warum konnten sie sich nicht einfach vertragen? Die Welt wäre so viel angenehmer und schöner, wenn man diese ständigen Konflikte nicht auszutragen hätte und jeder jeden so akzeptierte, wie er war. Das war kindisches Wunschdenken. Eine Ideologie aufgebaut auf utopischen Gedanken. Kaiba hätte sicher laut los gelacht, hätte er Yuugis Gedanken lesen können. Dieser wollte einfach nur Harmonie und ein Arbeitsumfeld, in dem man gerne arbeitete und miteinander kooperierte, um Ziele zu erreichen. „Ich weiß nicht, was in diesen Nomura gefahren ist, aber er ist zu weit gegangen und das wird Konsequenzen haben.“ „Was... hast du vor?“ „Zwangsurlaub oder eine Kündigung“, murrte er, wissend, dass er bei seinen strengen Zeitplan es sich gar nicht leisten konnte, auch nur eine Person weniger im Team zu haben. Sämtliche Erscheinungstermine für die kommenden Spiele waren bereits gesetzt und er wollte auf keinen Fall einen Termin nach hinten schieben, da er somit tausende seiner Kunden sehr verärgern würde. Die KC war für ihre Professionalität bekannt. Pünktlichkeit gehörte dazu und einige ihrer Projekte wurden von Fans weltweit erwartet. Auch nur ein kleiner Fehler würde ein schlechtes Licht auf seine Firma und somit auf ihn werfen. Aber Kaiba war niemand, der Fehltritte wie diese einfach unbestraft ließ. „Kaiba-kun, bitte. Nomura hat überreagiert, aber es ist auch zum Teil meine Schuld. Du kannst ihn nicht einfach kündigen.“ „Wieso sollte das deine Schuld sein? Mein Angestellter benimmt sich wie ein pubertierender Teenager und lässt seine Wut an einen unschuldigen Kollegen raus. Er ist alt genug, um die Konsequenzen für seine Handlungen zu tragen.“ „Auch wenn du das nicht gerne hörst... aber sie sind eifersüchtig auf mich. Sie denken, dass du mich für etwas anerkennst, was jeder andere von ihnen auch hätte tun können. Ich habe von Isono-san gehört, dass du nie jemanden lobst und auch Mokuba meinte, dass die Arbeitsatmosphäre hier sehr gespannt sei. Sie sind genervt und gestresst und ihr Chef hackt ständig auf ihnen herum.“ „Ich hacke nicht auf ihnen herum, Yuugi“, unterbrach Kaiba ihn forsch und zog die Augenbrauen herunter. Er war sichtbar verärgert. Yuugi ließ ihn nicht weiter zur Wort kommen. „Das sehen deine Angestellten aber anders. Auch wenn es dir schwerfällt... ein nettes Wort der Aufmunterung ab und zu würde ihnen sicher guttun. Ein bisschen Anerkennung für ihre Arbeit. Dann wären sie sicher viel motivierter.“ Kaiba grummelte, musste aber zugeben, dass Yuugi recht hatte. Er erinnerte sich daran, wie Mokuba seine Abteilungen handhabt und was dieser alles tat, um ihr Teamwork aufrecht zu erhalten. Jeden Freitag gab es Kaffee und Kuchen und eine gemeinsame Besprechung. Dort wurde viel gelacht. In den letzten Jahren war Kaiba nur selten in Mokubas Abteilungen gegangen, doch wenn er genauer darüber nachdachte, fiel ihm auch schon bei der Einrichtung mehrere große Unterschiede auf. Ein gemeinsamer Pausenraum, gedeckte Tische, an denen sich die Mitarbeiter stets bedienen konnten und bunte Bilder an den Wänden. Kaibas Abteilungen waren schlicht gehalten. Keine Bilder oder sonst irgendetwas, das die Stimmung heben oder gar von der Arbeit ablenken konnte. Blankes Weiß und sehr viel Eintönigkeit. Stumpfe Konferenzen, wo sie nur über das Notwendigste sprachen und meist traute sich keiner, ihm zu widersprechen und sie fügten sich brav seinen Anweisungen. „Kaiba-kun“, fuhr Yuugi fort und Kaiba schenkte ihm wieder seine Aufmerksamkeit. „Wie heißen deine Abteilungsleiter?“ Yuugi grinste verschmitzt. Kaiba stockte der Atem und er überlegte. „Nomura...“, begann er und versuchte sich die Namen wieder ins Gedächtnis zu rufen. Da er die Unterlagen für Nomura rausgesucht hatte und dessen Namen auf dem Briefumschlag geschrieben stand, hatte er seinen Namen griffbereit, aber an all die anderen erinnerte er sich nicht. Seine Sekretärin und den Mann in der Personalabteilung, der die Anrufe entgegen nahm, waren die einzigen Namen, die ihm auf Anhieb einfielen. Der einzige Name, der ihm noch einfiel war der von Isono, da er mit diesen tagtäglich zu tun hatte. „Genau das meine ich. Du kennst den Großteil deiner Arbeitnehmer nicht mal beim Namen, obwohl du täglich mit ihnen zu tun hast. Natürlich kannst du dir nicht jeden Namen merken, aber diese Menschen erledigen Aufgaben für dich, ohne zu klagen und wollen einfach nur mal ein Dankeschön aus deinem Mund hören.