Die Monochroniken von Dels (02 :: Der Junge und das Seil) ================================================================================ Kapitel 9: Der Wunsch --------------------- Der Wunsch Aus meiner Kehle kam ein heiseres Krächzen. Ungläubig starrte ich auf dieses lange, dürre Etwas, das mein Arm sein sollte. Mein Blick fiel auf die Finger. Keiner konnte mein Entsetzen beschreiben, als ich diese Finger sah.. Knochen, reine Knochen, hauchdünn und straff mit fast durchsichtiger Haut bespannt. Ich bewegte die Finger und ich konnte nicht einmal mehr schreien - ich sah mein Blut träge durch die Venen kriechen! Nein.. nein, das durfte doch einfach nicht sein! Noch viel schlimmer, ich fühlte im selben Moment, dass ich überall so aussehen musste. Mir war unendlich kalt. Ich fühlte mich so, so.. . Ich konnte mich kaum dazu bringen, aufstehen zu wollen. Was für mich wie ein Ding der Unmöglichkeit war. Schon der Versuch, mich auf meine zerbrechlichen Arme zu stützen, war vergebens. Mir schwindelte. Mein Magen schlug höchsten Alarm. Meine Kehle war so rauh und steif, dass ich nicht einmal schlucken könnte, wenn ich es wollte. Aufstehen. Zur Magiequelle! Das war ein Ziel. Und dieses Ziel trieb mich wirklich dazu an, einen neuen Versuch zu unternehmen. Ich stützte mich unendlich langsam auf meine Ellbogen. Mein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung, denn obwohl ich nicht viel mehr war wie Knochen und Haut, wog mein Körper so viel, dass ich ihn nur mit größter Mühe anheben konnte. Es war, als wären all meine Muskeln einfach verschwunden. Auf den Ellbogen überlegte ich, wie es weitergehen konnte. Ich musste mich drehen. Auf einen Ellbogen stützen und dann mit den Händen zugreifen. Die Ausführung trieb mir kalten Schweiß auf die Stirn. Der Stützarm zitterte wie ein wackeliger Klötzchenturm der jeden Moment einstürzen konnte. Ich drehte mich sehr vorsichtig und fing mich gerade noch mit der linken Hand auf, bevor mein Oberkörper wieder auf die Erde fallen konnte. Ein scharfer Schmerz schoss aus dem Handgelenk den Arm hinauf, aber auch diesmal gelang es mir nicht zu schreien. Ich konnte nur hoffen, dass es nicht gebrochen war. Nun die Beine anziehen.. das fiel mir relativ leicht. Und nun hochstemmen. Als ich nun wie ein Baby auf allen Vieren auf dem Waldboden stand, hatte ich begriffen, dass ich es nicht bis zur Quelle schaffen würde bis heute abend. Es sei denn, jemand würde mir helfen. "Hhh..!" das Wort war wie ein Flüstern. Es war mir, als seien meine Stimmbänder eingerostet und ich würde versuchen mit einer Säge darauf zu spielen. Ich konnte nicht rufen, ich konnte nicht einmal sprechen. Ich war hilfloser als ein Kind, als ein Tier. Ich musste mir selbst helfen. Ich sagte mir immer wieder, dass alles vorbei sei, wenn ich erst ein letztes Mal in der Quelle mich gesättigt hätte. Aber die Quelle war weit. Ich wusste nicht einmal, in welchem Teil des Waldes ich mich befand. Aber ich kämpfte verbissen weiter, bis ich Stunden später ein aufrecht stehender Mensch war und die ersten Gehversuche machte. [ # ] Ein unglaubliches Glück ist es in diesem Unglück, dass ich mich intuitiv genau auf die Quelle zubewegt habe. Ich kam aus einem ganz anderen Teil des Waldes, erreichte die Quelle im Dämmerlicht von einer