»Steig auf!« von Gmork ([ Otayuri ]) ================================================================================ Prolog: Intro: »Nein.« ---------------------- Wenn frei zu sein bedeutete die Arme zu heben und sein Verlangen offen zu zeigen, dann hatte er soeben die Freiheit gefunden. Da war dieses Gefühl in seiner Brust, schon so lang. Von Anfang an, seit sich ihre Blicke zum ersten Mal gekreuzt hatten. Etwas, das mit jeder Begegnung und jeder zufälligen Berührung bittersüß über sein Herz rieb. Schwitzige Hände beim Telefonieren. Herzstolpern, wenn eine Nachricht kam. Wut bei Funkstille. Und dieses klaffende Loch in seiner Brust bei jedem Gedanken an ihn. Dieses verdammte Gefühl, das er vorher nie spüren musste. Und wie sehr hatte es ihn getroffen, bei der Erkenntnis, dass es Vermissen war. Vermissen, Sehnsucht, Trauer. Die erste Erfahrung etwas haben zu wollen, was man nicht bekam. Ein völlig neues Empfinden, auferstanden aus dem Unbekanntem.   Verdrängung war gescheitert. Entfernung hatte nichts geändert, Zeit nichts gerichtet, Training nicht davon abgelenkt. Es war immer nur stärker geworden.   Doch jetzt war er hier, ein Jahr nachdem er bei seinem Senioren-Debüt die Goldmedaille geholt hatte. Das zweite Wiedersehen in Fleisch und Blut. Seine erste und letzte Chance das auszudrücken, was ihn nun schon so lange quälte. Und es fiel ihm so unerwartet leicht. Jeder Toeloop verlieh ihm Flügel, jeder Axel riss ihn ein Stück mehr aus seiner Angst. Fahrtwind peitschte durch sein Haar und versetzte ihn zurück in die Vergangenheit: Nach Barcelona, zu seiner ersten Fahrt auf einem Motorrad, mit dem Geruch seiner Lederjacke in der Nase und das Rauschen der Straße unter ihnen. Jeder, der ihn länger als fünf Minuten kannte, wusste um sein loses Mundwerk und der Talentlosigkeit, freundliche Gespräche zu führen. Manche Spitznamen hafteten ihm nicht umsonst nach und eben dieser fläzige Ruf eilte ihm sehr oft voraus. Sanfte Worte fielen ihm schwer. Er war ein Mensch der Taten. Auch sein bester Freund konnte ein Lied davon singen. Immer wieder glitt sein Blick zurück zu ihm. Sah er zu? Er musste einfach. Er tat das für ihn. Er öffnete sich ihm, auch wenn er wusste, dass es Wahnsinn war. Doch er hatte keine Wahl, er musste diesen Wahnsinn willkommen heißen. »Ich habe immer gedacht, dass wir uns ähnlich sind.« Dieses erste Gespräch zwischen ihnen war unvergessen. Schon damals hatte sein Herz wie wild geschlagen und er hatte es ignoriert. Wenn er es nur schon damals richtig gedeutet hätte … Ruckartig drehte er sich in seine Richtung, suchte ihn, erfasste ihn. Noch während der Fahrt riss er sich die Sonnenbrille herunter und entblößte tiefschwarze Smokey-Eyes. Er wollte ihn ansehen und von ihm angesehen werden, so sehr, dass es ihn von innen verbrannte und seine Organe schmolz. Er gab sich dem hin, streckte im Rausch der Musik seine Hand nach ihm aus -  und wie sehr überraschte es ihn, als sein Gegenüber diese tatsächlich ergriff. Plötzlich war dort überall Gänsehaut, als er in diesen sonst so ruhigen Augen etwas aufblitzen sah. In fließender Eleganz ließ er sich den Handschuh abstreifen und zögerte auch nicht mit seiner stummen Aufforderung, es bei der anderen Hand gleichzutun. Und dann spürte er plötzlich Lippen und Zähne an seinen Fingern, die Blitze nicht nur in seine Brust, sondern auch in seine Lenden jagten. Gott sei Dank übertönte die Musik sein erregtes Keuchen, als auch der zweite Handschuh vergessen zu Boden fiel. Jetzt war es sicher. Deutlicher konnten keine Worte der Welt sagen, dass die Botschaft angekommen war. Und er tanzte weiter, denn sein Auftritt war noch nicht beendet. Seine gesamte letzte Kraft legte er in seine Choreographie, denn von nun an tat er das nicht mehr für sich allein, sondern auch für ihn. Von der anderen Seite der Eisfläche glitt er auf ihn zu und ging dabei in die Knie, ließ geschmeidig seinen Oberkörper nach hinten gleiten und zog die ausgestreckten Arme hinter sich her zu einer sinnlichen Pose. Wie durch Zufall rutschte dabei sein schwarzes Tanktop bis über seine Brust und entblößte nackte Stellen, die er bis zu diesem Tag niemandem erlaubt hatte so zu sehen. »Willst du mein Freund sein, oder nicht?« Er richtete sich auf und verlor sich in Pirouetten, wirbelte herum und fasste mit unsichtbaren Händen immer wieder in seine Richtung. Seine direkte Art war schon damals erschütternd gewesen. Und schon letztes Jahr in Barcelona hatte er die richtige Antwort gekannt, jedoch zum ersten Mal erfahren was es hieß den Mut zu verlieren. Nein. Nein, ich will keine Freundschaft mit dir. Teil eins: »Freunde?« --------------------- Wenn man nach Freundschaft suchte, war Yuri Plisetsky mit Sicherheit keine gute Anlaufstelle. Seine schroffe Art war in der gesamten Szene fast bekannter, als sein herausragendes Talent im Eiskunstlauf und stand im skurrilen Kontrast zu seinen sinnlichen Darbietungen vor dem Publikum. Dieser schlanke Körper, das hellblonde Haar und die grazilen Bewegungen – all das ließ nicht darauf schließen, dass sich sein Hauptvokabular bevorzugt aus Schimpfworten und Großkotzigkeit zusammensetzte. Nur seine Augen verrieten es – wenn man tatsächlich wagte seinen Blick länger als zwei Sekunden zu erwidern. »Hä? Was soll das werden, Alter?« Otabeks Mundwinkel zuckte, doch ein Lächeln blieb aus. Es war nicht leicht diesem stechenden Grün standzuhalten. Er wandte sich ab und verließ die Lobby. - - - Er liebte sein Motorrad. Wenn er nicht gerade auf dem Eis war oder in angesagten Clubs in Kasachstan Platten auflegte, gab es nur ihn und den Fahrtwind in seinem Gesicht. Immer wenn der Grand Prix in greifbare Nähe rückte, brauchte er seine Maschine mehr, denn je. Sie half ihm zu innerer Ruhe und reinigte seine Gedanken. Außerdem schützte sie ihn vor Gesprächen, die er nicht führen wollte. Dieser erzwungene Smalltalk, nur um den Schein zu wahren. Er war hier, um zu gewinnen und nicht um Freundschaften zu schließen. Das redete er sich ein. Und bei dem Großteil seiner Konkurrenz stimmte das auch. »Steig auf, Yuri.« Er erwiderte aus ruhigen Augen den perplexen Blick, halb verdeckt von hellblondem Haar. War es vorbestimmtes Schicksal oder frappierender Zufall, dass er ihn jetzt traf? Er tat es als Zufall ab. An Schicksal hatte er noch nie geglaubt. »Hä? Was?« Vom anderen Ende der Gasse konnten sie das erregte Kreischen der Yuri-Angels hören, wahrscheinlich der lästigste und penetranteste Fanclub, den man sich wünschen konnte. Es waren viele. Und sie waren schon bedrohlich nah. Wenn sie sich nicht beeilten, würden sie es hier nicht mehr heil herausschaffen. Ein wenig unwirsch warf er ihm seinen Ersatzhelm entgegen. »Kommst du mit, oder nicht?« Das stechende Grün begann zu leuchten. Zum ersten Mal schienen Yuri Plisetsky die Worte ausgegangen zu sein. Otabek Altin glaubte nicht an Schicksal. Dennoch konnte er den Gedanken nicht ablegen, dass ihre Freundschaft vorbestimmt war. Zum ersten Mal erlebte er einen Yuri, dessen Mund keine Vulgarität abfeuerte. Sie standen nebeneinander, blickten in die Ferne der Sonne und die kalte Dezemberluft schien sie nicht im Geringsten zu stören. Wie von selbst zog sich ein roter Faden durch ihr Gespräch. Und wie sanft konnte Yuris Stimme sein, wenn er nicht gerade keifend seinem Ärger Luft machte. »Otabek. Warum hast du mich angesprochen?« Dieser zarte Ton erwischte ihn auf dem falschen Fuß. Sein Blick zeigte weiterhin zur Sonne, doch aus dem Augenwinkel sah er, dass Yuri sich ihm zugewandt hatte. War da Unsicherheit in seiner Stimme? Konnte er so etwas überhaupt empfinden? »Ich bin doch dein Gegner.« Direkte Worte hatten die beiden schon immer gefunden. »Ich habe immer gedacht, dass wir uns ähnlich sind. Das ist alles.« Erst jetzt sah er zu ihm und tatsächlich: Misstrauen spiegelte sich in Yuris Augen. Misstrauen und Angst vor Verletzung. Otabek fühlte sich seltsam bei dem Gedanken, dass er einer von nur Wenigen sein könnte, denen Yuri diese Seite offenbarte. Er fasste sich ein Herz und ging noch einen Schritt weiter. »Willst du mein Freund sein oder nicht?« - - - Mit dem Ende des Grand Prix zogen sich Hektik und Aufbruchsstimmung durch das riesige Hotel, in denen die Kontrahenten untergebracht waren. Die Lobby quoll über vor Gepäck und Menschen, die auf ihre georderten Taxis warteten. Viele seiner Konkurrenten hatten sich schon verabschiedet und trotzdem vergingen gefühlt Stunden, bis sich der Eingangsbereich langsam lichtete. Otabek war müde. Die überschwänglichen Verabschiedungen entlockten ihm lediglich ein knappes Nicken mit dem Kopf, während sein Blick wachsam umherirrte. Einen kurzen Moment glaubte er, ihn verpasst zu haben. Doch dann hörte er eine ihm wohlbekannte Stimme. »Könnt ihr nicht ein einziges Mal eure Grabbelflossen voneinander lassen? Das ist eklig hoch zehn! Ich kotz gleich mein Frühstück wieder aus!« Ein paar Leute drehten sich entrüstet zu der Person um und Otabek wunderte sich ehrlich darüber, dass manche noch immer geschockt auf dieses Verhalten reagierten. Kannte man ihn denn anders? Nun, er schon. Gemächlich trat er an ihn heran und versuchte bei dem Gedanken, sich doch noch vernünftig verabschieden zu können, nicht allzu erleichtert auszusehen. Yuri bemerkte ihn nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt der Eislauflegende Victor Nikiforov, der einen Arm um seinen Schützling Yuuri Katsuki gelegt hatte, seine unverfrorene Meinung zu geigen. Victor nahm es mit besonnener Gelassenheit hin, während Yuuri unter seinen schwarzen Haaren feuerrot angelaufen war. Jeder, der Augen im Kopf hatte, sah, dass die beiden mehr verband, als nur das Training. »Schon schlimm genug, dass ich mir euer Gesülze jetzt auch noch in Russland antun muss, dann lass wenigstens jetzt die Finger vom Katsudon, Baka! Mir krempelt sich gerade alles um!« »Yurio, entspann dich und sieh nach hinten. Du hast Besuch.« Fröhlich hob Victor seine freie Hand und winkte Otabek zu. »Hör auf vom Thema abzulenken, Opa! Wer würde mich schon freiwillig-« »Hey.« Zufrieden registrierte Otabek, dass Yuri beim Klang seiner Stimme augenblicklich erstarrte. Langsam drehte er sich in seine Richtung und offenbarte unter seiner Kapuze rote Wangen und einen trotzigen Blick. Victor und Katsuki kicherten und auch an Otabeks Mundwinkel zupfte ein schadenfrohes Grinsen. »Hey. Ich … Moment! Warte mal kurz.« Sein Blick ruckte wieder zu den anderen. »Verzieht euch. Geht draußen mit Giftmüll spielen, oder so!« Begleitet von einem hastigen Nicken packte Yuuri Victors Arm und begann ihn mitsamt ihren Koffern aus dem Tanzbereich zu ziehen. »Bis nachher, Yurio! Wir warten beim Taxi!« Ein letzter Wink in Otabeks Richtung und sie hatten den Eingangsbereich verlassen. Yurio atmete hörbar aus. »Die sind echt zum Kotzen.« Seine Stimme trug noch immer einen Hauch Wut in sich, aber Otabek glaubte auch etwas anderes herausgehört zu haben: Neid. Neid, über das Glück der beiden. Er wollte etwas erwidern, doch plötzlich griff Schweigen nach ihnen. Es wog schwer, denn sie wussten beide, dass es ein vorläufiger Abschied war. Zwischen Kasachstan und Russland lagen zwar keine Welten, allerdings war die meiste Zeit dem Training und in Yuris Fall auch der Schule gewidmet. Sich Illusionen zu machen erleichterte diese Situation nicht. Mit gesenktem Kopf stand er vor ihm, umklammerte seine Kapuze und wagte keinen Blick in seine Augen. »Ich dachte echt du bist schon weg.« Seine Stimme ließ Otabek aufhorchen. Neid war der abermaligen Unsicherheit gewichen. »Ohne auf Wiedersehen zu sagen? Was für ein Freund wäre ich denn dann?« Yuri blickte auf und sofort sprühten seine Augen wieder Angriffslust. »Ein ziemlich beschissener!« Otabek hob eine Augenbraue. »Und genau das will ich nicht sein.« Es sollte das zweite Mal sein, dass er Yuri Plisetsky sprachlos machte. »Hmpf.« Mit aufgeblähten Wangen kramte er in seinen Jackentaschen herum, fand das Gesuchte und hielt es ihm vor die Nase. Sein Handy. Er hatte es entriegelt und ein leeres Kontaktfeld leuchtete Otabek entgegen. Etwas verwirrt sah er ihn an und erntete dafür grüne Augen, die sich genervt verdrehten. »Nun tipp schon deine scheiß Nummer ein!« Wie charmant. Lächelnd nahm er ihm das Smartphone aus der Hand. Ihre Finger streiften sich. Nach nur wenigen Sekunden war seine Arbeit getan und als Yuri sich das Smartphone zurückholte, ertappte Otabek sich dabei, wie er auf eben diese Finger starrte. Er tippte kurz auf dem Display herum und nur eine Sekunde später vibrierte es in Otabeks Hosentasche. »Nur zur Sicherheit. Nicht, dass du mir die falsche andrehst.« »So feige bin ich nicht.« Er zog sein eigenes Smartphone hervor und speicherte die Nummer ab. »Tu mir einen Gefallen.« Yuris Blick wanderte inzwischen immer wieder nach draußen. Die Uhr tickte und sie konnten es förmlich hören. »Hmpf, was denn?« Da Otabek nichts mit seinen Händen anzustellen wusste, vergrub er sie in den Hosentaschen. »Schreib mir, dass du sicher gelandet bist.« Wenn Yuris Wangen vorhin schon rot waren, so glichen sie jetzt verdächtig den Flammen seines Outfits, welches er bei Allegro Appasionato getragen hatte. »Bist du komplett bescheuert?« Und dann war dort plötzlich Nähe, die sein Herz aussetzen ließ. Yuri hatte ihn in eine unbeholfene und ziemlich schmerzhafte Umarmung gezogen, die Otabek nicht einmal erwidern konnte, da es ihn die Arme an den Seiten zusammenquetschte. Er hatte das Gefühl, dass sein Puls erst wiedereinsetzte, als Yuri schnell und offensichtlich von sich selbst überrumpelt von ihm abließ. »Ich bin doch keine zwölf mehr!«  Er krallte beide Hände in seine Kapuze und zog sie sich tief ins Gesicht. »Und wenn ich hier nicht vergammeln will, weil ich den Flieger verpasse, muss ich jetzt los.« Damit griff er nach seinem Koffer und machte sich auf in Richtung Ausgang. Während Otabek ihm nachsah, hob er ein letztes Mal die Stimme. »Versprich es mir.« Stöhnend drehte Yuri sich im Lauf um. »Ja, ist ja gut, man!« Das reichte ihm.  Er streckte den Daumen in die Luft und Yuri tat es ihm gleich, bevor er sich mit lauten Flüchen einen Weg durch die Menschen bahnte. »Glückwunsch zur Goldmedaille.« Dieser letzte Satz verging, ohne von jemandem gehört zu werden. Otabek sah ihm nach, bevor auch er sein Gepäck nahm und zusammen mit seinem Trainer in das nächste Taxi stieg. Der Grand Prix war zu Ende und obwohl er nicht auf dem Siegerpodest gestanden hatte, fühlte er sich nicht wie ein Verlierer.   Teil zwei: »Kontakt« -------------------- Otabek Altin zählte, wenn es nach Yuri ging, eher zu den unauffälligeren Kandidaten, die sich aufs Eis schwangen, um Gold für ihr Land zu holen – wenn man sich nicht näher mit ihm beschäftigte. Als stille Konkurrenten standen sie zwar im gegenseitigem Respekt, aber für mehr war nie Platz gewesen, oder gar die Chance auf Platz. Das war jetzt anders. »Schreib mir, dass du sicher gelandet bist.« War das sein scheiß Ernst? Sie kannten sich erst – so halbwegs – seit diesem Grand Prix und trotzdem hatte er ihm unterschwellig mitgeteilt, dass ihm sein Wohlergehen wichtig war. Wer hatte das zuletzt getan, außer vielleicht Victor oder Katsudon? Yakov und Lilia schloss er bewusst aus, immerhin waren die beiden seine Trainer und deswegen schon aus Prinzip nicht mit freundschaftlichen Gefühlen gleichzusetzen. Und die anderen beiden … Ja, die waren halt immer da. Er würde lügen, wenn er sagte, dass da keine Form von Zuneigung war, aber diese Freundschaft gab ihm manchmal ein Gefühl von Zwang. Klar mochten sie sich. Aber mussten sie das nicht auch? Das Training verheiratete sie quasi miteinander. Manchmal beschlich Yuri der Gedanke, dass sie, würden sie nicht die gleiche Leidenschaft teilen, niemals ein Gespräch mit ihm gesucht hätten. Und an dunklen Tagen stach dieser Gedanke mit heißen Nadeln in seiner Brust. All das traf nicht auf ihn zu: Otabek. Der Gedanke an seinen neuen Freund ließ Yuri irgendwo zwischen peinlicher Freude und Angst pendeln. Peinliche Freude über offenkundiges Interesse an seiner Person, statt seines Talentes und Angst davor, etwas falsch zu machen. Was hatte Otabek in ihm gesehen? Die Antwort rann ihm wie Wasser durch die Hände und blieb aus. Freundschaften waren für ihn wie ein Hindernisparkour und bereits jetzt stellte sich ihm die erste Hürde hämisch in den Weg. Schon seit zehn Minuten verharrten seine Finger über dem Touchscreen seines Smartphones. Er war gerade dabei kläglich an einem einfachen Satz á la „Bin gut gelandet“ zu scheitern und verfluchte sich innerlich aufs Übelste dafür. Sinnlos. Murrend verschwand das Smartphone in seiner Jackentasche. In nicht einmal einer halben Stunde würde er sich in seinem Zimmer verschanzen können. Vielleicht dann. Frustriert schnaubte er, während sein Blick aus dem Taxifenster glitt. Zähne gruben sich in seine Unterlippe. Seit wann war er so ein Feigling? »Willst du etwas essen?« »Nein, man!« Das Scheppern der Tür setzte einen fetten Strich unter seine Antwort. Mit leidenschaftlicher Frustration kickte er sich seine Chucks von den Füßen, bevor er sich aufs Bett warf und das Gesicht in eines der vielen Kissen vergrub. Yuri war schlechter drauf, als er sich eingestehen wollte. Und das obwohl er bei seinem Debüt alle Erwartungen übertroffen hatte. Er hatte Gold geholt und damit nicht nur dieses verdammte Katsudon, sondern auch Victor Nikiforov geschlagen. Er hatte Yakov mit Stolz erfüllt und Tränen in Lilias Augen getrieben. Spätestens jetzt würde sich absolut jeder im Wettkampf vor ihm in Acht nehmen. Eigentlich sollte er sich fühlen wie der verdammte Terminator! Aber er tat es nicht. Viel eher fühlte er sich schlecht, seinen Trainer grundlos angepampt zu haben. Und weil er ein feiger Idiot war, der auf dem Eis zum lodernden Phönix aufstieg und dann zu Asche zerfiel, wenn es darum ging einem Freund eine SMS zu schreiben. Peinlicher konnte es kaum noch werden! Für eine Weile badete er in seinen Problemen der ersten Welt, bis sein Gedankenwirrwarr durch ein leises Schnurren aufgelöst wurde. Er hob den Kopf und augenblicklich begannen seine Augen zu strahlen. Seinen Kater hatte er bis eben komplett ignoriert, doch der nahm es ihm wohl nicht übel, sondern kam mit tapsigen Schritten zu ihm und rollte sich vor seinem Gesicht zusammen. Yuri vergrub seine Nase im weichem Fell und atmete tief ein, die Augen geschlossen. Mit dem vertrauten Schnurren kam ihm eine Idee. Er zückte sein Smartphone, öffnete die Kamera und schoss möglichst beiläufig ein Foto von sich und seinem größten Schatz. Als er den noch leeren Chatverlauf mit Otabek öffnete, versuchte er die Nervosität wegzuwischen. Wieder vergingen einige Minuten, doch dieses Mal würde er das Smartphone nicht wieder in seiner Jackentasche verschwinden lassen. Und als er schließlich die Nachricht abschickte, hörte er zwischen seinen Augen das wilde Klopfen seines Herzens wie Paukenschläge. Yuri – 15.12 22:51 »Das ist Potya. Wir chillen hier so rum.« Im Anhang das Foto: Potya nahm fast das gesamte Bild ein, nur hinter seinem Rücken lugten Yuris grüne Augen hervor, halb verdeckt durch seine Haare - und trotzdem konnte man ein schwaches Lächeln erahnen. Fluchend pfefferte er das Handy von sich und schlug die Hände vors Gesicht. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Abgeschickt war abgeschickt. Er konnte nur hoffen, dass Otabek verstand, was er eigentlich sagen wollte: Bin sicher gelandet. »Verdammter Idiot! Der wird mich für den absoluten Creep halten.« Kurz kraulte er Potya hinter den Ohren, bevor er sich vom Bett schwang, die Tür seines Zimmers aufriss und ins Badezimmer trampelte. Er ging jetzt eigentlich nur duschen, um sich Ablenkung zu verschaffen. Mit wütenden Bewegungen shampoonierte er sich die Haare und seifte dann nicht gerade zimperlich seinen restlichen Körper ein. Leider spülte das Wasser zwar den Schaum, aber keinen seiner Gedanken fort. Vor dem Spiegel kämmte er sich so ruppig, dass er einige feine blonde Haare in der Bürste fand. Gott sei Dank ahnte Lilia davon nichts. Er würde den Anschiss seines Lebens bekommen, wenn sie spitzbekam, wie er seinen „wunderschönen Körper“ behandelte. Auf Zehenspitzen schlich er zurück in sein Zimmer und strafte sein Smartphone – oder eher sich selbst – mit verbissener Ignoranz. Aufregung hin oder her, niemals würde er soweit sinken und alle paar Minuten seine Nachrichten checken. Lieber tat er zur Ausnahme einmal etwas Vernünftiges: Er packte freiwillig seinen Koffer aus, beförderte die Schmutzwäsche in den passenden Korb und sortierte ungetragene Klamotten fein säuberlich in seinen Kleiderschrank zurück. Zwischendurch glaubte er, eine Vibration aus der Richtung seines Bettes zu vernehmen, aber anstatt nachzusehen widmete er sich seinem Schreibtisch und begann seine Schulsachen vorzubereiten. Zwar hatte er noch bis übermorgen Schonfrist, aber so sparte er sich wenigstens einmal den Stress, das Zeug erst zehn Minuten vor dem Stundenbeginn zu packen. Als auch das erledigt war, schlüpfte er in seinen schwarzen Suit und ging zu dem riesigen Spiegel, der gegenüber vom Bett die gesamte Wand einnahm. Das Zimmer war sehr geräumig und gab ihm genug Freiraum, um seine Ballettübungen zu verfeinern. Sein Körper protestierte und der Muskelkater flehte nach nur wenigen Minuten um Gnade. Eine knappe Stunde hielt er immerhin durch, bevor er wie ein Stein ins Bett fiel, aber dafür mit klarem Kopf. Lilia genoss seine Dankbarkeit, ihn wieder zum Ballett gebracht zu haben, mehr als sie ahnte. Anfangs hatte er es gehasst. Doch jetzt war es sein Fels in der Brandung, wenn gar nichts mehr ging. Es reinigte seine Gedanken und führte ihn zurück zur inneren Ruhe. Ob es Otabek mit seinem Motorrad ähnlich ging? Otabek. Entschlossen fischte er nach seinem Smartphone und die Benachrichtigung über seine Antwort jagte Stromstöße in seine Lungen.  Er zwang sich zur Ruhe, trotzdem vertippte er sich zwei Mal, als er den Entsperrcode eingab. Otabek Altin – 15.12 23:15 »Ich kenne ihn von Instagram. Ein hübscher Kater.« Otabek Altin – 15.12 23:16 »Hatte eure Maschine Verspätung?« »Hmpf.« Ob die Maschine Verspätung hatte? Nein, er hatte nur stundenlang Mut für eine Nachricht zusammenkratzen müssen. Ob er wohl wirklich den ganzen Tag darauf gewartet hatte? Seine Wangen glühten, als er eine Antwort eingab. Yuri – 16.12 00:014 »Nee. Ich hab nur trainiert und nich auf die Uhr geguckt :‘D« Bevor er seiner Unsicherheit eine Chance ließ, drückte er auf senden. Otabeks Status rutschte keine Sekunde später auf online. Wie hypnotisiert sah er zu, wie er irgendwo in Kasachstan noch unsichtbare Worte tippte. Otabek Altin – 16.12 00:16 »Um diese Zeit noch? Ist das nicht ein bisschen spät?« Yuri – 16.12 00:16 »Mir egal! Ich brauchte das gerade >.<« Otabek Altin – 16.12 00:17 »Verstehe. Überanstrenge dich nicht. Der Flug war sehr lang. Schone deinen Körper.« Yuri schnaubte. Otabek schrieb tatsächlich so, wie er redete: Stoisch und ohne eine Gefühlsregung. Trotzdem war Yuri sich jetzt ziemlich sicher, dass er sich wirklich um ihn sorgte. Obwohl sie sich kaum kannten. Die Displaybeleuchtung erlosch und er erkannte in der Reflektion sein feuerrotes Gesicht. Warum freute ihn das und warum schämte er sich gleichzeitig deswegen? War Freundschaft wirklich so kompliziert, oder stellte er sich nur an? Und seit wann konnte man ihn in Verlegenheit bringen, nur indem man ihm schrieb? Er sollte jetzt wirklich schlafen gehen. Yuri – 16.12 00:21 »Mach ich jetzt auch. Ich geh jetzt pennen, wenn du dann zufrieden bist :O« Otabek Altin – 16.12 00:22 »Ja.« »Boah, kannst du dich nicht ein wenig… emotionaler ausdrücken? Häh?« Yuri redete sich ein, dass er sauer war. Und genervt. Doch weder das eine noch das Andere war der Fall. Viel mehr spürte er, dass etwas mit ihm geschah: Seine eisige Hülle bekam tatsächlich Risse. Das gleiche Gefühl wie vor zwei Tagen in Barcelona. Etwas löste sich in ihm. Bis jetzt kannte er das nur, wenn er bei seinem Großvater war. Bis jetzt. Yuri – 16.12 00:24 »Dann gute Nacht jetzt! Und mach dir doch nicht so einen Kopf -.-« Otabek Altin – 16.12 00:24 »Gute Nacht.« Yuri – 16.12 00:25 »Und… danke. Oder so« Otabek Altin – 16.12 00:25 »;)« Was sollte dieser kack Smiley jetzt? Yuri verstand die Welt nicht mehr. Zum dritten Mal konnte Otabek nun schon diesen Erfolg bei ihm verzeichnen. »Kommst du mit, oder nicht?« »Und genau das will ich nicht sein.« »;)« Genervt zog er sich die Klamotten aus, löschte das Licht und verkroch sich unter der Bettdecke. Obwohl er sich wirklich bemühte, fand er keine Ruhe. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er den Chatverlauf öffnete und jedes einzelne Wort aufsaugte, so lang, bis er den kurzen und eigentlich so unspektakulären Austausch auswendig konnte. Erst dann schlossen sich seine Lider für diese Nacht.     Teil drei: »Chance« ------------------- Wenn Yuri seine Lebenszeit nicht gerade dem Training oder unfreiwillig der Schule widmete, dann hing er am Smartphone. Fotos posten (am liebsten welche mit Potya) und seine Eislaufkonkurrenten stalken: Er liebte es. Auch wenn er nie irgendwelche Herzchen oder Likes hinterließ. Bei einem hätte er das bestimmt getan – aber Otabek hatte anscheinend keine Lust alles in der Öffentlichkeit breitzutreten. Er postete schlicht und ergreifend nichts. Nur ein Profilbild bei Instagram hatte er: Sein Motorrad. Jeden anderen hätte Yuri dafür ausgelacht. Ansonsten herrschte dort, den vielen Followern zum Trotz, gähnende Leere. Nicht einmal ein Selfie, obwohl Yuri sich nur schwer vorstellen konnte, wie das bei Otabek ausgesehen hätte. Wahrscheinlich mit seinem typischen strengen Blick. Dieser Gedanke brachte ihn manchmal dann doch zum Lachen. Mittlerweile wusste jeder, dass seit ein paar Wochen das Smartphone mit seiner Hand regelrecht verwachsen war, sei es beim Essen, in den Trainingspausen oder – noch schlimmer – während des Unterrichts. Yuri gingen die regelmäßigen Zurechtweisungen seiner Trainer und Lehrer gehörig auf den Sack. Aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Er fühlte sich beinahe ausgeliefert. Es machte süchtig. Die Chats mit Otabek machten süchtig. Kein Tag verging, an dem sie nichts voneinander hörten und wie erstaunt war er bei der Feststellung, dass Otabek Humor besaß. Einen ziemlich trockenen und subtilen zwar, aber immerhin. Es übertraf alle Erwartungen, die er an ihn hatte. Sie sprachen über alles Mögliche: Musik, Leute, die Yuri ankotzten, Eislaufen selbstverständlich, Potya und sogar über die Schule. Otabek fragte ihn regelmäßig nach seinen Noten. Einmal hatte er Yuri sogar via Skype bei einer Aufgabe in Physik geholfen. Selbst dieses trockene Thema hatte plötzlich Spaß gemacht – und das, obwohl er Videochats normalerweise hasste. Nicht bei ihm. Es war nie unangenehm oder gezwungen. Und auch wenn nichts Spannendes geschah, war dort immer dieser rote Faden, der ihre Gespräche aufrechterhielt. Es wäre gelogen, hätte er abgestritten in dieser Aufmerksamkeit geradezu zu baden.   »Yuri Plisetsky!« Die Stimme seiner Klassenlehrerin ließ ihn zusammenfahren. »Äährg.« Nur mit Mühe konnte er den Blick von seinem Smartphone lösen, das gut versteckt zwischen Federtasche und Schreibblock lag. Trotzdem wusste jeder, was er gerade wieder trieb: Nicht dem Unterricht folgen. »Was halten Sie denn von Kasachstan?« »Hä?« Er rieb sich die brennenden Augen. Der einzige Nachteil war, dass diese aufgeblühte Freundschaft seinen Schlaf beeinflusste. Otabek wusste zwar, wann abends Schluss war, aber das bedeutete noch lange nicht, dass Yuri auch zur Ruhe kam. Manchmal wühlten ihn ihre Konversationen so sehr auf, dass er die halbe Nacht wach lag und den verpassten Schlaf in der Schule nachholte. »Kasachstan, Herr Plisetsky.« Sofort sah er ruhige, dunkle Augen vor sich. Schwarzes dichtes Haar, das rhythmisch im Wind wog. Wärme ballte sich in seinem Magen zusammen. Er kratzte sich am Kopf. »Kasachstan ist… super.« Eine tiefe Falte grub sich zwischen die Augen seiner Lehrerin. Doch die erwartete Rüge blieb aus. Stattdessen glättete sich ihr Blick und zeugte wieder von beruflicher Professionalität. »Sehr schön. Somit gewinnt Kasachstan mit einer Stimme Vorsprung gegen Deutschland.« Verwirrung machte sich in Yuri breit. Er hatte nicht den blassensten Schimmer, worum es hier gerade ging. Vielleicht sollte er in Zukunft wieder mehr auf den Unterricht achten. Sich innerlich sträubend stupste er etwas grob seinen Banknachbarn an. »Hey. Hey, worum gings gerade?« Die verdrehten Augen überging er geflissentlich. Er konnte das eh viel besser, als die anderen. »Um die Klassenfahrt, schon vergessen? Wir machen doch diese Bildungsreise.« Der Feuerball in seinem Magen verwandelte sich in einen Eisklumpen. Kasachstan. »Oh, fuck.« Er ignorierte den fragenden Blick seines Schulkameraden und starrte auf einen blinden Punkt im Klassenraum. Sein Smartphone vibrierte und verschwand geistesabwesend in Yuris Jackentasche. Hitze kroch seinen Hals entlang und sammelte sich in seinen Ohrenspitzen. Hunger und Übelkeit kämpften um Vorrang. Aufregung spülte durch ihn hindurch. Kasachstan.   »Yuriooo!« Victors flötende Stimme jagte Ekel über seinen Körper. Die Hoffnung auf ungestörtes Training verpuffte mit seiner Erscheinung. Natürlich war neben Yakov und Lilia auch das Katsudon am Start. Damit versammelte sich das ganze Kasperletheater auf einem Haufen. Awesome. Yuri pfefferte seine Sporttasche auf den Boden und wühlte nach den Schlittschuhen. Er hatte keine Lust zu reden – mit niemandem über irgendetwas. Dennoch war er sich bewusst, dass dieses Zusammenkommen irgendeine Bedeutung hatte. Er zwang sich zur Höflichkeit, soweit es eben ging. »Was willst du, Opa?« Victors besonnener Blick brachte ihn in Rage. Er machte sich scheinbar überhaupt nichts aus seiner schlechten Laune. Menschen waren eben Gewohnheitstiere. »Hast du‘s schon gehört?« Sein Geduldsfaden spannte sich gefährlich. »Was soll ich gehört haben, häh?« »Das mit Kasachstan!« Yuri fühlte sich, als hätte man ihn von einer Klippe gestoßen. Er schien zu fallen und vom Meer verschlungen zu werden. Kaltes Wasser löste seine Gedanken auf. Kasachstan. Litt er unter Verfolgungswahn? Fassungslosigkeit dämpfte die Wut in seiner Stimme. »Was ist mit Kasachstan?« Inzwischen waren auch die anderen Drei zu ihnen getreten. Yuuri nahm Victor die Antwort ab. »Die Vier-Kontinente-Meisterschaften nächsten Monat wurden von Taipeh nach Amalty verlegt!« Yuris Augen weiteten sich. Die Schlittschuhe fielen vergessen zu Boden. Irgendwas in seinem Inneren erwachte und wand sich nach außen. Diese dumme Bildungsreise von seiner Schule fand nur knapp eineinhalb Wochen vor den Meisterschaften statt. Dazwischen lagen nur drei Tage. Drei Tage, wo … »Yakov.« Die Augenbrauen seines Trainers schnellten nach oben, offensichtlich verwundert über diesen Ton. »Was hast du, Junge? Bist blass um die Nase.« Unwirsch schüttelte Yuri den Kopf. »Mir geht’s gut. Aber ich muss mit dir reden. Und auch mit dir.« Sein Blick huschte respektvoll in Lilias Richtung. Finger krallten sich in seine Kapuze. Jetzt nur keinen Fehler machen. »Nur mit euch beiden!« Victor und Yuuri schienen sofort zu verstehen und ließen sie allein. Ihre besorgten Blicke klebten ihm im Nacken. Sollten sie sich doch um ihren eigenen Kram kümmern. »Also… « Verschüchtert trat er von einem Fuß auf den anderen. Ihre Blicke brannten ein Loch in seine Stirn. »Wir haben heut in der Schule über die geplante Klassenfahrt geredet. Es geht nach Kasachstan und … da die Weltmeisterschaften ja auch dort stattfinden, also … Man ey, betteln liegt mir nicht! Kann ich die drei Tage dazwischen einfach schon dortbleiben? Ich würde gern jemanden besuchen der dort wohnt und bevor ihr rumnölt: Da gibt’s auch Eishallen, in denen ich trainieren kann. Und ich werd’s auch nicht vernachlässigen, okay? Außerdem fliege ich dann nur einmal hin und zurück und ihr spart Geld. Also … Hmpf.« Bitte? Sagt einfach ja! Er wusste gar nicht, dass er sprechen konnte, ohne Luft zu holen. Scheinbar eines seiner verborgenen Talente. Die Mienen seiner Trainer blieben blank. Die einzige Reaktion war ein kurzer Seitenblick, den sie sich zuwarfen. »Zieh dich um und geh dich aufwärmen. Wir besprechen das nach deinem Training.« Yuri stieß die angehaltene Luft aus und folgte außergewöhnlich handzahm Yakovs Anweisung. Das war zumindest schonmal kein Nein.   Erschöpft sank er ins Bett. Lange war es nicht mehr so anstrengend gewesen, wie heute – und das bewusst. Er brauchte einen kühlen Kopf, wenn sein Herz schon so heiß schlug. Potya schnurrte um seine Arme herum. Er schenkte ihm Streicheleinheiten, war aber mit seinen Sinnen irgendwo in den Wolken. Die Klassenfahrt und die Vier-Kontinente-Meisterschaften boten nicht nur eine Chance auf Bildung und Triumph auf dem Eis, sondern auch etwas völlig anderes. Wie oft hatte er sich ausgemalt, Otabek außerhalb von Wettkämpfen sehen zu können? Noch immer staunte er über die Reaktion von Yakov und Lilia, über die Zustimmung in ihren Augen und das fast synchrone Nicken mit ihren Köpfen. Er „solle nur machen“, das sei „gut für ihn“, er „habe sich das durchaus verdient“ und „so lang er das Training nicht vernachlässige“ – sprich keine Scheiße baute – „stünde dem nichts im Weg“. Es hatte sie nicht einmal interessiert, wen er überhaupt besuchen wollte. Der Sieg beim Grand Prix beflügelte seine beiden Trainer wohl noch immer, eine andere Erklärung fand er dafür nicht. Nicht, dass er es nicht auszunutzen wusste. Potyas Nähe konnte ihn heute leider nicht beruhigen. Die letzten Wochen hatten ihn gelehrt, dass er fünfzehn Jahre lang sehr einsam gewesen war und dass WhatsApp und Skype nicht ausreichten, um diese Lücke zu füllen. Motorrad fahren, Musik durch dasselbe Paar Kopfhörer genießen, zusammen zocken – er wollte es nicht nur planen, er wollte es erleben. Da war dieses Gefühl, das er nicht kannte. Nicht so stark. Er musste ihm nur nach einem Treffen fragen. Es war zum Greifen nah – und entfachte ein Feuer aus Furcht in seiner Brust. Was, wenn Otabek es anders sah? Wie auf Kommando vibrierte es aus seinem Rucksack. Sein Smartphone schrie nach stundenlanger Abstinenz um Aufmerksamkeit. Es den ganzen Tag seit diesem Vorfall in der Schule nicht beachtet zu haben fühlte sich seltsam an. Er begriff schnell, dass er damit Gewohnheiten gebrochen hatte. Nicht nur seine eigenen. Reue gesellte sich zu der Furcht in seiner Brust. Er öffnete den Chat.   Yuri – 10.02 10:29 »Haben gleich Geschichte. Boah kotzt mich hier alles an! Ich will eislaufen«   Otabek Altin – 10.02 10:35 »Augen zu und durch. Wenn du nicht zuhörst, verpasst du vielleicht etwas Wichtiges.«   Yuris Augenbrauen zogen sich zusammen. »Und du kannst seit Neuestem in die Zukunft blicken, oder was? Häh?« Aber er lächelte, als er weiter nach unten scrollte und die ungelesenen Nachrichten aufholte.   Otabek Altin – 10.02 10:37 »Ich muss spontan arbeiten. Aber vielleicht schaff ichs davor noch zu Skype. Wann ist dein Training heut rum?«   Otabek Altin – 10.02 15:01 »Also, ich wäre dann da. Komm einfach on oder schreib mir hier.«   Otabek Altin – 10.02 17:09 »Ist bei dir alles in Ordnung?«   Otabek Altin – 10.02 20:55 »Ich muss jetzt los. Melde dich, wenn du das hier gelesen hast.