Wenn die Chemie stimmt von Atina ================================================================================ Kapitel 3: ----------- Montag, 15. April   Helfer gesucht – In der Nacht vom 04.April hast du mir geholfen nach der Feier des FSR Chemie nach Hause zu kommen. Ich möchte mich gern persönlich bedanken. Bitte melde dich unter [EMAIL=leo.nora@mail.de]leo.nora@mail.de[/EMAIL].   Die Anzeige fand sich in der Campus-Zeitung, kurz caz genannt, unter der Kategorie Herz & Schmerz. Leonora las sie zum wiederholten Male durch. „Hoffentlich meldet sich derjenige bei mir, ist ja schon eine Woche veröffentlicht und ich habe noch keine Nachricht.“ Leonora seufzte und legte die caz beiseite, die sich Irina gleich schnappte. „Ich drücke die Daumen, dass du eine Nachricht bekommst.“ Sie blätterte den Speiseplan auf und recherchierte das Angebot des Tages. „Bist du bereit fürs Mittagessen?“, wollte Leonora wissen. „Ja, bereit schon. Ich bin mir nur unschlüssig, ob ich die hausgemachten Nudeln Carbonara oder die Wokpfanne esse.“ „Dann lass es uns mal live ansehen, dann fällt es dir vielleicht leichter.“ Die beiden packten ihre Arbeitsmaterialien zusammen und stellten die Rucksäcke unter den Tisch, bevor sie durch die Zwischentür in die Mensa schlenderten. Irina hatte sich doch für die geliebten Nudeln Carbonara entschieden und als sie mit Leonora, die die Blumenkohl-Käse-Medaillons gewählt hatte, zurück zu ihrem Tisch in der Cafeteria kamen, saßen drei junge Männer an ihm. „Mahlzeit“, meinte Irina und setzte sich an den Platz, an dem ihr Rucksack unter dem Tisch stand. „Mahlzeit“, kam im Kanon zurück. „Ach, sieh mal an. Felix, richtig?“ Irina hatte in einem der Männer den Chemiker wiedererkannt, der ihnen in der letzten Woche beim Protokoll geholfen hatte. „Genau. Schön, euch wiederzutreffen“, meinte er und nickte auch Leonora zu. „Wie lief denn euer Versuch?“ „Gut. Wir waren die Einzigen, die ohne Fehler alle Ionen identifiziert hatten.“ Irina sagte es und schob sich dann einen großen Löffel Nudeln in den Mund. „Danke nochmal für deine Hilfe“, sagte nun Leonora, die bisher ruhig gewesen war. „Kann uns mal jemand aufklären – woher kennt ihr euch?“ Felix‘ Freunde sahen von ihm zu den Mädels und wieder zurück zu Felix. „Sorry. Die beiden hier – Leonora und Irina – saßen letzte Woche auch in der Cafeteria und bereiteten das AC-Praktikum vor. Ich habe etwas vom Gespräch mitbekommen und mich, forsch wie ich bin, eingemischt…“ „…und uns damit das Praktikum gerettet.“ „Ha, su kenne mr n Felix. Der will immor alln halfn“, meinte der eine. „Und mit seinem Wissen prahlen“, ergänzte der andere. „Und ihr nennt euch Freunde!“ Die beiden ignorierten Felix‘ Einwurf einfach und stellten sich vor. „Iich bi dr Daniel“, sagte der kleinere von beiden. „Und ich bin Elias.“ „Wenn ihr noch einen Moment Zeit habt, wir hätten zum nächsten Versuch auch noch Fragen.“ Irina sah sie mit einem strahlenden Lächeln und einem bittenden Blick an, der das Herz der Chemiker nur erweichen konnte. „Kein Problem.“ Die Mädels aßen zunächst ihr Mittagessen, während die Drei sich ebenfalls etwas zu essen holten. Als der Tisch wieder frei von Geschirr war, stellten Irina und Leonora ihre Fragen, die schnell beantwortet werden konnten. Sie wandten sich schöneren Themen zu, sprachen über aktuelle Kinofilme und momentan angesagte Bars, lachten viel. Die Freistunde verging wie im Flug und man musste sich zu schnell voneinander verabschieden. „Man sieht sich sicher mal wieder“, meinte Elias. „Immer wieder gern.“ Irina zwinkerte ihnen zu und verließ gemeinsam mit Leonora das Mensagebäude.   ***   Nachdem Leonora am Abend die Vorbereitungen des Protokolls beendet hatte, schaltete sie den Fernseher an. Sie zappte durch einige Programme und blieb dann bei einer Reportage hängen. „Es fühlte sich an, als hätte ich zu viel getrunken. Am nächsten Morgen wachte ich ausgeraubt auf der Parkbank auf.