völlig anderen Seite aus. Aber das ist mir jetzt egal. Hauptsache ist, dass ich es geschafft habe. Mein Körper hat sich nur soweit erholt im Lauf des Tages, dass ich einigermaßen normal gehen kann, ohne immer Angst zu haben, beim nächsten Schritt umzufallen und mir alle Knochen zu brechen. Es ist wie ein Wunder, dass ich gerade jetzt zur Dämmerzeit meine Erlösung erreiche. Wie ein gigantischer Spiegel liegt der See nun vor mir, ich kann es kaum erwarten, meinen schwachen, zerbrechlichen Körper wieder mit Kraft zu füllen. Gierig blicken meine Augen über die glatte Oberfläche, suchen nach den ersten Glühwürmchen. Ich brauche Energie. Viel Energie! Ich muss so schnell wie möglich dort hinunter. Wärme, Kraft, Zuversicht. Die Gedanken in meinem Hirn machen mich verrückt. Ich denke nur noch an Magie, alles dreht sich nur darum. Das Verlangen danach lässt mich haltlos in den See stolpern. Das eisige Wasser zieht an meiner Kleidung, wie ein Stein lasse ich mich nach unten fallen, meine Arme und Beine sind viel zu schwach, als dass ich mich selbst nach unten bringen könnte. Die Magie erfasst mich. Sofort flößt sie meinem schwächlichen Leib neue Stärke ein. Die Schmerzen, der unbändige Hunger und Durst, die Erschöpfung und alle Anstrengung werden nach und nach weggewischt. Der Stein schenkt mir noch mehr Magie, die sich in mich schmiegt wie eine weiche Katze, die mich mit Ruhe und Wärme erfüllt. Meine unbändige Gier, mein Sehnen nach der Kraft, die mich so stark und voll macht wird schwächer, mein Hunger danach wird genauso gestillt wie der körperliche. Ich schöpfe mit vollen Händen, mit vollem Geist diese Kraft in mich, bis sie mich von Kopf bis Fuß ausfüllt wie der Teig eine Kuchenform. Meine Gedanken werden wieder klarer, vielfältiger. Der eine Gedanke, der alles andere überlagert hat und mein Hirn erblinden ließ, ist verschwunden. Ich steige auf zum Ufer. Ich will so schnell wie möglich zurückehren. Das letzte Mal. Das letzte Mal weben, zum letzten Mal meinem Körper diese Anstrengungen zumuten. Und dann meinen Wunsch erfüllen... [ # ] Schon beim Hinlaufen bemerke ich, dass etwas nicht stimmt. Die Tür der Hütte ist offen. Hitzig laufe ich schneller, bin in Windeseile am Türrahmen und blicke in den einzigen Raum der Hütte. Mein allererster Blick fällt auf den Korb mit dem Stoff. Gottlob, er ist noch da! Auch der Webrahmen ist noch in Ordnung. Aber der Rest der Hütte hat sich in ein schreckliches Chaos verwandelt. Gesplitterte Holzbalken, überall liegen Äpfel und Suantis am Boden verstreut, Steine sind aus den Mauern gebrochen. Und gleichzeitig, als ich das Blut auf dem Boden sehe, trifft mich der Schlag, denn ich bemerke erst jetzt, was fehlt. "Hallen?! Hallen!" rufe ich laut, aber in der Hütte ist er auf keinen Fall. Wo ist er? Was ist hier passiert? Ist er geflohen? Aber warum ist hier so ein Durcheinander? Und das Blut? Hat er mit jemandem gekämpft? Aber er war doch angebunden! "Hallen! Wo bist du!!" Auch draußen keine Spur von meinem treuen Freund. Irgend jemand muss ihn befreit haben. Oder ihn.. mitgenommen. Aber wer.. und warum..? Das schlechte Gewissen nagt in mir wie eine pestverseuchte Ratte. Ich hätte ihn nie alleine lassen dürfen! Und nicht festbinden! Vielleicht.. konnte er sich nicht einmal wehren! Aber