«   Ein unangenehmer Sog erfasste seinen Magen. Er ließ das Smartphone sinken und starrte auf den Stuck an der Decke. Diese filigranen, geschwungenen Verzierungen hatten ihn immer beruhigt, doch jetzt schienen sie ihn anzuklagen. Otabek besorgt zur Abeit gehen zu lassen zählte nicht gerade zu seinen Bestleistungen des Tages. Mit eiskalten Fingern öffnete er den Chat erneut. Unentschlossen schwebte er über dem Anruf-Button, nur um den Arm abermals zu senken. Was hielt ihn auf? Otabek machte sich scheinbar Gedanken um ihn. Wenn er sich nicht bei ihm melden würde, was würde Yuri dann vermuten? Dass etwas passiert wäre. Genau. Doch seine Kehle fühlte sich so klebrig an und sein Pessimismus war größer, als der Drang dieses Missverständnis aus der Welt zu schaffen. Und ihm mit einem simplen mir geht’s gut abschmettern war ausgeschlossen. Wo er ihn doch sowieso etwas hatte fragen wollen. »Du bist so verblödet. Liegst hier rum wie ein nasser Sack und kriegst deinen Hintern nicht hoch.« Wütend pustete er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er musste sich selten selbst anfeuern und ausgerechnet heute gelang es ihm nicht. Als wüsste Potya was ihn ihm vorging, stupste er seinen kleinen Kopf gegen Yuris Hand. Dankbar kraulte er ihn, blicke dabei an die Decke und fuhr die Muster des Stucks nach. Seine Augen wurden schwer. In den Schlaf hatte er sich schon immer gut flüchten können. Ein Feigling in Höchstform.   »- jetzt auf.« Yuris Lider flatterten im Licht des Displays. Er glaubte eine Stimme zu hören, verschwommen im Nebel des Erwachens. Potya war schon längst vor dem fremden Geräusch geflüchtet. »Na dann. Bis bald.« Er riss die Augen auf und fuhr hoch. Wie spät war es? Wahrscheinlich mitten in der Nacht. Irgendjemand musste das Licht im Zimmer gelöscht haben. Sein Blick huschte zu dem Smartphone, halb unter seiner Hand vergraben. OTABEK ALTIN leuchtete ihm auf dem grünen Anruffeld entgegen. »Wa- Moment!« Fahrig grabschte er danach und ließ es ungewollt vom Bett rutschen. Das laute Scheppern erschreckte ihn wahrscheinlich mehr, als Otabek. Müde, aber willensstark hielt er sich den Hörer ans Ohr. »Otabek…?« »Ja.« Perplex starrte er in die finstere Nacht, unfähig etwas zu erwidern. War er sauer? Seine Stimme verriet nicht den Deut einer Emotion. Alles war möglich, von Müdigkeit bis hin zur Enttäuschung. »Wie – äh… hä?« Schweigen am anderen Ende, nur ein tiefes Ein- und Ausatmen. Matt. Erschöpft. Yuri schluckte schwer. Hitze kroch unter seine Haut. »Ich habe mich schon gewundert, warum du mich um drei Uhr morgens anrufst. Muss ein Versehen gewesen sein.« Hörte er da Ungeduld? »Ich – äh – sorry? Bin im Schlaf auf das scheiß Touchpad gekommen, oder so.« Sein Gesicht brannte wie Hölle. »Offensichtlich.« Rascheln am anderen Ende. Wind. Es kam Yuri unwirklich vor. Das Schweigen begann Druck auszuüben, aber keiner von beiden legte auf. Schließlich nahm Otabek ihn an die Hand. »Schlechten Tag gehabt?« Seine Frage ließ Yuri zittrigen Atem ausstoßen. »Ich… ja. Irgendwie schon. Und du?« »Hm. Schon. Soll vorkommen.« Seit wann fielen ihm Gespräche mit Otabek wieder so schwer? Sie hatten doch mittlerweile schon recht oft telefoniert und sich ab und zu per Skype getroffen. Jetzt fühlte es sich so an, als wäre all das nie passiert. Er spürte förmlich die Anspannung zwischen ihnen. »Sorry, dass ich nicht geantwortet hab. Ich brauchte ein bisschen… Keine Ahnung. Weiß auch nicht.« Noch ein Ausatmen. Verwirrung? »Willst du darüber reden?« Er richtete sich auf und fuhr sich durchs Haar. »Ich muss. Geht auch um… naja, dich.« Endlich regte sich etwas in Otabeks Stimme. »Okay. Sprich dich aus.« Er hörte Überraschung, Neugierde und auch… Angst? »Ist nix Schlimmes. Ich finds sogar ziemlich cool. Also, äh – falls das klappt und… so.« Schweigen. Warten. Es war eindeutig angespannt. »Hast du schon gehört, dass die Vier-Kontinente-Meisterschaften jetzt spontan in Almaty stattfinden?« »Ja, das hat mir mein Trainer heute erzählt.« Warten. Erwarten? »Naja. Und. Also -« Er hörte seine Stimme kaum. Sein lautes Herz übertönte alles. Was, wenn Otabek es anders sah? Die Aufregung schwoll an zu einer Lawine aus Worten, die Yuris Mund verließ, bevor er selbst es realisierte. Es war wie vorhin bei Yakov und Lilia. »Meine blöde Klasse macht in zwei Wochen so ‘ne dumme Bildungsreise nach Kasachstan, wohin genau weiß ich noch nicht, aber das Zeitfenster, äh, also es ist so, dass danach nur noch drei Tage bis zur Meisterschaft sind und ich hab‘ gedacht, dass ich… Man! Dass ich vielleicht – also – fuck!« Plötzlich vernahm er ein schnaufendes Geräusch und er brauchte einen Moment um zu begreifen, dass Otabek ihn auslachte. »Hey! Das ist nicht witzig man!« Warf seine Haut schon Brandblasen? »Tut mir leid.« Otabek unterdrückte nicht sehr erfolgreich ein weiteres Lachen. »Ist das alles?« »Hä, wie, ist das alles? Reicht das nicht, oder was?« Übertrieb er wirklich so sehr? »Doch. Du rettest mir gerade den Feierabend.« Was sollte die Scheiße? Seit wann spielte er solche Spielchen mit ihm? »Mach dich nicht lustig, du – Arsch!« Zum ersten Mal fand dieses Wort für Otabek Gebrauch. Ausnahmsweise war es ihm egal. Diese Mischung aus Nervosität und Wut war toxisch und nur schwer zu ertragen. »Tut mir leid.« Danach klang es wirklich. Seine Stimme veränderte sich. »Ich mach mich lustig über dich, obwohl du dich offensichtlich abrackerst mich zu fragen, ob ich in diesen drei Tagen Zeit für dich habe. Die Beleidigung hab‘ ich verdient.« Yuris Körper wurde weich. Er sank mit geschlossenen Augen in die Kissen zurück. Diese Tonlage kannte er. Damit konnte er umgehen. Entgegen seiner Erwartungen schien Otabek seine Frage durchaus ernst zu nehmen. Leise atmete er auf. »Also« Otabek sprach weiter, als keine Antwort kam. »ich kenne meine Arbeitszeiten für diese drei Tage noch nicht, aber falls ich arbeiten müsste, werde ich das ändern.« Yuris Hände schwitzten so sehr, dass ihm das Smartphone fast entglitt. Erleichterung und Unglaube schoben die Müdigkeit in den Hintergrund. »Echt jetzt?« Er brüllte ihn durch den Hörer ins Ohr. Wieder ein leises Lachen, eines von den selteneren. »Was denkst du denn? Dass ich mir diese Chance entgehen lasse?« »Keine Ahnung, was weiß ich denn, ob du da Bock drauf hast?« Er fuchtelte wild und ungesehen mit den Armen in der Dunkelheit herum. »Ich kann nicht in deinen Schädel gucken, Alter! Klar, wir haben drüber geredet, wie das so wäre, wenn, aber woher soll ich wissen, dass …« Dass du mir nichts vormachst. »Yuri.« Dieser ernste Ton jagte eine Gänsehaut bis in seine Haarwurzeln. »Ich sage nichts, was ich nicht auch so meine. Das solltest du inzwischen wissen.« Es kostete ihn Überwindung, doch Yuri sprach seinen Gedanken aus. »Manchmal ist es wirklich schwer in deinen Kopf zu sehen. Was du denkst und… alles.« Ein Seufzen. Plötzlich klang er müde. »Tut mir leid.« Er hörte einen Schlüssel klirren. »Wir sollten auflegen. Du musst bald aufstehen und ich brauche Schlaf. Wenn du dann hier bist, haben wir alle Zeit der Welt uns zu unterhalten.« Yuris Herz machte einen Sprung und schlug an seinem Kehlkopf weiter. »Ich freu mich schon drauf!« »Ich mich auch. Ansonsten das Übliche?« Otabeks Gähnen sprang auf Yuri über. »Jap. So wie immer. Bis morgen dann. Ich lass dich sogar ausschlafen und geh dir erst mittags mit meinen Nachrichten auf den Sack.« »Du würdest mich niemals nerven.« Yuri stockte. Ein warmer Luftzug schien sein Ohr zu streifen. Diese Betonung war auf jeden Fall neu. »Ähm… okay?« »Schlaf gut, Yuri.« Täuschte er sich, oder hatte Otabek es plötzlich eilig mit dem Auflegen? Etwas überrumpelt hörte er seine eigene Antwort wie aus weiter Ferne. »Du auch. Bis morgen.« »Ja.« Einen Moment herrschte ratloses Schweigen, bevor Yuri die Verbindung trennte. Okay, wow. Wenn man mal davon absah, wie sehr er sich zum Deppen gemacht hatte – was genau hatte er gerade verpasst? Dieses Gespräch war eindeutig seltsam gewesen. So anders, als die Gespräche zuvor. Nur langsam verschwand die Hitze aus seinem Körper. Seine Haare klebten ihm an der Stirn. Er wischte sich fahrig übers Gesicht, entledigte sich seiner Klamotten und verkroch sich tief unter der Decke.   In seinem Kopf schwirrten tausend Fragen. Wie ihr Wiedersehen wohl ablaufen würde? Würde er im Hotel schlafen? Was würden sie unternehmen, außer Motorrad fahren? Bei diesem Gedanken fuhr ein Kribbeln durch seinen Körper. Die wildesten Szenarien tanzten in seinem Kopf und raubten ihm den Schlaf. Er konnte an nichts anderes mehr denken, als an ihr nächstes Treffen. In Kasachstan. Teil vier: »Treffen« -------------------- Bildungsreisen hatten Yuri eine Menge gelehrt. Erstens: Zeit war relativ und verging nicht schneller, nur weil man es wollte. Zweitens: Klassenkameraden wurden nicht sympathischer, auch wenn man sich ein Zimmer mit ihnen teilte. Drittens: Obwohl er für sein großes Mundwerk bekannt war, scheiterte er beim Vortragen von Referaten – besonders Referaten in fahrenden Bussen. Viertens: Auch wenn Sport zur Gewohnheit zählte, schmerzten Füße irgendwann von den vielen Erkundungstouren durch die Museen. Aber: Bildung versprach nicht immer nur Langeweile. Yuri musste zugeben, dass diese Touren ihm Vergnügen bereitet hatten. Sicher, diese dummen Referate über die Stadt, durch die sie hindurchfuhren, hätten sie sich schenken können. Doch abgesehen davon … es gab Schlimmeres, als Bildungsreisen. Und wie froh Yuri war, nicht immer an das bevorstehende Wiedersehen mit Otabek denken zu müssen. Die allerdings wichtigste Lektion schlug mit voller Wucht zu, als er sich von seiner Klasse verabschiedet hatte und allein im Check-In-Bereich stand: Ablenkung milderte Nervosität nur so lang, wie man sich eben ablenken ließ. Yuris Maschine hob in zwei Stunden ab. Der Flug würde nur anderthalb Stunden dauern. Dreieinhalb Stunden, dann stand er ihm gegenüber. Sein Herz begann wie wild zu schlagen. Zeit war relativ, ja. Und ein Arschloch. Dennoch keimte jetzt in seiner Brust der Wunsch auf, viel mehr davon zu haben. Er war noch nicht so weit. Zwei Stunden, bis er im Flieger saß. Zwei Stunden Zeit, sich die Beine zu vertreten.   Nach Abgabe seines Koffers schlenderte er mit seinem Rucksack über der Schulter durch den riesigen Flughafen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ab und zu blieb er vor einen der Shops stehen und begutachtete kritisch die Klamotten. Nichts dabei, was ihn angesprochen hätte – sprich keine Aufdrucke von Tigern, Katzen oder Leoparden. Frustriert schnaubte er.  Shopping fiel also flach. Da half nur Plan B: Essen. Nach wenigen Umdrehungen erfassten seine Augen ein McDonalds. Der Fraß war bekannt dafür, überall gleich zu schmecken und Yuri liebte diese komischen frittierten Erdbeertaschen. Falsch machen konnte er also nichts. Ausgestattet mit seiner Nervennahrung ließ er sich im Wartebereich auf einen der Sessel nieder, konnte allerdings nicht widerstehen ein Foto von seiner Beute zu schießen und auf Instagram zu posten. Gerade als er einen ersten Bissen genommen hatte, vibrierte es in seiner Jackentasche. Sich wie nebenbei die Finger an der Hose abwischend öffnete er den Chat.   Otabek Altin – 29.02 9:31 »Wie siehts aus?«   Hmpf. Schiss hab ich, so siehts aus! Um nichts auf der Welt würde er diesen Gedanken laut aussprechen, oder gar schreiben. Entschlossen tippte er eine Antwort.   Yuri Plisetsky – 29.02. 9:34 »Hab eingecheckt! :D Und mir gerade ne Erdbeertasche gegönnt. In 1,5h fliege ich los und brauch dann nochmal 1,5h«   Otabek Altin – 29.02. 9:34 »Alles klar. Ich hole dich dann ab.«   »Häh? Wie, der holt mich ab?!« Sein Herz rutschte ihm in die Hose. Damit verpuffte die Möglichkeit sich in den letzten Minuten zu sammeln, während er auf dem Weg zu ihm war. Die Erdbeertasche hinterließ einen faden Geschmack auf seiner Zunge. Er kippte schnell Sprite hinterher, starrte dann aufs Display, seinen Namen an.   Yuri Plisetsky – 29.02 9:38 »Oh okay. Ich check dann aber vorher noch im Hotel ein und bring meinen Koffer weg :O«   Otabek Altin – 29.02. 9:39 »Das war auch mein Plan.«   Na immerhin hatte sich einer von ihnen Gedanken gemacht. Mit Schrecken musste Yuri feststellen, sich nicht ein einziges Mal über irgendwelche Planungen den Kopf zerbrochen zu haben. Wirklich klasse. Manchmal war er ein verdammter Idiot. Ein erneutes Vibrieren befreite ihn aus seinem Selbstmitleid.   Otabek Altin – 29.02. 9:43 »Schreib mir, wenn du eincheckst, dann mache ich mich auf den Weg.«   Yuri Plisetsky – 29.02. 9:45 »Ok«   Schnell ließ er das Smartphone wieder in der Tasche verschwinden. Wo ihn die Gespräche mit Otabek immer beruhigen konnten, machten sie ihn jetzt nur umso nervöser. Ob er sich überhaupt auf Yuri freute? Otabek verstand es mit Perfektion, nichts von seinem Inneren preiszugeben. Meistens. Bis auf ein einziges Mal vor wenigen Wochen, während des Telefonates mitten in der Nacht. »Du würdest mich niemals nerven.« Hitze staute sich in seinem Magen. Yuri glaubte ihm. Er musste einfach. Ein Blick auf die Uhr: Eine Stunde noch. Murrend erhob er sich, nachdem er sich Kopfhörer in die Ohren gesteckt hatte. Ruhig sitzen schien unmöglich. Bewegung war besser, also schlenderte er erneut durch die riesige Halle und brachte so die restlichen kräftezehrenden Minuten hinter sich.   Als die Maschine abhob, glaubte er seine Innereien am Erdboden zurückgelassen zu haben. Nervös trommelte er mit den Füßen und brachte damit nicht nur sich selbst, sondern auch die Passagiere neben sich in Unruhe. Er ignorierte es und beobachtete das rege Treiben um ihn herum. Das erste Kind füllte bereits geräuschvoll die Notfalltüte. Jemand keifte einen anderen an, mit den Füßen doch bitte aus seinem Tanzbereich zu verschwinden. Eine Stewardess verschüttete Champagner über einen verärgerten Gast. Yuri seufzte und schenkte seiner Umgebung keine Beachtung mehr. Normalerweise genoss er das Fliegen, doch heute war sein Kopf dermaßen voll, dass er einfach nichts fühlte. Sein Blick glitt aus dem Fenster und verlor sich zwischen den Wolken. Das Herz stolperte in seiner Brust. Natürlich landete der Flieger mit Verspätung. Natürlich wurde sein Koffer als letztes ausgespuckt. Natürlich fuhren ihn sämtliche Taxen vor der Nase weg. Almaty schikanierte ihn, eindeutig. Als er endlich auf dem Weg zum Hotel war, zog er sein Smartphone hervor. Akku leer. »Warum, warum nur, häh? Verdammte Kacke! Ich hab‘ keinen Bock mehr!« Am liebsten hätte er seinen Kopf gegen die Fensterscheibe geschlagen. Wie auf Kommando drückte der Fahrer das Gaspedal durch, vermutlich in der Hoffnung seinen Passagier schnellstmöglich loszuwerden. Gott sei Dank waren die Straßen halbwegs frei. Kein Stau, der dieser Fron die Krone aufgesetzt hätte. Aufatmend betrat er die Lobby und holte sich auch hier ohne Probleme seine Zimmerschlüssel ab. Die Pechsträhne verebbte langsam. Der Prunk seines Luxuszimmers ließ ihn kalt. Lilia hätte auch einfach ein stinknormales Zimmer in einem stinknormalen Hotel buchen können. Hatte während der Bildungsreise ja auch funktioniert. Er scherte sich um diesen übertriebenen Luxus nicht. Seine Augen klebten an der Steckdose neben dem riesigen Bett. Schon auf dem Weg dorthin öffnete er seinen Koffer und wühlte nach dem Ladegerät, verteilte dabei die Hälfte des Inhalts auf dem Boden. Endlich bekam er es zu fassen, ging in die Knie und führte seinem Smartphone endlich frischen Strom zu. Eine Minute ratterte es, bevor er es anschalten konnte. Sofort öffnete er den Chat, doch anstatt Otabek zu schreiben, entschied er sich ihn anzurufen. Es klingelte. Einmal, zweimal, dreimal. Das Freizeichen schien ihn auszulachen. Er umklammerte das Gerät mit schwitzigen Händen, legte nicht auf. Wenn er sich nicht komplett blamieren wollte, war es nun Zeit sich zusammen zu reißen. »Hey.« Endlich er hatte abgenommen. Yuri sog unhörbar die Luft ein, überspielte seine Unsicherheit mit Kaltschnäuzigkeit. »Wird Zeit, dass du mal rangehst, alter!« »Wird Zeit, dass du dich meldest.« Der Konter kam unerwartet und das Schmunzeln in Otabeks Stimme brachte Yuri in Verlegenheit. »Ja … sorry man.« Er schlug sich gegen die Stirn, kniff die Augen zusammen. Warum musste er immer zum Kleinkind mutieren, wenn er unsicher war? Tief durchatmen. »Hier ging ‘ne Menge schief, aber ich bin jetzt im Hotel.« »Alles klar, ich mache mich auf den Weg.« Kein Vorwurf. Kein Tadel. Nur die immer gleichbleibende Gelassenheit. Seine warme Stimme strömte über Yuris Nacken. »Okay.« Er gab ihm die Adresse durch. »Das ist ganz in der Nähe. Gib mir zwanzig Minuten, ich warte dann vor dem Hotel.«   »Okay.« Sein Wortschatz war vor Aufregung offenbar flöten gegangen. »Also. Bis gleich.« Yuri legte auf, ohne etwas zu erwidern. Zwanzig Minuten. Würde er eine Dusche schaffen, ohne sich zu verspäten? Er musste, wenn er gut aussehen wollte. Mit seinen Hygieneartikeln und frischen Klamotten bewaffnet verschwand er im angrenzenden Badezimmer. Auch dieser Raum interessierte ihn nicht im Geringsten. Nur über die vergoldeten Armarturen rümpfte er die Nase, freute sich aber trotzdem, als das Wasser sofort mit der richtigen Temperatur aus der Brause kam. Die Zeremonie verlief schnell, aber gründlich: Zuerst die Haare shampoonieren, danach den Körper einseifen und beides gleichzeitig abspülen. Schon stieg er wieder aus und keine zwei Minuten später trocknete er seinen Schopf mit einem Föhn, der bestimmt mehr gekostet hatte, als sein Smartphone. Victors Worte hallten plötzlich durch seinen Kopf. »Sei einfach du selbst, dann brauchst du auch nicht nervös zu sein.« So ein Penner! Was wusste der denn schon? Seine Ratschläge hätte er ihm am liebsten sonst wohin geschoben. Doch Victor hatte zum Abschied nur freundlich gelächelt und sich dann umgewandt, ihn dreist stehen gelassen, ohne sich seinen Shitstorm abgeholt zu haben. »Verdammter Penner! Verdammt, verdammt! Sei einfach du selbst, leck mich am Arsch!« Wer hatte den überhaupt eingeladen bei seiner Abreise dabei zu sein? Yuri definitiv nicht. Die Perfektion, mit der er Victors Stimme nachäffte ließ ihn auflachen. Offenbar drehte er jetzt komplett durch. Er schaltete das Gerät aus und knallte es zurück auf die Halterung. Wütend stieg er erst in frische Klamotten, dann in seine Chucks, nahm seinen bereits gepackten Rucksack und knallte die Tür hinter sich zu. Angst und Freude rangen um Aufmerksamkeit. Der Fahrstuhl schien direkt zur Hölle zu fahren. Draußen blickte er auf die Uhr. Fünfzehn Minuten waren vergangen. Kein Otabek weit und breit. Unruhig lief er hin und her, hob bei jeder Person, die auf ihn zukam, erwartungsvoll den Kopf, wurde aber nicht erlöst. Um sich abzulenken scrollte er durch Instagram, aber die Fotos verschwammen vor seinen Augen. Wann kam er? Wann? Er konnte dann jetzt nicht mehr. Er hielt es nicht mehr aus, wandte sich zur Tür um und – Ein Motorgrollen rauschte heran, ging in ein Quietschen über und erstarb dann direkt hinter ihm. Das Ächzen einer schweren Maschine ließ Yuris Magen explodieren. Mit weit aufgerissenen Augen drehte er sich um. Da stand er. Lederjacke, zerrissene Jeans, schwere Stiefel an den Füßen. Sogar die Fingerlosen Handschuhe waren dabei. Seine lässige Eleganz ließ Yuri zusammenschrumpfen. Er selbst trug seinen Lieblingshoodie – den mit den Leopardenohren an der Kapuze – und plötzlich kam er sich wahnsinnig albern darin vor. Otabek atmete schwer, offenbar aus der Puste. Ob er sich beeilt hatte? Doch als er die Sonnenbrille abnahm, schenkte er Yuri ein Lächeln – eines, dass er so noch nie gesehen hatte – und warf ihm seinen Ersatzhelm entgegen. »Steig auf.« Leichtigkeit flutete seinen Magen. Er strahlte ihn an und schwang sich aufs Motorrad.   Ein Schlüssel klirrte, dann wurde die Tür aufgesperrt. Fremde und doch so bekannte Gerüche strömten Yuri entgegen. Er schloss die Augen und gönnte sich lautlos einen tiefen Atemzug. »Fühl dich wie zuhause.«  Und wie er das tat – schon vor dieser Aufforderung. Wenn er auf die letzten Stunden zurückblickte, fragte er sich, wovor er solch schreckliche Angst gehabt hatte, gleichzeitig schämte er sich für eben dieses Fehlempfinden. Denn anders als erwartet war ihr Wiedersehen nicht von Zwang begleitet. Es war wie in ihren Chats – nur, dass sie sich in Fleisch und Blut gegenüberstanden. Nach einer langen Fahrt hatte Otabek an einem See gestoppt. Sie waren einfach nur am Wasser entlang spaziert, hatten sich unterhalten und – wie bei ihrem ersten Treffen – dem kalten Wind getrotzt. Yuri berichtete von der Bildungsreise, von den Referaten und Museen, von seinen nervigen Klassenkameraden und auch von ihrem Ausflug in eine Eishalle. Von seiner Wut über das Gaffen und den unverhohlenen Neid der anderen, als er sie nach ein paar gedankenlosen Übungen dabei erwischte. Otabek sagte nichts. Er schmunzelte nur und lauschte seinen Erzählungen mit ehrlichem Interesse. Im Gegensatz dazu erzählte er Yuri von seiner Arbeit als DJ, der überrascht darüber an seinen Lippen hing und auch das kleinste, unwichtigste Detail darüber aufsaugte. Selbst ihr Schweigen in den kurzen Gesprächspausen war nie unangenehm oder peinlich, sondern entspannt und voller Genuss. Als kannten sie sich bereits ihr ganzes Leben. Yuri hatte jäh begriffen, dass er bis zu diesem Moment keine Ahnung gehabt hatte, was Freundschaft wirklich bedeutete und wie sie sich anfühlte. In Otabeks Wohnung angekommen sah er sich verstohlen um, während er sich die Schuhe von den Füßen streifte. Um einen guten Eindruck zu hinterlassen, stellte er sie ordentlich neben die Tür, dorthin, wo auch einige andere von Otabek standen. Im Zwielicht der schwindenden Sonne erkannte man nicht viel vom Flur, nur der helle Laminatboden glänzte ihn freundlich an. Otabek nahm ihm Jacke und Rucksack ab, bevor er ihn ins Wohnzimmer führte. Kaum hatte Yuri die schwarze Couch erblickt, ließ er sich auf sie fallen, die Glieder genussvoll ausgestreckt. Ein leises Stöhnen kam aus seinem Mund. Er fühlte sich ausgelaugt. »Setz dich doch.« Otabek versuchte ein schiefes Grinsen zu verbergen, als er eine Lampe in der Ecke anschaltete. Das weiche Licht erhellte den Raum, war aber nicht unangenehm. »Hey, du hast gesagt ich soll mich wie zuhause fühlen!« »Hm. Stimmt.« Ein Schmunzeln. Er gab sich geschlagen. Yuri sah sich auch hier um, erkannte dunkle Möbel auf hellem Boden, eine E-Gitarre, massenhaft Schallplatten und viel, viel Technik. Hier sah es wirklich so aus, wie in seinen Vorstellungen. »Willst du was trinken? Sprite?« Überrascht schnellte sein Blick zu seinem Gastgeber, der gelassen an der Wand lehnte, die Arme verschränkt. »Ja, man! Ich steh auf Sprite!« »Ich weiß.« Irritiert kratzte er sich am Kopf. »Häh? Woher das denn?« Otabek stieß sich ab und betrat die angrenzende offene Küche, zog den Kühlschrank auf. »Instagram.« Seine Antwort klang so beiläufig, dass Yuris Irritation noch mehr stieg. »Wie jetzt? Du stalkst mich auf Instagram und hast extra Sprite für mich besorgt?« Schon stand er wieder vor ihm und reichte ihm eine Glasflasche mit eisgekühlter Limonade. Und einem Strohhalm. Auf Yuris Frage hin nickte er, als wäre das nichts. Yuri prustete los. »Das ist … echt nett.« Er hoffte, sich seine roten Wangen nur einzubilden. Otabek hob die Schultern, jedoch zogen sich seine Augenbrauen zusammen. Hatte Yuri ihn mit seinen Worten beschämt? »Ich meine … Das hat noch nie jemand für mich gemacht. Bin nur überrascht darüber. Deswegen … Danke.« Gott sei Dank glättete sich seine Mimik wieder. Yuri schien ihn also nicht in Verlegenheit gebracht zu haben. Beruhigt sog er an dem Strohhalm, bevor er die Flasche vorsichtig auf dem dunklen Wohnzimmertisch abstellte. »Ziemlich coole Wohnung.« Noch immer versuchte er jedes Detail um sich herum einzuscannen. »Schau dich ruhig um.« Darauf hatte er nur gewartet! Flink erhob er sich und steuerte zuerst das Plattenregal an, das neben dem Fernseher stand. Die Regalbretter bogen sich unter der Last. Hier würde man vermutlich alles von Techno über Trance bis Rock und Metal finden. »Wow. Echt richtig krass!« Otabek stellte sich hinter ihn und betrachtete seine Sammlung ebenfalls, erwiderte aber nichts. Yuri drehte sich zu ihm um. »Das sind hunderte, alter! Wie bist du an so viele Platten rangekommen?« Er hob nur die Schultern. »Teilweise ein Erbe von meinem Großvater, von Flohmärkten, teuer im Internet erworben, Geschenke … nichts Besonderes.« »Nichts Besonders? Du hast ja keine Ahnung! Manche Music-Stores wären neidisch auf dich!« Otabek lächelte schief. »Naja, jeder sammelt doch irgendwas. Du etwa nicht?« Yuri verzog das Gesicht. »Ja … Katzenplüschtiere von meinem Fanclub. Ganz toll.« Dies war wieder ein Moment, in dem er sich schrecklich albern vorkam. Obwohl er seine Plüschtiersammlung liebte. Doch von Otabek kam kein herablassender Kommentar, sondern er nickte nur. »Siehst du.« Und damit war das Thema für ihn wohl erledigt. Yuri wandte sich von der Plattensammlung ab und schielte zum Fernseher. Im offenen Regal darunter standen glänzend und staubfrei einige Konsolen. Von der Playstation eins bis vier bis hin zur Nintendo Switch war hier alles vertreten - von den Spielen einmal abgesehen. Er verkniff sich eine weitere Bemerkung über Sammlungen. Das machte seiner Plattenkollektion schon beinahe Konkurrenz. »Lust?« Otabek beugte sich an ihm vorbei und zog ein Spiel aus dem Regal. Yuris Blick blieb an seinen Gesichtszügen hängen, an den dichten Augenbrauen, dem scharfgezogenen Unterkiefer, an der markanten Nase. Was hatte er gefragt? »Hm?« »Hast du Lust zu zocken?« Mittlerweile hatte Otabek sich wiederaufgerichtet und hielt ihm ein Spiel entgegen. Mario Kart. Was auch sonst. Yuris Blick wurde angriffslustig. »Ich werd‘ dich sowas von platt machen, du wirst das Spiel danach hassen!« Otabek blieb davon unbeeindruckt. »Wir werden sehen.«   Schüsseln mit Chips standen auf dem Wohnzimmertisch, der Inhalt über den größten Teil der Fläche verteilt. Schokoriegelpapier zierte den Boden. Offene Bier- und Spriteflaschen standen neben der Couch. Über den Fernseher flimmerte ein Film. Lichter zogen an ihren Augen vorbei und ließen Yuris Lider flattern. »Du bist müde.« Otabeks Stimme klang leise neben seinem Ohr, ließ Yuri aufschrecken. Sie saßen so nah beieinander, dass er das Aroma von Otabeks Duschgel roch. Schon seit Stunden saßen sie so. Sie berührten sich nicht. »Ich bin hellwach, okay?« Er zog seine Jacke enger um den Körper und bettete das Kinn auf den Knien. »Schon klar. Deswegen hattest du auch gute zehn Minuten deine Augen zu.« Irgendetwas regte sich in Yuri. Da war dieses Gefühl in seiner Brust. »Hast du mich beobachtet?« Wenn Otabek sich ertappt fühlte, dann verriet er sich nicht. Weder Scham, noch Irritation war in seinen Augen zu lesen. »Ja. Ich muss ja wissen, wann es reicht.« »Mir reichts noch lange nicht!« »Das hast du auch vorhin gesagt, als du wieder mal verloren hast.« Trotzig wandte Yuri seinen Blick wieder zum Fernseher zurück. »Kurz vor der Ziellinie Bananenschalen zu streuen ist auch ziemlich unfair, du Idiot!« »Nein. Es ist nur ziemlich idiotisch die zu übersehen und darauf auszurutschen.« Gespielt warnend reckte Yuri seine Faust. »Ja, danke auch!« Er senkte den Arm wieder. »Hast ja Recht … und mir fall’n wirklich gleich die Augen zu.« Otabek trank sein Bier leer. »Eigentlich wollte ich dich noch zurückfahren …« Das letzte Wort hing in der Luft, als würde ein Teil vom Satz fehlen, aber er sprach nicht weiter. Yuri schüttelte den Kopf. »Kein Ding. Ich nehm mir’n Taxi.« »Unsinn.« Yuri fühlte sich von Otabeks intensiven Blick aufgespießt. Etwas durchfuhr ihn, doch er ließ sich nichts anmerken. »Wir sehen uns nicht oft. Die Zeit, die wir haben, sollten wir nutzen.« Mit diesen Worten erhob er sich. Yuri sah ihm irritiert dabei zu, wie er lustlos, aber pflichtbewusst die Verpackungen einsammelte und so Ordnung schaffte. »Du meinst … Ich kann hier pennen?« »Ja, das meine ich.« Teil fünf: »Überraschung« ------------------------- »Aufwachen.« »Ich will nicht … Hilfe!« Unwirsch schlug Yuri die Hand weg, die bis eben noch rüttelnd an seiner Schulter lag. Die Decke zerrte er sich verbissen über den Kopf, sog ihren Geruch ein: Weichspüler und irgendetwas anderes, das er nicht greifen konnte. Unbekannt und trotzdem angenehm vertraut. »Du bist ein Morgenmuffel. Ich wusste es.« Nur kurz schlüpfte seine Hand wieder hervor, um Otabek den gereckten Mittelfinger zu zeigen. »Gut. Ein paar Minuten hast du noch.« Yuri hörte ganz klar die Belustigung in seiner Stimme. Als er bemerkte, dass keine weiteren Weckversuche kamen, entspannte sich sein Körper automatisch. Er glaubte niemals von dieser herrlich gemütlichen Couch hochzukommen. Die Geräuschkulisse um ihn herum wog ihn hin und her. Leise, aber feste Schritte auf dem Parkett. Radiowellen aus der Küche, irgendein Rocksender, der The Doors spielte. Schranktüren öffneten und schlossen sich wieder. Jemand klappte ein Fenster an, stellte dann eine Pfanne auf dem Kochfeld ab. Alltag, Normalität. Ein Gefühl, als gehörte er seit Jahren in diese Wohnung, obwohl er sich nicht einmal erinnern konnte, wann, beziehungsweise wie sie schlafen gegangen waren. Nur verschwommene Bilder zogen an seinem inneren Auge vorbei. Da lief ein Film. Vage kam ihn in den Sinn, wie Otabek eine Decke aus dem Schlafzimmer holte, sie entfaltete und sich dann wieder neben ihn setzte, mit den Worten er könne ruhig schlafen, aber er würde den Film gerne noch zu Ende sehen. Und dann … nichts mehr. So wie er sich selbst kannte, war er vermutlich sofort eingeschlafen. Wie lange Otabek wohl noch wachgeblieben war und neben ihm gesessen hatte? Hoffentlich hatte er nicht geschnarcht oder andere komische Töne von sich gegeben! Yuri wollte sich diese Peinlichkeit nicht länger vorstellen und kniff die Augen zusammen. Sein Herz machte weitere Gedanken in diese Richtung nicht mit. Zehn Minuten ließ er sich treiben. Der Geruch von Spiegeleiern umhüllte ihn. Sein Magen knurrte, aber die Müdigkeit gewann. Dachte er. Unter seinem Kopfkissen begann es zu vibrieren. Stimmt, da war ja was. Die ganze Aufregung um das Wiedersehen mit Otabek hatte jeden Gedanken daran verdrängt. Tief durchatmend zog er das Smartphone hervor. Eingehender Anruf von Yakov. Er starrte aufs Display, regte sich nicht. Er wollte nicht telefonieren. Yakov schien das zu ahnen, denn er unterbrach seinen Versuch. Als Yuri seine Mitteilungen durchging, bemerkte er Nachrichten von Victor, vom Katsudon, einigen Eisläufern, Trainingskollegen. Genervt schaltete er das Smartphone ab. So viel Trubel um nichts. Die Couch sank unter plötzlichem Gewicht nach unten. »Aufstehen.« Schon lag wieder die große warme Hand an seiner Schulter. Ein Rütteln. Er rührte sich nicht, alles konzentrierte sich auf diese Berührung. »Aufwachen, Yurio.« Mit plötzlicher Wucht saß er aufrecht, ohne seinem Hirn bewusst einen Befehl erteilt zu haben. Allein dieser furchtbare Spitzname war Ansporn genug. Gott, wie er ihn hasste. »Hey!« Umständlich strampelte er sich unter der Decke hervor. Ob das eventuell lächerlich aussah interessierte ihn nicht. Die Warnung in seinem Blick glich eher peinlicher Empörung. »Spinnst du, hä? Nenn mich nicht so!« Oh ja, es war ihm peinlich. Sehr peinlich. Besonders aus Otabeks Mund. Schon schlimm genug, dass ihn alle anderen so nannten … nicht er auch noch. Bitte. Otabek blieb gelassen. »Irgendwie muss man dich ja aus der Reserve locken.« Wütend pustete Yuri eine Haarsträhne aus seiner Stirn. »Glückwunsch, ist dir gelungen!« Doch dann entspannte er sich, atmete aus. »Hab‘ ich vielleicht verdient, nachdem ich hier faul rumgelegen hab.« »Schon gut.« Otabek winkte ab und stand auf. »Ich war darauf eingestellt.« Während er sprach faltete er routiniert die Decke zusammen, legte sie neben Yuri auf die Couch. Er beobachtete ihn, fragend zogen sich seine Augenbrauen zusammen. »Und wie kommt‘s?« »Naja. Es kam nicht nur einmal vor, dass du, wenn wir gegen Mittag geschrieben haben, noch im Bett gelegen hast.« »Dass du dir sowas merkst.« Yuri stand auf, streckte sich und ließ seine Gelenke knacken. Das tat gut. »Ich merk mir eine ganze Menge.« »Äh, aha? Was denn noch?« Otabeks Schultern zuckten nur, wohl alles, was er dazu beizutragen hatte. »Ich bereite mal das Frühstück weiter vor. Wenn du möchtest, kannst du dich in der Zeit fertig machen.« Ein seltsames Gefühl durchfuhr ihn. Plötzlich war er nervös. Wusste Otabek irgendetwas? Er wagte nicht zu fragen, nickte stattdessen seinen Vorschlag ab und kämmte sich die wilden Haare mit den Fingern durch. In dem Shirt zu schlafen, dass man bereits den ganzen Tag getragen hatte, war eine eher unvorteilhafte Entscheidung gewesen. Es klebte ihm am Körper. »‘Ne Dusche wäre cool …« »Handtücher sind im Schrank links neben der Tür. Bedien dich bei mir, deine Sachen sind bestimmt im Hotel.« Kurz und knapp wie immer – aber mit einem Lächeln. Er ging an Yuri vorbei, verschwand in der Küche. Yuri ertappte sich dabei, seinen getrimmten Undercut anzustarren. Otabeks Haare waren noch feucht. Auch die Schulterpartien seines Shirts wiesen dunklere Flecken auf. Schnell wandte er sich ab und flüchtete durch den Flur ins Badezimmer. Die schwarzen Fliesen unterstrichen die Modernität seiner gesamten Wohnung. Hmpf. Viel besser, als so ‘ne Luxuskaschemme. Er entledigte sich seiner Kleidung und schaltete, bemüht keinen weiteren Gedanken mehr an Otabeks Schultern zu verschwenden, das Radio an und begann mit seinen Morgenritualen.   »Guten Appetit.« »Boah, sieht das lecker aus!« Yuri betrachtete glückselig die Mahlzeit, die vor ihm stand: Spiegelei auf Toast, dazu ein kleiner frischer Salat – und eine eisgekühlte Flasche Sprite. Nichts Besonderes zwar, aber trotzdem für ihn zubereitet. Von Otabek. Er schielte zu ihm herüber. Otabek saß ihm gegenüber und nippte an seinem Kaffee, offensichtlich bemüht ein Schmunzeln zu unterdrücken. »Wenn dir das nicht reicht, habe ich noch was da.« Yuri winkte ab. »Das wird schon reichen. Muss ja in mein Outfit passen, wenn ich dieses Jahr wieder mit Gold auf der Tribüne stehe!« Otabeks Augenbraue wanderte nach oben. »Ach so. Hättest du früher was gesagt, hätte ich dir nur einen kleinen Salat ohne Dressing zubereitet. Und ohne Salat.« Das war einer der seltenen Momente, in denen er seinen trockenen Humor preisgab – diesmal sogar mit einer Prise Sarkasmus - und er entwaffnete Yuri gnadenlos damit. Yuri verschluckte sich an seiner Sprite, als er urplötzlich losprustete. Das Lachen staute sich in seiner Kehle und platzte einfach aus ihm heraus. Er konnte es nicht aufhalten. Otabeks entgeisterter Blick schaukelte ihn nur noch höher und nur die Tischplatte, die er verzweifelt umklammerte, verhinderte, dass er vom Stuhl rutschte. »S-Sorry!« Er schlug sich mehrmals gegen die Brust und langsam kehrte wieder Ruhe in seinen Körper ein. »Aber du bist echt zum schießen manchmal!« Zufrieden nahm Otabek sein Besteck in die Hand und begann zu essen. »Soll vorkommen.« Yuri war wirklich froh, dass er seine Ausbrüche, egal welcher Art, immer so gelassen nahm. Ob er nur bei ihm so eine Ausnahme machte?  Er konnte sich im Beisein von anderen immer nur an seine stoische Distanz erinnern. Bei ihm war er wie ausgewechselt. Es fühlte sich seltsam an. »Aber«, Yuri wagte einen zweiten Schluck aus seiner Flasche. »Wer weiß, vielleicht gewinnst du dieses Jahr. Du bist einfach grandios auf dem Eis!« Noch bevor der Satz komplett ausgesprochen war, kroch eine verräterische Hitze seinen Hals hinauf und kämpfte sich bis zu seinen Ohren. Das hatte jetzt anders geklungen, als es rüberkommen sollte. Beinahe schwärmerisch. Otabek hielt in seiner Bewegung inne, ließ die Gabel sinken. »Hm.« Kurz zuckte sein Mundwinkel. Seine dunklen Augen fingen Yuri ein und ließen ihn nicht entkommen. Die Hitze erreichte sein Gesicht. Es war das gleiche Gefühl, wie bei ihrem Telefonat. Nur mit dem gewichtigen Unterschied, dass Otabek ihn jetzt sehen konnte. »Man, was denn?