Silent tune von Daelis ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ihr war kalt, als sie in die Ferne blickte, hinaus auf die dunklen Fluten, die in seichten Wellen ans Ufer schlugen, um dort ihre nassen Spuren zu hinterlassen und zugleich zu verwischen. Die laue Sommerbrise umschmeichelte sie, vermochte Lene jedoch nicht zu wärmen, während ihre Finger die Okarina in ihrer Jackentasche umklammerten. Wie lange war es her, dass sie Ruun gesehen hatte? Sieben Wochen, vielleicht acht? Jeder Tag, der seitdem angebrochen war, schien kein Ende nehmen zu wollen. Die ersten Tage hatte sie sich Sorgen gemacht, hatte gefürchtet, Ruun könnte etwas zugestoßen sein und er könnte deshalb nicht zu ihr kommen, doch dann war langsam die Erkenntnis in ihren Verstand gesickert, dass der Nix schlicht nicht mehr kommen wollte. Sie hatte zu viel gewollt, während sie zu viel verloren hatte. Ihre stille Bitte, ihn noch einmal zu sehen, ihm zu vermitteln, wie viel diese Zeit, wie viel er ihr bedeutete, wurde nicht erhört. Ihr erstes Treffen war magisch gewesen. Es war eine dieser Nächte gewesen, in denen Lene keinen Schlaf hatte finden können und deshalb spontan entschied, einfach einen kleinen Strandspaziergang zu machen. Wie gefährlich das war, wusste sie zwar eigentlich, aber es hatte sie nicht aufgehalten. Mit einer Taschenlampe bewaffnet war sie barfuß durch das eisige Watt gelaufen, hatte Kieselsteine, Algen und Muscheln zwischen ihren Zehen gespürt während das Meer kleine Wellen an den Strand schickte und ihre Fußgelenke umspülte. Dann war die Taschenlampe ausgefallen. Die Batterien waren leer gewesen, doch Lene hatte dennoch nicht sofort den Heimweg angetreten und das auch nie bereut, denn in der Stille der sternenklaren Nacht hatte sich ganz plötzlich eine Stimme erhoben, von so unglaublicher Klarheit, dass ihr der Atem gestockt war. Still war sie den melodischen Tönen gefolgt, hatte nicht einmal auf den Text des ihr unbekannten Liedes geachtet und sich schließlich knietief im Wasser stehend wiedergefunden. Die Töne, sie waren vom Meer gekommen. Sie konnte nicht sagen, wieso sie in dieser Nacht diesen Weg gewählt hatte, um ihre Anwesenheit zu offenbaren, doch Lene hatte, anstatt zu rufen, selbst angefangen, zu singen. Mit lauter Stimme und so gut sie konnte der fremden Melodie folgend, ganz ohne Worte. Als die andere Stimme daraufhin verklungen war, wie enttäuscht war sie gewesen und wie erleichtert, als sie eine Antwort erhielt, als Worte in der zauberhaften Weise schwangen, die sie nach ihrem Namen fragten und sie begrüßten. Frage um Frage hatte sie beantwortet, aber nicht eine einzige gestellt. Das war ihr erst aufgefallen, als der Sänger sich singend von ihr verabschiedete, jedoch mit dem Versprechen, er würde in einer Woche hier auf sie warten, um noch einmal ihrer Stimme zu lauschen. Lene war der Einladung gefolgt, hatte am Strand gestanden und gesungen, bis sie eine Antwort erhielt. Nie zuvor, auch nicht in ihrer geliebten kleinen Band oder zuvor im Schulchor, hatte sie Musik so sehr gespürt wie im Einklang mit diesem Sänger. Es war ihr wie ein Rausch erschienen, fast wie eine Droge. Wenn sich ihre Stimmen verbanden, war es, als verbanden sich auch ihre Gefühle, als hielten sie einander im Arm, als küssten sie sich, obgleich sie Fremde waren. Solch starke Gefühle hatte Lene vor diesem Augenblick nicht erfahren, nicht einmal bei ihrer ersten großen Liebe. Ihr Herz raste, ihre Augen strahlten und ihr war, als müsste sie lachen und weinen zugleich vor Glück. War es nur ihr so ergangen? Hatten sie nicht beide in Seligkeit geschwelgt, als sich ihre Stimmen in Harmonie verbanden, um zauberhafte Melodien zu weben, Musik zu erschaffen, die betörte und die Seele berührte? Ja, natürlich. Ruun musste sich doch auch an ihr erstes Treffen von Angesicht zu Angesicht erinnern. In einem Anfall von Wagemut hatte Lene trotz des harschen Windes trockenes Treibgut angezündet, um sich daran zu wärmen und zugleich preiszugeben, wo sie war. Frostige Kälte hatte in der Luft gelegen und sie wusste