ich frage mich die ganze Zeit: Warum war er denn überhaupt alleine? Warum bin ich heute morgen mitten in einem Waldteil aufgewacht, den ich nicht einmal kannte? Was habe ich dort gemacht? Habe ich Hallen verfolgt? Oder jemand anderen? Der Mond steht bereits hoch am Himmel. Ich bin total aufgewühlt. Ich sollte weben, schneller als je zuvor, wenn ich fertig werden will vor Morgengrauen. Aber ich mache mir Sorgen um Hal. Ist er wirklich geflohen? Sollte ich ihn nicht suchen? Ihm wird schon nichts passiert sein. Und das Blut auf dem Boden? Vielleicht hat er sich bei der Flucht gestoßen. Was ist, wenn er mich verrät? Wenn heute nacht Tante Gilda kommt und.. Das wird sie nicht. Wo soll er denn sonst hingelaufen sein? Wenn er mich verraten hätte, wären sie schon längst hier. Vielleicht hat er ja nur Angst bekommen.. Ich kann ihn ja suchen, wenn der Stoff fertig ist. Ja, der Stoff ist jetzt wichtig! Und wie schon so oft setze ich mich an den Webstuhl, spanne die Fäden und beginne zu weben. Schon bald habe ich Hallen vergessen. Die Finger werden so schnell, dass sie für meine Augen unsichtbar werden. Ich lege alle Energie in den Stoff, der schneller denn je in die Auffangkörbe gleitet. Stunde um Stunde. [ # ] Ein Rauschen trifft an mein Ohr. Diesmal bin ich darauf gefasst, meinen Körper schwach und ohnmächtig vorzufinden. Ruhig bleibe ich liegen und versuche ganz sanft und langsam, meine Augen und Ohren an ihren Dienst zu gewöhnen. Das Rauschen wird stärker, um mich nur konturenlose Dunkelheit. Ich beginne zu spüren. Ganz langsam und auf eine seltsame Art und Weise ergeben. In meinen Fingern pocht es. Der Versuch, sie zu bewegen endet in einer Explosion aus Schmerz, der mich auffauchen lässt. Denn mehr ist es nicht, das meine Kehle zustande bringt. Ich lausche weiter, das Rauschen wird schwächer, stattdessen höre ich nun ein leises Klopfen. Gleichmäßig und langsam. Meine Augen zeigen mir dunkle Umrisse in immerwährender Finsternis. Ein Klappern. Ich höre Schritte, versuche den Kopf zu rehen, doch mein Genick ist so steif... "Guten Abend, mein Junge. Du hast doch wohl nicht unseren Termin verschlafen?" Die Stimme dringt in meinen Kopf, lässt das Klopfen heftiger werden, doch nur für einen Augenblick. Mein Herz ist müde. Die Stimme schneidet scharf wie ein Messer in mein Gehirn. "Mein Kompliment, es ist wirklich sehr schön geworden. Ach.. ich vergaß, du kannst es ja nicht mehr sehen.." Woher... die Gedanken bilden sich nur träge und schlurfen wie Schnecken durch den Kopf. Der Magier, die Stimme des Magiers. Er ist da. Jetzt wird alles gut. Mein Traum, mein Traum wird wahr! Sein Gewand raschelt, er beugt sich zu mir hinunter. Ich muss mich ungeheuer anstrengen, um seinen Worten zu folgen, ihren Sinn zu verstehen. Doch das, was ich höre, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. "Ich verrate dir etwas mein Junge. Und gleichzeitig muss ich zugeben, dass ich dich ein kleines bisschen angelogen habe." Kaleb streicht mir über die wenigen Haare, die mir geblieben sind. Ohne die geringste Scheu, meine Haut dabei zu berühren, die unter seinen Strichen abblättert wie altes Papier. Ich spüre es nur undeutlich, der Schmerz erreicht mich nur gedämpft, kaum ein Stöhnen, meine Kehle versagt nun vollends ihren Dienst. "Du