« Fast schon routiniert krallte er sich in die Kapuze seines Hoodies und zog sie sich über den Kopf. Otabeks Nase kräuselte sich, als er ein Grinsen nicht mehr unterdrücken konnte. »Naja. Komplimente werden mit einem Degen geführt, nicht mit einem Breitschwert.« »Hä?« Jetzt lag es an Otabek zu lachen. »Nichts. Danke.« Yuris Lippen verzogen sich schmollend. Das war ernst gemeint, du Idiot. Er starrte ihn verbissen an, in der Hoffnung noch irgendetwas aus ihm heraus zu locken. Aber er erntete nur einen Blick, den er nicht deuten konnte. »Dein Essen wird kalt.« Gut, damit hatte er recht. »Ja! Ja …« Er begann zu essen und schloss genießerisch die Augen. »Vkusno!« »Freut mich.« Otabek schenkte sich Kaffee nach. »Am besten brechen wir direkt auf, wenn wir fertig sind.« »Aaach, stimmt ja …« Training stand an. Yuris Lust hielt sich in Grenzen. Aber er würde das Versprechen an Yakov und Lilia halten. Außerdem war der Gedanke mit Otabek zusammen eiszulaufen auch reizvoll, auf eine besondere Art und Weise. Er war sich sicher, dass sie gegenseitig voneinander lernen konnten.   Nach dem Frühstück brachten sie Ordnung in die Küche. Yuri half freiwillig beim Abwasch, Otabek trocknete das Geschirr. Ihre Schultern streiften sich. Yuri rückte unauffällig von ihm ab, während er den letzten Teller im Schrank verstaute. »Geschafft!« »Wir sollten los.« Als Yuri sich seine Jacke anzog, streifte ein dezenter Geruch seine Nase. Holzig. Otabeks Duschgel benutzt zu haben, fühlte sich komisch an. Irgendwie … intim. Er schulterte seine Tasche, richtete sich dann auf. Otabek wartete, bereit die Tür zuzusperren. Yuri trampelte an ihm vorbei. »Hätte ich das alles vorher gewusst, hätte ich gestern meine Schlittschuhe eingepackt!« »Das Hotel ist auf dem Weg, also kein Problem.« Er reichte Yuri einen der beiden Helme. Bei dem Gedanken gleich wieder mit dem Motorrad zu fahren begannen seine Füße zu kribbeln. Noch vor Otabek war er unten und stürmte hinaus. »Hummeln im Hintern?« »Häh? Einen Teufel hab‘ ich, also Schnauze!« Ohne weiteren Kommentar fuhr er los. Der Verkehr zog an ihnen vorbei und ließ Gänsehaut unter seine Kleidung kriechen. Er blinzelte, weil seine Augen tränten und suchte Schutz hinter Otabeks Rücken. Unbewusst sog er den Geruch seiner Lederjacke ein. Erst als der Fahrstuhl mit einem leisen Pling stoppte, fiel Yuri wieder ein, in welchem Chaos sie sein Hotelzimmer erwarten würde. Etwas peinlich berührt zog er die Karte durch, ließ ihn aber trotzdem herein, als sich die Tür öffnete. Yuri wurde heiß, als Otabek sich gründlich umsah und alles analysierte. Seine Mine blieb blank, als er den klamottengesäumten Pfad mit seinem Blick entlangfuhr. »Wie lang warst du gestern hier drin?« Yuris finsterer Blick prallte an seinem Rücken ab. »Zwanzig Minuten.« Jetzt zuckte Otabeks Augenbraue. »Reife Leistung.« »Ach, sei ruhig, Alter!« Motzig suchte er nach seinen Schlittschuhen, fand sie und schnürte sie am Rucksack fest. Es folgten frische Klamotten, sein Trainingsanzug, Zahnbürste, Duschzeug und sein Ladegerät. Nebenbei kickte er möglichst unauffällig ein paar herumliegende Unterhosen unters Bett, in dem Wissen, dass diese Aktion trotzdem nicht unbeobachtet blieb. »So, raus hier!« Beinahe fluchtartig verließ er das Zimmer und hätte Otabek, der ihm seelenruhig folgte, am liebsten am Ärmel gepackt und mitgezogen. Warum war ihm das so peinlich? Sonst interessierte es ihn doch auch nicht, was irgendwer von seinem Verständnis für Ordnung hielt. Er atmete erst auf, als sie wieder auf den Straßen waren, unterwegs zur Eishalle.   »Scheiße!« Keuchend stützte Yuri sich an der Barde ab, wischte sich eine nasse Strähne aus der Stirn. »Ich hab keinen Bock mehr!« »Trinken nicht vergessen.« Otabek hielt ihm eine Wasserflasche entgegen. Im Gegensatz zu Yuri schien er nicht einmal zu schwitzen. Und das, obwohl sie schon seit Stunden auf der Eisfläche waren. Er hatte ihn schon immer für seine Standhaftigkeit bewundert, aber das beeindruckte ihn wirklich. Gierig leerte er die halbe Flasche mit langen Zügen. Augenblicklich ging es ihm besser. Eventuell sollte er sich von Otabeks regelmäßigen Trinkpausen eine Scheibe abschneiden. Oft genug hatte er es ihm ja geraten. »Du bist echt krass … Null erschöpft. Krass!« Schwer atmend richtete er sich auf, sah verstohlen zu ihm herüber. Erst in seiner engen Trainingskleidung konnte man die feinen Definitionen von Otabeks Muskeln erkennen. Obwohl sie fast gleich groß waren, hatte Otabek einen ganz anderen Körper als Yuri. Schlank, aber keinesfalls zierlich. Kräftig. Breitschultrig. »Hast du genug?« »Hm?« Wohin trieben seine Gedanken schon wieder? »Vom Training? Ja, denke schon. Ich will hier nicht den ganzen Tag versauern!« Außerdem schmerzten seine Füße wie Hölle. Es reichte wirklich. »Ich auch nicht. Schluss für heute.« Dankbar grinste er ihn an. »Richtige Antwort! Außerdem hab‘ ich Hunger!« »Was auch sonst.« »Hey!« Er funkelte ihn an, verschränkte die Arme. »Eine zweite Portion wäre ja dagewesen.« »HEY!« Wut ballte sich in seinem Magen. Warum führte er ihn jetzt vor? Und seit wann ließ er so etwas zu? »Unfair!« »Wir fahren in die Innenstadt. Da gibt’s Geschäfte und Restaurants. Irgendwas werden wir schon finden.« Die Wut verpuffte. Er ließ die Arme sinken. »Du kannst ja doch sinnvolle Sachen sagen.« Keine Antwort. Wie zu erwarten. Yuri stieg aus seinen Schlittschuhen, rieb sich die geschwollenen Gelenke. Das Relikt seiner harten Arbeit. Er hatte heut eine Menge Sprünge gestanden und Stolz flutete seine Brust. Beinahe war er traurig darüber, dass Yakov und Lilia nicht da waren, um ihm zuzusehen. »Ich geh schnell duschen.« »Gut.« Otabek reckte seinen Daumen nach oben. Kein Lächeln zupfte an seinem Mund, aber seine Augen glühten. Yuri erwiderte die Geste, bevor er sich umwandte. Yakov und Lilia waren zwar nicht da, aber dafür jemand anderes. Ein gutes Gefühl. Er betrat die Umkleideräume und spülte sich den Schweiß vom Körper. Warmes Wasser trug seine Schmerzen fort. Entspannt stieg er in seine Alltagskleidung, froh das Training überstanden zu haben. Die Arbeit war getan, Vergnügen sollte folgen. Und das schnell. Routiniert verstaute er seine Trainingsklamotten und schnürte die Schlittschuhe abermals am Rucksack fest, bevor er nervös sein Smartphone wiedereinschaltete. Verpasste Anrufe, unbeantwortete Chats, SMSen. Eine bestimmte Nummer sprang ihm ins Auge und das schlechte Gewissen zog tiefe Bahnen durch Yuris Körper. Er konnte viele Anrufe ignorieren, aber diesen nicht. Seine Hand bebte, als er den Rückruf auslöste. »Yurochka.« »… Hey Großvater … Tut mir leid, ich hab trainiert … Ja, sogar heute, wieso auch nicht? … Danke. Ich mach mir jetzt ‘nen schönen Nachmittag … Ja, ich … hör doch auf. Danke … Ja, ich bin bald wieder in Sankt Petersburg, dann komm ich dich besuchen. Versprochen … Dir auch … Ich hab dich auch lieb. Bis bald ja?... Mach‘s gut.« Wie hoch seine Stimme wurde, immer wenn er mit ihm sprach. Kurz wurde sein Herz schwer. Er fehlte ihm, sie sahen sich eindeutig zu wenig. Seufzend schaltete er sein Smartphone wieder ab, bevor er das Gebäude verließ. Otabek wartete bereits auf ihn, die Arme verschränkt. »Guck nicht so, ich bin ja schon da!« Er hasste Momente wie diese. Es gab nicht viele Personen, die seine Verletzlichkeit herauslockten. Sein Großvater schaffte es immer wieder. Irgendwie musste er das kompensieren, aber es an Otabek auszulassen zeugte nicht von viel Ehre und schürte sein Gewissen. Mit hochrotem Kopf schwang er sich auf die Maschine, seinem Blick ausweichend. »Sorry.« »Ist alles gut?«  »Ja. Ich brauch nur Ablenkung vom Training.« »Sollte machbar sein.« Yuri Hoffnung stieg, als sie losfuhren. Das Motorrad trug sie durch die Straßen bis in die Innenstadt. Neugierig betrachtete er vorbeiziehende alte Gebäude, große Stadien, Konzerthallen und Sehenswürdigkeiten. Almaty hatte einiges zu bieten und als sie nach knapp zwanzig Minuten Halt machten, spürte er aufatmend die zurückgekehrte Leichtigkeit in seiner Brust. Auch hier sah er sich aufmerksam um. Geschäft reihte sich an Geschäft, Stimmengewusel, Gelächter, schnelle Schritte. Lichter zogen über das rege Treiben der Menschen. Restauraunts versuchten mit ihren Gerüchen potenzielle Gäste zu locken – eine Shoppingmeile. »Willst du dich erst umsehen, oder gleich etwas essen?« Yuris Magen knurrte zwar laut, jedoch zog bereits das erste Geschäft seinen Blick an. Im Schaufenster sah er einen schwarzen Hoodie mit einem Tigerprint auf dem Rücken. Automatisch setzte er bereits ein paar Schritte in diese Richtung, wandte sich dann aber um. »Äh … Du stehst nicht so auf shoppen, oder?« Otabek schüttelte zur Antwort mit dem Kopf. »Nein.« »Aber… würdest du trotzdem mitkommen?« Die Frage war noch nicht vollends ausgesprochen, da war er schon an Yuri vorbeigezogen und betrat den Laden, die Hände in den Hosentaschen. Obwohl er offensichtlich zweifelte hier etwas zu finden, das seinem Geschmack entsprach, sah er sich aufmerksam um. Yuri folgte ihm euphorisch und dankbar. Tatsächlich erwiesen sich Shoppingtouren mit Otabek als überaus spaßig, auch wenn Yuris wortkarger Freund alles dafür tat, seine neutrale Mine beizubehalten. Trotzdem tat er seine Meinung aufrichtig kund, riet Yuri von manchen Kleidungsstücken ab und ermutigte ihn zum Kauf anderer. Yuri fühlte sich beschwingt, als sie mit vollen Tüten die Einkaufsmeile hinter sich ließen und ein Restaurant ansteuerten. Das warme Ambiente empfing sie mit offenen Armen und saugte die Kälte aus ihren Gliedern. Yuri rieb sich die schmerzenden Hände, als sie einen freien Tisch ansteuerten. Der würzige Geruch aus der Küche ließ seinen Magen rumoren. »Ich sterbe gleich vor Hunger!« Schwer atmend fiel er auf einen Stuhl und legte den Kopf in den Nacken. Otabek studierte bereits das Menü.  Yuris Blick verfing sich in den dichten schwarzen Haaren, die hinter der Karte hervorlugten. »Bist du öfter hier?« Sein Kopf ruckte. Ein Nicken. »Hier gibt es die besten Burger in ganz Almaty.« Somit wusste Yuri schon, welches Gericht er bestellen würde. Nach nur kurzer Zeit kamen die Getränke: Grüner Tee für Otabek, Sprite für Yuri, welch Überraschung. Sie redeten nicht, während sie auf ihre Mahlzeit warteten. Yuris Blick wanderte über die Tische und Menschen, blieb schließlich an Otabek haften. »Hey … Danke für heute. Das hat Spaß gemacht.« Ein Abwinken. »Gern.« Dann schwiegen sie wieder. Die Anstrengung vom Tag war ihnen auf den Versen und im Begriff sie einzuholen. Erst als die Bedienung kam und servierte, erwachten sie aus ihrer Trägheit. Während Otabek manierlich mit Messer und Gabel aß, biss Yuri ungeniert in seinen Burger hinein. Schmachtend stöhnte er auf. Otabek hatte keineswegs zu viel versprochen. »Der Wahnsinn!« Konnte dieser Tag noch besser werden? Es folgte ein Dessert für Yuri und ein weiterer grüner Tee für Otabek. Sie saßen noch ein paar Minuten da, ließen das Essen sacken und redeten über den Tag, bis die Rechnung kam. Gerade als Yuri sein Portemonnaie herausholen wollte, legte sich eine große warme Hand auf seinen Arm. Otabeks dunkle Augen fixierten ihn ernst. »Schon gut. Geht auf mich.« Irritiert starrte Yuri ihn an, während er ohne mit der Wimper zu zucken bezahlte. Plötzlich war dort wieder dieses flaue Gefühl in seinem Magen. Er ahnte etwas, aber er hoffte Unrecht zu haben. Er selbst hatte den ganzen Tag seit dem Telefonat mit seinem Großvater keinen einzigen Gedanken mehr daran verschwendet. Woher … »Wollen wir los?« Otabek zog bereits seine Jacke über, doch Yuri blieb sitzen, seinen Blick noch immer fragend auf ihn gerichtet. »Warum die Einladung?« Da war dieser Funken in seinem Blick. »Du weißt, wieso.« Yuri spürte förmlich, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Seine Zunge lag ihm wie ein Stein im Mund. Zum ersten Mal herrschte unangenehmes Schweigen zwischen ihnen. Er sagte noch immer nichts, als Otabek wie selbstverständlich seine Wohnung ansteuerte. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, machte er keine Anstalten sich die Schuhe abzustreifen. Mit gesenkten Kopf stand er da, ließ seinen Rucksack achtlos auf den Boden fallen. Otabeks Blick kribbelte auf seinen Schultern. »Was ist los?« Ja, was war bitte los? Er wusste es selber nicht. Otabek hatte immerhin nichts falsch gemacht, im Gegenteil. Er freute sich. Aber gleichzeitig zog Scham an seinem Zwerchfell. Diese beiden Emotionen spielten Tauziehen mit seinem Körper. In welche Richtung sollte er? »Yuri.« »Hmpf!« Er verschränkte die Arme. »Woher weißt du das?« Sofort bereute er seinen abweisenden Ton. Die Entschuldigung blieb ihm im Halse stecken. »Ich meine … ich hab‘ mir nichts anmerken lassen.« »Ich bin aufmerksam.« Mehr sagte er nicht. Yuri zwang sich tief durchzuatmen. Es stimmte, Otabek war noch nie etwas entgangen. Eigentlich hätte er es wissen müssen. Aber auch Naivität musste bestraft werden. Ein kleines Lächeln zupfte an seinem Mundwinkel. »Hast mich ganz schön kalt erwischt, Alter. Nicht mal vor dir hab‘ ich heute meine Ruhe.« »Tu nicht so, als wäre das etwas Schlimmes.« Schnell schüttelte er den Kopf. »Nein, so – häh? Was soll das jetzt werden?« Otabek hatte etwas aus der Kommode im Flur gezogen und Yuri in die Hand gedrückt. Ein filigranes Päckchen, nicht größer und dicker, als ein Briefumschlag. Yuri nahm es entgegen und starrte das Geschenkpapier mit Katzenmotiv an. Sein Gesicht stand in Flammen. Otabek wartete mit verschränkten Armen, neigte nur seinen Kopf, als stumme Aufforderung es auszupacken. Seine Finger bebten, als er das dünne Papier öffnete, sehr bemüht, möglichst wenig davon zu zerreißen. Zum Vorschein kam ein hauchdünnes Blatt aus glänzendem Kunststoff. Ein … Aufkleber?! Seine Augen fuhren leuchtend über das Motiv: Ein Tiger auf einem Motorrad. Mit Sonnenbrille. Es traf seinen Geschmack so perfekt, dass die Freude darüber bittersüß in sein Herz stach. »Bist du beknackt, Alter?« Otabek schien aufzuatmen. »Du freust dich. Ich bin beruhigt.« Peinlich berührt verzog er das Gesicht, doch dann strahlte er ihn an. »Ja! Das ist supercool! Aber …« Suchend blickte er sich um, analysierte seinen Rucksack, das Smartphone, die Schlittschuhe. Natürlich wollte er sein Geschenk gleich überall präsentieren. Allerdings gab es da ein kleines Problem. »Wo kleb‘ ich den hin? Der passt nirgendwo drauf!« Fast schon traurig ließ er die Schultern hängen. »Ich weiß, wo.« Etwas flog auf ihn zu. Schon beinahe routiniert fing er es auf und sein Körper erstarrte zu Stein. »Den konnte ich dir nicht einpacken, weil du ihn die ganze Zeit getragen hast.« Er glotzte den Motorradhelm an, ohne ihn zu sehen. Seine Kinnlade machte gefühlt Bekanntschaft mit dem Boden. Das war nicht sein Ernst! Emotionen aller Art fluteten seine Brust und ließen seine Hände schwitzen. Da war Überraschung, Freude, Verlegenheit, Begeisterung und … etwas, das er nicht in Worte fassen konnte. Für Otabek war das vielleicht nur ein Helm, für Yuri allerdings war er so etwas wie das Symbol ihrer Freundschaft. Mit diesem Helm hatte alles begonnen. In fast jedem Moment, den er mit Otabek verbracht hatte, war dieser verdammte Helm dabei gewesen. Dass er nun wirklich ihm gehörte … Es war Otabeks stummer Beweis, es mit dieser Freundschaft wirklich ernst zu meinen. Sein Blick verschwamm. Hatte er nicht geglaubt, dass der Tag nicht besser werden konnte? Du fängst jetzt bloß nicht das Heulen an! Zögerlich hob er den Kopf und sah Otabek ins Gesicht, der den Blick ruhig erwiderte. Er brauchte nur wenige Schritte, um bei ihm zu sein. Er wusste was kam und reagierte. Yuri umfasste Otabeks Hand und drückte zu. Stumm besiegelten sie ihre Freundschaft und das Funkeln in Yuris Augen sprang auf ihn über. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« Teil sechs: »Melodie« --------------------- Wäre jeder seiner bisherigen Geburtstage so wie der heutige abgelaufen, dann hätte Yuri ernsthaft Gefallen an ihnen gefunden. Die meisten jedoch hatte er mit schlechter Laune verbringen müssen. Nicht, weil er seinen Geburtstag nicht mochte, im Gegenteil, er freute sich eigentlich darauf – wenn da nicht immer zwei Probleme auftauchten. Problem eins: Aufmerksamkeit. Yuri bekam davon eh schon weit mehr, als ihm lieb war. Auf dem Podest konnte er mit so viel Interesse der anderen wesentlich besser umgehen, als in seinem Privatleben. Lieber feierte er still für sich selbst. Er wollte keinen Kuchen. Er wollte keine Geschenke und erst recht – so weit kam es noch! – keine Überraschungspartys. Ein kurzer Händedruck oder ein Klopfen auf die Schulter, mehr brauchte es doch nicht. Doch der Wirbel, entfacht von den Anderen, half seiner Verlegenheit regelmäßig beim Gedeihen. Er freute sich darüber, aber er war ein Legastheniker der Zwischenmenschlichkeit, der seine Unsicherheit nur mit lauten Worten überspielen konnte. Problem zwei: Heuchlerei, die mit Problem Nummer eins Hand in Hand arbeitete. Kaum schlug es null Uhr zum ersten März, kamen die unterschiedlichsten Leute aus ihren Löchern gekrochen, von denen er sonst das ganze Jahr über keinen Mucks hörte. Schnulztriaden und leere Versprechungen über ein erhofftes baldiges Wiedersehen brachten ihn regelmäßig zum Würgen. Warum ließen sie es nicht einfach? Über dieses Geschenk würde er sich tatsächlich freuen. Er brauchte diese Leute nicht und konnte auf ihre Pseudofreundlichkeit verzichten. Dass allerdings nicht alle diese Scheinheiligkeit nur vorspielten, war ihm bewusst. Da gab es allen voran seinen Großvater, dann Yakov und Lilia, Victor und das Katsudon. Und … Otabek. Sein Daumen strich über den glänzenden Aufkleber und vernichtete die letzte Luftblase darunter. Der Tiger prangte auf der Rückseite des Helmes. Zufrieden betrachtete er sein Werk und versuchte dabei nicht allzu glückselig dreinzuschauen. Dann hob er den Kopf und sah Otabek ins Gesicht. »Danke.« Ja, er wurde rot dabei. Ja, er war verlegen. Ja, Otabek hätte ihm nichts schenken müssen … und trotzdem fühlte er sich längst nicht so unwohl, wie er vermutet hatte. Niemandem vorher war das bisher gelungen. Otabek erwiderte nichts, nickte nur, als sei das Selbstverständlich. Aber dem war nicht so. Nichts von alledem war selbstverständlich. Offenbar hatte er nicht den blassen Schimmer, dass er Yuri, seit sie sich kannten, regelmäßig aus dem Konzept brachte und Yuri würde alles dafür tun, dass er es auch nie herausfand. »Soll ich dich ins Hotel fahren?« Yuris Blick schnellte nach oben. Jetzt erst fiel ihm auf, dass weder er noch Otabek seine Jacke oder Schuhe ausgezogen hatten. Sie standen im Flur, wie auf Abruf. Wollte er ins Hotel? Nein. Nein, wollte er nicht. Etwas überrumpelt und vorschnell schüttelte er den Kopf. »Also … außer ich geh dir auf den Sack, oder so.« Peinlich berührt kratzte er sich an der Nasenspitze. Otabeks Augenbraue zuckte. Yuri hatte das Gefühl, diese Situation schon einmal durchlebt zu haben. Gespannt sah er ihm in die Augen, doch der erwartete Satz blieb aus. Allerdings glaube er zu bemerken, wie Otabek sich auf die Zunge biss. Es mochte unausgesprochen zwischen ihnen hängen, aber sie beide wussten in dem Moment, was Otabek durch den Kopf ging. Er wandte seine dunklen Augen von ihm ab und begann sich wortlos erst die Jacke, dann die Schuhe abzustreifen. Yuri tat es ihm gleich. Gerade als er etwas sagen wollte, durchbrach Otabeks Smartphone klingelnd die Stille. Yuri beobachtete, wie er es aus der Tasche holte, den Namen las und die Stirn krauszog, bevor er sich kurz angebunden meldete. »Was gibt’s?«  Was am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde, konnte er nicht hören, wohl aber begriff er Otabeks Reaktion darauf. Er schien nicht gerade erfreut zu sein. »Ich habe letzte Woche ausdrücklich gesagt, dass es diese Woche nicht geht. Also nein ... Ja, genau das soll das heißen. Ich habe keine Zeit.« Resigniert beendete er das Gespräch nach einer weiteren halben Minute, der Blick noch immer nicht geglättet. »Alles gut?« »Ja.« Das klang nach allem, aber nicht nach gut. Entnervung tropfte ihm aus jeder Pore. Yuri folgte ihm ins Wohnzimmer. »Wer war denn dran?« Eigentlich wollte er nicht so neugierig sein, hoffte doch aber, Otabek ein wenig besänftigen zu können. »Der, der meine Auftritte organisiert.« Yuris Gesichtsausdruck schleuderte mit Fragezeichen um sich und verführte Otabek dazu seine Augen zu schließen. Seine Finger wanderten zur seiner Nasenwurzel, vollführten kreisende, massierende Bewegungen. »In den Clubs.« »Achsooo! Dein Manager!« Otabek verzog über dieses Wort das Gesicht. Yuri ignorierte es, als langsam durchsickerte, was dieser Anruf zu bedeuten hatte. »Hättest du heut arbeiten müssen?« Der Gedanke mit Otabek einen Club unsicher zu machen sorgte bei ihm für Aufregung. »Ja, aber ich habe abgesagt. Müssen sie durch, ich stehe nicht zur Verfügung.« Otabek ließ sich auf die Couch fallen. Die Euphorie verpuffte. Wäre aber auch zu schön gewesen. »Warum?« Sein Blick traf beinahe vorwurfsvoll auf Yuri. »Dann hätte ich dich ins Hotel fahren müssen.« »Hä, wieso? Ich wäre doch mitgekommen!« »Nein, wärst du nicht. Der Club ist ab achtzehn.« Verdattert starrte er ihn an, reckte dann gespielt bedrohlich seine Faust. Noch verstand er nicht, worauf Otabek hinauswollte. »Na und? Ich bin krass trinkfest, Alter! Ich sauf ‘se alle untern Tisch!« »Das ist schön. Aber du bist minderjährig.« »Häh?« Otabeks Mine verriet, dass seine Geduld der Erschöpfung bedrohlich nahekam. »Minderjährig. Du.« Er hörte es leise in seinem Kopf klingeln. Daher wehte also der Wind. Fassungslos verschränkte er die Arme. »Dein Ernst? Du nimmst mich nicht mit, weil ich zu jung für sowas bin?« Hitze stieg ihm ins Gesicht. Noch nie musste er ein solches Gespräch führen. Und das ausgerechnet an seinem Geburtstag, welch Ironie. Er wusste nicht, ob er lieber vor Scham im Erdboden versinken oder vor Wut explodieren sollte. Aber dass er hier an dieser Stelle verlieren würde, war ihm klar. »Diese Clubs sind nicht umsonst ab achtzehn. Lass es gut sein, es ist jetzt eh zu spät.« Yuri brauchte einen Moment um sich zu sammeln. Er wollte ja nicht wütend sein und überhaupt hatte er nicht mal ansatzweise das Recht dazu. Ob Otabek arbeiten ging oder nicht, war nur seine Entscheidung. Seine ganz allein. Es stand Yuri nicht zu ihm Vorschriften zu machen. Außerdem trieb er die Stimmung gerade gehörig in den Abgrund. Ein zischendes Ausatmen, dann setzte er sich mit hängendem Kopf neben ihn. »… Sorry.« Seine große, warme Hand legte sich auf seine Schulter. Eine durch und durch freundschaftliche Geste, die sofort sämtlichen Ärger aus Yuri heraussaugte. »Nächstes Jahr.« Yuri warf ihm ein unsicheres Grinsen zu. »Da bin ich aber immer noch nicht volljährig.« Otabek lächelte schief zurück. »Ich weiß. Ich kneif ein Auge zu.« »Du hast wirklich ‘ne komische Moral!« Yuri gab sich alle Mühe seinen Blick einzufangen und ein kindlicher Stolz ergriff ihn, als er es schaffte. »Versprich es mir!« Er streckte seine Hand nach ihm aus und ließ ihn nicht entkommen. Zwar zögerte Otabek erst, ergriff sie dann doch und schlug mit ihm ein. »Versprochen.« »Aus dieser Nummer kommst du nicht mehr raus!« Otabeks Blick wurde erstaunlich herausfordernd. »Ich schätze, damit komme ich klar.« Da war so ein freches Zucken in seinen Augen. Yuri hielt dem nicht länger stand und erhob sich ruckartig. »So. Da du mir jetzt den Abend in einem Club versaut hast, musst du es wieder gut machen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er zielstrebig auf die gewaltige Plattensammlung zu. »Und wie?« Otabeks Schulter berührte seine. Wann war er aufgestanden und zu ihm gekommen? War der Typ ein Ninja? Yuri zuckte zusammen, rückte aber nicht von ihm ab. Er roch nach Leder und Frischluft. »Zeig mir dein Lieblingsalbum!« Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, froh darüber, dass Otabeks Blick sich an das Regal heftete. »Hm.« Ein tiefes, nachdenkliches Brummen stieg aus seiner Kehle. Konzentriert hob er eine Hand zum Kinn, fuhr mit dem Daumen über seine Unterlippe. Yuri folgte der Bewegung mit seinen Augen. Von links nach rechts, von rechts nach links. Es war hypnotisierend. »Die hier ist gut.« Otabek streckte eine Hand aus und zog eine Platte mit einem schlichten Cover hervor. Nur ein einzelnes Wort zierte die ansonsten komplett schwarze Hülle. NOX. Nacht. Yuris Finger strichen über das seidige Papier. »Und was machen die so?« »Wirst du sehen.« Otabek wandte sich ab und ging zur Anlage, zog nebenbei überraschend vorsichtig die Platte aus der Hülle und legte sie auf. Dunkle Riffs einer Gitarre füllten den Raum und schlichen sich augenblicklich in Yuris Venen. Er schloss die Augen, ließ es auf sich wirken. Nach der permanent aufgezwungenen klassischen Musik von Lilia war diese Abwechslung durchaus willkommen. Es gefiel ihm auf Anhieb. Während das Intro einspielte, betrat Otabek die Küche und kam mit zwei Flaschen zurück. Überrascht nahm Yuri das Bier entgegen. »Ich bin minderjährig, schon vergessen?«  Ein freches Grinsen überzog sein Gesicht. Er setzte die Flasche an und nahm einen tiefen Zug. »Heute Nacht weiß ich von nichts.« Yuri verschluckte sich und überspielte es mit einem Lachen. Sein Blick glitt durch den Raum, überallhin, nur nicht zu ihm. »Die Musik ist echt gut.« Seine Füße wippten im Takt. Er wollte tanzen. Kein Ballett, keine Pirouetten. Er wollte sich berauschen, wie in einem Club. Leider würde das allein in diesem Wohnzimmer ziemlich albern aussehen, also unterdrückte er dieses Bedürfnis. Hier in dieser Wohnung zu sein war immer noch zufriedenstellender, als allein im Hotel zu hocken, während Otabek seinen Geburtstag ohne ihn hinter dem Mischpult, umringt von Neonlichtern feierte. »Was willst du heut noch machen?« Otabek saß inzwischen auf der Couch, einen Arm auf der Lehne ausgestreckt und wirkte sichtlich entspannt. Von der Müdigkeit nach dem Essen war nicht viel übriggeblieben. »Was für eine Frage!« Yuri ließ sich neben ihn ins Polster fallen. »Wir zocken natürlich! Ich fordere bittere Revanche!« Und dieses Mal sollte er sie auch bekommen. Es folge ein Feuerwerk aus Bomben, Schildkrötenpanzern und Bananenschalen, begleitet von stimmungsvoller Musik aus dem Plattenregal. Völlig vertieft zog die Zeit an ihnen vorbei. Das Wohnzimmer glich, ähnlich wie am Vorabend, einem Schlachtfeld aus Chipstüten und leeren Flaschen. Otabeks Frisur war durcheinander und unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab. Yuri unterdrückte nur mit Mühe ein Gähnen. »Otabek?« Der jedoch lehnte schon halb versunken in der Couch, der Controller hing unmotiviert zwischen seinen Fingern. Für ein weiteres Match fehlte ihm offensichtlich die Kraft. »Mhm.« Eher ein Brummen, als eine richtige Reaktion, aber er hörte zu. Auch Yuri fühlte sich ermattet, doch da war ein anderes Gefühl, das die Müdigkeit niederrang.  »Äh … ohne Scheiß, so stell ich mir Geburtstage vor. Also … Danke.« Verlegen strich er sich eine lose Strähne hinters Ohr. »War mir eine Ehre.« Otabek sprach so leise, dass Yuri sich nach vorn beugen musste, um ihn zu verstehen. »… Du bist müde.« Verkehrte Welt. Er folgte seinen Bewegungen. Otabek rieb sich die geröteten Augen, gähnte dann ausgiebig mit beiden Händen vor dem Gesicht. »Ja.« »Ich auch. Pennen, oder was?« »Mhm.« Er machte keine Anstalten sich aufzurichten.  Vielleicht war es eine Kurzschlussreaktion, als Yuri ihm die Decke überwarf, bevor er nach der Fernbedienung griff und sämtliche Geräte damit abschaltete. Ein Hoch auf moderne Technik. »Was soll das werden?« Otabek murmelte in den weichen Stoff hinein, behielt seine Augen geschlossen. Die Erschöpfung rang den Versuch, sich zu wehren, erbittert nieder. »Die Couch ist groß genug für uns beide und ich glaube du stehst heute nicht mehr auf. Hast du noch ‘ne zweite Decke?« Brummend nickte er. »Im Schlafzimmer, unterstes Fach im Kleiderschrank.« Gut, das sollte zu schaffen sein. »Darf ich mir die holen?« »Mhm.« Es sollte das letzte sein, was Otabek in dieser Nacht sagte. Leise stand Yuri auf, sammelte in höflicher Manier die leeren Chipstüten ein, entsorgte sie und ging dann durch den Flur in Richtung Schlafzimmer. Vor der Tür blieb er stehen, die Hand schwebend über der Klinke. Er fühlte sich, als würde er verbotenes Terrain betreten, als er sie herunterdrückte. Laternenlicht warf schwachen Schein auf den simpel eingerichteten Raum. Ein Bett mit Nachttisch daneben, ein Kleiderschrank. Mehr nicht. Otabeks Geruch schlug ihm entgegen, viel intensiver, als jemals wahrgenommen. Bewusst durch den Mund atmend zog er im Dunkeln die Schranktür auf und suchte im unteren Fach nach einer weiteren Decke. Er erwischte sie und verließ beinahe fluchtartig das Zimmer. Im Wohnzimmer löschte er das Licht, tastete sich blind in der Dunkelheit voran. Seine Finger streiften die Lehne der Couch, fuhren nach unten und berührten Otabeks Arm. Er zuckte zurück, verharrte. Es kam keine Reaktion. Erleichtert ließ er sich nieder, versuchte kein Geräusch mehr zu machen. Endlich lag er unter Decke, bewusst den größtmöglichen Abstand zwischen ihnen lassend. »Gute Nacht.« Nur ein Flüstern. Otabek antwortete nicht, nur sein regelmäßiger Atem erfüllte den Raum. Yuri schloss die Augen und ließ sich davon in den Schlaf wiegen.   Am nächsten Morgen schlug er müde die Augen auf. Anscheinend hatte er sich keinen Millimeter bewegt. Die Beine angezogen, beide Arme vor der Brust verschränkt. Sein Rücken schmerzte und es war ihm egal. Otabek zog seinen Blick an. Er lag auf dem Bauch, einen Arm unter dem Kopf begraben. Offenbar war es ihm unter der Decke zu warm geworden, denn er hatte sie bis zur Hüfte weggestrampelt. Das nach oben gerutschte Shirt enthüllte ein winziges Bisschen nackte Haut. Sein Gesicht war nur zur Hälfte zu sehen. Seine Lider zuckten, er schien zu träumen. Yuri philosophierte, wovon wohl, während sein Blick sich an den dunklen Wimpernkränzen festsaugte. Er rührte sich nicht, blinzelte nicht einmal, während er ihn beobachtete. Diese entspannte Miene stand ihm um Welten besser, als seine übliche angestrengte Ausdruckslosigkeit. Er sah friedlich aus. Yuris Finger kribbelten. Zeit verging, ohne dass er sagen konnte, wie viel und schließlich begann Otabek sich zu regen. Er drehte sich auf den Rücken, den Arm jetzt über die Augen gelegt, um der Helligkeit den Kampf anzusagen. Ob er wach war? Yuri machte keine Anstalten es heraus zu finden. Erst, als Otabek sich ihm zuwandte, stellte er sich schlafend. Nur spürend, dass er sich neben ihm aufrichtete, blieb er liegen und wartete. Sein Atem ging auf Sparflamme, in der Hoffnung nicht gekünstelt zu wirken. Ein leises, beinahe wütendes Knurren durchschnitt die Stille zwischen ihnen, gefolgt von einem Fluchen. Die Couch bebte, als er ruckartig aufstand. Yuri musste sich zusammenreißen, um nicht seine Augen zu öffnen und ihn zu beobachten. Er spürte ein angenehmes Gewicht auf seinen Schultern. Otabek hatte ihm seine Decke übergeworfen und der Geruch, vor dem er gestern aus dem Schlafzimmer geflüchtet war, ließ Yuri zitternd einatmen. Bevor er sich die Frage nach dem „Warum“ stellen konnte, beantwortete Otabek sie bereits. Er stand am Balkon, unweit der Couch und zog beide Türen breit auf. Selbst unter zwei Decken spürte Yuri den harschen Luftzug, der sofort das komplette Wohnzimmer in Beschlag nahm. Draußen herrschten Minusgrade. Otabek mochte, genau wie Yuri selber, an eisige Temperaturen gewohnt sein, aber diese Aktion war schlichtweg verrückt. Lautlos setzte Yuri sich auf und beobachtete ihn. Sein Blick fuhr über die breiten Schultern und die akribisch geschnittene Frisur. Otabek massierte sich den Nacken. Yuri hörte sein lautes Ein- und Ausatmen, erkannte Gänsehaut auf seinen Armen und spürte abermals das Kribbeln seiner eigenen Finger. Er krallte sich fester in die Decke und durchbrach die Stille. »Du hast ‘nen Kater!« Der Triumph in seiner Stimme wirkte seltsam unpassend. Otabek wandte sich ihm zu. Er sah müde aus und irgendwie abwesend, aber er lächelte. »Ja. Das auch.« »Hm. Was denn noch?«  Er stand auf, trat neben ihn ans Fenster. Otabek schloss die Balkontüren mit etwas zu viel Nachdruck. Yuri sah ihn überrascht an. Es schien, als würde er seinem Blick ausweichen. »… Hunger.« Ein heiseres Raunen, das Nervosität in seiner Brust beschwor. Yuris Nackenhaare kämpften um Stehplätze. Otabek räusperte sich, wandte sich ab. »Ich geh mich fertig machen. Wird nicht lange dauern.« Im Vorbeigehen streiften sich ihre Blicke. Seine Augen blitzten gefährlich. Er sah ihm nach, rieb sich über die klammen Arme. Erneut durchdrang ihn die Ahnung, etwas verpasst zu haben. Etwas Wichtiges. Er wusste nicht, was und kam sich schrecklich hilflos vor. Hatte er ihn verärgert?  Um irgendetwas zu tun, schaffte er Ordnung im Wohnzimmer. In der Küche setzte er Kaffee auf, stellte eine Tasse bereit. Seine Füße trugen ihn in den Flur zu seinem Rucksack. Er konnte das Rauschen der Dusche hören, zog hastig neue Anziehsachen hervor und wechselte im Wohnzimmer rekordverdächtig schnell sein Outfit. Wieder im Flur schlüpfte er in seine Schuhe, als die Tür aufging. Otabek hatte sich umgezogen, das Handtuch noch um seinen Schultern. Wortlos musterte er ihn. Yuri stand komplett angezogen und aufbruchbereit im Flur – er wusste, wie das aussehen musste. Bevor Otabek es falsch verstehen konnte, ergriff er das Wort. »Oh gut, du bist endlich mal fertig! Sonst hätte ich wahrscheinlich irgendwelche fremden Leute anlabern müssen, wo der nächste Supermarkt ist!« Allein bei dem Gedanken schüttelte es ihn. Aber immerhin feierte sein altbekannter Ton Comeback, was nicht nur Yuri beruhigte. Der Schreck wich aus Otabeks Gesicht, allerdings blieb die tiefe Furche zwischen seinen Augenbrauen. »Du willst einkaufen gehen?« »Was denn sonst? Du hast gesagt du hast Hunger. Du bist gruselig, wenn du Hunger hast.« Seine Finger vollführten eine kreisende Bewegung um Otabeks Gesicht. »Dein Blick vorhin … als würdest du mich töten wollen. Also, wo muss ich lang, damit ich am Leben bleiben darf?« Otabek betrachtete ihn mit einer Mischung aus Überrumpelung und Fassungslosigkeit. »Warte kurz, dann komm ich mit.« »Haha, never!« Unwirsch schob er Otabek ins Wohnzimmer. Der schien zu resignieren, denn Yuri spürte keine Gegenwehr. »Ich schaff das schon alleine! Guck mal, dein bester Freund hat Kaffee für dich gekocht.« Forsch platzierte er ihn auf einen der Stühle, schenkte ihm sogar ein. Endlich, nachdem er einen Schluck genommen hatte, rückte Otabek mit der Sprache raus. »Wenn du zur Tür rausgehst, nach rechts und dann immer gerade aus. Der Supermarkt ist auf der gleichen Straßenseite.« »Geht doch, man! Gib mir zwanzig Minuten.