“ Mokuba kannte jeden einzelnen seiner Mitarbeiter nicht nur beim Nachnamen, sondern auch beim Vornamen. Und das war der Unterschied, der Kaiba umso schmerzlicher bewusst wurde. Er hatte nie so etwas wie Interesse an den Menschen um sich herum gezeigt. Er gab es nicht gern zu, aber Yuugi hatte Recht. Nein, nicht nur er. Auch Mokuba. Dass er einen Fehler gemacht hatte, verschlechterte seine Laune umso mehr. „Was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?“ Kaiba griff nach seiner Tasse und nippte an der dampfenden Flüssigkeit. Der bittere Geschmack ließ ihn wieder zur Ruhe kommen. Wenigstens auf den herben Geschmack seines Kaffees war Verlass. Wenigstens der ließ ihn nicht im Stich. „Mach es so wie Mokuba“, meinte Yuugi nur und verschränkte die Arme. Bis eben war er einfach nur genervt und gequält von Selbsthass, aber da Kaiba ihn nicht beschimpfte, sondern Verständnis zeigte und ihm aufmerksam zuhörte, fiel es ihm viel leichter, das Geschehene hinter sich zu lassen und nach vorne zu blicken. Er hatte Mokuba ein Versprechen gegeben. So langsam glaubte er selbst, dass er sein Versprechen einhalten konnte und dass Mokuba bei seiner Rückkehr aus Amerika den Bruder antreffen würde, den er so sehr brauchte und vermisste. Kaiba verengte seine Augen zu Schlitzen. Mokuba hatte seine Abteilungen fest im Griff und sicher hatte dieser nie Probleme mit Mobbing zu tun gehabt. Unter Mokubas Leitung waren alle zufrieden. Womöglich war es gar keine so schlechte Idee, sich auf Mokubas Führungsqualitäten zu verlassen und hin und wieder Verbesserungsvorschläge anzunehmen. Er war so beschäftigt mit seinen Projekten und so verloren in seinen Gedanken, dass er nicht einmal erkannte, wie gut Mokuba arbeitete und wie viel er leistete. „Ohne Mokuba geht’s hier drunter und drüber. Ich dachte, ich schaffe das ohne ihn, aber ich bin wohl ein hoffnungsloser Fall“, gab Kaiba zu und seufzte. Er hasste sich selbst, dass er diese Worte aussprechen musste und es nervte ihn, dass ausgerechnet sein Rivale ihm das sagen musste. Ob es das war, was Atem so sehr an Yuugi schätzte? Yuugi blickte in seine Seele und ließ ihn nicht im Stich. Selbst jetzt wollte er ihm helfen. So viel Freundlichkeit war doch abartig. Kaiba lachte auf. Wer war denn nun erbärmlicher? Yuugi, der sich ohne etwas dafür zurückzubekommen, für andere opferte und auf die Macht der Freundschaft beharrte oder er selbst, weil er viel zu stur und selbst überzeugt war, um zu erkennen, was für ein Idiot er gewesen war? Kein Wunder, dass Mokuba ihn nicht mehr ertragen konnte. Er hasste sich selbst am meisten dafür, dass er Mokuba von sich gestoßen hatte, denn das Letzte, was er wollte, war es ihn zu verlieren, denn dann hätte er gar keinen Grund mehr, voranzuschreiten. Er hatte bereits den wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren. Ohne Mokuba wäre seine Zukunft finster. Kaiba hatte immer daran geglaubt, dass man seine Vergangenheit nur auslöschen konnte, wenn man die Zukunft beherrschte. Um die Gegenwart zu erschaffen, musste man die Vergangenheit zerstören. Absolute Kontrolle über die Zukunft bedeutete, dass die Vergangenheit an Wichtigkeit verlor. Also musste man die Vergangenheit auslöschen, so dass man eine neue Zukunft erschaffen konnte. Das, was im Weg war, musste zerstört werden. Das war stets sein Mantra gewesen. Nicht nur Yuugi sagte ihm, dass diese Denkweise falsch war. Nein, auch Atem hatte ihn mehrmals erklärt, dass er eine falsche Einstellung hätte und aufhören sollte, sich so vernarrt in seine Vorstellung der Zukunft zu beißen. Kaiba erkannte, dass er seit vielen Jahren diesem Grundsatz gefolgt war und dass er, obwohl er die Zukunft zu beherrschen schien und volle Kontrolle über sein Leben hatte, seine Vergangenheit ihn immer noch heimsuchte. Er war kein nostalgischer