bist ein Magiebegabter, mein Junge. Du kannst Magie empfangen und sie formen, sie übertragen. So wie du es bei diesem entzückenden Stoff gemacht hast.." Ich höre den glänzenden Stoff so leise rascheln, als streichle man eine seidig-weiche Katze. "Aber ich habe dir etwas unterschlagen. Es gibt nämlich drei Arten von Magie. Die natürliche Magie - du hast sie ja weder gesehen, noch gespürt. Die geformte Magie - der Stein im See. Diese Magie, meine Magie, hast du benutzt, um zu weben. Hast sie in deine eigene umgewandelt. Das ist die künstliche Magie. Weißt du.. ein Magiebegabter kann erst nach jahrzehntelangem Gebrauch von natürlicher Magie irgendwann selbst Magie herstellen. Und selbst das ist sehr schwierig. Aber es gibt sehr wenige Magiebegabte, die das schon von Geburt an können, ohne jemals mit natürlicher oder geformter Magie in Berührung gekommen zu sein. Und das bist du, kleiner Nanik. Ein ganz besonderer Magiebegabter. Magie zu erzeugen, ganz von selbst heraus. Ist das nicht wunderbar?" Er lacht leise, als hätte er einen guten Witz gemacht. Ich kann mich nicht bewegen. Ich würde mir so gerne die Ohren zuhalten, will seine Stimme nicht mehr hören, denn sie tut meinen Ohren weh. "So etwas wie dich habe ich lange gesucht. Ein alter Magus hätte mir nie seine Fähigkeit, selbst Magie zu erzeugen, zur Verfügung gestellt. Aber du konntest das.. und du hast es gerne gemacht, nicht wahr? Deine eigene Magie war nur sehr schwach, aber sie war da. Das habe ich in deinen früheren Arbeiten gespürt. Sie hätte mir nicht gereicht. Deshalb habe ich dir die Quelle meiner Magie gezeigt. Meine geformte Magie wurde zu deiner künstlichen Magie - und daraus ein unglaublich mächtiges Stück Stoff.." Er lässt den Umhang über seine Schultern gleiten und ein leises, erregtes Seufzen entfährt ihm. Als könnte er kaum erwarten, ihn auszuprobieren. "Nun.. ich hätte dir vielleicht sagen sollen, dass künstliche Magie sehr gefährlich ist. Sie hat die unschöne Angewohnheit, bei falscher Anwendung seinem Wirtskörper Energie und.. nun ja.. das Leben zu entziehen. Bis auf den letzten Rest. Habe ich wohl vergessen zu erwähnen, mein Fehler." Wieder lacht er. Kaleb erhebt sich wieder und streicht seinen neuen Umhang glatt. Er ist zufrieden mit sich, das kann ich spüren, ohne zu sehen. Doch selbst das Entsetzen, die Angst und der Schock, der mich mit diesen Worten treffen sollte, bleibt gedämpft, als wären alle Empfindungen in einem leeren Raum gefangen. Ich hatte es geahnt. Nein.. Hallen hat es mir gesagt. Damals. Hallen.. "Aber ich stehe zu meinem Wort. Ich werde dir deinen Wunsch erfüllen, wie ich es versprochen habe. Nun.. hast du dir einen guten überlegt? Wie, du bist sprachlos? Oder hast du keinen Wunsch?" Mein Mund bewegt sich kaum, kein Laut kommt daraus hervor. Je mehr ich mich anstrenge, desto schwächer werde ich. Meine blinden Augen starren den undeutlichen Schemen über mir an, meine Gesichtsmuskeln zittern, oder besser das, was davon übrig ist. "Aber da hast du sicher recht. Seine Wünsche sollte man sich selbst erfüllen. Ein gesunder Geist ist fähig, alles zu bewegen. Besonders deiner. Du bist ja längst etwas Besonderes, nicht wahr, kleiner Nanik? Wo habe ich das nur schon einmal gehört..?" "H..ah.." Vor Anstrengung krampft sich