« Schon war er in den Flur geeilt und hatte die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen. Um sich vor der klirrenden Kälte zu schützen, verkroch er sich tief in seiner Jacke und zog den Schal fester um seinen Hals. Im Gehen zog er sein Smartphone hervor. Mehrere Nachrichten von Yakov. Wo er gestern noch Rücksicht auf ihn genommen hatte, schien er nun deutlich angepisst zu sein. Yuri antwortete ihm kurz und knapp, beantwortete den restlichen Schwall an Mitteilungen der Anderen ebenso und sah dann auf die Uhr. Bereits vierzehn Uhr durch. Ärger und Schwermut prasselten auf ihn nieder. Sie hatten tatsächlich über die Hälfte vom Tag verpennt. Aufmerksam blickte er wieder nach vorn und schon nach wenigen Minuten kam der Supermarkt in Sicht. Froh, der Kälte entkommen zu sein, rieb er sich die Hände, bevor er nach einem Korb griff. Er rauschte durch die Abteilungen und ließ sich keine Minute zu lang Zeit. Es war ihr letzter gemeinsamer Tag. Morgen würden all die anderen Bratzen in Almaty eintrudeln. Wahrscheinlich würde er heute nicht einmal mehr bei Otabek übernachten können. So wie er Yakov und Lilia kannte, durfte er den kompletten nächsten Tag auf dem Eis verbringen, um seine Kür zu perfektionieren. Zum ersten Mal spürte er Lustlosigkeit vor einem Wettkampf. Übellaunig pfefferte er eine Zutat nach der anderen in den Korb. Kartoffeln, Eier, Mehl, Milch, Hefe. Er ging davon aus, dass Salz und Zucker einen festen Platz in Otabeks Haushalt hatten. Unterwegs griff er noch nach frischen Champignons und einem Strauß Petersilie. Fleisch durfte auch nicht fehlen. Otabek würde Augen machen! Fußtippelnd stand er an der Kasse und verfluchte jede langsame Bewegung, jedes akribische Abzählen von Kleingeld, jedes Wühlen nach Coupons. Ging das nicht schneller? Endlich war er dran, bezahlte Bar und pfiff auf Wechselgeld und Kassenbon. Außer Atem klingelte er Sturm. Otabek ging nicht ran, sondern drückte einfach den Summer nach oben. Keuchend erklomm er die letzte Stufe, stützte sich mit beiden Händen auf den Knien ab. Die volle Einkaufstüte rutschte zu Boden. »Bist du auf dem Weg hierher sämtliche deiner Küren gelaufen?« »Schnauze!« Das Gesicht knallrot, aber siegessicher richtete er sich auf. »Ich koche jetzt für dich! Keine Widerrede!« Nicht mal die Tüten ließ er sich abnehmen. In der Küche angelangt packte er euphorisch alles aus und ignorierte Otabek, der mit verschränkten Armen hinter ihm stand. »So jetzt brauch ich nur noch Messer, Brett …« Seine Hände öffneten Schränke und Schubladen auf der Suche nach den benötigten Sachen, wurden allerdings nicht fündig. Nicht, dass Yuri sich davon abschrecken ließ ... »Gut, dann eben erstmal ‘ne Schüssel! Eine, äh …. Hmpf.« Peinlich berührt drehte er sich um. »Otabek, hast du überhaupt Zeug zum Kochen da?« Die Antwort war ein brummiges Lachen, tief aus seinem Inneren. Er kam auf Yuri zu und lehnte sich an ihm vorbei, öffnete mit einer Hand den Hängeschrank, den Yuri zuvor schon inspiziert hatte. Da er nicht viel größer als Yuri war, musste er die Schüssel auf Zehenspitzen hervorangeln. Dabei kesselte er ihn unbewusst so ein, dass Yuri sich nicht bewegen konnte. Endlich bekam er die Schüssel zu fassen und ließ Yuri wieder Luft zum Atmen. Schnell wandte er sich zur Spüle und wusch sich pflichtbewusst die Hände. Das kalte Wasser tat gut und lenkte ihn ab. Otabek holte in der Zwischenzeit alles andere hervor, was Yuri aufgezählt hatte. »Kann ich dir irgendwie helfen?« »Ja.« Ruppig trocknete er sich seine Hände, warf ihm ein Grinsen zu. »Leg die Platte nochmal auf. Die erste von gestern. Die find ich echt gut. Besonders diesen einen Song.« Ihm fiel der Name nicht mehr ein, wie peinlich. Wortlos folgte Otabek seiner Bitte. Die Musik erfüllte die Wohnung. Augenblicklich schrumpfte seine Anspannung ein wenig, als er den Teig vorbereitete. Milch anwärmen, Hefe hineinbröseln, Zucker dazu. Rühren, rühren, rühren. Mehl, Eier und Salz in die Schüssel, Milch und Öl dazu. Erst rühren, dann kneten. »Das sieht geübt aus.« Yuri wandte sich um, als er den Teigt abgedeckt hatte. »Lilia hat‘s mir beigebracht, aber das Rezept ist von meinem Opa.« »Ah.« Etwas unschlüssig stand Otabek neben ihm und sah zu. »Brauchst du wirklich keine Hilfe?« »Wenn‘s dich glücklich macht, kannst du das Gemüse und das Fleisch schneiden.« Otabek folgte akribisch genau seinen Anweisungen. Ansonsten redeten sie nicht, nur die Musik sprach zu ihnen. Yuri gestand sich ein, dass Otabek ihn mit dieser LP auf den Geschmack gebracht hatte. Wenn er zuhause war, musste er unbedingt die Lieder herunterladen. Geschickt ließen sie die Zutaten im Teig verschwinden, der daraufhin seinen Weg in den Backofen antrat. »Halbe Stunde noch, dann können wir essen.« »Mhm.« Die letzten Klänge des Albums verstummten. Schweigend schafften sie Ordnung in der Küche. Keiner der beiden sprach es aus und dennoch dachten sie dasselbe: Die Uhr tickte. Der Rest der verbliebenen Zeit schrumpfte spürbar zusammen. Vor drei Tagen hatte Yuri noch gedacht, dass ihnen unendlich viel davon zur Verfügung stünde und letztendlich war alles wie ein Wimpernschlag verflogen. Zeit war relativ, ja, und ein Arschloch. Mal wieder. Es kam ihm unfair vor. »Wollen wir nach dem Essen nochmal raus?« Es klang wie ein Abschluss. Das letzte Unternehmen, bevor die Pflicht rief, die ihn erst nach Almaty gebracht hatte. »… wohin denn?« »Vielleicht nochmal zum See.« Verstehend nickte er. Dort wo es begonnen hatte, sollte es wohl auch enden. »Wir können das Essen auch einpacken und mitnehmen.« »Guter Plan.« Otabek kramte bereits nach Tupperdosen, um die Mahlzeit zu verstauen. Als er seinen Blick spürte, warf er ihm ein aufmunterndes Lächeln zu. »Du solltest deine Sachen packen.« »Ja …« Als Yuri ins Wohnzimmer zurückkehrte, hing bereits ein sämiger Geruch in der Luft. Er schnupperte neugierig und glaubte, dass sein erster Kochversuch ohne Lilia geglückt war. Er fand Otabek auf dem Balkon. Seine schwarzen Haare tanzten im Wind. Zögerlich folgte er ihm nach draußen. »Hey.« »Hey.« Er tat es Otabek gleich und stützte die Unterarme auf der Brüstung ab. Sein Balkon bot eine fantastische Aussicht und erinnerte ihn an das Podium, auf dem sie in Barcelona gestanden hatten. Sonnenlicht reflektierte sich an den Fensterscheiben der vielen Häuser. Aus weiter Ferne trug der Wind Vogelgesang und Geigenmusik an ihre Ohren. »Ist echt schön bei dir.« »Freut mich.« Es kostete ihn Überwindung, doch Yuri stellte die Frage trotzdem: »Darf ich irgendwann nochmal herkommen?« Verlegen bemühte er sich irgendwo anders hinzusehen. Schon wieder verhielt er sich wie im Kindergarten, jedoch brannte die Unsicherheit in ihm. Otabek war ihm wichtig. Diese Freundschaft war ihm wichtig. Wie konnte er sich sicher sein, wenn er nicht fragte? Er versuchte es zu überspielen, indem er möglichst beiläufig auf sein Smartphone schielte.  »Das weißt du doch.« Beinahe liebevoll strich Otabeks Stimme über sein Ohr. Yuri lächelte. »Ich glaub das Essen ist fertig ...« Keine Zehn Minuten später schwangen sie sich aufs Motorrad. Yuris Rucksack wog schwer auf seinen Schultern. Etwas wehmütig schenkte er Otabeks Heim einen letzten Blick, bevor dieser die Maschine startete und sie aus der Stadt trug.   Der See empfing sie mit Stille. Einzig die Grashalme wogten im Wind und verursachten ein leises Rascheln. Yuri nahm den Helm ab und betrachtete den Aufkleber, bevor er die Nase nach oben streckte und die frische Luft einsog. An diese Ruhe konnte er sich gewöhnen. Eine nette Abwechslung zu seiner Heimatstadt. Sankt Petersburg war wunderschön, aber niemals müde. Er nahm sich vor, Otabek irgendwann zu sich einzuladen und ihm die Stadt zu zeigen. Sie liefen los. Immer wieder überraschte es Yuri, wie angenehm es war mit jemandem zu schweigen. Dass man nicht immer sinnlosen Blödsinn plappern musste, um die peinliche Stille zu überbrücken. Ein warmes Gefühl, dass ihn vor der Kälte schützte.  Irgendwann lichtete sich die Wiese und machte Platz für Sand. Sie hatten freie Sicht auf den klaren Himmel und das Wasser. Der Himmel war ein Feuerball und würde bald erlöschen. Otabek faltete die Decke auf, die er unter dem Arm getragen hatte. Sie setzten sich und genossen den Ausblick. Yuris Finger machten sich am Deckel der Tupperdose zu schaffen und scheiterten. Fluchend zerrte er daran, bis Otabek ihm half und so sein Elend beendete. Warmer Duft schlug ihnen entgegen. »Das hätte ich auch allein hinbekommen!« »Vorher wärst du wahrscheinlich verhungert.« Ein Schmunzeln, bevor er in die Dose griff und sich eine Piroschki angelte, Yuris wütenden Protest ignorierend. »Die sehen wirklich gut aus. Wie komm ich zu der Ehre?« Auch Yuri bediente sich, biss ab und schloss zufrieden mit seiner Kreation die Augen. »Das … ich wollte mich bedanken. Dafür, dass ich herkommen durfte, für meinen Geburtstag und … alles einfach.« »Verstehe.« Otabek biss ab, kaute einen Moment und fixierte Yuri dann, den Daumen in die Luft gereckt. Freude schlug einen Haken durch seinen Körper. Nach dem Essen ließ er sich auf den Rücken fallen und zögerlich tat Otabek es ihm ein paar Sekunden später gleich. Mit verschränkten Armen sahen sie in den Himmel. Ihre Beine berührten sich. Mit der Sättigung hielt auch Zufriedenheit Einzug in seinen Körper. Bittersüß und warm. »Mir ist gerade was eingefallen.« Neugierig drehte Yuri seinen Kopf zu ihm. »Und was?« »Ich hab dir den ganzen letzten Abend meine Musik gezeigt, aber nie gefragt, was du so magst.« »Äh … Ja, stimmt.« Seine Hand glitt in seine Jackentasche und holte sein Smartphone hervor. Zögerlich löste er die umgewickelten Kopfhörer und hielt ihm eines der Enden hin. Otabek nahm es ihm ab und schob es sich ins Ohr. Unschlüssig scrollte er durch seine Playlist, tippte dann wahllos irgendeinen Song an. Otabek seine Musik anzuvertrauen hatte etwas Intimes, aber er fühlte sich nicht unwohl damit. Er hatte die Augen geschlossen und ließ es auf sich wirken. Yuri warf ihm ab und zu verstohlene Blicke zu, doch sein Ausdruck blieb entspannt. Vielleicht gefiel es ihm. Vielleicht kannte er den ein oder anderen Titel auch. Ihr Geschmack schien sehr konform zu gehen. Die Musik spülte sanft durch sein Inneres, wie ein fließender Kreislauf. Er wandte sich wieder dem Himmel zu und begann die ersten aufglimmenden Sterne zu zählen.   »… Yuri.« Eine Hand an seiner Schulter. Kälte in seinen Gliedern. Dunkelheit um sie. War er eingeschlafen? Wenn ja, wie lang? Wann war der Mond aufgegangen? Etwas konfus richtete er sich auf, spürte ein Brennen im ganzen Körper. Als er forschend auf sein Smartphone sehen wollte, blieb der Bildschirm schwarz. Mit tauben Finger rieb er sich die Augen. »Fuck, ist das kalt. Wie lang sind wir schon hier?« Otabek packte ihre Sachen zusammen. »Schwer zu sagen. Vielleicht zwei Stunden. Definitiv aber zu lang.« »… tut mir leid.« »Schon gut. Ich bin selbst eingeschlafen.« Yuri stand auf und schlag zitternd die Arme um seinen Körper. Der kalte Fahrtwind würde jetzt lustig werden. Bevor er in Flüchen darüber ausbrach, spürte er Otabeks schwere Lederjacke auf den Schultern. Protest sammelte sich auf seiner Zunge und wurde durch Otabeks Blick im Keim erstickt. Der hatte derweil schon die Decke zusammengefaltet und zurück in den Rucksack gestopft. »Komm.« Ohne weitere Diskussionen fuhren sie los. Yuri konnte den Frust nicht unterdrücken, ausgelöst durch dieses abrupte Ende, aber zu ändern war es jetzt nicht mehr. Und auch ihre vorerst letzte Fahrt verging trotz beißender Kälte viel zu schnell. Das Hotel empfing sie mit einladender Helligkeit. Über sich selbst wütend sprang er vom Motorrad. Auch Otabek stieg ab. »Du solltest schnell rein, bevor du dich wirklich noch erkältest.« Yuri schälte sich bereits aus der Jacke und reichte sie ihm zurück. »Danke.« »Nicht dafür. Geh jetzt.« Etwas blitzte in seinen Augen auf. Es könnte Sorge sein. »Guck nicht so, mir geht’s gut! Ich komme aus fucking Russland, glaubst du da macht mir die Kälte was? Und ich bereue nichts!« Das klang vielleicht ein wenig zu inbrünstig, aber er meinte es vollkommen ernst. Otabeks schiefes Lächeln ließ sein Gesicht in Flammen aufgehen. Es kümmerte ihn nicht. »Wir sehen uns morgen … oder?« Er zog sich den Helm vom Kopf und reichte ihn Otabek zurück. Ein knappes Nicken. »Beim Training auf dem Eis. Sei fit. Und nimm dein Geschenk ruhig mit.« Erst jetzt bemerkte er, dass er den Helm noch immer in der Hand hielt. Otabek hatte ihn nicht angenommen. Es dauerte einen Moment, bis es Klick machte. Wie konnte er das vergessen? Der gehörte ja jetzt ihm! »Du auch.« Kurz rang er mit sich, doch dann überwand er die letzte Distanz zwischen ihnen und schlang die Arme um ihn. »Danke nochmal.« Otabek drückte ihn ebenfalls mit einem Arm an sich, ließ aber schnell wieder los. »Gute Nacht.« »Nacht.« Der Gedanke jetzt im Hotelzimmer zu schlafen fühlte sich falsch an. Trotzdem wandte er sich ab und ging schweren Herzens auf den Eingang zu. »Yuri.« Verwundert drehte er sich um. Unter dem Dröhnen des bereits gestarteten Motorrads konnte er Otabeks Stimme nur mit größter Konzentration verstehen. »Du hast echt gute Musik auf deinem Smartphone.« Mit diesen Worten reckte er seinen Daumen nach oben, kickte dann den Motor durch und brauste davon, in die rabenschwarze Nacht. Yuri sah ihm nach, während er den Helm umklammerte, die Augen riesengroß und das Herz ein verwirrtes Stolpern in Brust. Teil sieben: »Bankett« ---------------------- Die Reibung der Kufen drückte feine Spuren in das Eis und hinterließ einen sonoren Schauer in seinen Ohren. Sanft und gleichmäßig, eine Melodie ohne Klang. Sie existierte nur in seinem Kopf. Beiläufig verfolgte er die sanften Linien und stellte sich vor ein Gemälde mit ihnen zu zeichnen, vertiefte manche, einige kreuzte er mit anderen. Wie wohl das Resultat aussah? Wie könnte es auf andere wirken? Und was würde er darin sehen? Der Klang öffnete seine Arme und ließ ihn den Kopf in den Nacken werfen. Unbewusst wich er anderen aus, als er verschiedene Sprünge probte. Selbst der vierfache Toeloop war heute kein Problem. Die Schrittfolgen waren tief wie ein Anker in seinem Gedächtnis, so tief, dass er ihren Ablauf kaum realisierte. Seine Augen schlossen sich, als er einen Wirbelsturm aus Pirouetten entfachte. Erst als er stand, stieß er die angehaltene Luft aus, keuchend, mit den Armen hoch in die Luft gestreckt. Stille um ihn herum. Niemand lief mehr. Er hatte das Eis für sich allein, obwohl sich noch viele andere in der Halle aufhielten. Jeder einzelne Platz im Publikum war besetzt. Seine Augen streiften erstaunte Gesichter. Yakov, Lilia, Victor, Katsudon, andere Kontrahenten. Ihre Aufmerksamkeit stach durch seine Brust. Und als würde sich ein unsichtbarer Schalter umlegen, Flutete mit dem Applaus der Zuschauer die Musik sein Bewusstsein. Agape. Unbewusst hatte er sich von seinem Gefühl treiben lassen und herausgekommen war Agape. Dieses Gefühl, was er damals bei seiner Performance vermisst hatte, es durchströmte ihn nun. Wärme trieb bis in seine Fingerspitzen. Ein Feuer wütete in seiner Brust. Es fühlte sich falsch an. Schnaufend glitt er zur Bande und erstach die Gaffer mit seinen Blicken. »Nix zu tun, oder was?« Wie auf Stichwort kam Bewegung in die Eishalle. Sportler betraten die Eisfläche und führten ihre Aufwärmübungen fort, andere probten ihre letzten Sprünge vor dem Showdown. Viele davon warfen ihm verstohlene Blicke zu und fraßen ihn damit auf. Bekannte Gesichter aus anderen Turnieren. Er ignorierte sie, trampelte an Yakov und Lilia vorbei und zog etwas zu Trinken aus seiner Tasche. Das stille Wasser löschte das Feuer in ihm nur kurz, die Glut glomm weiter und stieß Funken hervor. »Das war richtig gut, Junge!« Yakov trat an ihn heran und legte eine Hand auf seine Schulter. »Hmpf. Nix Besonderes. Agape halt.« Auf die Bank hinabgesunken stützte er seinen Kopf mit einer Hand, schenkte den folgenden Worten kaum Gehör. »Das sollte zur Aufwärmung reichen. Lauf gleich nur so wie gerade eben, dann hast du die besten Chancen.« Yuri unterdrückte ein Schnauben. Das waren seit gestern die ersten freundlichen Worte, die er zu hören bekam. Yakov konnte seine Wut nur jämmerlich schlecht verstecken. Und wie wütend er auf Yuri war, weil er sich die drei Tage bei Otabek kein einziges Mal gemeldet hatte. Aber Yuri kannte es nicht anders. Sie keiften sich an, Yuri lief eine grandiose Kür und alles war wieder in Butter. Als würde er sich mit seinem Talent von Yakovs Groll freikaufen können. Es kotzte ihn an. »Ich hab‘ gestern schon beim Kurzprogramm den ersten Platz gemacht, also tu‘ mal nicht so, als ob das was Neues wäre!« Er befestigte die Schoner an den Kufen seiner Schlittschuhe und schüttelte wie nebenbei Yakovs Hand ab. Unwirsch zog er den Reißverschluss seiner Trainingsjacke höher. »Ich geh nochmal raus.« Lilia nickte er kurz zu, dann wandte er sich um, gerade als Otabek die Halle betrat. Beinahe sofort kreuzten sich ihre Blicke. Peinlich berührt und nicht wissend weswegen, beobachtete Yuri, wie er auf ihn zukam. Gott sei Dank hatte sich Yakov bereits zurück zu seiner Ex-Frau gesellt. »Hey.« Otabek hob zum Gruß die Hand. »Hey.« Yuri ließ seine stattdessen in den Taschen seiner Jacke verschwinden. »Bist ganz schön spät dran! Die Aufwärmphase ist gleich vorbei. Ich glaub dein Trainer wartet auch schon auf dich.« Er konnte den Vorwurf in seiner Stimme nicht so recht verbergen. Eigentlich war abgemacht gewesen sich zusammen aufzuwärmen. Forschend betrachtete er die dunklen Schatten unter seinen Augen. »Du siehst ganz schön beschissen aus. Etwa doch erkältet?« Yuri war froh, dass das Schicksal es offenbar gut mit ihm gemeint hatte, denn nach einem heißen Bad in der vergoldeten Wanne seines Luxuszimmers war alles wieder okay gewesen und er hatte gestern und heute ohne Einschränkungen trainieren können. Wie es bei Otabek aussah, wusste er allerdings nicht. »Nein. Ich habe nur zu lang gearbeitet und den Wecker nicht gehört.« Yuri verzog das Gesicht. Dass Otabek während der heißesten Phase des Turniers noch arbeiten ging, sorgte für Unverständnis. Außerdem stieß ihm der Gedanke, dass er sich geweigert hatte ihn mitzunehmen, noch immer sauer auf. Er wollte nicht weiter darüber nachdenken. »Mhm, ach so. Dann beeil dich jetzt lieber.« Nur ein Nicken und schon ging Otabek an ihm vorbei. Anstatt wie geplant frische Luft zu schnappen, folgte Yuri ihm zur Eisfläche. Sich auf der Bande abstützend beobachtete er, wie er ruhig seine Bahnen zog. Wie wohl seine Kür werden würde? Sein Thema dieser Saison war Sieg. Welche Schlacht er wohl gewonnen hatte? Yuri war zu feige, um dem auf den Grund zu gehen. Sein eigenes Thema war Freundschaft, aus offensichtlichen Gründen. Zum ersten Mal glaubte er, wirklich konform mit seinen Programmen zu sein. Anders, als letztes Jahr. Wirre Gedanken bekamen Flügel und tanzten in seinem Kopf. Von all den Kurzprogrammen und Küren war Agape mit Abstand das schwierigste Stück für ihn gewesen. Selbst die Liebe zu seinem Großvater hatte ihn nur bedingt weiterhelfen können. Und heute … Wo kam diese Leichtigkeit her? Warum erst jetzt? In seinem Kopf wütete das Feuer erneut. Er glaubte eine Antwort gefunden zu haben, doch die gefiel ihm ganz und gar nicht. »- ins Gesicht geschrieben!« »Psst!« Seine Antennen meldeten ihn, dass über ihn geredet wurde und sein Kopf ruckte zur Seite. Er blickte in zwei Gesichter mit völlig unterschiedlichen Ausdrücken: Katsudon ertappt, Victor hingegen … irgendwie wissend. Sie standen ebenfalls an der Bande und beobachteten die anderen Läufer.  Schauder erklomm seinen Körper. »Was?« Seine Stimme schnitt Glas. »Nichts, Yurio. Schon gu-« Katsudon hob beschwichtigend seine Hände, doch Victors Hand auf seinem Mund erstickte mögliche Schlichtungsversuche im Keim. »Uns ist nur aufgefallen, wie beschwingt du vorhin Agape dargeboten hast. Wer hat dir denn diese Flügel verliehen, hm?« Victors Blick huschte scheinbar unbeabsichtigt zu Otabek. Zwischen Yuris Augen blitzte es. »Was laberst du für ‘ne Scheiße, alter Mann?« Victor schmunzelte, der überlegene Zug noch immer im Gesicht. Katsudons Versuche ihn zum Schweigen zu bringen, wischte er einfach weg. »Ich interpretiere nur.« »Ach ja? Dann interpretiere mal lieber, wie ich dein Schweinchen nachher vom Eis fege, du blöder Penner!« Seine Hand ballte sich zitternd zur Faust. Es brodelte in ihm. »Hm.« Victor strich sich mit einer Hand übers Kinn und lächelte ihn an, keine Spur von Verunsicherung zeigte sich. »Mit dieser neuen Leidenschaft könntest du fast eine Chance haben.« »HALT DEIN MAUL ODER ICH STOPF DIR MEINE FAUST BIS ZUR SCHULTER INS GESICH-« Der Griff an seinen Schultern war nicht schmerzhaft, aber fest genug, um ihn ruckartig zum Schweigen zu bringen. Schwer atmend stellte er fest, dass er zum zweiten Mal binnen weniger Minuten die gesamte Aufmerksamkeit der Halle für sich hatte. Die Stille vibrierte. Innerlich beschämt starrte er Viktor weiterhin an, vermied peinlich genau den Blick in eine andere Richtung. »Yuri Plisetsky. Mitkommen, sofort.« Lilias schlanke Finger gruben sich noch immer in seine Schultern, als sie ihn umdrehte und vom Schauplatz wegführte. Er hatte keine Chance und ergab sich seinem Schicksal. Yakov wäre ihm jetzt viel lieber gewesen, aber der stand nur mit verschränkten Armen da und machte keine Anstalten ihnen zu folgen. Mit seinem Anschiss konnte er umgehen, mit Lilias Kummer über sein Verhalten allerdings nicht. Erst, als sie gehörigen Abstand zwischen sich und das Eis gebracht hatten, hob sie ihre Stimme. »Seit wann lassen wir uns wieder auf solche Töne herab? Ich dachte es wäre Schluss mit dieser grässlichen Angewohnheit.« Ihr strenger Ton war nur Fassade. Yuri hörte deutlich die Verbitterung heraus. »Du enttäuschst mich.« Da war es. Dieses schmerzhafte Ziehen in seiner Brust. Die traurige Wahrheit allerdings sah so aus, dass er sich nie verändert und vor Lilia nur so getan hatte. »… tut mir leid.« Ohne Gegenwehr ließ er sich auf einen der Sitzplätze in der Trainerloge drücken. »Aber Victor-« »Deine Erklärungen interessieren mich nicht. Ich dulde dieses Benehmen nicht. Nach deiner Kür wirst du dich entschuldigen und zwar ohne Widerrede.« Die plötzliche Härte ihrer Worte prallte auf seinen Nacken. Er knirschte mit den Zähnen und schluckte seinen Protest herunter. Erst jetzt ließ sie von seinen Schultern ab. Ihre Finger wanderten zu seinem Kopf und lösten vorsichtig den Gummi, der sein Haar zusammenhielt. Er ließ es geschehen, genoss das Gefühl der Haarbürste, die langsam einige Strähnen entwirrte und die Sanftheit, mit der sich ihre Finger in sein Haar flochten. Nur sie durfte das. Ihre zarten Berührungen wirkten wie Streicheleinheiten und entspannten seine Schultern. All die Wut über Victor floss aus ihm heraus. »Tut mir leid.« Er wiederholte es, weil es stimmte. »Ich weiß.« Ein letztes liebevolles Zurechtzupfen und schließlich fühlte Yuri, wie Lilia seinen frischen Zopf mit einer Klammer nach oben steckte. »Dieses Verhalten entwürdigt dich. Du bist mehr wert und das weißt du.« »Ja …« Wusste er das? So sicher war er da nicht. »Die Aufwärmphase ist vorbei. Du läufst als Vierter.« Hinter ihrem kunstvoll geschminkten Gesicht konnte Yuri eindeutig Gefühle erkennen, die an Mütterlichkeit erinnerten. »Zeige mir und all den anderen deine Schönheit.« Seine Schultern strafften sich. »Werde ich.« Ein letztes Mal strich sie eine lose Haarsträhne hinter sein Ohr, dann lächelte sie fast unsichtbar und wandte sich ab. Yuri blieb allein in der Trainerloge zurück. Nur mäßig interessiert verfolgte er Phichit Chulanont, der mit seiner Kür den Auftakt darbot. Er war talentiert, aber keine Konkurrenz, um die er sich Sorgte. Das sah beim Katsudon schon anders aus. Noch immer stand das Schweinchen unter den Fittichen von Victor Nikiforov. Was die beiden privat miteinander trieben interessierte ihn nicht, jedoch spürte man deutlich, wie das Schweinchen unter Victors Aufmerksamkeit regelrecht aufblühte. Er hatte Teile der neuen Kür bereits in Russland gesehen und musste sich wirklich ranhalten, um ihn zu überholen. Es könnte noch knapper werden, als beim Grand Prix im Jahr zuvor. Und es wurmte ihn zusätzlich, dass Victor mit seinen Worten vorhin irgendeinen Nerv getroffen hatte, dessen Existenz Yuri sich bis zu dem Zeitpunkt gar nicht bewusst gewesen war. Er wusste nicht warum, aber er fühlte sich dadurch schrecklich angreifbar, obwohl Victor es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einmal böse gemeint hatte. Eine Bewegung neben sich. Jemand ließ sich auf den Platz rechts neben ihn fallen. Yuri blickte starr nach vorn und versuchte ihn nicht in die Augen zu sehen. Sein Ausbruch war ihm mittlerweile schrecklich peinlich, besonders, weil er es auch mitbekommen hatte. »Wieder beruhigt?« Yuri glaubte Belustigung zu hören und schnaubte leise. »Ja. War nichts weiter.« Otabek suchte in seinem Gesicht nach der Wahrheit und trieb Hitze in seine Ohren. Scheinbar fand er nichts, denn er wandte seinen Blick wieder zur Eisfläche, die das Katsudon nun in Beschlag nahm. »Willst du nicht näher ran?« Das Blut in seinen Ohren rutschte augenblicklich zu seinen Füßen. »Äh, was?« Otabeks rechte Augenbraue wanderte nach oben. »An die Eisfläche. Katsuki läuft gleich.« Ach so. Gott, wie sehr er plötzlich seine Kapuze vermisste, die er sich sonst immer über den Kopf ziehen konnte. »Manchmal drückst du dich echt bescheuert aus!« Ohne eine Antwort abzuwarten stand er auf und ging zur Bande. Otabek erreichte ihn gerade als der Applaus für das Schweinchen einsetzte. Beide verfolgten seine Performance mit Interesse. Stimmige Schrittfolgen, emotionale Musik, hochwertige Pirouetten. Da machte es auch nichts, dass beim letzten Sprung – dem vierfachen Flip - seine Hand das Eis streifte. »Er ist gut.« Yuri schnaubte, konnte aber nicht widersprechen. »Ja, schon.« Aus dem Augenwinkel beobachtete er Otabek, der, obwohl er bereits der Nächste war, völlig tiefenentspannt an der Brüstung lehnte. »Bist du nicht aufgeregt?« Er löste den Blick vom Katsudon und fixierte stattdessen ihn, ein schmales Lächeln auf den Lippen. »Nein.« Der aufkommende Applaus und die Jubelschreie vom Publikum schnitten Yuris Erwiderung ab. Sich wappnend streifte Otabek seine Trainingsjacke von den Schultern. Yuri staunte, wie elegant er in dem schlichten burgunderroten Hemd aussah. Es stand ihm ausgezeichnet und verlieh ihm etwas Royales. Wie ein König, wie ein Sieger. Er starrte ihn an. »Bis gleich.« Otabek verließ die Loge. Erst als er in der Mitte der Eisfläche stand, erwachte Yuri wieder zum Leben. So schnell seine Füße ihn trugen folgte er ihm, sprang halb über die Bande und versuchte mit seiner Stimme den Lärm vom Publikum zu übertönen. »BEKA! DAVAI!« Beka?! Bist du komplett verblödet im Kopf? Ihm brach der Schweiß aus. Seit wann nannte er ihn denn so? Jetzt wünschte er sich doch, leiser als das Publikum gewesen zu sein. Otabek sah ihm direkt ins Gesicht und reckte antwortend seinen Daumen nach oben, die Miene wie gewohnt stoisch. Was und wie er darüber dachte, blieb im Verborgenen. Die Musik setzte ein und Yuris Nackenhaare richteten sich auf, als er sie sofort wiedererkannte. Ein Stück aus eines der unzähligen Spiele, die sie an ihrem ersten Abend in Otabeks Wohnung gespielt hatten. Nur nebenbei registrierte er von den Moderatoren, dass das Stück den Namen Revived Power trug. Otabeks Bewegungen waren kraftvoll und trotzdem von fließender Geschmeidigkeit. Es erinnerte ihn an den Protagonisten aus dem Spiel, der im Laufe der Geschichte riesige Kreaturen aus eigener Kraft bezwingen musste. Diese Musik hatte oft eingesetzt, wenn sie kurz davor waren, ihr Ziel zu erreichen. Und wie sehr Yuri ihn angefeuert hatte, bei jedem Schuss aus Pfeil und Bogen, bei jedem Hieb mit dem Schwert. Furchtlosigkeit zeichnete sein Gesicht, als er Sprung für Sprung stand, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Jeder Flip, jeder Toeloop, jeder Salchow war ein Titan, den er bezwang. Er vollführte die letzte Pirouette mit beiden Armen in der Luft, kam schließlich zum Stehen. Während die Menge um ihn herum explodierte, blieb Yuri still und brachte kein Wort heraus. Bevor er ihn erreichen konnte, wurde Otabek bereits vom Eis geführt, um auf seine Punktzahl zu warten. Ihre Blicke trafen sich, doch Yuri war noch immer so überrumpelt von dieser Performance, dass er nicht einmal ein Lächeln schaffte. Endlich wurden die Ergebnisse durchgegeben. Otabek hatte insgesamt sagenhafte 300,59 Punkte erreicht und so einen neuen persönlichen Rekord aufgestellt  – damit lag er auf dem zweiten Platz, direkt hinter dem Katsudon, dass sich tatsächlich an die Spitze befördert hatte. »Wow. Respekt.« Niemand hörte Yuris leise Anerkennung, die Menge tobte noch immer um ihn herum. Einige Sekunden vergingen, bis er abermals eine Hand auf seiner Schulter spürte. Lilia und Yakov waren zu ihm getreten. »Es geht los.« Yuri nickte nur. Routiniert öffnete er seine Jacke und offenbarte sein Outfit. Wie Otabek trug er eine schlichte schwarze Hose und dazu ein elegantes weißes Hemd, das halb aufgeknöpft den Blick auf ein enges, samtschwarzes Top freigab. Die Ärmel waren bis zur Hälfte nach oben gekrempelt. Auf dem Rücken prangte ein Tiger in Schwarzweiß. Noch immer sah er Lilias schockiertes Gesicht vor sich, die sich ein typisch feminines Outfit vorgestellt hatte, wie er es sonst immer trug. Doch Yuri hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht und sich von seiner Vorstellung nicht abbringen lassen. Er war lange genug nach ihrer Pfeife getanzt. Das war sein Auftritt, seine Kür. Nur einmal wollte er alleine über sich selbst bestimmen. Schließlich, nach langen Diskussionen hatten Yakov und Lilia schließlich eingesehen, dass sie verloren hatten und ihn dabei unterstützt. Tief durchatmend betrat er das Eis. Als ihn die Moderatoren ankündigten, schwoll der gerade erst abgeflaute Applaus erneut an. Viele riefen seinen Namen, schrien Davai!s in seine Richtung. Er deutete eine Verbeugung an und als er sich aufrichtete, blickte er direkt in Otabeks dunkle Augen. Er stand an der Bande und reckte den Daumen nach oben. Sein Davai blieb stumm, aber er hörte es trotzdem, las es von seinen Lippen und nickte. Es fühlte sich so an, wie schon vorhin, als er über das Eis glitt. Die Musik nahm ihn an die Hand und führte ihn. Er dachte an Otabeks Motorrad, an die vollen Einkaufstüten und Almatys Schnee, der sich in ihren Haaren verfing. Er sah das Geschenkpapier mit dem Katzenmotiv vor sich, spürte erneut, wie er die letzte Luftblase unter dem Aufkleber zerdrückte. Er dachte an die Musik, die sie zusammen am See gehört hatten und der Geschmack von frischen Piroschki breitete sich auf seiner Zunge aus. Erst diese Erlebnisse brachten Gefühl in seine Choreographie, die bis vor vier Tagen nur auf Telefonaten und Whatsapp-Chats basiert hatte. Erst jetzt fühlte es sich absolut richtig für ihn an. Es durchströmte ihn. Sein Körper leicht wie eine Feder, die Augen geschlossen. Er blieb stehen, beide Arme zur Seite ausgestreckt, die Beine überkreuzt. Erst als er seine Pose auflöste, bemerkte er die Geräuschkulisse um ihn herum. Wildes Gekreische, vermutlich von seinem Fanclub, Klatschen, Jubelgeschrei. Lilia und Yakov holten ihn von der Eisfkäche und führten ihn zur Punktebox. Nebenbei sammelte er noch zugeworfene Katzenplüschtiere auf. Er hatte keine Chance zu sehen, ob Otabek noch an der Bande stand.  Seine erreichte Punktzahl fegte ihn rückwärts von der Bank. 309,56 Punkte. Zwar kein persönlicher Rekord, aber dafür hatte er das Schweinchen erneut vom Siegerpodest gestoßen! Triumphierend riss er seinen Arm nach oben. »Nimm das, Victor!« Nachdem er sich Yakovs Schulterklopfen und Lilias Umarmung abgeholt hatte, machte er sich auf den Weg zurück zur Bande. Wie erwartet waren Victor und Yuuri noch dort. Leicht wiederwillig ging er zu ihnen herüber, blieb mit verschränkten Armen vor ihnen stehen. Eigentlich verspürte er nicht die geringste Lust sich für irgendetwas zu entschuldigen, doch Lilias Worte hallten in seinem Kopf. Er wollte keine Enttäuschung sein, also neigte er pflichtbewusst den Kopf und stellte sich seinem Schicksal. »Yurio! Glückwunsch, das war eine fantastische Kür!« Katsudons Ehrlichkeit irritierte ihn. Es wunderte ihn immer wieder, wie unbeschwert er sich einfach für andere Freuen konnte, selbst wenn sie ihm die Goldmedaille streitig machten. Er nickte ihn knapp zu und fixierte dann Victor. »Ich hätte dich nicht so anblaffen sollen.« Der hingegen sah ihn nur fragend an. Yuris Geduldsfaden spannte sich, wie immer, wenn er diesen Blick abbekam. »Manchmal würde ich dir wirklich gern eine reinhauen, aber Lilia war schon angepisst genug wegen vorhin, also nimm die Entschuldigung jetzt an, oder lass es!« Dass die Entschuldigung als solche noch unausgesprochen war, ignorierte er. »Ach, Yurio!« Die plötzliche Umarmung zerquetschte seine Lungen. »Du bist so süß, wenn du dich entschuldigst!« Wahrscheinlich warst du nicht einmal sauer, alter Mann. »Nicht wahr?« Oh Gott, diese Stimme. Dieses schmierige Gesäusel würde er überall heraushören. Yuris Haare sträubten sich. Er wandte sich aus Victors Armen und versuchte ihn zu ignorieren, doch es fruchtete nicht, denn er sprach einfach weiter. »Wie ein schnurrendes Kätzchen.« Yuri drehte sich um und sah die wandelnde Plage auf zwei Beinen vor sich stehen: JJ. In voller Montur, bereit als Letzter zu laufen. Automatisch ging er in Angriffsposition. JJ’s Grinsen konnte amüsierter nicht sein. »Willst du mir nicht ein Davai zurufen? Ich mag es von dir angefeuert zu werden, Yuri-chan.« »Ach ja? Und ich mag das Geräusch, wenn du die Fresse hältst, King-Arschloch! Verpiss dich!« JJ lachte nur. Entweder übersah er Yuris Abneigung absichtlich oder er war einfach nur dumm. »Ach, komm schon, Yuri-chan! Nachher auf dem Podest müssen wir uns doch verstehen, wenn wir gemeinsam in die Kamera lächeln!« Er machte Anstalten Yuris Kopf zu tätscheln – was dieser definitiv zu verhindern gewusst hätte – doch eine Hand an seinem Arm hielt ihn bereits vorher zurück. Verwundert drehte er sich um und sah direkt in Otabeks dunkle Augen. Obwohl er gute zehn Zentimeter kleiner als JJ war, machte die Warnung in seinem Blick deutlich Eindruck. Selbst Victor und Yuuri, die die Geschehnisse beobachtet hatten, verzogen sich lieber. Anscheinend schätzten sie die Situation so ein, dass Otabek Yuri da schon rausholen würde. Wirklich tolle Kameraden waren das. »Ich denke, du hast ihn gehört. Er legt keinen Wert auf deine Gesellschaft. Vernünftige Menschen respektieren so etwas.« JJ’s Blick wich von verwundert zu belustigt zurück. »Ich wusste gar nicht, dass der russische Punk seit Neuestem Unterstützung braucht.« Spott ertränkte seine Stimme. »Aber schon klar, mein „Held aus Kasachstan“. Hab verstanden.« Otabek ließ sich auf keine Erwiderung herab. Erst, als JJ’s Name anmoderiert wurde, löste er seinen Griff. JJ zwinkerte Yuri zu, bevor er das Eis betrat und brachte ihn dazu angewidert das Gesicht zu verziehen. »Ich hoffe der fliegt jetzt gleich richtig böse auf die Fresse und stirbt.« Mir verschränkten Armen sah er ihm nach. Die Wut in seinem Blick hätte man in Flaschen abfüllen und als Rattengift verkaufen können. Als Otabek nichts erwiderte, fixierte Yuri ihn, pendelnd zwischen Zorn und Scham. »Ich hätte das auch ohne deine Hilfe geschafft, man!« »Schon klar. Eigentlich wollte ich dir auch nur zu der gelungenen Kür gratulieren.« Warum er trotzdem eingeschritten war, offenbarte er Yuri nicht. Aber seine Worte besänftigten ihn. »Danke! Ich dir auch! Du warst richtig krass!« Seine Augen begannen zu strahlen. »Wie du einfach jeden verdammten Sprung gestanden hast, als wäre das das Einfachste auf der Welt. Respekt, echt!« Otabek winkte ab, lächelte aber. »Nicht der Rede wert. Deine Kür hat mir auch sehr gut gefallen.« »Danke!« Das war die Hauptsache. Immerhin war er für ihre Freundschaft gelaufen. Auch wenn Otabek es nicht aussprach, erkannte er stillen Respekt und Dankbarkeit in seinen Gesichtszügen. Erleichterung flutete ihn. Zusammen sahen sie sich den letzten Auftritt der Vier-Kontinente-Meisterschaften an. JJ legte sich zu Yuris Bedauern nicht aufs Eis, konnte allerdings auch nicht so viele Punkte holen, wie vermutet. Vielleicht würde diese Erfahrung sein Ego endlich mal stutzen. Und so kam es, dass Yuri zum ersten Mal zusammen mit Otabek auf dem Podest stand. Das Schweinchen neben ihm strahlte auf dem zweiten Platz, Yuri versuchte so cool und lässig wie möglich auszusehen und Otabek … dessen Miene war blanker, als jemals zuvor, während er seine Medaille in die Kamera hielt. Froh dem Blitzlichtgewitter und den Fragen der Reporter endlich entkommen zu sein, schloss Yuri die Tür seines Hotelzimmers hinter sich. An Durchatmen war jedoch nicht zu denken. In einer knappen halben Stunde begann das verhasste Bankett, als lächerlicher Abschluss einer jeden Meisterschaft. Die Etikette sollte ja schließlich bis zu allerletzt gewahrt werden, also sprang er unter die Dusche, bevor er sich lustlos in seinen Anzug zwängte. Wenigstens hatte Yakov ihn erlaubt mit den anderen auf seinen Sieg anzustoßen. Ein schwacher Trost, aber besser als gar keiner. Außerdem hatte Otabek versprochen so lange zu bleiben, wie Yuri Lust hatte. Eine letzte Chance sich vernünftig voneinander zu verabschieden, die er nutzen musste.   