Niichan von MariLuna ================================================================================ Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- Kapitel 2   Zögernd tauscht Leonardo den alten Kaffeebecher auf dem Nachttischchen mit einem neuen aus. Aber er bezweifelt, dass Kazuo diesen Becher anrühren wird – das war bei den letzten vier Bechern schließlich auch nicht der Fall. Eigentlich tauscht er hier immer nur einen Becher kalten Kaffees gegen einen heißen aus. Aber er weiß nicht, wie er ihm sonst helfen soll. „Es tut mir Leid“, murmelt er zum gefühlten tausendsten Male und legt Kazuo kurz die Hand auf die Schulter. Der reagiert kaum. Er hat sich seit Stunden nicht bewegt, hockt nur auf diesem billigen Plastikstuhl und hält die Hand seines Bruders. Leonardo versucht, nicht allzu genau hinzusehen. Der Anblick des großen, bösen Shredders, wie er da so blaß und leblos im Krankenhausbett liegt, Sauerstoffmaske über Nase und Mund, den Kopf dick verbunden und angeschlossenen an diese vielen Geräte – das ist einfach nur beklemmend. Der Herzmonitor ist das Schlimmste: er zeigt Kurven, die ihm nichts sagen und piepst manchmal ganz durchdringend. „Brauchst du noch etwas, Kazuo? Ich gehe gleich.“ Er ist todmüde. Seine Brüder sind schon längst nach Hause gegangen und für ihn wird es jetzt auch Zeit. Er kann hier doch sowieso nichts mehr ausrichten. „Oder willst du, dass ich bleibe?“ „Nein“, kommt es geistesabwesend zurück. „Geh ruhig. Danke.“ Leonardo schluckt einmal schwer und nickt. „Wenn etwas ist – du hast unsere Nummer?“ Kazuo nickt nur wortlos. Bevor er geht, berührt Leonardo ihn noch ein letztes Mal tröstend an der Schulter. Es ist bestimmt falsch so zu fühlen, aber der Turtle ist richtiggehend erleichtert, diesen Ort nach den längsten vierundzwanzig Stunden seines Lebens jetzt endlich verlassen zu können.     Der Arzt ist nett, extra für ihn haben sie jemanden geholt, der seine Sprache spricht und jedes Wort übersetzt, damit er auch gar nichts falsch versteht. Sie reden von solchen Dingen wie „abnehmender Gehirnaktivität“, „Koma“ und „beginnendem Multiorganversagen“, aber Kazuo will das alles gar nicht hören. Saki hat einen Puls, er atmet und außerdem ist er ein zäher Bastard – er muß nur hier sitzen und darauf warten, dass er wieder aufwacht. Daran will Kazuo glauben. Wenn sein Niichan nur fühlt, daß er bei ihm ist, wenn er seine Stimme hört, dann kommt er bestimmt zurück. Denn sein Niichan ist stark. „Bitte, Niichan. Kämpfe. Gib nicht auf. Komm zu mir zurück.“ Behutsam fährt er mit den Fingerspitzen über jene Teile von Sakis Gesicht, die nicht von der Sauerstoffmaske verdeckt werden: die hohen Wangenknochen, seinen eigenen so ähnlich, der gerade Nasenrücken und die feingeschwungenen Augenbrauen … die Berührung weckt alte Erinnerungen, die er bisher gut weggesperrt hatte. Erinnerungen an eine Zeit voller jugendlichen Aufbegehrens, in der dieses wir-gegen-den-Rest-der-Welt-Gefühl vorherrschte, sobald er mit seinem Bruder zusammen war. Seit er denken konnte, war Saki sein großer Held. Erst hat er ihn bewundert, dann verehrt und schließlich regelrecht vergöttert. Erst wollte er ihm nacheifern, dann beeindrucken und schließlich vor allem und jeden beschützen, so wie er ihn vor allem und jedem beschützt hat. „Oh Niichan...“ Kazuo entringt sich ein zitternder Seufzer. Kraftlos lässt er sich nach vorne sinken und bettet seinen Kopf schließlich auf Sakis ausladendem Brustkorb, vorsichtig, damit keine der Elektroden verrutscht. Er spürt, wie sich Sakis Brustkorb hebt und senkt und wenn er die Augen schließt und das Piepsen der Geräte ausblendet, ist es beinahe wieder so wie früher. Fast erwartet er jederzeit zu spüren, wie ihm eine kräftige Hand durchs Haar streichelt und eine leise Stimme über ihm Worte des Trostes wispert. „Ich bin hier, Niichan“, Kazuo tastet nach Sakis Hand und umklammert sie ganz fest, während er sein Gesicht verzweifelt an dessen Brust vergräbt. „Ich warte auf dich.