Mensch. Nie gewesen. Und er wollte auch nie so ein Tagträumer werden wie Yuugi, der an seine kindlichen Ideale von Freundschaft und Einigkeit glaubte und immer nur das Gute in allen Menschen sehen wollte. Dennoch schien Yuugi öfter viel gefasster und erwachsener als er selbst. Manchmal erwischte sich Kaiba dabei, wie er Yuugi für seinen Mut und seine Art stets positiv zu denken, etwas beneidete. Kaiba konnte nicht das Gute in Menschen sehen. Er sah immer nur den Wahnsinn der Menschen. Ihre abartigen Gedanken und ihre perfekten Theaterstücke, bei denen er selbst ein Teil geworden war. Wie konnte Yuugi nur etwas Gutes in ihm sehen? In dem Mann, der ihn quälte und bis heute über ihn lachte? Yuugi schüttelte den Kopf. „Glaub ich nicht. Du hast doch gesagt, dass du an mich glaubst und ich glaube an dich. Warte einen Moment...“ Yuugi kramte aus seiner Hosentasche sein Smartphone heraus und öffnete die Fotos, die Mokuba ihm geschickt hatte. Vorsichtig übergab er das Gerät an Kaiba, dessen Augen sich überrascht öffneten, als er die Person auf den Bildern erkannte. Neugierig sah er sich die Bilder an. Er sah seinen Bruder von einer ganz anderen Seite. Fröhlich, ausgelassen und sorgenlos. Kaibas Gesichtsmuskeln entspannten sich. Ein liebevolles Lächeln umspielte seine Lippen und es war ihm anzusehen, dass ein Großteil seiner Sorgen nun von ihm fielen. Endlich hatte er Gewissheit. Mokuba ging es gut. Er kannte die junge Frau auf den Fotos nicht. War das die Freundin, von der Mokuba erzählt hatte? Wieso nur hatte er Mokuba nicht selbst gefragt? Hätte er ihm aufmerksamer zugehört, wüsste er vielleicht sogar ihren Namen. Er schien sich in ihrer Nähe wohlzufühlen und Kaiba glaubte, dass der Junge auf den Fotos ein völlig anderer Mensch war, als der, den er in den letzten Jahren begegnet war. Mokuba ging es besser ohne ihm. Diese Erkenntnis nagte an ihm. Kaiba hielt seinen eigenen Bruder zurück und verhinderte, dass dieser glücklich sein konnte. Das war nie seine Intention gewesen. Er musste Mokuba beweisen, dass er ihn brauchte und schätzte. „Danke, Yuugi...“, kam es über seine Lippen. Sich ausgerechnet bei ihm bedanken zu müssen, verletzte seinen Stolz. Er hasste es, wenn er anderen seine Schwächen zeigte und er fürchtete, dass diese Schwächen schamlos ausgenutzt werden würden, wenn er diese zuließ. Doch Yuugi nickte. Wieder lächelte er. So liebenswert. So zerbrechlich. So unglaublich naiv. Und trotzdem so stark und mutig. Verdammt. Atem hatte Recht. Yuugi war stark. Vielleicht sogar stärker als er. Immerhin ließ er sich von nichts unterkriegen. Nichtmal von einem grantigen Firmenchef, der ihn herumkommandierte und beschimpfte. Selbst dann blieb er freundlich und kam von sich aus auf ihn zu. Yuugi hegte keinen Groll ihm gegenüber und auch wenn er es ungern zugab, dafür war er dankbar. Sein Rivale hätte genügend Gründe wütend auf ihn zu sein und ihm aus den Weg zu gehen, stattdessen begegnete er ihm stets mit einem liebevollen und verständnisvollen Lächeln. Früher hatte er dieses Lächeln gehasst, doch mittlerweile gab es ihm Sicherheit. Völlig egal, wie oft er diesen naiven Kerl von sich stieß, er nahm es ihn nicht übel und das war alles andere als selbstverständlich. »Atem... endlich verstehe ich, warum du Yuugi so schätzt. Dennoch gibt es für mich kein Zurück mehr... ob Mokuba mir je verzeihen wird?«, als diese Gedanken ihn quälten, verzog er sein Gesicht und Yuugi musste gespürt haben, was ihm durch den Kopf ging, denn er sagte genau die Worte, die er jetzt am allermeisten hören wollte. „Mokuba kommt zurück. Und ich bin auch noch da. Lass uns das durchziehen.“ „Wann wird er zurückkommen?“, wollte Kaiba wissen und gab Yuugi sein Smartphone zurück. „Nächste Woche Dienstag. Wirst du ihn willkommen heißen?“, als er diese Worte aussprach, neigte Yuugi seinen Kopf leicht zur Seite und er warf ihm einen so unschuldigen Blick zu, dass Kaiba ihn für einen Moment mit einem bettelnden Welpen verwechselt hätte. „Das ist doch wohl selbstverständlich“, meinte Kaiba nur und griff erneut nach seiner Tasse. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)