Das erste Glas Sekt schmeckte immer viel zu bitter. Das zweite war unangenehm sauer. Das dritte war perfekt. Ab dem vierten wurde es wieder ekelhaft. Wahnsinn, wie viele Leute ihn gratulieren wollten. Als stünden sie Schlange, kam einer nach dem nächsten an, jeder mit einem Sektglas für ihn in der Hand. Er kippte sich das Zeug in den Hals, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Das wievielte hatte er jetzt schon drin? Wahrscheinlich das sechste oder siebente. Und kein Otabek in Sicht. Wo blieb der nur? Langsam wurde er wütend – und irgendwie war da ziemlich viel Nebel in seinem Kopf. Kurzentschlossen ging er zum Buffet. Er hatte heut kaum etwas gegessen und einen Bärenhunger.  Mit Geschirr bewaffnet betrachtete er die riesige Auswahl und begann sogleich seinen Teller zu beladen. »Hey. Glückwunsch zur Goldmedaille.« Vor Schreck ließ Yuri die Gabel fallen. Klirrend landete sie auf dem Boden. Otabek stand urplötzlich neben ihm und nahm sich ebenfalls einen Teller. Ihre Schultern berührten sich. »Wo hast du gesteckt?« Hilfsbereit bückte Otabek sich nach der Gabel und reichte sie ihm zurück. »Ich war schon die ganze Zeit hier. Es ist nur schwer an dich heran zu kommen, also habe ich hier gewartet.« Yuri lachte schnaubend. »Und wenn ich heute keinen Hunger mehr gehabt hätte?« Obwohl er gefühlt zwei Liter Sekt intus hatte, war seine Stimme noch ungewöhnlich klar. »Dann wäre ich dorthin gegangen, wo die Musik herkommt.« Yuri gab sich geschlagen, während er begann das Essen in sich hinein zu schaufeln. »Heißt das, du hättest mit mir getanzt?« Otabek aß höflich in kleinen Bissen. »Wahrscheinlich nicht.« »Dich will ich mal als DJ erleben. Du stehst bestimmt da wie ‘ne Mauer, während du deine Platten auflegst. So locker wie ‘ne Stange Eisen.« Er prustete los über seinen stumpfen Humor. Das Lächeln zupfte an Otabeks Mundwinkel. »Das wird wohl fürs erste noch mein Geheimnis bleiben.« »Wie jetzt? Nicht mal heute kann dich zum Feiern bewegen?« Otabek schüttelte den Kopf. »Keine Chance.« »Echt enttäuschend, man.« Yuri knallte das leere Sektglas auf den Buffettisch. »Gehen wir trotzdem näher zur Musik?« Schulterzuckend nickte Otabek. »Klar.« So standen sie am Rande der Tanzfläche, die hauptsächlich von Eisläufern und deren Begleitung gesäumt war. Die Trainer und Sponsoren hielten sich lieber zurück – ein Glück für all die anderen. Durch den Krach konnten sie sich nicht großartig unterhalten, jedoch war Schweigen zwischen ihnen noch nie ein Problem gewesen. Otabek teilte sein drittes Bier mit ihm. Der Takt der Musik brachte Yuris Finger zum Tippen. Irgendwann machten seine Füße mit. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Otabek ihn beobachtete. Dennoch erschrak er, als seine Lippen seinem Ohr plötzlich ganz nah waren. »Geh tanzen.« Verwundert sah Yuri ihn an, beugte sich ebenfalls nach vorn. »Was ist mit dir?« Er musste regelrecht brüllen, um die Musik zu übertönen. Zur Antwort erntete er nur ein Abwinken. Otabek machte ihn durch Gestiken deutlich, dass er hierbleiben und warten würde. Yuri warf ihm ein dankbares Lächeln zu und stürzte sich ins Getümmel. Gesichter rauschten an ihm vorbei, während er sich dem Verlangen hingab, dass ihn bereits vor wenigen Tagen heimgesucht hatte. Irgendwann waren seine Beine so taub, dass er kaum noch geradestehen konnte. Seine Haare klebten ihm im Gesicht und die Krawatte fühlte sich unangenehm eng an. Während er sich aus dem Knoten der anderen Menschen löste, zog er sie sich über den Kopf und stopfte sie in die Tasche seines Sakkos. Keine Sekunde später erkannte er Otabek, noch immer an der Wand lehnend. Mit einigen Kurven ging er geradewegs auf ihn zu, knöpfte sich dabei den oberen Teil seines Hemdes auf. »Heeey … IS MIR HEIẞ!« Er stützte sich schwer atmend neben ihn an der Wand ab. »Luft … Ich glaub ich brauch jetzt frische Luft.« Otabek sah ihn forschend an. »Sicher?« »Häh? Was soll die Frage?« Genervt verdrehte er die Augen. »Ich ersticke gleich, man!« Resignierend stieß er sich von der Wand ab. »Na dann los.« Yuri fragte sich, warum er führend seinen Oberarm umfasste, aber er wehrte sich nicht dagegen. Die frische Luft verpasste ihn eine Ohrfeige. Irgendwie … irgendwie fühlte er sich plötzlich überhaupt nicht mehr so gut, wie noch vor wenigen Minuten. Schwindel hatte ihn mit heißen Händen gepackt. »Wow. Okay, das … das hatte ich noch nie!« »So viel zum Thema trinkfest.« Yuri vermochte nicht zu sagen, ob Wut oder Belustigung in Otabeks Stimme mitschwang. »Du solltest auf dein Zimmer.« »Wo sind Yakov und Lilia?« »Schon weg. Ich hab versprochen auf dich aufzupassen.« Plötzlich klang er bitter enttäuscht. Von sich selbst, weil er scheinbar gescheitert war? Er führte ihn zu den Fahrstühlen. »Wo hast du deine Chipkarte?« Wortlos brummend kramte Yuri in den Innentaschen seines Sakkos herum. Es dauerte gefühlte zehn Minuten, bis er die Karte endlich fand. Seine Bewegungen waren spürbar eingeschränkt und irgendwie schien der Nebel in seinem Kopf dichter geworden zu sein. Gott sei Dank war Otabek zur Stelle. Wenn Yuri es sich so recht überlegte, war der Held aus Kasachstan ein ziemlich passender Spitzname. Mit Leichtigkeit zog Otabek die Chipkarte durch und öffnete die Tür. »Wir sind da.« »Gott sei Dank. Was ist denn auf einmal los, hä?« »Zu viel Sekt wahrscheinlich. Wie viele Gläser hattest du?« Da Yuri nun spürbar schwankte, legte er einen Arm um seine Taille. Yuri nuschelte gegen seinen Hals. Es roch holzig. »Keine Ahnung … sechs oder sieben?« »Großartig. Und ich dreh dir auch noch Bier an. Kein Wunder, dass du jetzt so drauf bist.« Otabek drückte ihn vorsichtig, aber bestimmt aufs Bett und zog ihm die Schuhe von den Füßen. Yuri ließ es mit Gottvertrauen geschehen. »Du solltest schlafen. Ich hol dir noch was zu trinken.« Er nickte matt, froh darüber mit ausgestreckten Armen im Bett liegen zu können. Er hörte, wie Otabek mit leisen Schritten durch das Zimmer lief, bevor er kurze Zeit später wieder bei ihm war. »Alles dreht sich.« Es fühlte sich seltsam an, aber irgendwie nicht schlecht. »Ich hab’s dir neben das Bett gestellt. Versuch zu schlafen, dein Flieger geht morgen Mittag.« Yuri verspürte den Drang Otabek zu trösten, der noch immer irgendwie niedergeschlagen klang. »Es ist nicht deine Schuld, okay? Ich bin doch selbst schuld, wenn ich mich zulöte.« Otabek seufzte nur. An seinen Augenlidern hing Blei, doch Yuri riss sich zusammen und ließ sie offen, sah ihm nach. Er wollte jetzt ernsthaft abhauen? Das sollte ihr Abschied sein? Er bezweifelte, dass sie sich morgen noch einmal sehen würden. Es fühlte sich noch tausendmal unbefriedigender an, als ihr überstürzter Aufbruch vom See. Otabek war bereits im Begriff sich abzuwenden, als Yuri lautlos seine Hand ausstreckte und ihn am Ärmel festhielt. »Beka« Seine Worte nur ein leises Flehen. »… Bleib hier.« Teil acht: »Agape« ------------------- Fahles Licht und abstruse Geräusche waberten durch das Zimmer. Stimmen unverständlich, Töne in unnatürliche Längen gezogen. Watte umhüllte ihn und verschluckte fast alle Empfindungen, außer die vagen Bewegungen in seiner Nähe. Sie berührten sich nicht, aber seine Gegenwart reichte aus, um das flaue Gefühl in seinem Magen zu dämpfen. Neben ihm am Bettpfosten lehnend starrte er auf den Fernseher, doch seine Sicht verschwamm regelmäßig im Karussell seines Deliriums. Als schließlich leise Schatten ihre Arme nach ihm ausstreckten, nahm er sie dankbar bei der Hand und ließ sich von ihnen entführen.   Ein dumpfes Pochen holte ihn zurück. Der schwache Schein des Sonnenaufganges bohrte sich durch seine Augen und ließ ihn leise aufstöhnen. Diese Form von Schmerz kannte er noch nicht – eine neue Art, die er definitiv nicht vermissen würde. Yuri hätte nicht vermutet, dass selbst schwaches Licht so unangenehm sein konnte, deswegen vergrub er schutzsuchend das Gesicht in der Schulter, auf die er seinen Kopf gebettet hatte. Von Sekt würde er in Zukunft definitiv seine Finger lassen. Wenige Sekunden verharrte er, genoss die wiedergewonnene Dunkelheit und den vertrauten herben Geruch in seiner Nase -  um dann ruckartig seine Augen wieder aufzureißen. Das Gefühl in ein Vakuum gezogen zu werden breitete sich in ihm aus und quetschte seine Lungen zusammen. Die Umgebung um ihn herum vibrierte. Sein bis eben noch friedliches Herz donnerte gegen seine Brust. Das Hotelzimmer ruhte still im Zwielicht des Tagesanbruchs. Der Fernseher war ausgeschaltet. Nur schemenhaft konnte Yuri die Umrisse von sich und Otabek erkennen, beide mit ausgestreckten Gliedern das Bett einnehmend. Yuris Bein schlang sich um Otabeks Unterschenkel. Ihre Füße berührten sich, genauer gesagt vereinnahmte Yuri Otabeks gesamte rechte Seite. Yuris Position ließ keinen Blick in sein Gesicht zu. Unter seinem Ohr spürte er seinen Herzschlag, emsig und gesund. Sein Atem ging schwer und tief. Ein beruhigendes Lied, dass nicht nur Wärme, sondern auch Anziehung verströmte. Yuri fühlte sich wie in einem surrealen Traum gefangen und gleichzeitig war dies sein wachster Moment seit langer Zeit. Unter größter Mühe zwang er sich zur ruhiger Atmung. Er wusste nicht, was gerade vorging, jedoch nahm das Gefühl, dass es etwas zu bedeuten hatte, all seine Sinne ein. Vor Aufregung bewegungsunfähig blieb er an Ort und Stelle, wagte es nicht von Otabek abzurücken und ihn damit eventuell zu wecken … falls er überhaupt schlief. Wie konnte er sich da sicher sein? Lieber performte er einen Paarlauf mit JJ, als den Kopf zu heben und es herauszufinden. Stattdessen verharrte er und lauschte den tiefen Atemzügen unter ihm, spürte das vertraute Kribbeln seiner Finger. Otabeks Herzschlag rauschte durch seinen Körper und sprang auf sein eigenes über, bis sie im Gleichschritt gingen. Yuris Lider flatterten. Langsam kam er wieder zur Ruhe. Gerade so konnte er ein zufriedenes Seufzen unterdrücken. Wie spät mochte es sein? Die aufkeimende Helligkeit verdrängte die Schatten. In wenigen Stunden startete Yuris Flieger zurück nach Sankt Petersburg. Zurück in den Alltag, der in der jetzigen Situation wie eine Illusion erschien. Sein Kopf schmerzte noch immer und zwang ihn dazu die Augen wieder zu schließen. Otabek bewegte sich kurz. Yuri hielt den Atem an. Nichts geschah, er schlief einfach weiter. Auch Yuri spürte die eigene Müdigkeit schwer auf seinen Schultern, doch seine Gedanken rasten und verhinderten jegliches Abdriften. Da war dieses Gefühl in seiner Brust, stärker als jemals zuvor. Es bäumte sich auf. Otabeks Wärme verbrannte sein Inneres. Es fühlte sich falsch an und doch so richtig. Wie das Bereuen nach einer viel zu großen Portion eines Lieblingsessens, die man sich trotzdem hereinzwang. Doch Yuri war nicht satt. Im Gegenteil, er glaubte verhungern zu müssen.   Er fragte sich, wie sich Otabeks Haar anfühlen würde, wie warm seine Hände waren und wie fest seine Umarmung. Wie würde er auf seine Berührungen reagieren? Wenn er nur die Hand ausstreckte, wie weich würde seine Haut sein? Entsetzt riss er die Augen wieder auf. Bunte Muster tanzten vor ihm in der Morgensonne. Hitze wallte empor und trat als kleine Schweißperlen aus seiner Stirn. Das war nicht richtig so. Wohin auch immer diese Gedanken ihn führen wollten, ihre Reise war hier und jetzt zu Ende. Augenblicklich wandten sie sich um und rasten in eine andere Richtung. Otabek war sein Freund. Sein bester Freund. Man kochte und zockte zusammen, hörte sich die Lieblingsmusik des anderen an. Man beschenkte sich zum Geburtstag. Man feuerte sich zur Kür an, gönnte sich gegenseitig den Erfolg. Der eine passte auf den anderen auf, wenn der unwissend zu viel getrunken hatte. Man schlief zusammen auf der Couch … oder in einem Bett. Völlig normal, so wie es all die anderen besten Freunde der restlichen Welt auch taten. Nichts, worüber man sich weiter - Die Stille holte ihn zurück ins hier und jetzt, zurück in das Hotelzimmer, zurück zu der warmen Haut unter ihm. Mittlerweile schien die Sonne hell durch das Fenster. Yuri konnte die Wärme spüren, die zart über ihre Füße kroch. Sein Körper schlug Alarm und sein Hirn drängte ihn zum Aufstehen, doch er konnte nicht. Nicht einen Millimeter konnte er sich rühren. Otabek blieb weiterhin unbewegt. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig, jedoch nicht mehr tief und entspannt, sondern flach. Es war zu still. Zu angespannt, zu regelmäßig, zu bemüht. Die unausweichliche Tatsache, dass er wach war, schlug prasselnd wie ein Wolkenbruch auf Yuri nieder. Sämtliches Blut trat nun den endgültigen Rückzug in sein Hirn an, während er das Gefühl hatte, dass ihm alle Gliedmaßen in verschiedene Richtungen davonliefen. In völliger Abwesenheit hatte er seinen Gedanken nachgehangen und die letzte Chance verpasst, dieser unangenehmen Situation auszuweichen. Wenn er doch nur aufgestanden wäre! Wie sehr bereute er es nun, dass seine plötzlich erwachte Sehnsucht nach Nähe stärker gewesen war, als sein Wille. Wie dumm und verblendet er sich fühlte. Niemals würde er das erklären können. »Fuck.« Ein simples, einfaches Wort, das Yuri beinahe zusammenzucken ließ. Das erste Fluchen, dass er von Otabek vernahm und Trotz des groben Ausdrucks behielt seine Stimme trotzdem dieses ruhige, warme Timbre. Ein lautes Ausatmen folgte. Noch wacher konnte man nicht sein. Yuri spannte sich an und presste die Zähne aufeinander. Nichts passierte. Kein verwirrtes Abrücken, kein empörtes Aufspringen, kein Rütteln an seiner Schulter. Otabek blieb wo er war und ließ die Minuten verstreichen. Es kam Yuri wie ein ganzes Leben vor. Erst, als leise Töne eines Weckers erklangen, spürte er, wie Otabek seinen freien Arm ausstreckte, dessen Hand das Geräusch augenblicklich vertilgte. Keine zwei Sekunden später streiften warme Finger Yuris Ohrmuschel. Das Zögern in dieser Bewegung dröhnte unter seinem Zwerchfell. Zart und kaum spürbar strich er ihm einige wirre Haare hinters Ohr, zwirbelte das Ende der Strähne zwischen den Kuppen. Es verging so schnell, dass Yuri nicht reagieren konnte. War es vielleicht doch nur Einbildung gewesen? Aber woher kam dann das Beben, das seinen Körper durchfuhr, die Gänsehaut auf seinen Armen? Woher das Gefühl der Leere, als Otabek sanft und leise von ihm abrückte? Woher die unterschwellige Enttäuschung, als Otabek mit Engelsgeduld seinen Arm unter Yuris Kopf hervorzog, vorsichtig und zart, offenbar hoffnungsvoll ihn nicht zu wecken? Jetzt, wo dieser Moment endete, wünschte sich Yuri von ganzem Herzen, wirklich noch geschlafen und nichts von alledem mitbekommen zu haben. Sanfte Hände griffen in seinen Nacken und betteten seinen Kopf vorsichtig auf das Kissen. Die Bewegungen waren eher routiniert als liebevoll, nicht mehr so, wie gerade eben. Einen Augenblick lang stand Otabek nur da. Yuri konnte seinen Blick auf sich spüren, bis er sich mit leisen Schritten in Richtung Badezimmer entfernte. Die Tür wurde zugezogen, das Schloss knackte. Yuri stieß den angehaltenen Atem aus. Keuchend richtete er sich auf, massierte sich die rechte Gesichtshälfte. »Fuck! Fuck, fuck, fuck, was soll diese Scheiße, häh?« Obwohl er leise sprach, stach ihm seine Stimme unangenehm durch die Schädeldecke. Was war in diesem Scheißsekt drin gewesen? Napalm? Und wieviel hatte Otabek bitte davon gebechert? Ihn einfach so anzufassen, wie konnte er es wagen? Waren sie hier im Streichelzoo? Yuri versuchte wütend darüber zu sein. Wut kannte er. Wut war besser, als dieses andere Gefühl. Mit Wut konnte er etwas anfangen, umgehen. Vor allem mit Wut die sich gegen Andere richtete … Nicht aber mit jener, die fluchtartig das Weite suchte, als sich die Badezimmertür öffnete und Otabek heraustrat. Sie blinzelten sich an und alles, worüber er sich aufregen hätte können, strömte aus ihm heraus. »Hey.« Bemüht, möglichst überrascht zu tun, richtete er sich auf. »Oh. Ich dachte du bist schon weg.« Otabek schüttelte den Kopf. »Bin wohl eingeschlafen.« »Mhm.« Ihr Schweigen hing unangenehm in der Luft. Zum ersten Mal beschlich Yuri das Gefühl etwas sagen zu müssen, damit es nicht noch schlimmer wurde. »Ich hab‘ den Kater des Todes, Alter.« Zur Untermalung rieb er sich die Schläfe. »Schwer vorstellbar, bei deiner Trinkfestigkeit.« Yuri biss sich auf die Lippe. »Ja, wow. Vielen Dank.« Gerade verspürte er nicht die geringste Lust auf so eine Unterhaltung. Ganz nebenbei machte sich auch der Zeitdruck bemerkbar. Sein Koffer musste dringend gepackt werden. Die Anderen waren mit Sicherheit schon fertig. Ihm blieb vielleicht noch eine halbe Stunde, bis er im Taxi sitzen musste. Stöhnend rappelte er sich hoch. »Ich muss mich umziehen und dann los.« Otabek nickte nur. »Ich besorg dir ein Aspirin und checke für dich aus.« Und schon war Yuri allein im Hotelzimmer. »Blöder Idiot!« Schnaufend schälte er sich aus seinem Anzug, den er noch immer trug. Seine klebrige Haut fühlte sich eklig an, doch für eine Dusche blieb keine Zeit mehr. Ein bisschen würde er die vergoldete Badewanne wohl doch vermissen. Unmotiviert stieg er in seine letzten frischen Klamotten, stopfte Anzug, Hygieneartikel und alles was er spontan zu Greifen bekam einfach in den Koffer hinein. Fluchend kroch er halb unters Bett, um auch noch an die letzte Unterhose zu kommen, die er vor wenigen Tagen mit Fußtritten aus Otabeks Sichtweite befördert hatte. Da er nicht wusste wohin mit dem Helm, befestigte er ihn einfach am Riemen seines Rucksacks. Ein letzter abcheckender Blick durchs Hotelzimmer. Gut, er schien alles zu haben, schloss den Koffer und schwang sich den Rucksack auf den Rücken. Die Tür sprang auf, bevor er die Klinke berührte. Da der Sekt ihm mit Sicherheit keine telekinetischen Kräfte verliehen hatte, konnte es nur Otabek sein. In einer Hand hielt er ein Glas Wasser, während er die andere nach ihm ausstreckte und eine Brausetablette offenbarte. »Das sollte dir wieder Leben einhauchen.« Er sagte es mit Schalk in der Stimme und erneut spürte Yuri, dass er ihm einfach nicht böse sein konnte. »Danke.« Er nahm beides entgegen und sah zu, wie die Tablette Unterwasser sprudelnd in ihre Einzelteile zerfiel. Wie gestern Abend den Sekt kippte er sich die Medizin runter. Das Zeug sollte nach Orange schmecken, aber es erinnerte eher an etwas, das offenbar schon einmal verdaut worden war. Er verzog das Gesicht, blieb aber tapfer und trank das Glas leer. »… widerlich.« »Widerlich aber hilfreich. Ich habe deine Leute unten in der Lobby gesehen.« Während er sprach, griff Otabek nach dem Koffer. Ein Gutes hatte es schon, dass er selbst kein Hotelgast war. »Gehen wir.« Mit schweren Schritten folgte Yuri ihm, nachdem er das Glas bemüht höflich auf einer Anrichte im Hotelzimmer gelassen hatte. Der Fahrstuhl landete mit einem leisen Pling in der Lobby. Die Türen öffneten sich quietschend. Am liebsten hätte Yuri sich die Ohren zugehalten. Da saßen sie in den gemütlichen Sesseln und blickten zu ihnen, als hätten sie gewusst, dass sie mit diesem Fahrstuhl ankamen. Während Yuri sich wie ein wandelnder Untoter fühlte, sahen alle Anderen – einschließlich Otabek – wie das blühende Leben aus. Für einen Moment hasste er sie alle. »Yuriooo!« Und Viktor hasste er am leidenschaftlichsten. Missmutig stampfte er zu der feinen Gesellschaft. Um ihre Blicke und die Helligkeit abzuschirmen, zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht. Yakov erhob sich. »Wir müssen los.« Seine Stimme barg einen säuerlichen Unterton, doch Yuri war es egal. Wie auf Stichwort kam Bewegung auf, als auch die Anderen aufstanden und begannen ihre Koffer zur Tür zu ziehen. Otabek und er waren die letzten. Almatys kalte Luft erfasste ihn. Es tat gut. Nur nebenbei registrierte er, dass Otabek half seinen Koffer ins Taxi zu laden, sich beiläufig schon von Yuris Begleitung verabschiedend. Erst, als alle in dem riesigen Fahrzeug verschwunden waren, wandte er sich ihm zu. In seinem Blick schwamm etwas, was Yuri nicht deuten konnte. Kein einziges Wort verließ seine Lippen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Musste er wirklich gehen? »Yuri.« Sein Kopf ruckte nach oben und strafte ihn mit Schmerz. Doch es tat nicht nur dort weh. Otabeks mildes Lächeln verschlimmerte es nur. Das Taxi hupte und erweckte ihn aus seiner Starre. Einem plötzlichen Impuls folgend drückte er Otabek an sich und wie bitter stieg Traurigkeit ihn ihm auf, als Otabek die Geste erwiderte. »Ich muss los.« »Ich weiß.« Yuri vergrub das Gesicht in seiner Schulter und rang das Gefühl des Déjà-vus von heute Morgen nieder. Ein letztes Mal schloss er die Augen und sog seinen Geruch ein. »Hat echt Spaß gemacht.« Unmerklich wurde ihre Umarmung fester. »Ja.« Otabeks Atem traf sein Ohr und der kalte Wind war vergessen. Eigentlich war nun die Zeit gekommen sich voneinander zu lösen, doch niemand tat es. Es kostete Yuri Überwindung, doch er drückte ihn schließlich mit sanfter Gewalt von sich, beendete diesen Moment, der schon viel zu lange andauerte. Sein Magen rutschte ihn in die Knie. Was war nur los? Yuri wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, als befürchtete er mehr in seinem Blick zu erkennen, als für ihn bestimmt war. Dinge, die ihn anzogen und gleichzeitig verängstigten. Lieber betrachtete er Otabeks Schuhe, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Unausgesprochene Worte ballten sich auf seiner Zunge, doch er schluckte sie hinunter. »Schreib mir, dass du sicher gelandet bist.« Otabeks Stimme wärmte ihn von innen. Es war wie damals nach dem Grand Prix. Er musste hier weg. Schnell. Beinahe ruckartig ließ er komplett von ihm ab. »Ja, man. Mach ich ja! Und coole Schuhe hast du an!« Spätestens jetzt war die Schonfrist seiner Verlegenheit vorbei. Das Blut schoss ihm ins Gesicht. Du laberst so einen Bullshit, du peinlicher Idiot! Ohne eine Erwiderung abzuwarten, drehte er sich um und kroch beinahe fluchtartig ins Taxi. Bevor er die Tür zuzog, siegte die Neugierde doch. Otabek stand noch immer an Ort und Stelle. Was hätte Yuri nicht alles für eine kurze Offenbarung seiner Gedanken gegeben. Als sich ihre Blicke ein letztes Mal trafen, reckte er einen Daumen nach oben. Yuri tat es ihm gleich, bevor er sich endgültig abwandte. Das Taxi fuhr brausend los, doch er glaubte einen großen Teil von sich zurück zu lassen. Die kühle Scheibe linderte den Schmerz hinter seiner Stirn, bewahrte ihn aber nicht vor der Aufmerksamkeit seiner Begleiter. »So, Yurio.« Victor beugte sich zu ihm herüber. »Otabek hat also bei dir übernachtet, ja?« Die Neugierde in seinem Blick krabbelte wie Ameisen über seine Arme. Aus dem Augenwinkel erkannte er schon die Hände vom Katsudon an seinen Schultern, ein trauriger Versuch seine Sensationslust zu dämpfen. Yakov und Lilia sahen bemüht nach vorn, doch Yuri hätte alle seine Goldmedaillen darauf verwettet, dass sie genau zuhörten. »Victor, hör auf. Das geht uns nichts an!« Wow. Zum ersten Mal ging er mit dem Schweinchen konform. Dass er das noch erleben durfte. »Geh mir aus der Sonne!« Er schlug die Hand weg, die ihm die Wange tätscheln wollte. Augenblicklich drückte der Taxifahrer das Gaspedal durch. Yuri erkannte ihn als den Fahrer wieder, der ihn vor wenigen Tagen vom Flughafen ins Hotel kutschiert hatte. Die Ironie, die diese Situation barg, wäre in anderen Momenten wahrscheinlich lustig gewesen. Gott sei Dank verschonten sie ihn für den Rest der Fahrt. Yuri sprang aus dem Taxi, noch bevor es richtig zum Stehen kam, zerrte seinen Koffer hervor und stampfte zum Flughafen. Sie waren spät dran und in Eile. Er freute sich über jede Ablenkung, egal wie kurz, griff nach sämtlichen Strohhalmen, die ihn an etwas anderes denken ließen, als an Otabek. An seine Schultern, seine tiefen Atemzüge, die Wärme seiner Brust. »Yuri, verdammt!« Yakovs Bellen riss ihn zurück ins Hier und Jetzt. Der Ärger in seiner Stimme war nicht mehr zu überhören. Weil Yuri im Hotel getrödelt hatte, mussten sie jetzt alle rennen, um das Flugzeug nicht zu verpassen. Sie konnten wohl froh sein, dass es auch der Taxifahrer eilig mit ihnen gehabt hatte. Wahrscheinlich rettete genau das ihren Flug. Doch Yuri war keine Erholung vergönnt. Zwar lichteten sich seine Kopfschmerzen schleichend, jedoch fand er sich versunken in Selbstreflektion, kaum dass die Maschine gestartet war und sie scheinbar federleicht über das Land schwebten. Chaos übermannte seine Gedanken, es flutete seinen Verstand, wie gestern die Musik. Nur jetzt befreite dieses Gefühl ihn nicht, es engte ihn ein und lähmte ihn, ließ seinen Magen anschwellen. Seine Füße kribbelten unangenehm. Warum war er, jetzt wo sein Kurzurlaub bei Otabek endete, noch viel nervöser, als in den letzten Tagen und Momenten davor? Müsste er nicht eigentlich zufrieden sein, unbeschwert, gesättigt und ein bisschen traurig, weil die Zeit schon wieder rum war?  Stattdessen fühlte er sich träge, müde. Wie durch Zufall fiel sein Blick auf den Helm, der immer noch am Riemen seines Rucksackes hing, den er als Handgepäck mitgenommen hatte. Der Tiger auf dem Motorrad grinste ihn an und setzte seine Augen in Flammen. Es brannte. Ja, er war traurig. Er wollte nicht zurück nach Sankt Petersburg, aber gleichzeitig auch so weit weg von Otabek wie möglich. Seine Hand wanderte zu seinem Ohr, strich eine wilde Strähne beiseite, zwirbelte sie zwischen den Fingerkuppen. Bewusst imitierte er die Zärtlichkeit von Otabek, schloss die Augen und erschauderte. Die Erkenntnis wühlte sich durch seine Rippen. Es stimmte nicht. Er wollte keinen Abstand. Er wollte Motorrad fahren, auf der Couch schlafen, sein Duschgel benutzen, Musik durch das gleiche Paar Kopfhörer genießen, das Gesicht in seiner Schulter vergraben. Er wollte es wieder erleben. Wieder und wieder und noch viel intensiver. Sein Smartphone vibrierte. Mit zitternden Händen holte er es hervor und wusste schon, bevor er den Sperrbildschirm entriegelte, von wem die Nachricht war.   Otabek Altin – 05.03 13:21 »Ganz schön ruhig in meiner Wohnung.«   Simple Worte, nicht mehr als eine nette Geste, vielleicht sogar bedeutungslos - doch sie setzten etwas in Bewegung, das er nicht kontrollieren konnte. Er schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken. Unangenehme Hitze staute sich unter seiner Jacke und ließ seine Hände schwitzen. Er stand vor einer emotionalen Klippe. Ein falscher Schritt und er würde fallen und in den Wogen von Gefühlen umkommen, die er niemals zulassen durfte. Die Brandung griff bereits nach ihm. Er spürte ihre kalten Finger an seinen Fußgelenken. Konnte er noch umkehren, oder rissen die Felsen unter ihm bereits?  »… Fuck ...« Das Display seines Smartphones wurde schwarz. Er ließ es in die Tasche gleiten, ohne eine Antwort zu schreiben. Teil neun: »Worst Case« ----------------------- Als er in der Badewanne lag und das warme Wasser seine angespannten Muskeln lockerte; als er lautlos seufzend den Kopf in den Nacken legte und ihn die Stille im Raum umarmte; als der letzte Schmerz hinter seiner Stirn endgültig verflog, da erkannte er, dass manchmal die kleinen und trivialen Dinge viel zu wenig geschätzt wurden. Selten hatte er so entspannt im Wasser gelegen, dabei war es nicht einmal aus einem vergoldeten Hahn gekommen. Leider war dies nur die Ruhe vor dem Sturm. Dieses Bad, seinen heute wohl einzigen privaten Moment, musste er opfern, um seine Nerven für den letzten Akt des Tages zu straffen: Das Abendessen zur Feier seiner Goldmedaille. Für Yuri gab es keinen Grund zur Freude, denn Victor und sein Katsudon waren ebenfalls geladene Gäste. Und wenn es nach Yuri gegangen wäre, hätten sie gleich in ihre eigenen vier Wände abhauen können. Das Tuscheln hinter vorgehaltener Hand, das gedämpfte Kichern und diese rein zufälligen Erwähnungen von Otabeks Namen, mit denen er sofort vielsagende Blicke erntete - all das hatte den Flug zur Tortur werden lassen. Für heute hatte er die Schnauze gestrichen voll davon, insbesondere von Victor selbst. Dennoch wusste er, dass kein Weg daran vorbeiführte – auch nicht an weiteren Kommentaren dieser Art. Murrend sank er tiefer ins Wasser, die Nase nur noch knapp über der Oberfläche. Er verharrte mit geschlossenen Augen. Die Zeit verrann mit jedem losen Tropfen aus dem Wasserhahn. Es fühlte sich gut an. Nach all den Tagen voller Hektik schien sein Körper das gebraucht zu haben – bis ihn ein lautes Surren hochfahren ließ. Es kam aus seiner Jacke, die er unordentlich auf den Boden befördert hatte. Als versuchte sein Smartphone ihn zu erinnern, dass er jemandem noch eine Antwort schuldig war. Plötzlich tat ihm die Stille nicht mehr gut. Er tauchte ab und durchbrach die Oberfläche erst wieder, als schwarze Punkte vor seinen Augen flimmerten.   Dezente Musik, Gläserklirren, warmes Licht. Mit ein wenig mehr Appetit hätte ihm das Essen wahrscheinlich geschmeckt. So stocherte er trotz seines Hungers nur darin herum und lauschte dem losen Geplänkel am Tisch. Alles drehte sich um die Vier-Kontinente-Meisterschaften und die Küren der Läufer. »… mit Otabek im Hotelzimmer verschwunden! Sturzbesoffen!« Fast alles. Die Sprite in seinem Mund ließ sich nur sehr schwer schlucken. Musste der wirklich immer wieder damit anfangen? Ausgerechnet vor Yakov und Lilia? Wie langweilig war ihm eigentlich? Anscheinend war das letzte Glas Wein vorhin ein wenig zu voll gewesen. Er warf ihm einen überaus finsteren Blick zu und knallte die Gabel auf den Teller. »Yuuri hats auch gesehen! Stimmts, Yuuri?« Immerhin wusste sich das Katsudon zu benehmen, denn er nahm Victor das Glas aus der Hand und grinste dämlich entschuldigend, die Wangen hochrot. »Naja, ist doch aber sehr nett von Otabek, dass er ihn auf sein Zimmer gebracht hat.« »Noch viel netter wäre es gewesen, wenn er ein wenig besser auf Yuri aufgepasst hätte.« Yakovs Stimme zerschnitt Yuris Trommelfell wie Rasierklingen. Im Gegensatz zu Victor und dem Schweinchen schienen Lilia und er sich darüber nicht im Geringsten zu amüsieren. Schon während der Rückreise war ihm ihr Missfallen über den Ausgang des letzten Abends aufgefallen. Wobei er sich nicht zu hundert Prozent sicher war, worüber sie sich eigentlich genau ärgerten: Über sein ungewolltes Besäufnis oder über Otabek. Er hoffte ersteres. Bei dem Gedanken, dass sie Otabek nicht mögen könnten, brach ihm der kalte Schweiß aus und zog die Wut gleich hinter sich her. Schon machte er Anstalten aufzustehen, warf dabei beinahe den Stuhl um. »Wo willst du hin?« Allein die Tatsache, dass Lilia diese Frage stellte, ließ ihn ruhig antworten. »… Ich bin … satt.« Nur mit zusammengepressten Zähnen brachte er überhaupt etwas hervor. Doch satt war der falsche Ausdruck. Genervt, angekotzt, verdrossen – das traf es schon viel eher. Die Entspannung, während er in der Badewanne lag, hatte sich längst aus dem Staub gemacht. »Dann geh.« Ihre Worte waren Erlösung und Schmach zugleich. Sie trieben ihm Schamesröte ins Gesicht. Es dauerte keine fünf Sekunden, bis er den weiträumigen Flur durchquert und die Zimmertür hinter sich zugezogen hatte. Schnaufend lehnte er sich gegen das schwere Holz und verbarg seine zitternden Hände vor sich selbst hinter dem Rücken. Mit hängenden Kopf stand er da, die Augen zusammengekniffen. »Scheiße!« Wütend kickte er seinen Rucksack in die nächste Ecke – und ein schlechtes Gewissen durchfuhr ihn, als er realisierte, dass er den noch immer daran befestigten Helm gleich mit weggeschleudert hatte. Sein Aufprall knallte zwischen seinen Ohren, wie ein Peitschenhieb. Schnell kniete er sich hin und nahm ihn in die Hände, drehte ihn hin und her, fuhr über den Aufkleber. Nichts kaputt. Er atmete auf, ohne sich besser zu fühlen. Vorsichtig löste er den Helm vom Rucksack, ging zu seinem Schreibtisch und platzierte ihn auf dem Regal darüber, ließ sich dann auf den Stuhl fallen und warf den Kopf in den Nacken. Potya sprang auf seinen Schoß, offenbar nicht im Geringsten von seinem Wutausbruch beeindruckt. Schnurrend rollte er sich zusammen, steifte mit seinem Schweif Yuris Handgelenk. Abwesend kraulte er ihn hinter den Ohren. Seine Nähe tat gut und beruhigte ihn. »Ich muss ihm zurückschreiben … oder?« Potya sah ihn nur mit großen Augen an. Es war ihm Antwort genug, also griff er in die Tasche seiner Jacke, die er vorhin über die Lehne seines Stuhls geworfen hatte und angelte sein Smartphone heraus.   Otabek Altin – 05.03 13:21 »Ganz schön ruhig in meiner Wohnung.«   Otabek Altin – 05.03 17:58 »Ich hoffe du hattest einen guten Flug.«   »Pah, wenn du wüsstest!« Der Frust in seiner Stimme schäumte über. Aber so wie es momentan aussah, war der Flug tatsächlich noch am angenehmsten gewesen. Das Essen hätte furchtbarer nicht laufen können und an das anrollende Donnerwetter von Yakov und Lilia wollte er gar nicht erst denken. Doch egal, was sie sagen würden: Yuri dachte nicht im Traum daran, sich für irgendetwas zu rechtfertigen. Nicht für seinen Ausrutscher beim Bankett und schon gar nicht für seine Freundschaft zu Otabek. Denn auch, wenn sie es nicht ausgesprochen hatten, stand es ihnen doch ins Gesicht geschrieben: Sie mochten ihn nicht. Und dieser Gedanke tat weh. Wütend ballte er seine Hand zur Faust. Mit Victor, diesem Vollidioten, würde er auch noch ein ernstes Wörtchen sprechen. Doch vorher hatte er noch ein paar freundschaftliche Pflichten zu erfüllen. Sein Daumen schwebte über der Tastatur.   Yuri Plisetsky – 05.03 20:23 »Der Flug war beschissen! Alle haben mich die ganze Zeit vollgenölt -.- Und ich werd noch richtig Ärger von Yakov und Lilia kriegen, weil ich einen sitzen hatte«   Otabek Altin – 05.03 20:24 »Klingt übel. Ich drück die Daumen, dass sie dich heile lassen.«   Yuri Plisetsky – 05.03 20:24 »Wahrscheinlich drücken sie mir Hausarrest auf oder drehen mir das Internet ab! Blöde Arschgeigen!«   Otabek Altin – 05.03. 20:26 »Entspann dich. Auch das wirst du überleben.«   Das sagte er so leicht. Wenn sie ihm das Internet abdrehten – und das taten sie mit Vorliebe in solchen Situationen – wie würde er dann noch mit Otabek schreiben können, ohne horrende Gebühren zu zahlen? Wo nahm der nur immer diese Gelassenheit her? Sein Smartphone vibrierte erneut.   Otabek Altin – 05.03. 20:29 »Hier, vielleicht lenkt dich das ab.«   Im Anhang war ein Bild. Kurz zögerte er, sich fragend, was ihn denn jetzt bitte ablenken könnte. Aber er öffnete es und blickte auf einen kleinen weißen Zettel, auf dem unter einem Link noch irgendwelche Zahlen standen. Schnaubend las er eine weitere Nachricht.   Otabek Altin – 05.03 20:29 »Das ist der Downloadcode für die Platte, die du so mochtest. Ich brauche ihn nicht und du musst dich nicht strafbar machen.«   »Oh wow. Das rettet mir gerade den Abend!« Schnell klappte er seinen Laptop auf und fuhr ihn hoch. Ungeduldig tippelte er mit dem Fuß, nur das leise arbeitende Rauschen erfüllte den Raum. Endlich war er startbereit. Sofort öffnete Yuri den Browser, tippte erst den Link und dann den Code ein. Zufrieden sah er kurz beim Download zu, schrieb dann eine Antwort.   