noch, wie sehr sie gebibbert hatte. Dennoch hatte sie ausgeharrt, denn der Sänger, dessen Namen sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht gekannt hatte, hatte ihr zugesagt, wiederzukommen. Dass sich ihr ungewöhnliches Date jedoch mit einer Handvoll ruckartiger Bewegungen, auf dem Boden liegen, zu ihr heran ziehen würde, hatte Lene mehr aus überrascht. Im Nachhinein hatte sie sich noch gefragt, wieso eigentlich. Hätte sie ob der seltsamen Art ihrer beginnenden Freundschaft nicht ahnen müssen, dass ihre Bekanntschaft kein Mensch war? Immerhin sang er vom Meer aus, obwohl das Wasser im Winter viel zu eisig war, als dass jemand darin hätte ausharren können. Silbrig hatte die fischgleiche Schwanzflosse im Schein des kleinen Lagerfeuers geschimmert, jedoch nicht von dem jungenhaften Gesicht des Nix ablenken können, der Lene mit strahlenden, blauen Augen angesehen hatte. Für ihn, hatte Ruun erzählt, war dieses Treffen genauso aufregend wie für sie. Ihre Stimme habe ihn einfach verzaubert und er hätte sie kennenlernen müssen! Lange hatten sie sich in dieser Nacht nicht unterhalten, dafür jedoch hatten sie gemeinsam gesungen. Zuerst war es nur ein Summen gewesen, von dem keiner von ihnen später hatte sagen können, wer damit begonnen hatte. Dann hatte sich erste Worte gebildet, ihre Stimmen sich erhoben und zu Wohlklang vereint. Noch heute brauchte sie nur die Augen schließen und konnte die Musik sofort wieder hören, diese wunderschöne Melodie, die sie einhüllte und alles um sich vergessen ließ. Was gäbe Lene darum, diese Weise nun anstimmen zu können. Noch einmal wollte sie diese unvergleichlichen Klänge hören, die keine Noten dieser Welt würden ausdrücken können. Nur einmal noch wünschte sich Lene, in der Musik zu ertrinken, die nun für immer verloren schien. Könnte sie doch die Melodie ihres ersten Treffens singen, sie weben wie ein Netz, in dem man den Zuhörer fing. Würde Ruun sie dann erhören und zurückkehren? Vermutlich nicht, lautete die ernüchternde Antwort. Wahrscheinlicher war, dass er sie aufgegeben hatte. Ruuns Leben ging ohne sie weiter und vielleicht, wisperte eine leise Stimme in ihren Gedanken voller Neid, hatte Ruun jemand anderes gefunden, mit dem er nach der Harmonie des Einklangs streben konnte, die sie beide geteilt hatten, während Lene nur die Stille geblieben war. Ruun und sein Geheimnis mochten bedeutet haben, dass dafür andere Freundschaften geschwunden waren und sie immer weniger Kontakt zu anderen Menschen hatte, aber vermisst hatte Lene das eigentlich nicht. Ohnehin hätte sie nichts anders gekonnt, als dem Gesang Ruuns zu folgen und einzustimmen. Selbst, wenn bedeutete, ein paar Freunde zu verlieren, hatte sie die Noten einfach singen müssen, die ihr die Stimme des Nix diktierte, so sehr hatten die Melodien sie eingefangen. Schlussendlich jedoch war der Preis sehr viel größer, als sie erwartet hatte. Nicht nur ein paar Freundschaften, sondern eigentlich alle Kontakte, die sie tagsüber hätte pflegen können, schliefen nach und nach ein, weil Lene tagsüber schlief, um die Nächte über wach sein und sie mit Ruun verbringen zu können. Ihr Leben würde ein einsames, doch sie war willens, dieses Opfer zu bringen, so viel hatten ihr der Nix und jede kostbare Sekunde mit ihm bedeutet. Sie hätte nicht auf eine verzichten wollen oder können. Nicht einmal dann, wenn sie gewusst hätte, wohin es sie führen würde. Nur einmal hatte sie ihn gesehen, seit sie taub war. Sie hatte es ihm erklärt, hatte ihn gebeten, Dinge aufzuschreiben, weil sie ihn nicht hören konnte, doch in seinen Augen hatte sie bereits die Enttäuschung gesehen, nachdem sie die ersten Noten gesungen hatte in der Hoffnung, alles könnte bleiben, wie es war. Bitterkeit erfüllte ihr Herz und ihre Miene, während sie den Strand entlang schritt, dabei ihre dünne Strickjacke enger um sich ziehend. Wenigstens ein allerletztes Mal hätte sie ihn gerne noch gesehen, ihren Ruun. Schon vor ihm hatte Lene Musik geliebt, hatte gesungen und mehrere Instrumente zu spielen gelernt. Nichts hatte sie davon abhalten