“     Er schläft nicht, auch wenn ihm die Augenlider noch so bleischwer werden oder sein Kopf hämmert als wolle er zerspringen. An ihm nagt die irrationale Angst, Saki könne, sobald er es auch nur wage, die Augen zu schließen, den Kampf um sein Leben aufgeben. Als hänge es ganz allein an Kazuo, ob Saki wieder aufwacht oder nicht. Er kann ihn doch nicht einfach im Stich lassen! Saki war schließlich auch immer für ihn da. Also konzentriert er sich weiter: auf seinen Herzschlag, auf seine Atmung, auf die Wärme seines Körpers, als könne er ihn allein durch seinen Willen dazu zwingen, weiter zu leben. Er paßt seinen eigenen Atem unwillkürlich Sakis an und fühlt sich zurück versetzt in eine Zeit, wo ihm dies schon quasi zur zweiten Natur geworden war. In seinem Leben gab es viele dunkle Momente, manchmal nur Stunden, aber dann auch wieder Tage und Nächte und jedes Mal war Saki da, sein Fels in der Brandung. Er konnte mit jedem Problem zu ihm kommen und sicher sein, dass sein Bruder es löste. Und dann, eines Tages, genügte es ihm schon, wenn Saki ihn einfach nur in seine Arme nahm. Es geschah ab da immer öfter, dass sie zusammen auf seinem Bett lagen und er sich an ihn kuschelte, den Kopf auf Sakis Brust wie jetzt und wenn Saki ihn dann fest in seine Arme nahm und ihm über den Kopf streichelte, dann war Kazuos Welt wieder in Ordnung. All das, was das Leben eines Teenagers so beschwerlich machte, verschwand in diesen Momenten. Zweieinhalb Jahre trennen sie, aber Saki behandelte ihn immer als wären es nur zweieinhalb Stunden. Er behandelte ihn nie von oben herab und nahm ihn immer ernst. Bei ihm fühlte er sich immer sicher und geborgen. Sie wuchsen ohne Vater auf und mit einer Mutter, die viel von ihnen verlangte - Gehorsam und Fleiß und Erfolg - aber ihnen emotional nicht viel geben konnte. Aber bei Saki fand er das alles. Und noch viel mehr. Nichts und niemand kam zwischen sie, nicht einmal ihre jeweiligen Freundinnen, als sie welche hatten. Es war, so wird Kazuo mit erschreckender Deutlichkeit bewusst, die glücklichste Zeit in seinem Leben. „Saki, komm zurück zu mir.“     Er schreckt auf, weil er einen furchtbaren Druckschmerz an seiner Hand spürt. Zuerst denkt er, es ist passiert, sein Bruder wäre aufgewacht und würde deshalb seine Hand fast zerquetschen, aber dann durchdringt das panische Piepsen die Käseglocke seines Ichs. Er springt so heftig auf, dass der Stuhl polternd umkippt. Aber Saki hält immer noch seine Hand. Das Piepsen wird hektischer, die Kurven auf dem Monitor enger und spitzer. Und dann bäumt sich der Körper seines Bruders auf und plötzlich sind seine Augen weit offen und ihre Blicke begegnen sich. Und für einen Moment ist sein Bruder hier, bei ihm, aber dann wird aus dem Piepsen ein einziger, langgezogener und furchtbar endgültiger Ton. Kazuo sieht das Licht in Sakis Augen erlöschen, und dann, ganz plötzlich, ist seine Hand frei. Die Tür wird aufgestoßen und eine Schwester stürmt mit einem Defillibratorwagen herein, begleitet von einem Arzt. Sie schreien sich Befehle zu, aber all das nimmt Kazuo nur noch wie durch einen Nebel wahr. Etwas sehr, sehr Wichtiges, das spürt er - ist weg.     