Yuri Plisetsky – 05.03 20:34 »Alter, fett! Danke! Habs instant runtergeladen und ziehs mir gleich auf mein Phone! :O«   Otabek Altin – 05.03 20:35 »Gern geschehen. Manchmal hilft nur Musik, wenn man schlecht drauf ist.«   Er hatte Recht. Entschlossen startete er das Album, sobald der Download beendet war. Kaum hörte er die ersten Riffs, entspannten sich seine Schultern. Er schloss die Augen und lauschte den ersten zwei Songs voller Genuss.   Yuri Plisetsky – 05.03 20:43 »Mir geht’s besser! Danke! Das hab ich gerade echt gebraucht«   Otabek Altin – 05.03 20:44 »Immer zur Stelle. ;)«   Seine Brust schnürte sich augenblicklich wieder zusammen. »Schön wärs, wenn du immer zur Stelle sein könntest. Aber du hockst in Kasachstan … und ich in Sankt Petersburg.« Das wenige hereingezwungene Essen verursachte ein stumpfes Gefühl in seinem Bauch. Obwohl er sich freute wieder in seinen privaten vier Wänden und bei Potya zu sein, fühlte er eine große Unzufriedenheit in seinem Inneren. Als hätte eine Zeit begonnen, die es nun abzusitzen galt. Das Gefühl hier zu sein, nicht weil er es wollte, sondern weil er musste. Ähnlich wie die Pflicht zur Schule zu gehen. Er tat es, aber gleichzeitig hoffte er, dass es schnell zu Ende ging. Nur, wie lange würde er jetzt warten müssen? Und auf was? Schwer atmend warf er sich aufs Bett. Freundschaft war wirklich kompliziert. Entfernung konnte ihn mal und Zeit war ein Arschloch. Würde es immer sein. Sein Lieblingslied der Platte stimmte an. Obwohl er im Flugzeug ein wenig geschlafen hatte, fühlte er sich schrecklich müde. Es war diese Art von Müdigkeit, die sich wie eine kalte Hand um sein Inneres schloss. Er wollte zurück.   Yuri Plisetsky – 05.03 20:48 »Ich glaub ich geh schlafen. War ein komischer Tag heute«   Otabeks Antwort ließ auf sich warten. Das Album klang aus, wurde von Stille abgelöst. Kraftlos schälte er sich aus seiner Kleidung, stand auf und löschte das Licht im Zimmer, bevor er zu seinem Bett zurückkehrte und sich unter der Decke verkroch. Potya kam lautlos zu ihm und schmiegte sich in der Dunkelheit an sein Gesicht. Trotz seiner schweren Lider fand er keinen Schlaf, dämmerte eher vor sich hin. Leise drangen die Stimmen der anderen durch die geschlossene Zimmertür. Die ach so nette Runde verabschiedete sich voneinander. Eine Tür schloss sich leise, Schritte entfernten sich und Ruhe kehrte ein. Yuris Smartphone vibrierte und riss ihn aus seiner Schwebe.   Otabek Altin – 05.03 21:32 »Dann gute Erholung. Du machst das schon, zehn Minuten zu Kreuze kriechen und dann beruhigen die sich schon wieder. Und wenn nicht komm ich mal vorbei und spreche ein Machtwort.«   Otabek Altin – 05.03. 21:32 »;)«   »Hmpf. Idiot. Sowas Kitschiges schreibt man doch nicht!« Er starrte den Smiley an und versuchte das Kribbeln seiner Eingeweide zu verdrängen. Auch wenn er vor sich selbst so tat, als ließe er keines seiner Worte an sich heran, hatte er genau das doch irgendwie gebraucht. Jemandem mit positiver Energie, der ihm sagte, dass alles schon irgendwie gut werden würde. Einen Freund. Einen besten Freund. Er schmunzelte in sein riesiges Kissen und rückte es so zurecht, dass er es eher umarmte, als seinen Kopf darauf zu betten. Seine Arme und Beine schlangen sich um den weichen Stoff, während er das Gesicht in einer Ecke vergrub, als wäre es eine starke Schulter, die ihm Schutz spendete.   Nach einer halbwegs erholsamen Nacht und einer heißen Dusche am frühen Morgen fühlte er sich direkt besser. Er saß mit Yakov und Lilia beim Frühstück, seine Haare waren noch nass, ein Handtuch lag um seine Schultern. Normalerweise duldete Lilia einen derartigen Aufzug am Esstisch nicht, allerdings kam heute keine Anweisung, dass er sich gefälligst umzuziehen hatte. Genauer gesagt … kam gar nichts. Yuri hatte den Shitstorm seines Lebens erwartet, doch sie gingen normal mit ihm um, freundlich, reichten ihm Brötchen, wenn er fragte und verlangten im Gegenzug Marmelade. So wie immer, als wäre niemals etwas vorgefallen. Er stutzte darüber nicht nur, es irritierte ihn regelrecht. Eine Viertelstunde lang rutschte er unruhig auf dem Stuhl herum, bis er das kaum angerührte Brötchen auf den Teller fallen ließ und den Blick hob. »Was soll dieser Käse eigentlich?« Lila sah von ihrer Kaffeetasse auf, während Yakov die Zeitung sinken ließ. Keiner erwiderte etwas, aber immerhin stand er nun im Scheinwerferlicht ihrer Aufmerksamkeit. »Was zieht ihr hier für ‘ne Nummer ab? Häh? Wo bleibt mein Anschiss?« Sie warfen sich gegenseitig einen Blick zu, als hätte Yuri irgendeine Erwartung erfüllt, bis Yakov das Wort ergriff. »Wir wollten sehen, ob du den Mist, den du gebaut hast, von alleine zugibst.« Yuri schnaubte. Meinten die das ernst? »Sowas Bescheuertes! Und was, wenn ich gar nix mehr dazu gesagt hätte?« »Das hättest du niemals ausgehalten. Der Beweis dafür hat keine zwanzig Minuten auf sich warten lassen.« »Hmpf.« Ertappt verschränkte er die Arme. Manchmal unterschätzte er, wie gut Yakov – und auch Lilia – ihn mittlerweile kannten. Wahrscheinlich war diese Idee auf ihrem Mist gewachsen. Yakov hätte ihn schon am selben Abend noch zur Sau gemacht. Er hätte es wissen müssen. »Also?« Beide sahen ihn gespannt an. Yuris Finger verknoteten sich, sein Blick senkte sich auf den Teller. Wie sehr er solche Momente hasste. Otabeks Begriff zu Kreuze kriechen traf es ziemlich genau. Jedoch interessierte ihn nicht, was sie von seinem Patzer hielten, viel mehr wollte er Otabek wieder in das Licht rücken, dass ihm zustand. Um jeden Preis. »Es ist wirklich seltsam, dass einem Yuri Plisetsky tatsächlich die Worte fehlen.« Lilias Stimme jagte Schauder durch ihn hindurch. Er ballte eine Hand zur Faust, bevor es aus ihm herausplatzte. »Es geht mir am Arsch vorbei, was ihr von meiner Aktion denkt! Ich hab Scheiße gebaut und stehe dazu, aber ich würds immer wieder so machen! Brummt mir Hausarrest auf, dreht mir das Internet ab, macht was ihr wollt! Es kümmert mich nicht die Bohne! Aber –« Verlegen strich er sich eine Strähne hinters Ohr, zwirbelte sie. Es beruhigte ihn. »­verbietet mir nicht den Kontakt zu Otabek.« Yakovs eckiger Unterkiefer mahlte. Yuri erkannte daran, dass seine offensichtlich aufgesetzte Gelassenheit langsam verschwand. Doch irgendwas in Lilias Blick ließ ihn nicht explodieren. »Er hat versprochen auf dich aufzupassen!« Seine Stimme knirschte in Yuris Ohren, doch er hielt stramm dagegen. »Hat er doch auch getan!« »Dabei zuzusehen wie du dich volllaufen lässt und das auszunutzen ist nicht auf dich aufpassen!« Yuri hörte zwischen den Zeilen einen Vorwurf, der sein Gesicht in Flammen aufgehen ließ. Yakovs und Lilias Interpretation schien noch viel delikater zu sein, als die von Victor. Unbeherrscht sprang er auf, dieses Mal ging der Stuhl tatsächlich zu Boden. Das Handtuch segelte von seinen Schultern. Einen Moment sah er sie schnaufend an, bevor sich sein Inneres krampfartig zusammenzog, um dann einer Explosion gleichend aus ihm herauszubrechen. »Sag mal, ziehts bei euch? Hat euch der Schnee in Kasachstan das Hirn verhagelt, oder was?« Er konnte sich nicht zurückhalten, obwohl er sich geschworen hatte, niemals vor Lilia solch einen Ausbruch zu haben. Doch nun warf er alle Prinzipien über Bord und brüllte seine Trainer an, wie niemals zuvor. »SPINNT IHR EIGENTLICH? Warum denkt ihr so von mir? Warum denkt ihr so von ihm? Was hat er euch getan, häh? Warum erlaubt ihr euch so ein Urteil über ihn? IHR HABT ÜBERHAUPT KEINE AHNUNG!« Seine Stimme hallte einem wütenden Fauchen gleich durch das Esszimmer. »Acht Stunden Training, tagein, tagaus! Massenweise Medaillen, Ballett bis meine Füße bluten und Disziplin das ganze verfickte Jahr über und ihr dankt es mir so! Zum ersten Mal in meinem Leben hab ich einen richtigen Freund und ihr … anstatt euch ein bisschen zu freuen, oder mir wenigstens zu vertrauen, reimt ihr euch so eine dumme Scheiße zusammen! Das ist –« Die Wut brannte lodernd in seinen Organen und bahnte sich in Form von Tränen nach außen, die eine glühende Spur über seine Wangen zogen. Grob wischte er sie weg, ärgerte sich jetzt auch noch über sich selbst. »–  unfair. So verdammt unfair! Wie soll ich euch vertrauen, wenn ihr das bei mir nicht mal schafft? Schämt euch!« Mit diesen Worten drehte er sich um und entfloh der plötzlich drückenden Stille des Esszimmers. Einen Moment überlegte er sich einfach in seinem Zimmer zu verschanzen, doch die Wände von Lilias Haus, die er schon seit über einem Jahr sein Heim nannte, schienen zu schrumpfen und lösten Fluchtinstinkte in ihm aus. Ohne wirklich zu überlegen stieg er in seine Schuhe, griff sich eine seiner Jacken und verließ mit noch halbnassen Haaren das Haus.   Eisiger Wind krallte sich in den dünnen Stoff seiner spärlichen Bekleidung. Am liebsten wäre er sofort wieder umgekehrt, doch dann würde ein noch größeres Unglück geschehen. Außerdem gönnte er ihnen diesen Triumph nicht. Wut und Kälte schüttelten ihn. Die ersten zehn Meter legte er unkontrolliert rennend zurück, bis er an einer roten Ampel gezwungen zum Stehen kam. Schnaufend schloss er den Reisverschluss seiner Jacke, band sich die Haare zusammen. Auch jetzt siegte die Disziplin. Er war in Rage, doch die galt es konstruktiver abzubauen. Er zwang sich zur ruhiger Atmung und als die Ampel auf Grün sprang, setzte er sich joggend in Bewegung. Seine Füße trugen ihn zum Stadtpark. Hier gab es einen See, nicht annähernd so groß und schön wie der in Almaty, aber geeignet genug, um ein paar Runden zu drehen. Es war früh am Morgen und kaum jemand war unterwegs. Er war mit sich selbst allein, achtete nur auf seine federleichten Schritte und darauf, wie sein Pferdeschwanz in dessen Takt auf und ab wippte. Es wirkte nur bedingt, dämpfte seine Verletzung zwar, löste sie allerdings nicht auf. Von all den Möglichkeiten, wie dieses Gespräch hätte ausgehen können, musste er den absoluten Worst-Case abbekommen. Sie warfen Otabek nicht nur Unachtsamkeit vor, sie unterstellten ihm dazu auch noch das Ausleben irgendwelcher Triebe, die er mit Sicherheit nicht hatte. Als wäre er ein verdammter Lüstling, der nur auf diese Chance gewartet hatte. Noch dazu gingen sie wohl davon aus, dass Yuri sich im ersten günstigen Moment verführen ließ. Wie verblödet sie waren, wie abgrundtief dumm. Diese ungerechtfertigte Anklage ätzte wie Batteriesäure durch seine Lungen. Warum zum Teufel sollte Otabek sich ausgerechnet dieser Gelegenheit bedienen, bei der potenziellen Gefahr, dass jeder es mitbekam? Während der drei Tage bei ihm zuhause hätte er ihn viel wahrscheinlicher, viel besser „ausnutzen“ können, wie Yakov so schön sagte. Und nichts war passiert. Sie waren Freunde, beste Freunde. Nie hatte Otabek je etwas anderes behauptet oder ihm ein anderes Gefühl vermittelt. Dass er Interesse an Yuri haben könnte, das über Freundschaft hinausging, war mehr als absurd. Ein Utopia. Er kniff die Augen zusammen. Seine Lungen schmerzten und in seiner Brust stach es. Es ließ ihn nicht so kalt, wie er es sich wünschte. Ruckartig blieb er stehen, stützte sich keuchend mit beiden Händen auf den Knien ab. Die Augen noch immer geschlossen horchte er in sich hinein. Überraschte ihn diese Empfindung? Nein, tat sie nicht. Es glich eher Resignation, ähnlich als akzeptiere er etwas, das er eh nicht ändern konnte. Selbst wenn er wollte.  Es war wie ein Funke, der Fragen beantwortete und neue aufwarf. Wie die Frage nach dem Warum. Wo endete Freundschaft und wo begann etwas völlig anderes? Er glaubte die Antwort zu kennen und sie knotete seine Gedärme zusammen. In Kasachstan. Eine erste Schneeflocke landete auf seinen Arm und rann als kalter Tropfen über seine Haut. Als er den Blick hob, landeten weitere in seinem Gesicht. Der trübe Himmel weinte und seine Tränen gefroren im eisigen März. Yuri verstand es. Ihm war ähnlich zumute. Teil zehn: »Tellerrand« ----------------------- Yuri Plisetsky war ein Kämpfer mit scharfen Zähnen. Er biss sich durchs Leben und stellte sich allen Herausforderungen mit erhobenem Haupt. Abgesehen von den alltäglichen Dingen, die jeder irgendwo fürchtete, ließ er sich von nichts und niemandem einschüchtern. Trotzdem fühlte er eine drückende Beklemmung in seiner Brust, als seine Füße ihn zurücktrugen und tiefe Spuren im Schnee hinterließen.   Durchgefroren klingelte er an der Tür. Dem überstürzten Aufbruch sei Dank führte er weder Handy noch Schlüssel mit sich. Aber er schätzte, etwas über eine Stunde unterwegs gewesen zu sein. Weitaus mehr, als vorgehabt und das spürte er nun. Er konnte sich kaum rühren, betätigte erneut die Klingel und flehte den Himmel an, dass die Haustüre sich doch endlich öffnete. Prompt wurde er erhört. Yakov stand vor ihm. Yuri wusste nicht, wer von den beiden schlimmer gewesen wäre. »Mach Platz, alter Mann.« Unwirsch drängte er sich an ihm vorbei. Abweisung ließ seine Stimme triefen. Seltsamerweise ließ Yakov es geschehen, trat sogar freiwillig beiseite. Yuri wollte ihn weder sehen noch hören, kickte sich die Schuhe von den Füßen und steuerte sofort sein Zimmer an - nur um gleich in das nächste unerwünschte Gesicht zu blicken. Lilia saß in einem Sessel neben seinem Bett. Auf dem runden Beistelltisch stand eine Kanne mit Tee, dazu zwei Tassen auf schrecklich kitschigen Untersetzern. Es roch nach Fenchel und Anis. Potya thronte auf ihrem Schoß und ließ sich die schwarzen Ohren kraulen, während sie sich elegant einschenkte, ohne ihn dabei anzusehen. Die Aura, die sie ausstrahlte, knisterte durch das Zimmer. Yuri stand wie angewurzelt da. Vielleicht war Yakov ihm doch lieber. Sie nippte und nickte den Geschmack ab, bevor sie die Tasse zurückstellte. »In die Wanne. Ich warte hier.« Ihre Stimme klang so kalt wie an den ersten Tagen ihres Kennenlernens. Sie deutete auf sein Bett. Als Yuri ihrer Bewegung folgte, sah er dort frische, trockene Kleidung. Sie kannte ihn wohl schon zu gut, um zu wissen, dass er jetzt keine ruppige Erwiderung wagen würde. Schlurfend trottete er durch den Raum und schnappte sich die herausgelegten Sachen. Er hasste es, wie klein er sich in ihrer Gegenwart fühlte. Aber er gehorchte. Dieser Ton verhieß nie etwas Gutes und konnte noch weitaus Schlimmeres, als Hausarrest und Internetverbot nach sich ziehen. »Du hast zwanzig Minuten.« Sein Blick heftete sich auf das Parkett in Fischgrätenmuster, als er das Zimmer verließ und lautlos die Tür hinter sich schloss. Im Bad drehte er mit noch immer klammen Händen den Wasserhahn auf, entkleidete sich mühselig. Seine Glieder und Gelenke waren steif vor Kälte. Nach kurzer Überlegung tat er einen Badezusatz dazu, der angeblich die Muskeln lockern sollte. Punkt zwanzig Minuten später kehrte er leise in sein Zimmer zurück, aufgewärmt, aber unentspannt. Er fürchtete sich vor dem Gespräch. Lilia saß noch immer an Ort und Stelle, nur Potya war auf sein Bett geflüchtet. Zögerlich nahm er ihr gegenüber Platz, verfolgte ihre Bewegungen. Sie schenkte nun auch ihm Tee ein. Ihr dezentes Parfum streifte seine Nase. Irgendetwas blumiges, er vermutete Rosen. Nach all der Zeit wusste er noch immer nicht, ob er den Geruch mochte.  Sie schob ihm die Tasse zu. Der stummen Aufforderung folgend nahm er einen Schluck, verzog dann das Gesicht und stellte das viel zu heiße Getränk gleich wieder ab. Sie schlug die Beine übereinander, ihre feingliedrigen Finger verschränkten sich. Yuri schrumpfte unter ihrem forschenden Blick zusammen. »Hast du dir die Zunge verbrannt?« Er wusste nicht, ob die Frage ernst oder sarkastisch gemeint war, denn er brachte noch immer kein Wort heraus. Vielleicht wollte sie auch nur das Eis zwischen ihnen brechen. Er entschied sich für ein bestätigendes Brummen und betonte seine Antwort mit einem Nicken. »Du hast es schon immer zu eilig gehabt. Vorhin hast du genau das wieder demonstriert.« »Hmpf.« Unschlüssig verschränkte er die Arme, wartete. Noch immer waren die Worte in seinem Kopf nur ein schmieriger Klumpen auf seiner Zunge, doch Lilia ignorierte seine Verlegenheit gekonnt und begann mit ihrer Zurechtweisung. »Bevor wir über die Geschehnisse der letzten Tage sprechen, möchte ich dir Eines vorneweg sagen: Ein solches Verhalten wie heute Morgen dulde ich kein zweites Mal. Sollte ein derartiges Benehmen erneut vorkommen, ziehen Yakov und ich die entsprechende Konsequenz.« Beschämt begann er auf der Innenseite seiner Wange zu kauen. Er mochte impulsiv sein und gern über die Stränge schlagen, doch er konnte nicht abstreiten, dass er mit dieser Aktion zu weit gegangen war. Er hatte die beiden aus vollem Halse angebrüllt. Und dabei geflennt. Wahrlich kein Benehmen, das duldsam war, nicht einmal für seine Verhältnisse. »Bei Minusgraden mit kaum Stoff am Leibe und nassen Haaren das Haus zu verlassen ist unverantwortlich. Du hast deine Gesundheit aufs Spiel gesetzt und dich damit in Gefahr gebracht.« Erneut nippte sie an ihrem Tee.  Die Ruhe in ihrer Stimme wirkte seltsam ironisch. »Du bist alt genug, um über dein Handeln nachzudenken, selbst in Ausnahmesituationen. Also übernimm endlich Verantwortung für dich selbst. Andernfalls schließen wir dich aus allen kommenden Wettbewerben für dieses Jahr aus.« Das saß. Ihre Worte schnitten durch seine Haut. Zwischen seinen Augen wummerte es und schlagartig wurde ihm übel. Einer derartig klaren, warnenden Ansage war er bis jetzt immer entkommen. Bis jetzt. Seine Unterlippe begann zu zittern, so sehr strengte es ihn an, die erneuten Tränen zurück zu halten. Das war wirklich ein fieses Blatt, mit dem sie gegen ihn spielte, kein Ass der Welt konnte ihn jetzt noch zum Sieg verhelfen. Und wie überzeugt war er davon, dass sie davon wirklich Gebrauch machen würden, sollte er sich nicht zusammenreißen. Aber … irgendetwas war anders. Irgendetwas … fehlte. Er war an Lilias Rügen gewöhnt, auch wenn sie ihm nie schmeckten, doch heute hatte sie zwar über seine Verantwortungslosigkeit geschimpft, aber noch kein Wort über sein generelles Verhalten an diesem Morgen verloren. »Haben wir uns verstanden?« Plötzlich war ihre Stimme sanft. Eine Mischung aus Verwunderung und Neugierde ließ ihn den Kopf heben. Auch wenn sie ruhig sprach, forderte sie ihn mit ihrem Blick zum Antworten auf. Seine Kehle war trocken und zwang ihn mehrmals zu schlucken, bevor er ein Wort herausbrachte. »…. Ja.« »Sehr schön.« Ihre harten Gesichtszüge erweichten. Potya schien zu spüren, dass das Schlimmste überstanden war, denn er kehrte zurück zu ihr und rollte sich auf ihrem Schoß zusammen. Normalerweise hing sein Kater regelrecht an ihm, doch in Lilias Gegenwart war Yuri wie vergessen. »Aber … das war … na ja … alles?« So recht konnte er das nicht glauben. »Kein Ärger, weil ich euch angebrüllt habe?« Sie sah ihn forschend an. »Ich vermute, dass es dir leidtut.« Zumindest, was Lilia anging, stimmte das. Aber die Wut auf Yakov war noch immer nicht verflogen. Trotzdem nickte er schuldbewusst. »Braucht es nicht.« »Häh?« Das war ihm zu hoch. Sonst hatte er sich für jedes falsche Wort verantworten müssen und jetzt sagte sie ihm, dass es in Ordnung war? Yuri verstand die Welt nicht mehr und offenbar sah man ihm das auch genau an. Lilia schmunzelte kurz über seinen wahrscheinlich sehr verdatterten Gesichtsausdruck, bevor ihr Blick aus dem Fenster glitt und plötzlich melancholisch wurde, als schwelgte sie in Erinnerungen. Eine seltene intime Seite, die sie ihm offenbarte. Es war eigenartig sie so zu sehen. Yuri ahnte, dass er jetzt lieber den Mund halten sollte, also schwieg er. Er schwieg und wartete. Sein Blick heftete sich an ihre langen, geschwungenen Wimpern, unter denen ihre sonst so strengen Augen ungewohnt entspannt dreinblickten. »Damals, in der Ballettschule, hatte ich eine gute Freundin: Anisa. Sie und ich waren die besten Tänzerinnen unter den Junioren. Allerdings hielten wir nicht viel von Regeln und gutem Benehmen. Anisa noch weniger, als ich. Sie war regelrecht rebellisch. Das Mundwerk immer viel zu lose, aber sie konnte es sich leisten. Ihr Talent war einzigartig.« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Noch nie hatte sie irgendetwas von ihrer Vergangenheit preisgegeben. Normalerweise interessierte er sich nicht für die sentimentalen Geschichten von Erwachsenen – ausgenommen die seines Großvaters – doch er ertappte sich dabei, regelrecht an ihren Lippen zu hängen. Diese plötzliche Anekdote aus ihrer Jugend überraschte ihn und zog ihn in ihren Bann. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was hier gerade geschah. Lilia fuhr indessen unbeirrt fort und ignorierte seine Verwirrung. Ihre Hände strichen liebevoll durchs Potyas Fell, der sich mit schnurrenden Lauten dafür bedankte. »Jedenfalls war sie unter unseren Tanzgenossinnen nicht sehr beliebt, weil sie immer besser war, als all die anderen und dazu nie ihren Mund halten konnte. Immer ehrlich und direkt.« Beiläufig trank sie aus ihrer Tasse, den kleinen Finger damenhaft in die Luft gestreckt. Der Blick, den sie ihm dabei zuwarf, ließ ihn erstarren und schnürte ihn am Stuhl fest. »Du erinnerst mich ein wenig an sie.« Hitze erklomm sein Gesicht. Seine Hände suchten nach Beschäftigung, um sein Unbehagen zu dämpfen. Schnell griff er nach seiner Tasse und trank daraus, obwohl er keinen Durst hatte. Er wusste nicht, ob man das als Kompliment verstehen konnte. »Anisas Talent war Fluch und Segen zugleich. Kein anderes Mädchen bekam je die Hauptrolle, wenn sie auch am Vortanzen teilnahm. Es schürte Eifersucht bei den anderen. Sie wollten sie loswerden, also haben sie einen Diebstahl inszeniert. Eines Tages kam eines der Mädchen weinend in den Probesaal gestürmt und klagte ihr Leid über ein angeblich gestohlenes … Irgendwas. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, was es überhaupt war. Höchstwahrscheinlich irgendein Spielzeug. Natürlich haben wir alles abgesucht: Den Probesaal, hinter der Bühne, die Umkleiden, die Duschen. Nichts. Bis das Mädchen plötzlich, sehr überzeugend am Boden zerstört, auf meine Freundin deutet und sagt, dass Anisa schon immer neidisch darauf gewesen wäre und sie sich sicher wäre, dass sie es ihr gestohlen hätte. « Ein tiefes Seufzen kam aus dem Inneren ihrer Brust. Ihre Augen verdunkelten sich und plötzlich wirkte sie traurig und ungewöhnlich zerbrechlich. Yuri spürte etwas, das er ihr gegenüber noch nicht kannte: Mitgefühl. »Und wie ging es weiter?« Die angespannte Stimmung zwischen ihnen hatte sich in Luft aufgelöst. »Unsere Trainer waren im Zugzwang, also mussten wir damals alle unsere Taschen ausleeren. Und wie der Zufall es so wollte, ist man bei Anisa fündig geworden. Der Plan schien aufgegangen, alles hat darauf hingedeutet, dass Anisa es gestohlen hat. Alle waren gegen sie, selbst unsere Trainer. Ich muss gestehen, dass sie mit ihrem früheren Verhalten auch nicht gerade zu ihrer Glaubwürdigkeit beigetragen hatte. Sie war eben verpönt. Aber ich wusste sofort, dass sie im Unrecht waren. Trotzdem konnte ich nichts tun. Die Eltern des angeblich bestohlenen Mädchens sind angerufen worden, denn ein solches Verhalten war bei uns natürlich nicht erwünscht. Die Konsequenz wurde schnell gezogen: Anisa sollte aus der kommenden Aufführung ausgeschlossen werden. Sie hatte die Hauptrolle.« Yuri rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Eine ziemlich harte Strafe, die auch ihm heute beinahe das Genick gebrochen hätte. Unvorstellbar, dass es auch jemandem passieren konnte, der unschuldig war. »Ich kann mich noch genau an meine Reaktion von damals erinnern: Ich bin aufgesprungen und habe die Erwachsenen angeschrien, dass das andere Mädchen gelogen hat. Ich glaube, so wütend war ich vorher noch nie gewesen. Wütend und enttäuscht darüber, dass man meine Freundin für etwas anklagte, dass sie nicht getan hatte, ohne einmal über den Tellerrand hinauszusehen. Immerhin war auch den Trainern aufgefallen, dass man Anisa bewusst schnitt und sie nicht akzeptiert wurde. Dass man sie offensichtlich loswerden wollte. Und sie einfach damit durchkommen zu lassen, konnte ich nicht hinnehmen. Ich hatte Tränen in den Augen.« Ein Moment des Schweigens verging. Beide saßen still da und tranken ihren Tee. Potyas Schnurren war verstummt, nur seine Ohren zuckten leise im Schlaf. Schließlich stellte Lilia ihre Tasse ab. Die Keramik entfachte eine melodische Reibung auf dem Untersetzer. »Vielleicht verstehst du jetzt, warum deine Reaktion heute Morgen gar nicht so unangebracht war, wie du denkst.« Yuri kratzte sich am Kopf. Wenn er ehrlich war: Nein. Außer, dass Lilia offenbar eine ähnliche Situation durchmachen hatte müssen, wie er, wenn auch in einem völlig anderen Kontext. Aber der Geistesblitz fehlte noch. Sie wartete, doch als er nicht antwortete, beugte sie sich nach vorn. Ihr Blick richtete sich wachsam auf ihn. »Erzähl mir von deinem Urlaub bei Otabek Altin.«  Yuri biss sich auf die Lippe, suchte in ihren Augen nach Argwohn, Misstrauen. Doch sie schien nicht auf der Lauer zu liegen, nicht nach Anzeichen zu suchen, die sie später gegen Otabek verwenden könnte. Er fand nur pure, überraschende Neugierde. Es machte sie glatt zwanzig Jahre jünger. Und ihn brachte es aus dem Konzept. »Äh … alles jetzt, oder wie?« »Das wäre schön. Ich habe dir eine meiner Geschichten aufgezwungen, also darfst du das jetzt auch.« »Du hast mir gar nichts aufgezwungen … Es war echt spannend dir zuzuhören. Aber ich versteh nicht, was du mir damit sagen willst.«  »Ich bin auch noch nicht fertig. Aber jetzt bist du an der Reihe.« Ihr Blick schweifte wieder aus dem Fenster. »Über ein Jahr wohnst du jetzt schon hier. Irgendwie haben wir uns immer nur über Ballett und Eiskunstlauf unterhalten. Das ist zwar mein Job, aber jetzt sind wir privat, unter uns. Eine Abwechslung wäre schön. Außerdem mag ich deine Gesellschaft.« Yuri konnte ein schmales Lächeln nicht unterdrücken. Ihm ging es nicht anders. In ihrer Gegenwart fühlte er sich angenehm sicher, ähnlich wie bei seinem Großvater. Welch Schande, dass sie diesen Schritt nicht schon früher gemacht hatten. Er lehnte sich zurück und begann zu erzählen. Trotzdem zog er sich seine Kapuze über den Kopf, um sich sicherer zu fühlen. Wenn sich die Zunge einmal lockerte, waren Worte unaufhaltsam. Anfangs schüchtern erzählte er ihr von ihrem Kennenlernen, über die absurde Situation von der Flucht vor den Yuri’s Angels, die ihre Freundschaft erst hatte aufbrechen lassen, bis zu ihrem letzten Ausflug an den See. Lilia lauschte ihm aufmerksam, unterbrach kein einziges Mal. Als er beim Bankett angelankt war, zögerte er, unschlüssig darüber, wie er das vernünftig darstellen konnte. Aber all das Grübeln half nichts und schließlich rückte er mit der Wahrheit raus. »Ich … ich hab mich unmöglich genommen. Das weiß ich mittlerweile. Ich … wollte nur meinen letzten Abend mit ihm genießen. Und meinen Sieg feiern. Außerdem kam jeder Idiot mit ‘nem Sektglas zu mir und ich kann so ziemlich jeden Scheiß saufen, ohne —« Er unterbrach und räusperte sich, spähte entschuldigend zu Lilia herüber. »Ich vertrag eigentlich ‘ne Menge, aber Champagner gehört wohl nicht dazu. Ich wusste es nicht. Und Otabek auch nicht. Als er bemerkt hat, wie daneben ich war, hat er mich gleich in mein Zimmer gebracht und sich um mich gekümmert. Eigentlich wollte er abhauen, aber ich … hab ihn angebettelt zu bleiben. Er hat auf mich aufgepasst, falls ich … na ja falls ich hätte kotzen müssen oder so. Aber alles gut. Am nächsten Tag hat er mir ‘ne Schmerztablette besorgt und für mich ausgecheckt. Und das war’s.« Zumindest fast. Doch er brachte es nicht über sich, ihr die komplette Geschichte dieses Morgens zu erzählen. Schon allein, damit sie sich nicht doch noch ein schlechtes Bild von Otabek machte. Und weil er sich selbst nicht eingestehen wollte, dass seit jenem Morgen jeder Gedanke an Otabek Panik in ihm auslöste. Nervös wartete er auf eine Reaktion, doch Lilia übte sich in Schweigen. Mit geschlossenen Augen strich sie sich über ihr Kinn, schien die Situation innerlich zu bewerten. Die Stille begann unangenehmen Druck auszuüben und als Yuri es kaum noch aushielt, lächelte sie ihn endlich an. »Ein netter junger Mann. Und ein Gentleman noch dazu.« Er atmete schwer aus. Seine Finger verknoteten sich. »Also … du glaubst mir?« Lilia lehnte sich zurück und schlug ein Bein übers andere, plötzlich wieder geschäftig wirkend. Potya erwachte und sprang von ihrem Schoß. »Ich muss gestehen, dass ich anfangs ähnliche Gedanken und Sorgen hatte, wie Yakov. Dass dein Freund eventuelle Situationen falsch ausgenutzt haben könnte.« Schlagartig wurde Yuri rot, er war im Begriff hochzufahren und Konter zu geben, doch Lilia hob die Hand und unterbrach ihn. »Verdenke es uns nicht. Auch wir waren mal jung und du bist in einem Alter, wo ein solches Interesse völlig normal ist.« Er wusste, dass sie es gut mit ihm meinte, aber gerade fühlte er sich mehr als unwohl. Hitze schien sein Gesicht regelrecht zu zerkochen. Niemals vorher hatte er auch nur einen Gedanken über Aktivitäten solcher Art verschwendet. Fand hier gerade ein „Aufklärungsgespräch“ statt? Er hoffte nicht. Wenn dem wirklich so war, würde er im Erdboden versinken müssen. »Wir sind deine Vormünder und für dich verantwortlich. Wir sind streng, ja, aber nur weil wir besorgt sind und dein Bestes wollen. Yakov ist allerdings über das Ziel hinausgeschossen, deinem Freund einfach so etwas zu unterstellen und deine Reaktion darauf hat Bände gesprochen. Ich habe mein Teenager-Ich darin wiedererkannt. Dieser entsetzte, wütende Gesichtsausdruck, die Tränen und auch die Enttäuschung. Ich muss damals, als man Anisa den Diebstahl vorgeworfen hatte, ähnlich dreingeschaut haben. Kein Schauspieler der Welt könnte so eine Reaktion glaubhaft heucheln. Ich wusste sofort, dass wir die Lage falsch eingeschätzt hatten. Wir haben nicht über den Tellerrand gesehen und das tut uns leid.« »Hm.« Wo er eben noch wie ein Wasserfall hatte reden können, fand er nun keine Worte mehr. Er wusste nichts zu erwidern. Dabei hatte doch er selbst nicht über den Tellerrand geblickt, sondern seine Trainer als unehrenhaft abgestempelt, weil sie ihm angeblich nicht vertrauten. Auf den Gedanken, dass sie sich nur um ihn sorgten, wäre er niemals gekommen, jedenfalls nicht von allein. Eigentlich war er Derjenige, der ihnen Unrecht getan hatte. Es fiel ihm schwer, sich dies klarzumachen, doch er gestand es sich ein. Dankbarkeit spießte ihn auf, nur um die Wunde gleich wieder heilen zu lassen. Seine Zunge lag wie ein Schwamm in seinem Mund, der sich mit Schuldgefühlen vollgesogen hatte. »Ich … « Er begann an seinen Fingernägeln zu knibbeln – das tat er oft, wenn er sich unwohl fühlte. »Tut mir leid, dass ich so arschig war.« Ihre Hand legte sich auf seine und unterbrach sein Tun. Unter vielen Dingen mochte sie es am wenigsten, wenn er seine Fingernägel ohne Schere kürzte, oder – noch schlimmer – daran mit den Zähnen knabberte. »Es ist okay. Lassen wir Gras darüber wachsen.« Mit diesen Worten erhob sie sich und strich sich unnötigerweise ihre perfekt sitzende Bluse glatt. Auch Yuri stand auf, stellte die leeren Teetassen zurück auf das Tablett. Die Kanne war leer. Die Wärme war von Yuris Füßen bis in seine Zehenspitzen vorgedrungen. »Lilia … wie ist das mit Anisa ausgegangen?« Die Hand bereits an der Klinke, drehte sie sich zu ihm um. Sie schien überrascht über diese Frage und brauchte einige Sekunden, bis sie antwortete. »Anisa und ihre Eltern haben sich diesen Vorwurf nicht gefallen lassen. Sie sind in eine andere Stadt gezogen und haben sich eine neue Ballettschule und neue Sponsoren gesucht. Ich habe sie danach nicht mehr oft gesehen.« Ein Schleier legte sich über ihre Augen. Yuri glaubte, dass Anisa ihr fehlte. Wie er sich wohl fühlen würde, wenn Otabek so plötzlich wieder aus seinem Leben verschwand?  Otabek … »Vermisst du sie?« Lilia lächelte, doch es wirkte zu bemüht, um echt zu sein. »Nach all den Jahren, tue ich das manchmal tatsächlich noch. Ich hatte danach nie wieder eine Freundin wie sie. Aber ich war selbst schuld. Ich habe mich zu sehr auf meine Karriere konzentriert und dabei aus den Augen verloren, dass es kostbarere Dinge im Leben gibt.« Yuri glaubte zu wissen, was sie meinte. »Ab heute reiße ich mich zusammen und baue keinen Mist mehr. Versprochen. Ich will keine Enttäuschung mehr sein.« Die Worte waren draußen, ohne, dass er es verhindern konnte. Sie sah ihn an, hob ihre Hand und strich ihm eine Strähne hinters Ohr, ließ Yuri unwissentlich erschaudern. »Ich weiß. Aber verliere nicht den Blick für das Wesentliche. Mache nicht den gleichen Fehler wie ich und hüte diese Freundschaft.« Yuri wusste nicht, ob sie etwas von seinen zwiespältigen Gefühlen zu Otabek ahnte. Aber selbst, wenn es so war, blieb sie höflich und diskret genug, um nichts dazu zu sagen. Trotzdem fühlten sich ihre Worte wie ein weiser Ratschlag an, einer unterschwelligen Botschaft gleich. Ihre Hand ruhte kurz auf seiner Wange, dann ließ sie von ihm ab. »Yakov wusste nicht, wie lang unser Gespräch dauert, deswegen wartet er im Wohnzimmer. Er würde sich gern entschuldigen. Tu mir den Gefallen und geh zu ihm.« Yuri nickte. »Okay ...« Aber zuerst würde er versuchen seine guten Vorsätze gleich umzusetzen und das Teeservice in die Küche bringen. Teil elf: »Auszeit« ------------------- »Der Altin-Junge, hm?« Yakovs Finger drehten das Glas in seinen Händen hin und her. »Scheint in Ordnung zu sein.« »Hmpf.« Yuri saß mit verschränkten Armen da und beobachtete ihn. Obwohl das Gespräch ähnlich ruhig wie das mit Lilia stattgefunden hattte und er wirklich gewillt war auch Yakovs Entschuldigung anzunehmen, fühlte er sich noch immer ein wenig unwohl in seiner Nähe. »Stell dir vor, ist er! Vorausgesetzt man unterstellt ihm nicht irgendeine Scheiße!« Yakov kratzte sich an der kahlen Stelle seines Kopfes, bevor er das Glas auf dem Tisch abstellte. Yuri betrachtete die Eiswürfel, die im flüssigem Bernstein schwammen. Es war gerade einmal fünfzehn Uhr, doch das trübe Wetter ließ den Tag vorzeitig altern. »Im Ernst, Yakov, nur weil Victor und sein Katsudon irgendwelche komischen Sachen treiben, heißt das nicht, dass das gleich auf mich abfärbt, okay? Als ob ich was mit einem Kerl anfange!« Dieser absurde Vorwurf machte ihn noch immer wütend – und trotzdem stach ihn seine eigene Dementierung unangenehm in den Magen. Die Abneigung in seiner Stimme schürte das schlechte Gewissen Otabek gegenüber. »Ich gebe zu, dass ich ein wenig übertrieben habe.« Missmutig kaute Yuri auf seiner Unterlippe herum. Untertriebener konnte man sich wohl kaum ausdrücken. »Was du tust und was nicht, ist allein deine Entscheidung, Junge. Wir wollen nur, dass du in Zukunft deinen Kopf einschaltest. In allen Bereichen.« Die Mahnung in Yakovs Blick ließ Yuri die Augen verdrehen. »Gilt auch für dich, man!« Mangels weißer Fahne, die man herumwedeln konnte, hob er beschwichtigend die Hände. »Aber ja, schon klar: Keine Eskapaden mehr, kein schlechtes Benehmen, kein Rumgefluche und keine Besäufnisse. Ja, ja.« Yakov beobachtete ihn genau, doch Überzeugung sah anders aus, als er mit einem schlichten »Gut« antwortete. »Ich hab‘s Lilia auch schon versprochen und daran halte ich mich! Kann ich dann jetzt auf mein Zimmer?« Resigniert wedelte Yakov mit seiner Hand herum. Yuri erhob sich und streckte seine Glieder, während er ihn dabei beobachtete, wie er erneut das Glas zwischen seinen Fingern zu drehen begann. »Übrigens: So früh schon Whisky zu trinken zeugt auch nicht gerade von gutem Benehmen, Opa.« Mürrisch vernichtete Yakov seinen Drink mit einem tiefen Zug und knallte das Glas zurück auf den Tisch, dass die Vase kurz bedenklich schwankte. »Verschwinde bloß!