können. Musik war ihre Droge gewesen. Kein Wunder also, dass sie erst dem Chor, später einer Rockband beigetreten war. Einer riesigen CD-Sammlung war schließlich eine Festplatte voller MP3-Dateien gefolgt. Taschengeld war immer in Konzerttickets geflossen. Von Rock über Klassik, von Oper bis Symphonie-Orchester. Lene hatte fast alles geliebt. Ruun hatte all das übertroffen. Er hatte die Tür zu einer Welt der Klänge geöffnet, die über alles hinausging, was Lene zuvor gehört hatte. Als habe jemand den Schleier geöffnet, unter dem sie unwissend ihr ganzes Leben verbracht hatte. Die Stimme des Nix war wir Flügel für sie gewesen. Sie hatte nur die Augen schließen müssen und ihre Seele erhob sich, hoch empor in den Himmel, schweben zwischen Wolken, frei von jeder Last und Sorge. Lene gäbe alles dafür, noch einmal so zu empfinden. Darum war sie heute hier, wieder einmal. Die kleine Okarina in ihrer Jackentasche wurde mit jedem Schritt schwerer, als wolle sie sie daran erinnern, an welche Hoffnung sie sich wider besseren Wissens so verzweifelt klammerte. Lange stand Lene einfach da und sah hinaus aufs Meer, bis sie ein Herz fasste und das Instrument hervor zog und es an die Lippen setzte, um eine ungehörte Note zu spielen. Ihre Finger zitterten. Sie hatte nicht den kleinsten Laut gehört. Wie immer seit dem Unfall. Jedes Instrument blieb stumm für sie, keine Stimme erreichte sie mehr, nicht die kleinste Melodie drang länger an ihr Ohr. Mit dem Unfall und dem Verlust ihres Gehörs hatte Lene alles verloren, nämlich die Musik. Nichts war ihr geblieben. Ihre Familie schien ihr unendlich fern, Freunde waren zu Bekannten geworden, Nachbarn zu Fremden und Ruun, der der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen war, hatte sie verlassen. Zuerst hatte sie geweint und geschrien, dann war sie wütend geworden bis schließlich die Stille auch hier gewonnen hatte, als wolle sie Lenes ganzes Leben einnehmen. Jeder Moment, der einst von Musik, von Klängen und Melodien erfüllt gewesen und ihr als Augenblick voller Licht erschienen war, kannte jetzt nur noch Stille. Mit den Klängen hatte auch alles andere in ihren Leben, das ihr Sinn und Hoffnung geschenkt hatte, ein Ende gefunden. Lene atmete tief durch, schmeckte das Salz in der Luft und spürte den kalten Wind auf ihren Wangen, der ihr das Haar zerzauste und sie blinzeln ließ, weil er in den Augen brannte. Irgendwo da draußen war Ruun. So laut sie nur konnte rief sie seinen Namen. Sie wollte, dass er genau wusste, dass sie hier war, an ihrem üblichen Treffpunkt, dass sie ihn nicht aufgegeben und verraten hatte. Er sollte sich immer daran erinnern, was sie beide verbunden hatte. Sie war mehr als willens, ihm zu zeigen, dass er darin irrte, sie einfach abzuschreiben! Für Lene blieb die Welt in Stille getaucht, doch für jeden anderen erklang ihre klare Stimme laut und harmonisch, begleitet vom Rauschen der Wellen, denen sie entgegen sang, als wollte sie das Meer selbst herausfordern. Taub für die eigenen Worte, folgte Lenes Stimme dem Auf und Ab der Noten eben jener Melodie, die sie einst mit Ruun zusammengeführt hatte. Ihre Ohren mochten sie nicht länger hören, doch in ihrem Kopf konnte sie jeden Klang genau widerhallen hören, lauschte sie nur tief in sich hinein, wo die Melodie unauslöschbar in ihrer Seele geschrieben stand. Sie war bereit, alles auf diese letzte Karte zu setzen, auf diesen letzten Versuch, den Nix mit ihrer Stimme zu erreichen. Nicht, weil sie glaubte, dass er wirklich zurück käme, sondern weil sie nicht anders konnte, als diesen letzten Abschied zu singen. Es nicht zu tun, wäre ihr falsch erschienen. Sie hatten zu viel gemeinsam erfahren, als dass irgendetwas sie dies hätte vergessen lassen können. Zu schweigen wäre ihr erschienen wie ein Verbrechen, selbst wenn sie selbst keinen Ton mehr hören konnte und nur erahnte, wie ihre Stimmes sich über dem Rauschen des Meeres erhob. Sehnsüchtig starrte Lene in die Ferne, während ihr eine stille Träne über die Wange rann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)