“ „Es gibt verschiedene Substanzen, die man unter dem Begriff k.o.-Tropfen zusammenfasst. Am häufigsten wird das GHB benannt, Gamma-Hydroxy-Buttersäure, von Insidern auch Liquid Ecstasy genannt. Es ist ursprünglich ein Narkosemittel gewesen. Auch Ketamin, Rohypnol und sogar Valium dienen dazu, Menschen willenlos zu machen.“ „Mir war schwindlig und übel, danach erinnere ich mich an nichts. Ich wachte nackt in einer fremden Wohnung auf.“ „Dadurch, dass die k.o.-Tropfen farblos, geruchlos und in Getränken nahezu geschmacklos sind, bekommen die Betroffenen nicht mit, dass sie etwas in ihrem Drink haben. Die Einnahme soll zur Wehrlosigkeit führen, um zumeist Straftaten zu verüben wie Sexual- oder Raubdelikte.“ „Ich hatte blaue Flecken und Verletzungen, die ich mir nicht erklären konnte. Den Abend zuvor hatte ich in einer Diskothek verbracht.“ Interviews mit Betroffenen wechselten sich ab mit Polizeiberichten und Erklärungen von Ärzten. Leonora saß auf ihrem Bett und starrte fassungslos auf den Bildschirm. All das hätte mir auch passieren können. Bei dem Gedanken daran liefen Tränen über ihr Gesicht. Ich möchte unbedingt den Mann kennenlernen, der mir geholfen hat. Ich muss ihn einfach treffen. Hoffentlich meldet er sich bald bei mir. Sie wischte sich die Tränen von der Wange, atmete tief ein und wieder aus, um dann noch einmal in ihrem Mailpostfach nach neuen Nachrichten zu sehen. Nichts.     Montag, 22. April   An Leo – ich hoffe, deine Kopfschmerzen waren nicht zu schlimm und du hast dich vom Blackout gut erholt. Ist eine gute Tat nicht dazu da, anderen zu helfen, sich selbst dabei gut zu fühlen und dafür keinen Dank zu erwarten? Dein Helfer   „Warum hat er mir nicht einfach eine Mail geschrieben?“ Leonora hatte noch vor der ersten Stunde eine caz ergattert und in den Anzeigen nach einer möglichen Antwort auf ihre Anfrage gesucht. „Woher weißt du denn, dass es ein Er war?“, fragte Irina nach. „Naja, in der letzten Woche sind immer mal wieder so Bilder in meinem Kopf aufgeblitzt. Zum Beispiel, dass ich mich an eine kräftige Schulter lehne und es war definitiv ein männlicher Duft, der mir dabei in die Nase kommt.“ „Okay. Und können wir denn sicher sein, dass die Antwort wirklich von deinem Helfer ist?“ „Ich hatte ja nur geschrieben, dass mich derjenige nach Hause gebracht hat, nichts weiter. Und in der Antwort steht nun etwas von Kopfschmerzen und Filmriss, das stand auch auf der Nachricht in meiner Küche.“ Leonora las die Nachricht erneut und legte die caz dann frustriert in ihren Rucksack. Die Vorlesung zu den Hauptgruppen bei Professor Langbein sollte gleich beginnen.   ***   „Irgendwie raffe ich diese Diels-Alder-Reaktion noch nicht.“ Elias fuhr sich mit der Hand durchs Haar und seufzte. Er und seine Kommilitonen Daniel und Felix saßen nach dem Organik-Seminar in der Cafeteria und gingen die besprochenen Aufgaben noch einmal durch. „A Dien un a Dienophil reagiern zam“, meinte Daniel lapidar. „Danke. Soweit war ich auch schon.“ „Nicht aufregen – zuhören!“, warf Felix ein und zeichnete auf einem Schmierblatt die Moleküle. „Man hat ein Dien, also ein Molekül mit zwei Doppelbindungen, konjugiert natürlich. Das sind damit 4 π-Elektronen. Und man hat ein Dienophil, ein Molekül mit einer Doppelbindung, das sind 2 π-Elektronen. Es kommt zu einer Addition, man spricht auch von einer [4+2]-Cycloaddition, weil eben 4 und 2 π-Elektronen miteinander agieren. Das Dienophil greift nun das Dien an, es kommt zu einer Überlappung des höchsten, besetzten Molekülorbitals des Diens und dem niedrigsten, unbesetzten Molekülorbitals des Dienophils, da beide energetisch dicht beieinander liegen. Aus den 3 π-Bindungen werden eine π-Bindung und zwei ς-Bindungen.