« Grinsend wandte Yuri sich ab und entfloh aus dem Wohnzimmer. Er spürte, dass alles wieder in Ordnung war. Alle Viere von sich gestreckt, schmiss er sich auf sein Bett. »Was für ein Tag! Selten, dass wir alle mal so eklig lieb zueinander waren. Furchtbar, echt!« Zum ersten Mal seit seiner Ankunft, war seine Lunge wirklich frei zum Atmen. Noch immer hing in seinem Zimmer ein Hauch von Fenchel und Anis. Mit geschlossenen Augen ließ er die Gespräche mit Yakov und Lilia Revue passieren. Besonders die Konversation mit Lilia ließ ihn nicht los. Ihre seltsamen Andeutungen, diese Freundschaft zu wahren ... Was für ein Schwachsinn! Als hätte er jemals etwas anderes vorgehabt! Minuten vergingen, in denen er mit seinen Augen die geschwungenen Muster des Stucks nachzeichnete, wie er es immer tat, wenn er tief im Meer seiner Gedanken trieb. Gerade, als er abdriften wollte, kam ihm ein Gedanke an etwas, dass er den ganzen Tag komplett ignoriert hatte: Sein Smartphone! Deswegen war ihm die Stille in seinem Zimmer so seltsam vorgekommen! Schnell richtete er sich auf und suchte wühlend danach, warf dabei mehrere Kissen und Katzenplüschtiere zu Boden. Wahrscheinlich wartete Otabek schon den ganzen Tag auf seine Berichterstattung! Endlich bekam er es zu Fassen. Als er auf den Home-Button drückte, blieb der Bildschirm schwarz. Akkus hatten auch einmal bessere Arbeit geleistet. Weitere Minuten vergingen, bis er das Ladegerät aus seinem Rucksack hervorgezogen hatte. Erwartungsvoll entsperrte er den Bildschirm, sich auf den Schwall der Vibrationen von eingehenden Nachrichten einstellend. Oder … zumindest einer? »Hmpf.« Sein Smartphone blieb stumm. Otabek hatte sich nicht mehr gemeldet. »Aha. So sehr sorgst du dich also, du Idiot.« Dann würde Yuri halt den ersten Schritt machen.   Yuri Plisetsky – 06.03 15:12 »Ich lebe noch. Gab nicht einmal Hausarrest oder Internetverbot«   Die Antwort blieb aus – eine gefühlte Ewigkeit lang. Um sich abzulenken scrollte Yuri durch Instagram, stalkte seine Konkurrenten, dislikte – aus Prinzip – JJ’s neuestes Video auf Youtube und sah sich neu eingetroffene Shirts mit Tigerprints in seinen Lieblingsshops an. Doch das alles machte nur halb so viel Spaß, wenn man eigentlich nur auf sein Handy starrte, weil man auf etwas wartete. Normalerweise schrieb Otabek innerhalb von wenigen Minuten zurück, doch jetzt hatte er die Nachricht noch nicht einmal gelesen. Gelangweilt sprang Yuri vom Bett und schlüpfte klammheimlich in seinen schwarzen Trainingsanzug. Auf Grund seines Ausflugs in die Kälte hatte Lilia ihm eigentlich vom Training abgeraten – oder es viel eher verboten – doch was war schon gegen ein bisschen Bewegung einzuwenden? Besser, als wenn er den ganzen Tag nur vor sich hingammelte und gar nichts tat. Er wollte nicht stagnieren. Gar nichts zu tun und sich zu langweilen kam nicht infrage – und erst recht würde er seine Zeit nicht wartend verbringen. Mit ein bisschen Glück war er dabei so leise, dass Yakov und Lilia nichts davon mitbekamen.   Tatsächlich ging sein Plan auf. Zwar machte er keine aufwendigen Übungen, aber die Bewegung tat gut. Er trainierte, bis Yakov ihm zum Abendessen rief. Sie saßen gemütlich beisammen und genossen die kräftige Suppe aus Lilias goldenen Händen - vermutlich nur von ihr zubereitet, um eine mögliche Erkältung von Yuri endgültig im Keim zu ersticken. Nichts erinnerte noch an die hochexplosive Stimmung des Vortages. Yuri war sogar so entspannt, dass er sich auf eine Runde Durak einließ: Ein beliebtes Kartenspiel in Russland, bei dem es keinen Gewinner gibt, nur einen Verlierer. Ziel des Spieles ist, sämtliche Karten abzulegen. Derjenige, der am Ende noch Karten auf der Hand hat ist der Narr und verliert somit das Spiel. Bis spätabends saßen sie zusammen, lachten miteinander und fluchten andererseits bei unvorteilhaften Karten. Besonders Lilia verstand es, immer im richtigen Moment die richtige Karte abzulegen. Auch wenn die Atmosphäre der Gemütlichkeit eines Familienabends glich, verflog Yuris Gelassenheit schnell. Beim gefühlt hundertstem Blatt, dass unmöglich einen Vorteil versprach, warf er resigniert die Karten auf den Tisch und beide Arme nach oben. Für heute reichte es ihm, jedoch konnte er es sich durchaus vorstellen Abende solcher Art zu wiederholen. Kurzerhand verabschiedete er sich von Yakov und Lilia, wünschte eine gute Nacht und machte sich auf den Weg in sein Zimmer. Als er die Tür hinter sich zuzog, fiel sein Blick auf sein Smartphone, das noch immer auf seinem Bett lag. Die winzige, blaue Benachrichtigungsleuchte blinkte auf, kaum zu sehen und trotzdem zog sie Yuris Aufmerksamkeit sofort an. Endlich. Seltsam, irgendwie hatte er seit des Trainings nicht mehr an Otabek gedacht. Ein ungewohntes Gefühl. Er ließ sich aufs Bett fallen und öffnete den Chat.   Otabek Altin – 06.03 21:52 »Ich hatte viel zu tun, deswegen antworte ich erst jetzt. Klingt nach guten Nachrichten, dann bin ich beruhigt.«   Gott sei Dank blieb er höflich genug, um den Gesprächsablauf nicht detailliert zu hinterfragen. Yuri atmete erleichtert auf. Wahrscheinlich hätte er es nicht über sich gebracht, ihm von Yakovs und Lilias Interpretation zum Bankett zu erzählen. So ersparte er Yuri diese Unannehmlichkeit.   Yuri Plisetsky – 06.03 22:55 »Danke! Ja, hier läufts richtig gut! Haben sogar nach dem Abendessen zusammen Karten gespielt … schon irgendwie komisch O_O«   Diesmal rutschte Otabeks Status beinahe sofort auf online.   Otabek Altin – 06.03 22:56 »Wieso komisch?«   Yuri kratzte sich am Kopf. Ja … wieso eigentlich? Er brauchte ein paar Minuten, um darüber nachzudenken.   Yuri Plisetsky – 06.03 23:01 »Weiß auch nicht … Irgendwie sind sie mir meistens immer nur auf den Sack gegangen. Aber … man, die können richtig nett sein! Ich hab mich heut zum ersten Mal richtig wohl bei ihnen gefühlt >.<«   Otabek Altin – 06.03 23:03 »Schön, dass eure Aussprache so viel gebracht hat. Freut mich für dich.«   Yuri Plisetsky – 06.03 23:04 »Danke :D Lilia hat sogar gesagt, dass ich ab morgen schwierigere Sprünge in mein Kurzprogramm und in meine Kür einbauen kann! Das ist so geil :O«   Otabek Altin – 06.03 23:04 »Ich bleibe gespannt.«   Yuri Plisetsky – 06.03 23:05 »Musst du nicht! Erwarte einfach das Beste xD Aber ich muss jetzt pennen. Morgen geht’s schon früh los >.<«   Otabek Altin – 06.03 23:07 »Dann schlaf gut. Genieß die gute Stimmung bei dir! Bis demnächst.«   Yuri Plisetsky – 06.03 23:07 »Du auch! Bis morgen :)«   Während er in lockere Schlafsachen stieg, bevor er in sein Bett kroch, dachte er über diese Konversation nach. Irgendwie … hatte es sich anders angefühlt, als in den letzten Tagen. Ohne komisches Kribbeln im Bauch, kein unangenehmes ziehen in seinem Zwerchfell. Kein seltsames Surren zwischen seinen Augen, sondern … normal. Wie früher. Wie vor seinem Urlaub bei ihm. Ein eigenartiges Gefühl durchströmte ihn und es dauerte einen Augenblick, bis er es einordnen konnte: Erleichterung. Wenn er geglaubt hatte, dass er seltsame Empfindungen für Otabek hegen könnte, dann hatte er sich gehörig getäuscht. Noch nie war er in jemanden verliebt gewesen, ein Yuri Plisetsky verfiel nicht einfach so jemandem – erst recht nicht einem Mann. Und am allerwenigsten Otabek. Sie waren Freunde, die besten sogar. Niemals würde dort etwas anderes sein.  Er fühlte es mit jeder Pore seines Körpers. Dieser Tag, der so dramatisch gestartet war, hatte eine überaus glückliche Wendung genommen. Zufrieden deckte er sich zu und umarmte sein Kissen, vergrub sein Gesicht darin.   Innerhalb zweier Monate kehrte der Alltag zurück. Yuri wurde in einen Strudel aus Training, Hausaufgaben, Klausuren und Ballett gerissen. Er lief auf Hochtouren. Seine Fortschritte im Eiskunstlauf konnten besser nicht sein, dennoch fehlte ihm die Zeit, um auf der faulen Haut zu liegen. Nicht einen Tag lang. Für ihn hatte eine anstrengende Phase seines Lebens begonnen, denn neben der Perfektionierung seiner Laufprogramme, musste Yuri sich auch ganz besonders auf die Schule konzentrieren. Nächstes Jahr würde er die elfte Klasse abschließen und schon jetzt waren Fehler ein absolutes No-Go, wenn er sein Staatexamen bestehen wollte. Doch Gott sei Dank rückte der 25. Mai - der offizielle letzte Schultag, bevor die Sommerferien begannen - in greifbare Nähe, und bis dahin bekam er eine Menge Hilfe von Lilia, Otabek, ja, sogar von Victor. Lilia gab ihm Nachhilfe in Rechtschreibung und Grammatik, Victor hämmerte ihn Zahlen, Daten und Fakten der russischen Geschichte ein und Otabek war via Skype zur Stelle, wenn Yuri an Mechanik und Thermodynamik verzweifelte. Die Zeit war anstrengend, aber brachte auch Freude. Seine Chats und Telefonate mit Otabek genoss er mehr, als jemals zuvor. Nach nur wenigen Tagen, seit seiner Rückkehr nach Sankt Petersburg, war dieses zwiespältige, irritierende Gefühl ihm gegenüber vollkommen abgeklungen – und auch alles andere. Keine nervösen Zuckungen mehr, keine verschwitzten Hände, kein unangenehmes Ziehen in seinem Magen. Alles war wie früher, wie vor seinem Aufenthalt in Almaty. Leider auch das Fernweh und die Tatsache, seinen besten Freund nur via Laptop sehen zu können. Keine Zockerabende, keine Ausflüge an versteckte Seen. Besonders diese abenteuerlichen Motorradfahrten fehlten ihm. Allerdings gab es auch Tage, an denen Otabek online war, aber nichts von sich hören ließ. Manchmal konnten Stunden vergehen, während er auf sein Smartphone starrte und eine Antwort abwartete. Er versuchte es nicht persönlich zu nehmen, zerbrach sich dennoch den Kopf.  Meistens gelang ihm das, ab und zu jedoch nicht. Dann war da eine geladene Menge heißer Wut in seinem Bauch, deren Herkunft er sich nicht erklären konnte und die erst verging, sobald er eine Antwort bekam. Und an besonders stressigen Tagen, wenn die Stille ihn einholte und er sich vor den anstehenden Klausuren fürchtete, fand er nur Schlaf, wenn er sein Gesicht in einer Ecke des Kissens vergrub und Arme und Beine darum schlang, als würde er sich an jemandem festhalten.   Schweißgebadet wachte er auf. Das rote Licht seines Weckers zeigte vier Uhr morgens an. Mittwoch, der 25. Mai. Heute erfuhr er die Ergebnisse der letzten Prüfungen. Schon allein der Gedanke daran ließ seinen Magen aufquellen, obwohl er das Schlimmste bereits überstanden hatte – und das anfangs sogar mit dem guten Gefühl, die Prüfungen nicht vollkommen verhauen zu haben. Und trotzdem war der Moment gekommen, als die Angst vor dem Versagen ihn einholte. Sie schwamm wie ein sich windender Aal durch seinen Brustkorb. Sich die Augen reibend schaltete er den Wecker aus, bevor er klingeln konnte, und schlürfte aus dem Zimmer. Einschlafen war jetzt eh keine Option mehr, also sprang er unter die Dusche und stieg zwanzig Minuten später mit geföhnten Haaren und trockenen Anziehsachen in seine Laufschuhe, um seiner Aufregung beim Joggen den Kampf anzusagen. Obwohl sich der Sommer ankündigte, waren die Nächte kalt. Nur sehr langsam schlich sich die Sonne am Horizont hervor. Erst, als Yuri den kleinen See erreichte, entfalteten die ersten Sonnenstrahlen zaghaft ihr mildes Licht. Der Anblick beruhigte ihn und die Stille tat ihr Übriges. Als er nach einer knappen Stunde heimlich zurückkehrte, fühlte er sich besser. Trotzdem musste er sich sein Frühstück regelrecht hineinzwingen. »Die Schule endet heut recht früh, oder?« Er versuchte seinen trockenen Hals mit Kakao zu bekämpfen, als er Yakovs fragenden Blick erwiderte. Eigentlich konnte man den der 25. Mai nicht wirklich „Schultag“ nennen. Sie bekamen ihre Zeugnisse und waren damit entlassen. »Mhm.« »Willst du danach direkt in die Eishalle?« »Mhm.« Nur Schweigen konnte noch weniger aussagen, aber Yuri hoffte darauf, dass Yakov und Lilia Verständnis für seine Situation aufbrachten. Tatsächlich sagten sie nichts weiter dazu. Das Angebot ihn zur Schule zu fahren, schlug Yuri dankend aus. Lieber fuhr er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, als im Auto wie auf heißen Kohlen zu sitzen. Während er zum zweiten Mal des Tages seine Schuhe anzog, vibrierte sein Smartphone in seiner Jackentasche. Gleich zwei Personen schrieben ihm, fast im selben Moment.   Victor Nikiforov 25.05 7:32 »Hey Yurioooo Yuuri und ich drücken dir die Daumen für dein Abschlusszeugnis! Wir sehen uns nachher in der Eishalle! ¸.•´ ¸.•*´¨) ☆.(¯`•.•´¯)«   Yuri verdrehte die Augen, unterdrückte aber erfolglos ein Grinsen.   Otabek Altin – 25.05 7:34 »Viel Erfolg heute. Aber den hattest du wahrscheinlich schon.«   »Hoffen wir’s ...« Zu nervös, um beiden zu antworten, ließ er das Smartphone zurück in die Tasche gleiten, zog dann die Haustür auf und brüllte noch ein »Bis später!« in den Flur, in Richtung des Esszimmers. Leider ging die Fahrt zur Schule deutlich zu schnell vorbei. Das Gebäude schien ihn bedrohlich zu mustern, doch Yuri ließ sich nicht weiter einschüchtern und schritt mit erhobenem Haupt in sein Klassenzimmer. Das wilde Gequassel seiner Mitschüler ging ihm auf die Nerven, schuf aber wenigstens Ablenkung. Vor wenigen Stunden hatte er die Stille noch begrüßt, jetzt fürchtete er sich davor. Trotzdem konnte er ihr Einkehren nicht abwenden, als seine Klassenlehrerin das Zimmer betrat. Schlagartig verstummten die Gespräche, gespannte Blicke fixierten den Umschlag in ihren Händen. Da waren sie also. Die Prüfungsergebnisse. Selbstverständlich ging seine Lehrerin nach dem Alphabet. Warum nur musste sein Name mit einem P beginnen? Die Zeit schien beinahe rückwärts zu laufen und ihn von innen aufzufressen. Er konnte nicht sagen, ob ein paar Minuten oder eine Stunde vergangen war und stand mittlerweile so sehr unter Adrenalin, dass er den Aufruf seines Namens nicht mitbekam. »… lisetsky? Möchten sie ihr Zeugnis nicht haben?« Gelächter ließ ihn aufschrecken, doch ein giftiger Blick reichte, um es größtenteils verstummen zu lassen. Mit Knien, die sein Gewicht kaum tragen konnten, ging er nach vorn. Tief durchatmend setzte er sich auf den freien Platz gegenüber vom Lehrerpult. Sie lächelte ihn an, er erwiderte es dünn – zumindest versuchte er es. Gott sei Dank war Lilia gerade nicht anwesend, sodass er ungestört an seinen Fingernägeln knibbeln konnte. »Sie haben ganze Arbeit geleistet.« War das gut oder schlecht? Er wagte kaum einen Blick auf das Dokument, das sie ihm entgegenstreckte. »So schüchtern kennt man Sie sonst gar nicht.« Und schon war es vorbei mit der Selbstbeherrschung. Schnaubend riss er es ihr aus der Hand und während sein Blick über die Ergebnisse flog, weiteten sich seine Augen. Fünfer und Vierer blinkten ihm entgegen, sogar in Physik hatte er es auf eine Vier geschafft. Schockiert und erleichtert gleichermaßen umklammerte er mit schwitzigen Fingern das Dokument. Das war eines seiner besten Zeugnisse … und das obwohl er eigentlich permanent am Smartphone gehangen und nicht immer aufgepasst hatte. »Wow, das … krass!« »Da Sie selbst überrascht sind, wissen Sie höchstwahrscheinlich auch, in welchen Punkten sich ihr Verhalten ändern muss. Wenn sie sich in Zukunft weniger ablenken lassen, könnten Sie einer der Besten aus dem Jahrgang werden.« Verlegen strich er sich eine wilde Strähne hinters Ohr, zwirbelte sie zwischen seinen Fingerkuppen. »Hmpf. Ja, mal sehen.« Er wollte nur in einer Sache der Beste sein: Und zwar im Eiskunstlauf. Trotzdem war er Lilia, Victor und Otabek dankbar, denn nur durch deren Unterstützung war er so weit gekommen. Jetzt war sein Lächeln ehrlich, als er sich erhob und auf seinen Platz zurückkehrte. Die letzten schleppenden Minuten nutzte er, um Otabek zu antworten.   Yuri Plisetsky – 25.05 9:13 »ICH HAB BESTANDEN MIT NER FUCKING VIER IN PHYSIIIIIIK :D :D :D :D :D :D :D Danke nochmal!«   Erwartungsvoll blickte er auf sein Smartphone. Otabek war laut Chat online, aber es kam keine Antwort. Sein Blick blieb starr auf den Bildschirm geheftet, bis das Läuten der Schulglocke ihn aufschrecken ließ. Um ihn herum brach Hektik aus, sämtliche Mitschüler schwangen sich ihre Rucksäcke über die Schultern und strömten wie ein Insektenschwarm aus dem Zimmer. Er nickte seiner Klassenlehrerin zum Abschied zu und verließ ebenfalls das Gebäude. Während alle anderen wie wild geworden in die Sommerferien rannten, waren seine Schritte langsam. Freudenschreie, Gelächter und Fußgetrappel um ihn herum. Einige rempelten ihn versehentlich an. Die meisten stiegen in die wartenden Autos ihrer Eltern, Yuri sah manchen von ihnen nach und machte sich dann auf den Weg zur Straßenbahn, die ihn zur Eishalle trug. Er lehnte seinen Kopf an die kalte Fensterscheibe und versuchte den Neid auf die anderen, der ihn im Nacken saß, zu verdrängen. Auch wenn er sich auf das Training freute, sehnte er sich insgeheim nach sonnigen Urlaubstagen ohne Schlittschuhe an den Füßen. Natürlich gäbe es jetzt während der Ferien die Möglichkeit dazu, doch irgendetwas hielt ihn ab. Vielleicht das schlechte Gewissen, weil er das Eislaufen vernachlässigen würde? Außerdem hatte er eh nichts gebucht und jetzt war es wahrscheinlich schon zu spät. Die letzten Monate hatten aus acht Stunden Schule, acht Stunden Training und eventuell acht Stunden Schlaf bestanden. Dazwischen war nicht viel Zeit gewesen, um über unwichtige Sachen, wie Urlaub, nachzudenken. Jetzt bereute er es ein wenig. Und Otabek antwortete ihm auch nicht. Obwohl mit dem Beginn der Sommerferien eine große Last von ihm fallen sollte, fühlte er sich nicht befreit. Im Gegenteil, die Wände der Eishalle schienen näher, als jemals zuvor. Trotzdem stieg er in seinen Trainingsanzug, zog sich die Schlittschuhe fest. Bevor er aufs Eis ging, wählte er die Nummer von seinem Zuhause. Es klingelte und klingelte, aber niemand nahm ab. Das war ungewöhnlich. Schließlich sprang der Anrufbeantworter an. Ein paar Sekunden vergingen, in denen Yuri ratlos schwieg. Schließlich beschloss er, ihnen eine Nachricht zu hinterlassen. Wahrscheinlich waren sie nur einkaufen oder machten andere Sachen, die Erwachsene so taten. »Hey. Also … ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich alle Prüfungen bestanden hab. Noten sind gut. Ich bin in der Eishalle und trainiere. Komme irgendwann abends nach Hause, also … bis später.« Seltsamerweise war die Eishalle wie ausgestorben. Nur wenige Junioren trainierten. Nirgendwo konnte er Victor oder sein Katsudon ausmachen. Stank er, oder warum waren die alle auf der Flucht? Grummelnd wärmte er sich auf, dehnte sich, lockerte die Muskeln, bevor er aufs Eis stieg und die ersten Bahnen zog. Die nächsten Stunden vergingen, ohne dass sich jemand bei Yuri meldete. Yakov und Lilia riefen nicht an, Victor und sein Schweinchen tauchten nicht auf … Otabek schrieb nicht zurück. Mit jeder Stunde, die unspektakulär verstrich, wucherte Unkraut gleich, mehr und mehr der Frust in ihm. »Fuck!« Sich das Knie reibend blieb er einen Moment auf der Eisfläche liegen. Wann hatte er diesen Sprung zuletzt versemmelt? Er wusste es nicht, aber es musste Monate her sein. Und er brauchte verdammt lang, um wieder aufzustehen. Schnaufend glitt er zur Bande, angelte sich seine Wasserflasche hervor. »Nichts gebrochen?« Die Flasche fiel zu Boden und der Inhalt verteilte sich über das Eis. Fluchend drehte Yuri sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Victor saß auf einem der Plätze, das Gesicht auf beiden Händen abgestützt, ein unbekümmertes, besonnenes Lächeln auf den Lippen. »Verdammt! Man ey, das war mein letztes Trinken, du Arsch!« Er bückte sich nach der Flasche. »Warste beim Zahnarzt, oder warum grinst du so dämlich?« Victor hob zur Entschuldigung nur beide Hände, bevor er sich aufrichtete und die wenigen Stufen zu Yuri herunternahm. »Yurio. Ich freue mich auch dich zu sehen!« Wütend löste Yuri seinen Pferdeschwanz auf. »Was willst du hier und seit wann sitzt du schon da?« »Och, nur knappe zwanzig Minuten. Ich wollte dich abholen. Ach ja, Glückwunsch zu den bestandenen Prüfungen!« »Häh, woher weißt du das?« Victor zwinkerte ihm zu. »Yakov hat’s mir erzählt.« Wütend verschränkte er die Arme. »Hmpf. Dir davon erzählen können sie, aber mich mal zurückrufen ist wahrscheinlich zu viel verlangt.« Er konnte mittlerweile kaum noch verstecken, dass er sich eigentlich auf das Lob der anderen gefreut hatte und enttäuscht war, dass es niemandem wirklich zu interessieren schien. »Sei nicht knarzig, sie hatten etwas zu erledigen. Kommst du?« »Häh? Mein Training ist noch nicht zu Ende! Ich bleibe noch!« Zum ersten Mal erlebte er, wie Victor das Gesicht verzog. »Ich habe dir zugesehen. Nicht falsch verstehen, aber du hattest schon bessere Tage. Deine Pirouetten sind unkontrolliert, deine Sprünge unsauber. Du musstest dich das letzte Mal vor Jahren mit den Händen bei der Landung abstützen.« Yuri ballte die Hände zur Faust. »Na und! Dann hab‘ ich halt ‘nen schlechten Tag, kann dir doch egal sein!« Deutlich unbeeindruckt winkte Victor ab. »Weißt du, ich hatte diese Tage auch. Meistens nach Wettkämpfen und Weltmeisterschaften. Wochen- nein, monatelang läuft man auf Hochtouren und wenn alles vorüber ist, sollte man sich eigentlich richtig gut fühlen und nur so vor Motivation strotzen. Stattdessen vergeigt man einen Sprung nach dem anderen … Aber ich glaube das ist normal. Irgendwann braucht jeder eine Auszeit.« Resignierend ließ Yuri sich auf einen Platz fallen, behielt die Schlittschuhe allerdings an. »Aha. Danke für diese tolle Geschichte. Kommt da noch was?« Victors Lächeln kehrte schnell zurück. »Yuuri und ich fliegen nach Hasetsu, um ein wenig auszuspannen.« Hasetsu … Auch wenn er dort seinen ersten Sieg gegen das Schweinchen eingebüßt hatte, verband er tolle Erinnerungen mit diesem Ort. Der Gedanke an die idyllische Kleinstadt mit dem Tempel, dem Wasserfall und den Onsen, die zum Familienbetrieb der Katsukis gehörten, ließ Nostalgie in ihm aufsteigen. Schade, dass er nie dorthin zurückgekehrt war, anders als Victor und Yuuri. Und da war es wieder – dieses Gefühl von vorhin. Es grub sich mit tiefen Zähnen in seine Brust. Neid. »Wow, schön für euch. Und warum erzählst du das jetzt?« Nur Victor verstand es, bei seinen harschen Worten nicht beleidigt oder verunsichert zu sein. »Na, weil du mitkommst.« »Häääääh?« Victor richtete sich auf. »Ich hab doch gesagt ich bin hier, um dich abzuholen. Also zieh dich um, dann machen wir los.« Unglaube fesselte Yuri an die Bank. Seit wann stand das fest? Warum wusste er von nichts? Hatten sie das etwa heimlich geplant? Er war so überrumpelt davon, dass ihm jede schnippische Erwiderung im Halse stecken blieb. »Jetzt guck doch nicht so! Beeil dich lieber!« Eine schlanke Hand streckte sich ihm entgegen. Der goldene Verlobungsring glitzerte in der Sonne. Yuri war noch immer nicht in der Lage rational zu denken – was wohl auch erklärte, dass er sie tatsächlich ergriff und sich auf die Füße ziehen ließ. »Aber … wann geht’s denn los?« Ein Blick auf die Uhr, bevor Victors Augenbrauen nach oben wanderten. »Lass mich überlegen. Ah, etwa in zwei Stunden.« »Wie jetzt, in zwei Stunden, habt ihr ‘ne Scheibe?« Ruckartig zerrte Yuri sich die Schlittschuhe von den Füßen. »In zwei Stunden krieg ich gar nichts gerissen, weder zu duschen, noch meinen Koffer zu packen! Wessen bescheuerte Idee war das? Ihr habt sie doch nicht mehr alle!« »Freut mich, dass du dich freust. Dein Koffer ist bereits gepackt.« Victor griff nach Yuris Tasche und warf sie sich über die Schulter. »Na los, außer du willst hierbleiben.« Seine Worte zeigten ihre Wirkung. Yuri gab sich Mühe auf Socken mit ihm Schritt zu halten, auch wenn er das alles noch nicht so ganz realisierte. »Also, wer hatte die Idee?« Victor entriegelte bereits seinen Wagen, öffnete die Tür und stieg ein. »Yuuri. Er hat gesehen wie du dich in den letzten Wochen reingehangen hast, und da wir eh nach Hasetsu wollten, hat sich das angeboten. Freust du dich gar nicht?« Auch Yuri ließ sich in die weiche Polsterung sinken. Genussvoll streckte er die Beine aus. »… Hey, doch. Klar! Ich bin nur überrascht.« »Das war der Sinn dahinter.« Mit diesen Worten drückte Victor das Gaspedal durch und schlängelte sich durch den Ferienverkehr von Sankt Petersburg. Bei seiner sonst so besonnenen Art vergaß Yuri immer wieder, wie wild und zügellos er hinter dem Steuer war. »Aber, was hättet ihr getan, wenn ich abgelehnt hätte?« Victors Lachen hallte durchs Auto. »Wir hätten dein Ticket storniert und dir die Gebühren aufgebrummt.« »Hmpf.« Yuri glaubte keine Sekunde, dass er scherzte. Gerade als er antworten sollte, begann sein Smartphone zu vibrieren. Das konnten nur Yakov und Lilia sein! Ohne auf das Display zu sehen zog er es hervor und nahm den Anruf an. »Das habt ihr euch ja wirklich toll ausgedacht!« Kurzes, verdutztes Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Nun … ich bin mir keiner Schuld bewusst.« Nur diese Stimme schaffte es, dass Yuri schlagartig so rot anlief, als hätte man seinen Kopf in einen Eimer Farbe getunkt. »Äh … Otabek?« »Am Apparat.« »Wow, äh, mit dir hab‘ ich gerade nicht gerechnet.« Aus dem Augenwinkel sah er, wie Victor anzüglich mit seinen Augenbrauen wackelte. Yuris stumme, aber durch Herumfuchteln beider Arme Ausdruck verleihende Drohung prallte offensichtlich an ihm ab. »Was gibt’s denn?« »Ich wollte dir gratulieren. Und was hat die Person verbrochen, mit dessen Anruf du eigentlich gerechnet hast?« »Danke! Ja, naja. Ich werde gerade spontan nach Hasetsu entführt. Für, äh …« Sein Blick ging zu Victor, dessen Augenbrauen noch immer verräterisch zuckten. »Wie lange eigentlich, alter Mann?« »Zwei Wochen.« Yuri sprach wieder in den Hörer. »Hast du gehört? Für zwei Wochen. Die labern hier alle rum, dass ich angeblich mal Urlaub brauche … Aber ich freu mich schon drauf.« »Das klingt … toll.« Klang es das wirklich? Otabeks Antwort ließ eher auf das Gegenteil schließen. Yuri konnte nicht verhindern, dass ihm das Herz in die Hose rutschte. »Aber damit erübrigt sich der zweite Grund meines Anrufes schon wieder.« Yuris Schulter sackten nach unten. »… Oh. Tut mir leid. Was ist denn los?« »Ich bin nächste Woche spontan für zwei Tage in Russland und hatte gehofft, dass wir uns sehen können.« Ihr Gespräch glich einem Staffellauf. Erst schwieg Otabek, bevor er die Stille an Yuri weiterreichte. » … Oh. Wow …« Augenblicklich war die Freude über den spontanen Ausflug wie weggewischt und Victors fragender Blick machte es nicht besser. »Man, das stinkt mir jetzt aber gewaltig.« Ein tiefes Durchatmen. Er klang nicht sauer. »Ist ja nicht deine Schuld. Vielleicht ein anderes Mal.« »Auf jeden Fall!« Ruckartig bog Victor in Lilias Einfahrt ein. Die Tür stand sperrangelweit offen und die Hektik spürte er schon, obwohl sie noch im Auto saßen. »Mist, ich muss jetzt auflegen. Sorry, dass ich dich jetzt so abwimmle.« »Keine Sorge. Ich wünsch dir einen guten Flug. Pass auf dich auf.« »Klar doch! Ich schreib dir, sobald ich angekommen bin.« »Gut. Bis dann.« Und schon ertönte nur noch das Freizeichen in seinem Ohr. Verwirrt steckte Yuri sein Smartphone ein, bevor er Victor folgte und aus dem Wagen stieg. Wie bereits angekündigt stand sein Koffer bereits gepackt im Flur. Die Gratulationen zum Prüfungserfolg nahm er nur am Rande wahr. Wenn sie den Flieger nicht verpassen wollten, mussten sie sich ranhalten, also sprang er direkt unter die Dusche, um den Schweiß seines Trainings abzuspülen. Trotz der Vorfreude lag seit dem Telefonat mit Otabek ein Schatten über dem bevorstehenden Ausflug. Zu gern hätte er ihn wiedergesehen und diese verpasste Chance tat ihm beinahe körperlich weh.   Das Schicksal meinte es gut mit ihnen, denn sie erreichten den Flughafen pünktlich. Victor und sein Katsudon verabschiedeten sich überschwänglich von Yakov und Lilia und auch Yuri ließ sich zu einer Umarmung der beiden hinreißen, die sonst in ihren gemeinsamen Alltag eher knapp ausfielen. Jedoch fand er keine Ruhe, denn sobald sie im Flieger saßen und Yuri aus dem Fenster sah, während das Album NOX in seinen Ohren dröhnte, drängte sich eine Frage an die Oberfläche, an die er bis gerade eben keinen einzigen Gedanken verschwendet hatte: Was zur Hölle hatte Otabek in Russland zu suchen? Teil zwölf: »Wellen« -------------------- Unsichtbar schwebte er im luftlosen Raum. Unter ihm lauerten düstere Abgründe, doch er fühlte sich seltsam sicher, als hätte sich eine schützende Hand über ihn gelegt. Zarte Finger passierten sein Gesicht, strichen über Augenbrauen und Nasenrücken und zeichneten heiße Pfade auf seine Haut. Sie knisterten und luden sich auf, jagten Stromstöße in seine Muskeln. Eine körperlose Macht paralysierte ihn, zwang ihn es auszuhalten. Es war Belohnung und Strafe zugleich. »Yuri.« Trüb und verschwommen formten sich Licht und Schatten. Sie lagen nebeneinander und blickten in den Himmel. Der Mond schien näher, als jemals zuvor und tausende Sterne glitzerten in der Nacht. Wasser rauschte um sie herum. »Du hast echt gute Musik auf deinem Smartphone.« NOX spülte tiefe Riffs durch seinen Körper, die schäumend gegen das Innere seiner Brust brandeten. Er wollte den Kopf drehen und ihn ansehen, doch sein Körper war wie versteinert. Wenn er nur die Hand ausstreckte, wie weich würde seine Haut sein? »Was machst du hier?« Tief unter ihnen rauschte ein merkwürdiges Beben durch den Park heran. Nur die Musik antwortete. Irgendwann drang ein leises Lachen an sein Ohr. »Es wird Zeit, damit aufzuhören.« Die Wellen zogen sich zurück und hinterließen ein dumpfes Gefühl. Plötzlich fror er. »Womit?« Er entfernte sich. Nur noch leise konnte er ihn hören, ein Wispern, nah an seinem Gesicht. »Dich selbst zu belügen.« Geräuschlos brachen die Sterne über ihnen auf und offenbarten pechschwarze Leere hinter sich, haarfeine Risse zogen sich durch den riesigen Mond. »Aber ...« Seine eigene Stimme ächzte wie abgestorbenes Geäst. » … ich bin schwach.« Ein weiteres Beben erschütterte den See. Wasser trat über das Ufer. »Wach endlich auf, Yuri.« Die Brandung griff nach ihm und schloss ihn in ihre kalten Arme. Verzweifelt versuchte er sich an ihm festzuhalten, doch seine Hände griffen ins Leere. »Beka!« »Yuri!« »Yuri.«   »Yuri!« Dunkelheit schlug über seinem Kopf zusammen. Er riss die Augen auf, fuhr blind nach oben. Seine Kopfhörer rutschten ihm von den Ohren. »Hey, Yuri! Alles in Ordnung?« »Häh?« Mehrmaliges Blinzeln formte ein Gesicht zu der Stimme neben ihm. Das Schweinchen taxierte ihn besorgt. Ohne zu Antworten sah er sich um. Reges Treiben herrschte. Stimmengewirr und Gepolter. Kein Park, kein See, kein Otabek. Nur das Innere des Flugzeuges. Sonne blendete ihn durch das Fenster und glitt mit heißen Fingern über sein Gesicht. »Wir sind da. Du warst fast den ganzen Flug über nicht ansprechbar.« Erholt fühlte er sich deswegen nicht, im Gegenteil. Sein Nacken fühlte sich an, als hätte er auf einem Nadelkissen geschlafen. Offenbar hatte er im Traum mit den Zähnen geknirscht, denn sein Kiefer spannte unangenehm. Und trotz der Hitze, die hier herrschte, war ihm kalt. Neben dem Katsudon streckte sich Victor genüsslich, bevor er sich zu ihnen beugte. »Da waren die letzten Wochen doch ziemlich anstrengend, was? Wir haben dich nicht mal wachbekommen, als die Stewardess mit dem Essen kam.« »Hmpf.« Yuris Magen unterstrich Victors Worte mit einem gewaltigen Rumoren. Noch immer etwas desorientiert schaltete er das Album von Otabek aus, das seit Stunden in Dauerschleife abgespielt wurde. Sein Smartphone war so heiß, dass es ihn als Wärmflasche hätte dienen können. Nur noch zwei Prozent Akku. Super. »Mutter macht dir bestimmt gerne ein Katsudon, sobald wir ankommen.« Tatsächlich munterte ihn das ein wenig auf. Zusammen mit den anderen beiden verließ er das Flugzeug. Die Bewegung tat ihm gut. Nur noch eine Stunde Zugfahrt, dann waren sie am Ziel. Das Wetter begrüßte sie mit guten fünfzehn Grad Temperaturunterschied zu Russland. Stöhnend zog Yuri seine Jacke aus und stopfte sie samt Smartphone in den Rucksack. Im klimatisierten Zug atmeten sie auf. Makkachin, Victors loyaler Begleiter, streckte alle Viere auf dem kalten Boden aus und hechelte mit herausgestreckter Zunge. Der Flug schien ihn mitgenommen zu haben – kein Wunder, er hatte ihn, zum größten Unmut von Victor, im Laderaum verbringen müssen. Yuri sah die meiste Zeit aus dem Fenster und schenkte der Unterhaltung seiner Begleiter keine Beachtung. Er dachte über den Traum nach - oder zumindest über die wenigen Fetzen, die noch davon übrig waren. Doch auch die verblassten jetzt, wurden leblos und grau, bis er sich an nichts mehr erinnern konnte, außer an Otabeks Stimme.   Der Zug hielt und riss Yuri aus seiner Trance, die ihn beinahe wieder hatte einschlafen lassen. Am Bahnhof wartete Yuuris Vater, der sie freudig mit einer kräftigen Umarmung begrüßte. Unter der heißen Sonne dem Zerfließen nahe, wuchteten sie ihre Koffer in das geräumige Auto und ließen sich im klimatisierten Fahrbereich nieder. Während eine angeregte Unterhaltung und der Austausch der überschaubaren Neuigkeiten in Hasetsu entbrannte, widmete sich Yuri seiner neuesten Lieblingsbeschäftigung: Die Landschaft zu beobachten, die der von Sankt Petersburg so unähnlich war. Wo in Russland Häuser hundertmeterhoch in den Himmel ragten, gab es hier nebelspitzige Berge und klaren Himmel ohne Rauchschwaden. Fahrradfahrer anstatt Schnellzüge, verzierte Brücken über kleinen Flüssen ersetzten Strommasten und Fabriken. Schlendernde Leute mit Eiscremetüten in der einen und kleinen Kindern an der anderen Hand. Ein beschaulicher, idyllischer Ort, der scheinbar weder Hektik noch Sorgen kannte. Hasetsu war wunderschön. Hatte Yuri das nie bemerkt, oder einfach nur vergessen? Noch immer hing sein Blick am Panorama hinter dem Fenster und wären sie nicht so plötzlich angehalten, hätte Yuri wohl den ganzen Tag im Auto verbracht. Er stieg als letztes aus, atmete mit tiefen Zügen die warme Luft ein. Vor dem Zuhause der Katsukis begrüßte sie eine geballte Ansammlung von Menschen. Viele unter ihnen waren Reporter und schon von Weitem hörten sie das Klicken und Surren der Kameras. Yuuris Vater warf ihnen einen entschuldigenden Blick zu. »Deiner Mutter ist herausgerutscht, dass ihr uns besuchen kommt. Hier macht das schnell die Runde, wir werden schon seit Tagen belagert, na ja …« »Nicht der Rede wert!« Victor schien darüber regelrecht erfreut zu sein und schritt, das Katsudon und seinen Pudel hinter sich herziehend, auf die Meute zu. Gelassen, als hätte er nur einen Spaziergang und keinen mehrstündigen Flug hinter sich, hob er eine schlanke Hand und winkte. Sofort stürmten sie auf sie zu, hielten Mikrofone in ihre Richtung, schwenkten Kameras vor ihren Gesichtern und wollten sich gegenseitig mit ihren Fragen übertrumpfen.  Allerdings teilte sich die Menge nur Augenblicke später, um sie durchzulassen, nachdem Victor ein paar Worte gesagt hatte. Die Presse in Hasetsu schien bei Weitem nicht so aufdringlich, wie in Russland oder anderen größeren Ländern und zog ziemlich schnell wieder von dannen. Yuri stampfte ihnen hinterher, froh darüber, dass man ihn halbwegs in Ruhe ließ. Trotzdem war er gezwungen, ein paar anwesenden Mitgliedern seines Fanclubs zuzuwinken – sehr bemüht, sie nicht mit seinem Blick zu erdolchen. Herr Katsuki bildete die Nachhut und schloss die Tür hinter ihnen. Die einkehrende Ruhe dauerte nur wenige Sekunden, bis ein Schrei sie durchdrang. Im nächsten Moment polterte es, denn irgendjemand hatte das Katsudon mit einer heftigen Umarmung zu Boden gerissen. »Yuuri! Yuuri!« »Isser’s wirklich?« »Ja, er isses!« »Mach ein Foto!« »Das muss auf Twitter!« »Und Facebook!« Ungeniert patschten kleine Hände auf seinem noch immer hochroten Gesicht herum. »Runter von mir, ihr seid schwer!