meine Brust zusammen. Mühsam presse ich jeden Buchstaben einzeln heraus. Mein Wunsch. "L...leh.." Ich höre ihn leise lachen. Er beugt sich wieder herunter, sein Schatten macht alles dunkel. "Soso, dich interessiert es also doch noch? Sieh her, ich zeige dir, was mit deinem Freund passiert ist." Er legt etwas auf meine Stirn. Es ist warm und brennt etwas. Und urplötzlich kann ich wieder sehen. So scharf und klar, wie sonst auch. Ich bin in der Hütte. Der Magier Kaleb steht hinter mir, hält seine Hand an meine Strin gepresst. Es brennt immer noch, aber ich bemerke es kaum noch. Wie gebannt starre ich auf das Bild, das sich mir bietet. Der Webstuhl vibriert, zittert, ein hohes Fauchen füllt den Raum aus. Am Webstuhl sitze ich selbst, es ist, als sehe ich einen Geist. Meine Augen.. der Anblick erschreckt mich zutiefst. Irgendetwas ist mit meinen Augen geschehen! Sie... ich kann es nicht beschreiben.. ich habe so etwas noch nie gesehen! Der Anblick verstört meinen Verstand. Und diese grauenhaften Augen sind auf das Garn gerichtet, das sich unter den fliegenden Händen zu glänzendem Stoff verwandelt. Auch der Rest meiner Erscheinung bringt mich zum Erschauern. Derselbe Anblick wie in der letzten Nacht. Knochen und durchscheinende Haut. In diesen irrwitzigen Bewegungen meiner Hände funkelt etwas. Hallen, der noch an dem Webstuhl festgebunden ist, sieht es auch und sein Blick wechselt zwischen den Händen und meinen Augen hin und her. Er ist leichenblass, er zittert am ganzen Körper. Ich kann sehen, wie sein Herz in der Kehle schlägt. "Nanik! Nanik, wach doch auf! Bitte, es passiert wieder! Es macht dich kaputt, hörst du nicht!" Hallen brüllt, aber das Schreien ist wie durch eine dicke Daunenendecke hindurch, es dringt kaum an mein Ohr, obwohl er aus vollster Kehle schreit. Er stemmt sich gegen den Webstuhl, versucht an ihm zu rütteln. Für einen kurzen Moment stockt mein Arbeiten, dann geht es im selben Tempo weiter wie bisher. Immer schneller. Vor Grauen beginne ich zu schwitzen, man kann jetzt zusehen, wie meine Züge härter und kantiger werden mit jeder Minute mehr. Die Arme dürrer, der Hals knochiger, kaum mehr fähig, den Schädel zu halten. Ich sehe Hallen, wie er heult, schluchzend immer wieder versucht, mich aus meinem Wahn zu wecken. Jetzt sehe ich auch, woher das Blut kommt. Mein guter, lieber Freund.. Hallen hat so lange an seinen Fesseln gezogen und gezerrt, dass seine Handgelenke blutig gescheuert sind. Durch das Blut sind die Seile schmierig geworden, er bekommt eine Hand frei... ich ahne, was er vorhat. Hallen streckt sich, ein entschlossener, verzweifelter Ausdruck in seinen Augen. Mit einer Bewegung fegt er die Spule aus der Halterung, der Webstuhl kommt augenblicklich zum Stillstand. Ich will es nicht sehen. Ich will die Augen schließen. Ich will die Hände vor die Augen schieben, um es nicht mit anzusehen. Ich kann mich an gar nichts hiervon erinnern. Es ist abstoßend und trotzdem kann ich nicht wegsehen. Meine Gestalt ist aufgefahren, ich habe Angst vor mir selbst, dieses Wesen bin nicht ich! Dieses Monster, dieses grauenhafte Ding, das auf Hallen einschlägt, als wäre es ein Mehlsack. Er kann sich kaum schützen, die Schmerzensschreie treffen mich wie giftige Pfeile, doch mein anderes Ich schert sich