“ Elias versuchte den Erklärungen zu folgen, denn das Schmierblatt sah nun ziemlich wüst aus, da Felix bestimmte Stellen umkreiste oder unterstrich und immer wieder darauf zurückkam. „Und wofür steht dieses endo und exo? Das hat doch nichts mit endotherm und exotherm zu tun, oder?“, fragte er weiter nach. „Gibt es durch Substituenten verschiedene Anordnungsmöglichkeiten, so wird eine endo und die andere exo genannt. Ist der Substituent am Dienophil zum Dien ausgerichtet, dann spricht man von endo. Das ist die bevorzugtere Variante, man spricht von Sekundärorbitalwechselwirkungen. Wenn der Substituent zum Beispiel Sauerstoff enthält, dann haben wir ebenfalls π-Elektronen vorliegen und diese können dann mit den π-Elektronen im Dien wechselwirken.“ „Puuhhh.“ Elias lehnte sich in der Bank zurück. „Ich denke, so halbwegs habe ich es verstanden. Aber ich lasse das erstmal sacken. Danke!“ „Kein Problem. Dafür bist du in PC viel besser als ich und hilfst mir dort“, winkte Felix ab. „Dürfen wir?“ Die Drei blickten auf und sahen Irinas strahlendes Lächeln, hinter ihr stand auch Leonora. „Klar, setzt euch.“ „Danke.“ Die beiden Frauen setzten sich und begannen das Spiegelei zu studieren, die Beilage zur Campuszeitung mit dem Speiseplan. „Wie liefn dei Versuch letzte Woch?“, wollte Daniel wissen. „Ging so. Zwei Notenpunkte haben sie abgezogen.“ „Ach, das ist ja nichts. Ich bin manchmal nur knapp am Durchfallen vorbeigeschlittert“, meinte Elias und machte eine abwinkende Handbewegung. Einige Minuten später machten sich die fünf auf den Weg in den Nebenraum, in dem sich die Essensaufgabe der Alten Mensa befand. Während des Essens unterhielten sie sich über die Professoren und ihre Eigenheiten sowie ihre eigenen Erfahrungen mit den einzelnen Dozenten. „Könnt ihr uns da nochmal eine Frage beantworten?“, fragte Leonora. „Schieß los.“ „Wir sind inzwischen bei der quantitativen Analyse angelangt und sollen den Chlorid-Ionen-Gehalt nach Mohr bestimmen. Wir haben unsere Probelösung und titrieren mit Silbernitrat-Lösung. Die Silber-Ionen aus der Maßlösung reagieren mit den Chlorid-Ionen aus der Probelösung, bis keine Chlorid-Ionen mehr vorhanden sind.“ „Soweit richtig“, meinte Felix nickend. „Da man diesen Endpunkt nicht mit bloßem Auge erkennt, setzen wir als Indikator Chromat-Ionen hinzu. Sind die Chlorid-Ionen durch die Bildung von Silberchlorid aufgebraucht und wir geben weiter die Maßlösung hinzu, so bindet sich das Silber-Ion an das Chromat-Ion und wird zu Silberchromat, welches rot-orange ausfällt.“   Leonora sah Felix erwartungsvoll an, doch er meinte nur: „Ich habe noch keine Frage gehört.“ „Eigentlich wollte ich nur wissen, ob das soweit stimmt beziehungsweise ob wir etwas beachten müssen“, erwiderte Leonie lächelnd. „Ach so. Also, wichtig ist, dass ihr eine gesättigte Silberchlorid-Lösung habt und die Konzentration der Chromat-Ionen so gering wie möglich, aber so hoch wie nötig haltet.“ „Warum?“, fragte Leonora nach und notierte Felix‘ Hinweise. „Weil das Löslichkeitsprodukt des Silberchromats weit unter dem des Silberchlorids liegt. Es müsste also gleich durch Zugabe der Maßlösung mit den Silber-Ionen ausfallen, was durch die geringe Konzentration der Chromat-Ionen jedoch umgangen wird.“ „Danke schön.“ „Kein Ding. Wie schon gesagt, ihr könnt immer gern mit Fragen zu mir kommen“, meinte Felix und nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche. Das Gespräch wendete sich nun von der Chemie ab und widmete sich alltäglicheren Themen wie Musikveranstaltungen, die in den nächsten Wochen in den Campusclubs stattfinden sollten, oder Kinofilmen, die man unbedingt sehen wollte. Der ein oder andere Spruch auf Kosten des Musik- oder Filmgeschmacks wurde fallen gelassen, was den Rest der Gruppe zum Schmunzeln brachte, dem Angesprochen aber nicht immer zusagte. „Seid ihr eigentlich immer zu der Zeit hier?