Obwohl sie in den Tiefen der Kanalisation liegt, herrschte in der Behausung der Teenage Mutant Ninja Turtles und ihres Senseis Splinters noch niemals eine solch düster-gedrückte Stimmung wie heute. Der Ort, in dem es sonst vor Leben sprüht, wo Ausgelassenheit und Heiterkeit herrschen und oft auch – sehr zu Splinters Leidwesen – ein ausgeprägtes Chaos, ist nun düster und grau geworden. Im Hintergrund läuft der Fernseher und auf dem Tisch liegt eine angefangene Pizza, aber niemand von ihnen schert sich darum. Seit auch Leonardo aus dem Krankenhaus zurückgekehrt ist, scheint sich eine schwere Decke lähmender Apathie über sie alle gelegt zu haben. Ihr Schlafmangel vergrößert das Problem nur noch und sie haben alle dumpfe Kopfschmerzen – der eine mehr, der andere weniger. Sie sind müde und erschöpft und doch ist an Schlafen für niemanden zu denken. Nicht einmal für April, die bei ihnen auf der Couch sitzt und ihnen seit ihrem Feierabend Gesellschaft leistet. Sie kümmert sich darum, daß sie wenigstens etwas Trinken, wenn sie schon keinen Hunger verspüren. Und auch sonst ist ihre moralische Unterstützung für sie sehr wichtig. Für sie alle. Und das schließt auch Splinter mit ein. Ihr Sensei zeigt sich ruhig und gefaßt, und auch er konzentriert sich sehr auf das Wohl seiner Turtles, doch das ist eindeutig nur Ablenkung. Meistens sitzt er nämlich genau wie sie nur da und dreht dabei Shredders Helm unbewußt zwischen seinen Händen hin und her. Der Rest von Shredders Ausrüstung liegt mehr oder weniger ordentlich und unbeachtet neben der Couch auf dem Boden, wo die vier Jungs sie nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus hingelegt haben. Nur der Helm hat bei ihnen immer wieder die Runde gemacht und besonderes, geradezu morbides Interesse hat bei ihnen allen das Loch in der Seite geweckt. Die blutige Innenseite dagegen hat dazu geführt, daß niemand den Helm länger als eine Minute in die Hand nahm. Außer Splinter. Der hat sogar eine Stunde damit verbracht, den Helm zu reinigen. Das meiste hat er sogar herausbekommen und bestimmt hat der Helm noch nie so schön geglänzt wie jetzt. „Bin ich ein schlechter Turtle, weil ich mir wünsche, die ganze Sache wäre langsam vorbei? Auf die eine oder andere Art?" meint Raphael plötzlich, während er lustlos immer wieder seine Sai-Gabeln in die Sofalehne bohrt. Normalerweise würde dies Splinter auf hundertachtzig bringen, aber heute scheint er es nicht einmal zu bemerken. Donatello dagegen, der genau neben ihm sitzt, gibt ihm einen tadelnden Ellbogenstoß in die Seite. „Nein, Raphael", erwidert Leonardo auf Raphaels Worte hin sanft. „Das geht uns allen so." „Wirklich?" kommt es bitter zurück, während ein Sai bis zum Griff im Polster verschwindet. „Ich überlege mir nämlich langsam, dass es viel besser gewesen wäre, wenn ich ihn härter erwischt hätte. Wenn er härter gegen den Pfeiler geknallt wäre. Mehr an die Ecke. Genickbruch. Schnell und sauber. Das hier ist einfach nur … grausam." Donatello schüttelt den Kopf und deutet vielsagend auf den Helm in Splinters Händen, besonders auf den starren Nackenschutz. „Bei dem Helm ist ein Genickbruch so nicht möglich. Aber wenn ihm das Eisenteil direkt ins Auge gegangen wäre, bis zum Anschlag ins Hirn, das hätte wahrscheinlich einen schnellen Tod zur Folge gehabt." Normalerweise wäre er entsetzt über seine kaltschnäuzigen Worte, und das wären auch alle anderen hier, und zwar zu Recht, aber heute... Heute hilft es. Das Ganze auf die nüchtern-wissenschaftliche Stufe zu heben, macht es irgendwie erträglicher. „Es ist nicht eure Schuld", erklärt April - nicht zum ersten Male innerhalb der letzten Stunden. „So etwas kann bei einem Kampf passieren." „April", schlägt Splinter leise vor – und auch das nicht zum ersten Mal, „du solltest nach Hause gehen." Mit einem dünnen Lächeln schüttelt sie den Kopf – wie so oft zuvor. „Nein, ist schon gut. Ich bleibe gerne." Sogar ihre Worte sind fast immer dieselben. Die Stimmung hier ist merkwürdig, aber für die Welt da draußen, für ihre tägliche Routine, fühlt sie sich noch nicht bereit. Und ins Krankenhaus gehen, so wie die Turtles es taten, das bringt sie einfach nicht über sich. Also bleibt sie hier und leistet ihnen moralischen Beistand so