nicht darum. Die Augen glühen noch immer in dieser wahnsinnigen Art, die ich mir nicht erklären kann! "Hör doch auf! Lass ihn in Ruhe!" schreie ich, aber natürlich hört er mich nicht. Höre ich mich nicht. Es ist nur eine Erinnerung. Ein grausige Erinnerung, die ich vergessen habe. Hilflos muss ich zusehen, wie ich Hallen innerhalb kürzester Zeit ohnmächtig geschlagen habe. Ich presse mir die Hand auf die Brust, mein Herz tut weh, mein Blick verschleiert sich vor Tränen. Das Monster schleift Hallen aus dem Raum. Die knochige Gestalt muss noch unglaublich stark sein, ohne Probleme wuchtet sie den leblosen Körper auf die Schultern, nimmt eine Handvoll Garn und läuft in den Wald. Mir wird heiß. Ich weiß jetzt, wieso ich den letzten Morgen im Wald aufgewacht bin! Wir folgen den beiden wie Geister durch den Wald, tief ins Gehölz, es scheint, stundenlang, bis zu einer kleinen Lichtung. Dort lässt mein Ich meinen besten Freund fallen wie ein totes Tier, macht sich an dem Garn zu schaffen. Innerhalb einer Minute ist daraus ein Seil entstanden, mit dem er Hallen jetzt an einen Baum bindet. Das also ist mit Hallen passiert. Ich selbst habe ihn entführt, ausgesetzt im Wald, hilflos und allein. Aber es ist noch nicht vorbei. Wir folgen meinem Ich weiter in den Wald. Die Gestalt beginnt irgendwann zu stolpern, läuft aber weiter, immer tiefer in den Wald und sucht etwas. Die Quelle, ich will zur Quelle. Das Unbeschreibliche in meinen Augen verblasst langsam. Dann ist es vorbei. Ich stürze, bleibe liegen, falle in diesen todesähnlichen Schlaf. "Das wolltest du doch wissen, oder?" fragt Kaleb neben mir. Ich kann ihm nicht antworten. "Willst du das hier auch wissen?" Ohne einen Moment Ruhe rauscht das nächste Bild vor meine Augen. Es ist dunkel, aber ich sehe eine ausladende Gestalt an einem Tisch sitzen. Ihre Schultern zucken, ich höre das Weinen. Tante Gilda. Auf dem Tisch neben einer kleinen Kerze liegen zwei Stückchen Stoff. Ich erschaudere, als ich sie erkenne. Unsere Geburtstagsgeschenke. Hallen und ich haben ihr vor ettlichen Jahren zusammen zwei Topflappen aus grober Wolle gewebt. Die zwei Lappen sind voller Fehler, krumm und schief. Es waren zwei der ersten Versuche, die wir am Webrahmen machen durften. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sie aufgehoben hat. Ich zucke zusammen, als sie die beiden über die Flamme der Kerze hält. Sofort fangen sie Feuer. Aber Tante Gilde achtet nicht darauf, dass die Lappen die Tischdecke angreifen, als sie sie fallen lässt. Sie bleibt sitzen und sieht zu, wie das Feuer auf den Tisch übergeht. Die Flammen fressen sich sofort gierig in den trockenen Leinenstoff und schlagen hoch, erwischen die Decke. "Tante Gilda!" brülle ich entsetzt, als sie sitzenbleibt und in das Feuer starrt, das die Stühle erfasst, die Vorhänge innerhalb Sekunden in rasende Flammenmeere verwandelt. Das Weitere bleibt mir erspart, der Magier hat seine Hand von meiner Stirn gezogen und es wird augenblicklich dunkel. Es nützt nicht viel, ich kann mir denken, wie es weiterging. Mein Schmerz ist so groß, dass ich nicht einmal mehr Tränen finde. "Und? Hast du deine Sprache wiedergefunden? Hast du doch noch einen Wunsch, den du mir mitteilen willst?" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)