“, wollte Elias zum Ende der Doppelstunde hin wissen. „In diesem Semester auf jeden Fall“, antwortete Leonora. „Wenn ihr eh immer zur selben Zeit da seid wie wir, können wir uns auch gleich verabreden. Ich fand unsere Unterhaltung heute und in der letzten Woche auf jeden Fall sehr amüsant.“ „Amüsant,“, Irina legte nachdenklich die Hand an ihr Kinn, „ja, so kann man das auch nennen, wenn man sich gegenseitig mit Sprüchen belegt.“ Ihre Stimme klang so ernst dabei, dass Elias Angst hatte, dass er etwas zu weit gegangen war. Doch das Grinsen, das sich nun auf ihrem Gesicht einstellte, beruhigte ihn. „Ich denke, die Verabredung zum Mittag steht.“ „Und falls wir euch mal bei etwas helfen können, dann sagt Bescheid. Wir können ja schließlich nicht immer eure Hilfe in Anspruch nehmen, ohne Gegenleistung“, warf Leonora ein. Ein schlechtes Gewissen regte sich in ihr, Felix und seine Freunde halfen ihnen bereits zum dritten Mal, wodurch ihre Praktikumsnote wesentlich besser ausfiel. „Die ein oder andere Gegenleistung wird uns da sicher einfallen“, feixte Felix und sah ihren Körper mit einem abschätzenden Blick von oben bis unten an. Die anderen verfielen in ein Lachen, als Leonora sich der anzüglichen Wortwahl bewusst wurde, rot anlief und die Hände vors Gesicht schlug. „Schäm dich nicht, Kleine.“ Felix legte seinen Arm um sie, um sie zu trösten. „Wenn du öfter Zeit mit uns verbringst, dann wirst du lernen müssen, einzustecken und auch Konter zu geben.“ Sie blickte hinter ihren Händen hervor und sah, wie Elias und Daniel nickten. Irina schmunzelte nur. „Naja, da kann ich wohl nur von den Besten lernen.“ „Du bekommst das schon hin!“ Felix klopfte ihr zuversichtlich auf die Schulter und zog seinen Arm dann wieder von ihr weg. Leonora sah ihn an und nahm in diesem Moment einen Geruch wahr, der sie an die Nacht der FSR-Party erinnerte. „Wir haben es gleich geschafft, nur noch ein paar Meter, dann kannst du in dein Bett.“ Die Stimme hallte verschwommen in ihrem Kopf wider. „Leo?“ Felix fuchtelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum und sah sie besorgt an. „Leo, alles klar?“ „Ähm“, sie schreckte auf aus ihren Gedanken. „Ja, alles klar.“ „Oh, oh, ich glaube, wir müssen uns bei Leo etwas zurücknehmen“, meinte Elias, der ihren abwesenden Blick auch wahrgenommen hatte. „Entschuldigt. Ich war in Gedanken…“ „Ne, bestimmt bein Felix un ob es doch Rimgebumse sei sollt.“ Daniel prustete los und auch Irina lachte mit. Leonoras Wangen wurden immer dunkler. „Ich glaube, ich muss dann auch langsam zur nächsten Vorlesung“, sagte sie nur und fing an, ihre Sachen zusammenzupacken. „Hab dich doch nicht so. So abwegig ist die Vorstellung doch sicher nicht“, warf Elias ein. „Und schau nur, wie traurig Felix jetzt aussieht, wo du einfach gehen willst.“ „Ihr seid solche Spinner!“ Leonora ließ sich wieder auf die gepolsterte Bank fallen und lachte mit ihren Kommilitonen mit.   ***   „Wer waren denn die Typen, mit denen ihr in der Mensa saßt? Ich habe mir heute Mittag nur schnell ein Brötchen geholt und euch gesehen.“ Jörg und Irina saßen in dem Hörsaal, in dem die Vorlesung zur Mediävistik, einem Teilgebiet der Sprach- und Literaturwissenschaften, das sich mit Sprache und Literatur des Mittelalters beschäftigte, in wenigen Minuten beginnen sollte. „Das sind die Chemiker oder von Leo und mir auch insgeheim das Kleeblatt genannt. Wir haben sie zufällig kennengelernt und es hat sich ergeben, dass wir uns nun jede Woche sehen. Wir verstehen uns echt gut“, antwortete Irina. „Warum Kleeblatt?“ „Weil sie immer zu dritt anzutreffen sind“, Irina lachte. „Max und du, ihr würdet sie sicher auch gut finden. Sie sind ganz groß im Sprüche klopfen.“ „Wenn du meinst.“ „Klar. Vielleicht kommt ihr mal zu einem Mittagessen dazu. Das wird sicher lustig.“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)