gut sie kann. Für die nächsten Sekunden versinken sie alle wieder in ihren düsteren Gedanken. „Kazuo war nicht mal sauer auf uns", meint Michelangelo plötzlich in die Stille hinein. Seine Stimme klingt dumpf und hohl, zeugt von großer Müdigkeit und mentaler Erschöpfung. „Ich dachte, er würde uns anschreien oder so. Ich hätte es gemacht," fügt er mit gesenktem Kopf hinzu. April langt zu ihm hinüber und drückt aufmunternd seine Schulter. „Er weiß eben auch, daß es ein Unfall war." Michelangelo schenkt ihr daraufhin nur ein schmales Lächeln. „Ich wünschte, wir könnten etwas für ihn tun. Vielleicht", schlägt er vorsichtig vor, „sollten wir nachher wieder hingehen?" Beinahe schüchtern blickt er von einem Bruder zum anderen, und als die nur zögernd nicken, atmet Michelangelo erleichtert auf. Um Splinters Mundwinkel zuckt ein kleines, stolzes Lächeln. Sie sind anständige Jungs, seine Turtles, mutig und tapfer, und das nicht nur im Kampf. „Ihr müsst euch ausruhen, meine Schüler. Danach könnt ihr wieder ins Krankenhaus." „Shredder wird nicht mehr so lange durchhalten", gibt Leonardo zu bedenken. „Ich hab gehört, was die Schwestern so reden. Sie sagen, er wird diesen Tag nicht überleben." Seinen Worten folgt eine beklemmende Stille. „Könnt ihr euch das vorstellen?" flüstert Donatello betroffen. „Eine Welt ohne Shredder?" „Ja." Raphael verzieht das Gesicht zu einer zynischen Grimasse und setzt ein müdes „Juchu." hinterher. Seine Brüder raffen sich zu einem schwachen Lächeln auf. Denn - sollten sie nicht froh und erleichtert darüber sein, ihren Erzfeind bald loszuwerden? Und dennoch fühlen sie nichts davon. Im Gegenteil: dieser Schwebezustand aus Hoffen und Bangen zerrt an ihrer Substanz. Sie fühlen sich wie gelähmt, geradezu betäubt. Leonardo gibt einen langgezogenen Stoßseufzer von sich. „Armer Kazuo." „Armer Rocksteady", ergänzt Raphael nachdenklich. „Armer Bebop. Armer ... Krang...?" Leonardo nickt ernst. „Die auch. Aber die müssen ihm nicht beim Sterben zusehen." Wieder herrscht zwischen ihnen eine kurze, schwere Stille, bis Michelangelo leise aufseufzt. „Ich hätte es nie gedacht, aber … es war eindeutig, nicht wahr? Kazuo hängt sehr an seinem großen Bruder. Er sah richtig fertig aus." „Ich habe ihn gehört", bekümmert fährt sich Leonardo mit der linken Hand durchs Gesicht. „Mein japanisch ist nicht so gut, aber soweit ich es verstanden habe, bat er ihn, zu ihm zurück zu kommen und nicht zu sterben. Dabei klang er richtiggehend verzweifelt.“ „Die beiden Brüder stehen sich sehr nahe", nickt Splinter mit einem seltsamen Unterton, der jedoch niemandem hier auffällt. „Kazuo hat hier niemanden, oder? Wir sollten ihm helfen, wenn das … vorbei ist", schlägt Donatello leise vor. Die anderen nicken sofort. Ja, dafür sind sie auch. Zumindest das können sie tun. Und es ist viel leichter, an so etwas zu denken als daran, daß Shredder im Krankenhaus um sein Leben kämpft. Plötzlich zieht Splinter die Luft mit einem leisen Zischen ein und greift sich an die Brust. „Sensei?“ Erschrocken scharen sich die Turtles und April um ihn, doch er hebt abwehrend die Hand und bittet sie wortlos um etwas Abstand, dem sie ihm zögernd gewähren. Für die Dauer eines Herzschlages lauscht er einfach mit geschlossenen Augen tief in sich hinein. Dann holt er einmal tief Luft und öffnet seine Augen wieder. Sie schimmern dunkler als jemals zuvor. Er zögert unmerklich, als er in die besorgten, erschöpften Gesichter seiner Schüler blickt, doch vor der Wahrheit kann er sie nicht schützen. Sich selbst übrigens auch nicht, wie er an dem plötzlichem Druckgefühl in seiner Herzgegend erkennt. „Es ist vorbei.“ Seine Stimme klingt merkwürdig flach und monoton. „Ich spüre, daß Oroku Saki soeben gestorben ist.“     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)