« Unter Lachen schob er die Drillinge seiner Kindheitsfreundin Yuuko von sich, helfende Hände zogen sie nach oben und plötzlich fanden sich alle drei in Begrüßungsgeschrei und Händeschütteln wieder. Konfettikanonen platzten und bunte Schnipsel flogen durch den Raum, als wären sie zehn Jahre fort gewesen. Alle Personen, die dem Schweinchen nahestanden, waren im Restaurant versammelt. Es herrschte Chaos, denn jeder wollte jeden an sich drücken. All die liebevolle Aufmerksamkeit, auch ihm gegenüber, obwohl sie ihn kaum kannten, ließ Yuris Magen zusammenschrumpfen. Bemüht lächelnd brachte er die Zeremonie hinter sich und nach gefühlt hundert Umarmungen ertönte ein lauter Knall. Minako, des Schweinchens ehemalige Ballettlehrerin, hatte eine riesige Champagnerflasche entkorkt und schon jetzt glühten ihre Wangen in freudiger Erwartung. »Nicht so hastig, Minako-san! Lass die drei doch erst einmal ankommen!« »Nichts da! Ein Glas zur Begrüßung ist Pflicht!« Unwirsch und trotzdem elegant drehte sie sich so, dass Frau Katsuki nicht an die Flasche herankam, erntete dafür allgemeines Gelächter und Resignation Seitens Yuuris Mutter. »Also gut.« Schnell waren die Gläser gefüllt und johlend wurden die drei Urlauber mit Champagner willkommen geheißen – für Axel, Lutz und Loop diente Ramune mit Erdbeergeschmack der Zelebrierung. Victor und sein Katsudon leerten ihre Gläser in einem Zug, während Yuri – diesmal deutlich schlauer, als vor wenigen Monaten – lediglich daran nippte. »So, jetzt aber ab mit euch ins heiße Wasser!« Yuuris Mutter drückte sie liebevoll in Richtung des Badehauses. »Entspannt euch ein wenig, wir kümmern uns um alles andere.« »Danke, Mutter.« Zehn Minuten später fanden sich die drei in angenehmer Hitze wieder. Auch wenn die Temperaturen draußen unerträglich waren, entspannten sie zusehends unter dem Plätschern des Brunnens. Die heißen Quellen schienen die Verspannungen regelrecht aus ihren Gliedern zu saugen. Keiner von ihnen sagte ein Wort, der Dampf trug ihre Gedanken in verschiedene Richtungen und Yuri fühlte sich schläfrig, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Doch unter der Müdigkeit kämpfte sich noch ein anderes Gefühl nach vorn: Aufregung. Er war noch nie im Urlaub gewesen – zumindest in den letzten zehn Jahren nicht mehr – und eine kindliche Freude packte ihn bei dem Gedanken, einfach mal nichts zu tun und zu entspannen. »Ich glaub das reicht, sonst verschrumpeln wir noch. Kommst du auch, Yurio?« Er hob den Kopf, fuhr sich durchs nasse Haar und nickte. Irgendjemand hatte für sie weiche Handtücher und gemütliche Yukatas bereitgelegt. Yuri schlüpfte hinein und fühlte sich wie im siebten Himmel. Auch Victor und das Schweinchen hatten sich offensichtlich von dem langen Flug erholt. Ein gesundes Rosa zog sich über ihre Wangen und ließ ihre Augen trotz des Jetlags strahlen. Ohne in einen Spiegel sehen zu müssen ahnte Yuri, dass er vermutlich ähnlich aussah. Vom Restaurant wehte ein köstlicher Geruch in ihre Nase, Fußgetrappel und fröhliche Musik begrüßten sie. »Hmpf. Die veranstalten ja ein richtiges Festessen für uns. Hast du davon gewusst?« Yuri war die Sache nicht geheuer. So viele Leute auf einem Haufen – wo doch jeder wusste, dass er nicht sonderlich geübt in gepflegter Konversation war. Yuuri hob beschwichtigend die Hände. »Nein, nein! Mutter hat gesagt sie bereitet eine Kleinigkeit vor, aber, äh … Naja. Ich hätte es wissen müssen.« Victor legte ihn einen Arm um die Schultern. »Du hast eine großartige Familie. Wir sollten uns später dafür bedanken.« Yuri hingegen schenkte er ein spitzbübisches Augenzwinkern. »Sei einfach du selbst, dann brauchst du auch nicht nervös zu sein.« Hitze schoss ihm ins Gesicht. »Schnauze!« Fahrig zupfte er sich den Yukata zurecht, um etwas mit seinen Händen zu machen. »Der Spruch war schon beim letzten Mal für die Tonne!« Sein Lachen bescherte ihm eine unangenehme Gänsehaut. »Er hat funktioniert. Und das ist die Hauptsache, oder?« »Ach, verschone mich mit deinem Gewäsch!« Er sprach extra laut, um das protestierende Rumoren seines Magens zu übertönen. »Gehen wir jetzt, oder wie? Ich hab‘ keinen Bock, elendig an Unterernährung zu verrecken!« Dem gab es nichts entgegenzusetzen. Das Restaurant erwartete sie mit zusammengeschobenen Tischen, einer ganzen Wagenladung an himmlisch duftenden Gerichten und literweise Getränken, von denen Yuri vorerst lieber die Finger ließ. Das Holz ächzte und bog sich unter der Last. Yuuri und Victor bekamen einen Sitzplatz zwischen den Herren des Hauses und wurden direkt in peinliche Gespräche über etwaige Zukunftsplanungen verwickelt. Yuri wollte bereits in Panik verfallen, dass die einzigen Leute, die er kannte, ihn einfach im Stich ließen. Doch dann sah er eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Yuuko winkte ihm zu und klopfte anschließend mit der rechten Hand auf einen freien Platz neben sich. Erleichtert atmete er auf. Zu ihr hatte er, seiner abweisenden Art zum Trotz, damals einen guten Draht herstellen können, der offensichtlich auch jetzt noch bestand. Er freute sich, sie wieder zu sehen und nichts ließ ihn spüren, dass ihr letzter Kontakt schon über ein Jahr zurücklag. Sie verstand es auf wundersame Art und Weise, ihre Gespräche am Laufen zu halten, ohne dass es peinlich oder unangenehm still wurde. Und als Yuri mit vollem Magen sein erstes Bier leerte, fiel auch das letzte bisschen Anspannung von ihm ab. Irgendwann fand er sich in leidenschaftlichen Gesprächen über das Eislaufen, über die Schule und sogar über Musik verwickelt. Selbstbewusst empfahl er jeden, der danach fragte, oder zumindest in nächster Nähe saß, das Album NOX – mit den Worten, dass jeder, der das nicht mögen würde, einen absolut lauchigen Musikgeschmack hätte. Sogar seinen passablen Schulabschluss erklärte er damit, dass während der Lernphasen permanent diese LP im Hintergrund gelaufen war. »Wir haben es kapiert, Yurio!« Victors Gesicht leuchtete wie eine Ampel, der Champagner in seinem Glas schwankte bedrohlich. »Du liebst dieses Album!« Nachdrücklich knallte er die dritte geleerte Katsudon-Schüssel auf den Tisch, um seine Worte zu unterstreichen. »Ja! Ich … ich liebe es wirklich.« Victor und sein Anhängsel strahlten ihn an und zum ersten Mal war ihm das nicht unangenehm. Irgendwann waren die Gläser leer, die Speisen verzehrt, die Musik leiser gedreht. Viele hatten sich bereits verabschiedet. Nur noch Yuuko und Takeshi samt schlafender Drillinge waren übriggeblieben. Makkachin lag zu Victors Füßen und ließ sich, froh, dass der Trubel langsam abklang, die Ohren kraulen. Sie sprachen über ihre Urlaubsplanungen. Yuri versuchte krampfhaft Ausreden zu finden, um nicht mit in den Tempel gehen zu müssen. Allein der bloße Gedanke daran ließ seine Schultern vor Schmerz aufheulen. Die Schläge mit dem Kyosaku waren unvergessen und auch wenn Yuri damals selbst darum gebeten hatte, war der Tempelleiter nicht gerade zimperlich gewesen. Auf eine weitere Behandlung konnte er getrost verzichten. »Da putz ich lieber die Eishalle mit meiner Zahnbürste, als dort nochmal einen Fuß reinzusetzen. Vergiss es, alter Mann!« »Wir könnten tatsächlich jemanden brauchen, der die Eishalle putzt.« Yuukos Finger strich überlegend über ihr Kinn. »So wörtlich war das auch nicht gemeint!« Yuris Rückzieher ging in schallendem Gelächter und Makkachins freudigem Gebell unter. »Ach, was gebe ich mich überhaupt mit euch ab! Ihr seid meiner unwürdig!« Leider nahm das Lallen seiner Stimme die benötigte Härte, deswegen stand er auf, um seine Ernsthaftigkeit zu demonstrieren. »Ich werde weder mit euch in diesen ollen Tempel gehen, noch die Eishalle putzen!« »Geh lieber ins Bett, Yurio! Sonst endet dieser Abend wieder mit Kopfschmerzen!« Yuri war für eine Erwiderung zu müde und zeigte Victor nur seinen stolzesten Mittelfinger, bevor er sich kurz angebunden verabschiedete. Sein zur Verfügung gestellter Raum, damals nur eine Abstellkammer, war minimalistisch für ihn eingerichtet worden. Ein weicher Futon lag für ihn bereit. Dort, wo sich bei seinem ersten Aufenthalt noch Kisten stapelten, stand nun ein Kleiderschrank. Es roch nach Lavendel und Jasmin. Der Duft ließ seine Augen schwer werden. Wie sein Koffer seinen Weg in das Zimmer gefunden hatte, konnte er nicht sagen. Irgendjemand musste ihn heraufgetragen haben. Dankbar entkleidete er sich, setzte sich auf den Futon. Doch bevor er einschlief, wollte er noch seine freundschaftliche Pflicht erfüllen. Zu müde, um zu tippen, entschied er sich für eine Sprachnachricht an Otabek. »Hey. Ich … ich hab ein bisschen was getrunken, also, falls ich lalle, äh, … mhm, ignorier das einfach. Wir sind gut angekommen. Die Katsukis sind völlig verrückt und haben ‘ne Überraschungsparty für uns geschmissen, deswegen melde ich mich erst jetzt. Ich hab mein eigenes Zimmer …« Er bemerkte, dass er belangloses Zeug quasselte, also zog er sein Tempo an. »Ich … es ist schön hier, aber ich … ich find‘s scheiße, dass wir uns verpassen. Aber …« Ein tiefes Gähnen unterbrach ihn für einen Moment. »Ich wünsch dir trotzdem viel Spaß in Russland …« Unschlüssig, ob er noch etwas sagen sollte, verharrte sein Finger auf dem Mikrofon. Doch dann ließ er los und schickte die Sprachnotiz ab, sah zu wie irgendwo in Kasachstan zwei blaue Haken aufflammten und ihn zeigten, dass Otabek noch wach war und die Nachricht soeben abhörte. Die eigentliche Frage brannte unausgesprochen auf seiner Zunge. Was machte er in Russland?   Für Yuri war das Gefühl auf der faulen Haut zu liegen seltsam ungewohnt. Die ersten Zwei Tage hatte er eher wie auf heißen Kohlen verbracht, immer mit dem Gefühl im Nacken, etwas vergessen zu haben. Victors und Katsudons Ratschläge – sich einfach zu entspannen – brachten nur bedingt etwas. Immer wieder ertappte er sich bei den Gedanken an seine Küren oder an die Schule. Zur Ablenkung ging er spazieren, erkundete allein fremde Winkel der kleinen Stadt oder sah einfach nur aufs Meer hinaus und genoss das Kreischen der Möwen in seinen Ohren. Die Stadt zu erforschen lenkte ihn ab, er entdeckte winzige Cafés in Seitenstraßen, unbekannte Klamottenläden mit einer nahezu skandalösen Auswahl an Tigerprints und Museen, die Hasetsus Geschichte erzählten. Regelmäßig schoss er Selfies, um sie Otabek zu schicken. Er schien schwer beschäftigt, antwortete aber wie immer freundlich und interessiert auf seine Nachrichten. In vier Tagen, so schrieb er, würde er nach Russland fliegen. Die Frage nach dem Warum brachte Yuri fast um den Verstand. Doch mal wieder hatte sich herausgestellt, dass unter seiner harten Schale ein wahrer Feigling wohnte. Er bekam einfach seine Zähne nicht auseinander, um ihn danach zu fragen. Es kam ihm unhöflich vor, irgendwie intim. Zu intim für ihn, auch wenn sie Freunde waren. Aber vielleicht gab es einfach Dinge, die man mit niemandem teilte. Yuri glaubte, dass das so eine Sache war. Und trotzdem keimte in ihm still die Hoffnung, dass er es irgendwann erfuhr.   Yuri Plisetsky – 28.05 15:45 »Hey, guck mal. :O :O Wie findest du das?«   Im Anhang schickte er ein Selfie aus der Umkleidekabine einer ziemlich teuren Boutique. Yuri trug ein provokantes, schwarzes Tanktop mit V-Ausschnitt, das mehr Haut zeigte, als richtig verdeckte. Ein X, das glitzerte, als hätte man eine Fee darüber ausgewrungen, zog sich quer über die Brust. Darüber trug er einen grelllilafarbenen Blazer mit dunklem Kragen, dessen Ränder ebenfalls mit Glitzer besetzt. Yuri war bekannt für seine exzentrischen Klamotten, doch selbst für ihn war diese Aufmachung … ungewöhnlich. Aber dieses Gefühl kannte doch jeder: Man sah etwas und verliebte sich darin.   Otabek Altin – 28.05 15:47 »Nun. Es ist ziemlich … gewagt.«   »Hmpf.« Yuri verzog das Gesicht. »Ziemlich unbefriedigende Antwort.« Aber was hatte er auch erwartet?   Yuri Plisetsky – 28.05 15:49 »Siehts scheiße aus?«   Schon während er auf Senden drückte, bereute er diese Frage. Was versprach er sich davon? Selbst wenn Otabek es nicht mochte, ihm selbst musste es doch gefallen. Und das tat es. Sehr sogar. Falls der Tag tatsächlich kommen sollte, an dem sie zusammen einen Club unsicher machten, würde das definitiv sein Outfit sein - ohne Wenn und Aber. Trotzdem atmete er erleichtert auf, als er Otabeks Antwort las.   Otabek Altin – 28.08 15:50 »Nein.«   Otabek Altin – 28.08. 15:50 »;)«   Das kam einem Kompliment gleich. Damit war sein Kauf besiegelt. Auf Otabeks Geschmack war Verlass, wie er schon damals bei ihrer Shoppingtour in Almaty bewiesen hatte. Fröhlich verließ er die Boutique, das Herz ein ganzes Stück leichter – und sein Portemonnaie ebenfalls. Zurück beim Onsen wurde er von Victor samt Katsudon empfangen. »Hey. Wir wollten an den Strand. Die Hitze ist unerträglich.« Bei Victors Worten wedelte sein Pudel aufgeregt mit dem Schwanz. Fassungslos hob Yuri die Arme. »Davon rede ich seit wir hier sind! Aber wer nicht hören will …« Er selbst hatte sich bereits an seinem ersten Tag ins kühle Nass geworfen. Ein Wunder, dass die beiden es so lang ausgehalten hatten, wo sie doch in Russland monatelang Minusgraden und hier jetzt plötzlich sommerlicher Hitze ausgesetzt waren. Das kalte Meerwasser müsste selbst für das Katsudon angenehm sein. »Kommst du mit?« »Ja, ja. Geht schon mal vor, ich zieh mich noch um.« Möglichst beiläufig ließ er die Einkaufstüte hinter seinem Rücken verschwinden, damit sie nicht zu genau hinsahen. »Bis gleich!« »Ja doch.« Fußgetrappel, freudiges Gebell und das Tapsen von Pfoten, dann waren sie zur Türe raus. Auf leisen Sohlen schlich er in sein provisorisches Zimmer, grüßte auf dem Weg dorthin freundlich Yuuris Eltern, die sich und dem Onsen ebenfalls eine Auszeit gönnten und die nächsten Tage keine Gäste bewirteten. Seltsam, wie herzlich sie ihn hier von Anfang an aufgenommen hatten. Und noch seltsamer war es, wie bereitwillig er diese Freundlichkeit erwiderte. Anscheinend brauchte der störrische, großkotzige Yuri ebenfalls eine Pause. Schnell verstaute er seine Shoppingausbeute im Schrank, bevor er in seine Badehose stieg und sich Handtuch und Wechselsachen in den Rucksack stopfte. Er brauchte nicht lang, um sie zu finden. Zusammen mit Yuri waren sie die einzigen Strandbesucher, die tatsächlich badeten. Offenbar wussten die Einwohner von Hasetsu das eiskalte Meerwasser nicht zu schätzen. Wahrscheinlich würde das nicht lang so bleiben, denn laut Wetterbericht bahnte sich eine Hitzewelle an. Ohne mit der Wimper zu zucken stürzte sich Yuri in die Fluten, Makkachin folgte ihm überschwänglich und riss ihn in seinem Eifer nieder. Als er lachend wiederauftauchte und sich das nasse Haar aus dem Gesicht schüttelte, sah er Victor und sein Schweinchen bis zu den Knien im Wasser stehen, die Arme vor der Brust verschränkt und nun doch nicht mehr so mutig, wie vorhin noch angekündigt. »Kommt schon, ihr Looser! Selbst euer alter Hund ist mutiger, als ihr!« »Naja, es ist doch kälter, als gedacht, also -«                                      Yuri wollte gerade loskeifen, doch Makkachin verschonte sie alle davon: Für sein Alter ungewöhnlich schnell, sprintete er auf die beiden zu und unterbrach das Katsudon, indem er es einfach von den Beinen warf. In verzweifelter Hoffnung, sich irgendwo festhalten zu können, packte er Victor am Arm und riss ihn mit sich. Yuri bekam fast keine Luft mehr vor Lachen, deutete mit dem Finger auf sie, als sie hustend und prustend aus der Oberfläche brachen. Eigentlich war er kein Hundemensch, aber bei Victors Pudel musste er einfach eine Ausnahme machen. »Das hättet ihr sehen sollen! Du hast rumgefuchtelt wie ein Irrer!« Er hielt sich den Bauch und krümmte sich, wischte Tränen aus seinen Augenwinkeln. »Der Wahnsinn!« Leider bemerkte er ihr Anschleichen zu spät. Noch immer schnappte er nach Luft vor Lachen, dass ihm beinahe schlecht wurde und erst als er die Augen wieder öffnete, sah er ihre rachedurstigen Gesichter, keine zwei Meter von ihm entfernt. »Oh verdammt, verpisst euch!« Er wandte sich um und watete so schnell er konnte tiefer ins Meer. Vielleicht wäre seine Flucht geglückt, wenn Makkachin nicht dabei gewesen wäre. Seine Zähne gruben sich gnadenlos in den Saum seiner Shorts und erschwerten sein Voranschreiten enorm. Verzweifelt versuchte er doch noch irgendwie zu entkommen, da hatten Victor und sein Schweinchen ihn schon überraschend kräftig zu beiden Seiten gepackt. An jeweils einem Arm zogen sie ihn rücksichtslos tiefer ins Meer. »Wie heißt es doch so schön? Rache wird am besten kalt serviert!« Victors Stimme vibrierte gefährlich. »Ist ein altes Sprichwort!« Yuri zappelte und wand sich, versuchte nach ihren Badeshorts zu grabschen, um sie ihnen herunter zu ziehen und so das Unheil abzuwenden, doch er hatte keine Chance. »Genau!« Yuuri klang so, als würde er gleich den leidenschaftlichsten Eros tanzen, den die Welt je gesehen hatte. »Das habe ich auch gehört!« »Nehmt eure Gichtkrallen weg, ihr Ar–« Das letzte Wort erstickte jämmerlich im kaltem Wasser. Sie hatten ihn tatsächlich untergetaucht! Nun war es an Yuri zu Husten und zu Prusten. Doch auch er war ein Meister der Vergeltung, was er sie nun recht schnell spüren lassen wollte.   Seit ihrem ersten gemeinsamen Ausflug an den Strand und Yuris epischen Gewinn einer actionreichen Wasserschlacht, waren sie überraschend oft zu dritt unterwegs - immer in Begleitung von Makkachin, der nicht von Victors Seite wich. Yuris anfängliche Skepsis hatte sich nach ihren ersten gemeinsamen Aktivitäten schnell in Luft aufgelöst. „Hasetsu ist ein magischer Ort, der seinen wahren Zauber erst entfaltet, wenn man die Zeit dort nicht allein verbringt“ war wohl eine beliebte Weisheit der Insel, die Yuuris Mutter ihnen mit erhobenem Zeigefinger am Esstisch vorgetragen hatte. Und mit jedem Ausflug, seien es Fahrradtouren oder Autofahrten bei offenem Dach, Picknicke, Besuche im Freiluftkino oder Wanderungen – die Yuri hasste, aber trotzdem irgendwie durchstand –, fand er ein Stückchen mehr Wahrheit darin. Zu ihrer großen Erleichterung ließ die Presse sie dabei halbwegs in Ruhe. Ab und zu begegneten sie zwar vereinzelten Reportern und aufgeregten Fans, doch diese Treffen dauerten meistens nicht länger als zwei Minuten, bis sie wieder in ihrer verdienten Urlaubsruhe versinken konnten. Und natürlich durfte auch ein Gang zur Eishalle nicht fehlen. Yuri brachte es nicht übers Herz, für eine so lange Zeit auf seine größte Leidenschaft zu verzichten und Victor und Yuuri, denen es wohl ähnlich ging, waren selbstverständlich sofort dabei. Zum ersten Mal fühlte es sich zwischen ihnen nicht nach Konkurrenz an. Sie liefen ohne groß darüber nachzudenken und verzichteten darauf, ihre Küren zu proben oder irgendwelche Techniken zu verfeinern. Das Gefühl des Eises unter ihren Kufen und der Spaß am Laufen ohne jeglichen Leistungsdruck stand im Vordergrund – und es war erfrischend und motivierend zugleich. Ein absolutes Highlight ihrer Reise aber war das luxuriöse Hotel, nur eine Stadt weiter, für dessen Wellnessbereich sie von den Katsukis Gutscheine geschenkt bekommen hatten. Noch immer schüttelte Yuuri fassungslos den Kopf über „all das viele Geld“, trotzdem lösten sie die Gutscheine ein und der Tag voller Massagen, Saunagänge und Schwimmzügen laugte sie so dermaßen aus, dass sie noch bei Tageslicht erschöpft aber hochzufrieden in ihre Betten sanken. Sogar Victor, der seit Lebzeiten viel Wert auf seinen persönlichen Luxus legte, schwärmte noch Tage später davon, wie gut ihm die heißen Steine auf seiner Haut getan hatten. Yuri hätte sich niemals träumen lassen, dass all das mit den beiden überhaupt möglich war, doch Täuschung war die größte List, denn Victor war weit weniger nervig und Yuuri bei weitem nicht so langweilig, wie immer vermutet. Tatsächlich musste er erschrocken feststellen, dass zwischen ihnen plötzlich eine beinahe beängstigende Sympathie herrschte, die er all die Zeit davor kein einziges Mal wahrgenommen hatte. Es war, als hätte Hasetsu ein unsichtbares Band geknüpft und sie miteinander verflochten.   Mittlerweile zählte das Baden im Meer zu ihren Hauptritualen, denn die Wetterprognose traf ein und überrollte die beschauliche Insel mit der versprochenen Hitzewelle, die jedes Fleckchen Haut ohne UV-Schutz sofort versengte. Mit einem Mal wimmelte es am Strand und im Wasser vor Menschen in Bikinis und Badehosen. Zu den Stoßzeiten fanden sie nicht einmal einen Platz für ihre Handtücher. Das tat ihrem Ritual allerdings keinen Abbruch. An besonders heißen Tagen ließen sie diese einfach zuhause und gingen nur in Badesachen los. Die Sonne trocknete ihre Haut schneller, als die beste Baumwolle der Welt es tun könnte. Mal verging die Zeit wie im Flug, manchmal stand sie beinahe still. Wochentage verschwammen ineinander, Sonnenuntergänge ertränkten die Abende in goldenen Ozeanen. Es war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Doch selbst das emsigste Licht war nicht stark genug, um alle dunklen Abgründe zu erhellen.   Yuri trieb an der Wasseroberfläche, der rosafarbene Himmel flammte über ihm. Mit ausgestreckten Armen blickte er nach oben, ohne wirklich etwas zu sehen. Das Surfbrett, das ihn trug, hatte er im Schuppen der Katsukis gefunden und sofort ausprobiert – mit dem Ergebnis, dass er neben Eislaufen auch ein recht passabler Surfer war. Yuuri und Victor bezeichneten ihn als Naturtalent –, er hingegen glaubte einfach, dass seine sportlichen Voraussetzungen eine gute Grundlage boten. Gleichgewicht mussten sie schließlich auch auf dem Eis halten. Trotzdem waren seine Versuche nicht nur einmal in unangenehmen Tauchmanövern geendet. Heute jedoch spürte er nicht den geringsten Ehrgeiz es erneut zu probieren. Schon durch den gesamten Tag zog sich eine seltsame Lustlosigkeit, begleitet von dem Gefühl, es sich selbst nicht recht machen zu können. Hoffnungslos hatte er es dennoch versucht und doch alle Aktivitäten schnell abgebrochen, weil er nur sinnlos Energie verschwendete. Gesellschaft half ihm auch nicht, im Gegenteil. Heute engte sie ihn ein. Verzweifelt vor sich selbst davonlaufend war er an den Strand geflüchtet, Victor und Yuuri kaum beachtend. Nicht einmal Makkachin konnte ihn aufheitern. Er hasste diese Lethargie und ahnte doch den Grund dafür: Sein Smartphone, das stillstand. Otabek war seit zwei Tagen in Russland und obwohl er sich vorab bei Yuri entschuldigt hatte, scheinbar wissend, dass er kaum auf Nachrichten antworten würde, drückte diese plötzliche Ruhe seine Stimmung in den Keller. Eigentlich müsste er es gewohnt sein, da solche Tage der Stille zwischen ihnen nichts Neues mehr waren. Doch der Gedanke, dass Otabek in Russland war - ohne ihn - machte Yuri traurig und wütend zugleich. Hier, weit draußen, fand er das erste Mal zur Ruhe. Das sanfte Schaukeln der Wellen lockerte seinen inneren Nebel auf. Wasser drang in seine Ohren und verschluckte sämtliche Geräusche, ließ ihn nur seinen Herzschlag wahrnehmen. Es dröhnte laut zwischen seinen Ohren und der Klang öffnete seine Lungen, packte alles um ihn herum in Watte. Die Sonne blendete ihn, doch er behielt die Augen offen, um zu verhindern, dass er einschlief. Wie lange war er schon hier? Er vermochte es nicht zu sagen, doch es mussten Stunden sein. Als er herausgeschwommen war, hatte der Himmel noch im schwerem Blau über ihm gehangen, mittlerweile wurde es von Minute zu Minute leuchtender. Erst lila, dann rosa und jetzt strahlend rot, während das Meer unter ihm weiter rhythmisch tanzte. Er konnte letztendlich doch nicht widerstehen und schloss die Augen. Die Strafe folgte auf dem Fuß: Irgendetwas schweres rempelte ihn an und ließ ihn, vor Schreck mit den Armen rudernd, vom Surfbrett rutschen. Es ging so schnell, dass er nicht einmal aufschreien konnte. Als er nach Luft schnappend wiederauftauchte, war der Urheber des Tumultes schnell gefunden: Ein ziemlich nasser und vor Erschöpfung keuchender Makkachin. Unbemerkt war er zu ihm gekommen und offenbar hatte er die Entfernung unterschätzt. Auch Yuri, der zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten seine Umgebung wahrnahm, erschrak sich darüber, wie weit er herausgetrieben war. Der Strand war nur noch mit viel Fantasie auszumachen, die letzten Besucher lediglich winzige Punkte am Horizont. Auf den Rückweg freute er sich schon jetzt, doch zuerst galt es, den japsenden Hund vor dem Ertrinken zu bewahren. Es brauchte mehrere Versuche und viel Kraft, doch schließlich hatte er das arme Tier erfolgreich auf sein Surfbrett bugsiert, wo es mit herausgestreckter Zunge und halb der Ohnmacht nahe liegen blieb. Yuri selbst brauchte ebenfalls einen Moment, in dem er zitternd Luft holte und sich dabei am Surfbrett festklammerte. »Du hast mich zu Tode erschreckt, du dummes Ding!« Entgegen seiner harten Worte, kraulte er ihn beruhigend die Ohren. »Wolltest mich wohl abholen kommen. Hast vielleicht Recht, ist bestimmt schon spät …« Tatsächlich verblasste der Himmel allmählich. Erste Sterne glommen auf und gegenüber der Sonne trat der Mond aus den Wolken. Noch dämmerte es nicht, doch Yuri war nicht sehr scharf drauf bei anbrechender Nacht ans Ufer zu schwimmen, also machte er sich direkt auf den Weg. Da das Surfbrett nicht genügend Platz für sie beide bot, musste er es schieben und sich auf die Kraft seiner Beine verlassen. Kein leichtes Unterfangen, aber machbar. »Deinem Herrchen werd ich was erzählen! Dich einfach alleine so weit rausschwimmen zu lassen, geht’s eigentlich noch?« Mit der Stille war auch seine mühevoll erarbeitete Gelassenheit verflogen. Makkachin, mittlerweile wieder halbwegs munter, beobachtete ihn mit dem typisch trotteligen Gesichtsausdruck. »Blöder Penner!« Wenigstens trieb die Wut ihn gut voran und knappe dreißig Meter vor ihrem Ziel sprang Makkachin zurück ins Wasser, um selbstständig ans Ufer zu schwimmen. Dankbar kletterte Yuri zurück auf das Surfbrett, jetzt mit beiden Armen rudernd. Trotzdem behielt er den Hund im Blick, um ihn im Notfall wieder in Sicherheit zu bringen. Dem Himmel sei Dank schafften sie die letzten Minuten ohne weitere Zwischenfälle. Victor erwartete sie bereits und kam seinem Haustier entgegen, das fröhlich jaulend, als wäre nie etwas gewesen, auf ihn zu paddelte. »Makkachin! Gott sei Dank ist alles gut!« »Danke nicht Gott, danke lieber mir, du Idiot!« Yuri schleuderte das Surfbrett von sich und atmete schwer, die Hände auf den Knien abgestützt. »Oder noch besser, danke Katsudons Eltern, dass sie mir dieses Ding ausgeliehen haben, denn ohne hätte ich ihn nicht so einfach wieder herbringen können!« Dass er jedoch ohne dieses Teil gar nicht erst so weit davongetrieben wäre, ignorierte er in seiner Entrüstung völlig. Auch Victor sagte nichts weiter dazu. Er wirkte bestürzt und erleichtert zugleich. »… Danke, Yuri.« Yuri schnaubte und richtete sich auf. Wenn Victors Gesichtsausdruck nicht gewesen wäre, hätte er noch einen draufgesetzt. So jedoch beließ er es dabei. »Ja, ja, ist auch wieder gut jetzt! Wie spät ist es?« »Gleich einundzwanzig Uhr. Du warst über drei Stunden da draußen. Es sah gar nicht so weit entfernt aus, sonst hätte ich Makkachin niemals allein zu dir geschickt.« Reuevoll drückte er seinen Hund an sich. »Vergib mir, mein Freund.« Für seinen haarigen Begleiter schien das Thema schon längst gegessen zu sein, denn er schleckte ihm in treudoofer Manier über das Gesicht. Yuri ging zu seiner Decke und griff nach dem Handtuch. Jetzt, wo er aus dem Wasser und die Sonne verschwunden war, begann er recht schnell zu frieren. Flink trocknete er seine Haare und verstand die Worte nicht, die Yuuri, auf der Decke neben ihm liegend, an ihn richtete. »Was hast du gesagt?« »Dein Handy hat vorhin geklingelt.« Yuri hielt in seiner Bewegung inne und sah ihn mit großen Augen an. »Oh.« Das konnte nur einer sein. Schon seit Tagen wartete er auf eine Antwort oder ein Lebenszeichen generell. Doch die Freude ebbte so schnell ab, wie sie gekommen war, als er sein Smartphone hervorkramte und lediglich eine Benachrichtigung von Instagram vorfand. Zutiefst enttäuscht wollte er sie schon wegwischen, doch der Name in der Nachricht zog seinen Blick an und ließ seine Bewegung erneut stocken.   Sieh dir otabek-altin’s erstes Foto auf Instagram an!   »… Oh, fuck.« Er starrte auf das Display, die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Eine leise Stimme wisperte in sein Ohr, warnte ihn, dieses Foto nicht zu öffnen. Yuri konnte sich nicht erklären, was ihn so beunruhigte, mit Ausnahme der Tatsache, dass Otabek niemals zuvor etwas auf Instagram gepostet hatte. Was bedeutete das? Bedeutete das überhaupt irgendwas? Er fühlte sich wie die Hauptfigur in einem billigen Thriller, wie jene dummen Personen, die schwachköpfig handelten und sich dem Mörder zum Fraß vorwarfen. Und obwohl er wusste, dass er einen Fehler beging, tippte er auf die Benachrichtigung und öffnete das Bild. »… Oh, fuck …« Er hörte seine eigene Stimme, als würde jemand anderes mit seinem Körper sprechen. »Alles okay, Yuri? Du bist ganz blass ...« Yuuri und Victor kamen zu ihm, doch er beachtete sie kaum. »Yuri?« Irgendetwas regte sich in seinem Inneren. Etwas, das tief verborgen geschlafen hatte, schlug plötzlich dämonische Augen auf. Da war dieses Gefühl in seiner Brust. Es zog dumpfe Kreise durch seinen Körper und ballte sich schlussendlich in seinem Magen zusammen, verwandelte seine Muskeln in Treibsand. Otabek lächelte. Für Yuri war es immer selten und kostbar gewesen, wertvoll und besonders. Etwas, das er nur ausgewählten Menschen schenkte - und jetzt präsentierte er es der ganzen Welt. Dieses strahlende Lächeln. Strahlend und glücklich - mit einem Mädchen im Arm. Wäre Yuri eine Treppe heruntergestürzt, er hätte sich kaum miserabler fühlen können. Ihre mandelförmigen Augen leuchteten und langes schwarzes Haar umrahmte elegant ihr ovales Gesicht. Sie lächelte ebenfalls und sah wunderschön dabei aus. Beinahe wäre ihm das Smartphone entglitten. Unwirsch schüttelte er eine Hand von seiner Schulter, die ihn offenbar beruhigen sollte, ignorierte den bestürzten Blick, den sich Victor und sein Katsudon zuwarfen. Auch sie hatten das Foto gesehen und Yuri wollte überhaupt nicht wissen, was ihnen gerade durch den Kopf ging und was sie glaubten, was er gerade dachte. Wo er es doch selbst nicht einordnen konnte. Er ging noch einen Schritt weiter, scrollte nach unten, um den kurzen Satz zu lesen, den Otabek unter das Bild gesetzt hatte.  Natürlich wusste er, dass er damit nur noch mehr Schaden anrichtete, doch er konnte es nicht verhindern. Er fühlte sich wie eines der Fabelwesen aus einer uralten Geschichte, die sich bereitwillig in eine alles verzehrende Schwärze stürzten, weil sie wussten, dass es für sie kein Entkommen mehr gab. Die Grenze hatte er bereits mit dem Öffnen des Fotos überschritten. Und als seine Augen über die Buchstaben flogen, fragte er sich, ob diese Grenze jemals für ihn existiert hatte.   Endlich vereint. ;) Weitere Treffen folgen. Teil dreizehn: »Rauschen« ------------------------- Die Atmosphäre am Esstisch war eigentümlich. Normalerweise liefen die Mahlzeiten bei den Katsukis immer sehr harmonisch ab, durchzogen von lauten Gesprächen und fröhlichem Geklapper von Besteck. Heute allerdings war es gespenstisch ruhig. Jeder achtete darauf, möglichst kein Geräusch zu machen. Yuri hasste es, beobachtet zu werden. Noch mehr, wenn die Leute es nicht einmal gut verbergen konnten. Und erst recht, wenn sie ihm dabei Blicke zuwarfen, die Mitleid suggerierten. Diese offene Anteilnahme, sei sie noch so nett gemeint, war wie ein Splitter in seiner Haut. Sie wollten helfen ihn zu entfernen, trieben ihn jedoch unweigerlich tiefer ins Fleisch. Es war sinnlos so zu tun, als würden sie ihn verstehen. Wie konnten sie auch, wenn er sich selbst nicht einmal verstand? Er versuchte sie zu ignorieren, versuchte sich auf das Essen vor ihm zu konzentrieren, den vorzüglichen Geschmack zu genießen, das knusprige Fleisch zu ehren und sich über den perfekten Reis zu freuen. Otabeks Lächeln schwebte vor seinem inneren Auge und schlug ihm mit einer harten Faust in den Magen. Er aß weiter, schluckte die faden Sojasprossen und die nach Sumpf schmeckende Brühe, ignorierte das angespannte Schweigen am Tisch und das Ziehen seiner Gedärme. Wenigstens die Hälfte musste er schaffen. Oder ein Viertel. Ein paar Bissen, um nicht unhöflich zu wirken ... »Yurio.« Frau Katsukis Hand lag plötzlich auf seinem Arm. »Zwing dich doch nicht, wenn du nicht magst.« Er sah durch sie hindurch, hielt aber inne und stellte die Schüssel langsam auf dem Tisch ab. Merkte man es ihm so sehr an? Offenbar, denn ihre Hand wanderte nach oben zu seiner Stirn. Sein bemühtes Pokerface schmolz unter ihrer Berührung dahin, der Schmerz breitete sich auf seinem Gesicht aus.»Heiß bist du Gott sei Dank nicht, mein Junge. Ist dir übel?« Den Mund zu öffnen, um etwas zu erwidern, schien keine gute Idee. Er spürte, wie der Reis in seinem Magen aufquoll und um nichts auf der Welt wollte er sich auf den Esstisch übergeben. So atmete er tief durch die Nase ein und nickte, was ein widerliches Stechen hinter seiner Stirn aufflammen ließ. »Hm.« Victor sah ihn überlegend an. »Du warst heute fast den ganzen Tag im Wasser, das ist dir vielleicht nicht gut bekommen. Du bist immer noch ziemlich blass.« Im Stillen vergiftete er ihn für diese unterschwellige Andeutung. »Ein Sonnenstich?« Natürlich hakte das Katsudon gleich nach. Starb man an Sonnenstichen, oder weswegen war sein Gesichtsausdruck so … ekelerregend betroffen? Sich tausend Mal zu übergeben schien verlockender, als das noch länger zu ertragen. Unwirsch stand er auf. Zwar bereute er es sofort, doch er blieb stehen und ballte eine Hand zur Faust. »Mir geht’s gut. Ich hab‘ nur keinen Hunger!« »Yuri …« Seine Unterlippe zitterte. »Okay, Schnauze jetzt! Ja, vielleicht war ich zu lang in der Sonne. Kann schon sein. Aber sonst ist alles gut!« Sein Blick funkelte warnend zu Victor und Yuuri herüber. So gut sie sich momentan auch verstanden, gerade spürte er nur das Verlangen ihnen ihr Mitleid aus den Gesichtern zu schlagen. »Na komm. Ich mach dir einen Tee.« Frau Katsuki fasste ihn erneut am Arm, um ihn in sein Zimmer zu bringen. Er blieb noch kurz stehen, spürte, wie der Zorn aus seinem Gesicht wich und in ein Flehen überging. Bitte … fragt einfach nicht mehr. Er würde es momentan einfach nicht ertragen. Zögerlich ließ er sich von Yuuris Mutter aus dem Raum führen. »Hast du Kopfschmerzen?« Ihr gutmütiges Gesicht zeigte kein Mitleid, nur reine Besorgnis. Egal, wie schlecht er sich fühlte, er konnte ihr nicht böse sein oder sie gar unhöflich behandeln. »… Ja, ein wenig.« Sie betrat das Zimmer und zog die Rollläden nach Unten. Die Dunkelheit linderte das dumpfe Pochen über seinen Augen und Yuri atmete erleichtert auf. Ein wenig beschämt wartete er, bis sie das Kissen des Futons aufgeschüttelt und die Decke zurückgeschlagen hatte, bevor er sich bereitwillig hinlegte. Mütterlich deckte sie ihn zu. »Ich bin gleich wieder da.« Bewegungslos wie ein Brett lag er da, die Decke bis zur Mitte der Brust gezogen und sah ihr nach. Wenige Minuten lang geschah nichts, nur ein leises Klappern und dumpfe Stimmen drangen aus der Küche an seine Ohren. Schließlich kehrte sie zurück, einen Becher Tee auf einem Tablett balancierend. Der Geruch von Fenchel und Anis erinnerte ihn an sein Gespräch mit Lilia. »Hüte diese Freundschaft.« Plötzlich waren da Tränen, die er schnell wegblinzelte. »Der Tee ist warm, aber nicht heiß. Trink so viel, wie du kannst.« Am liebsten hätte er abgelehnt, aber er brachte es nicht über sich und schaffte zumindest die Hälfte der Tasse. Als sie bemerkte, dass er genug hatte, nahm sie ihm den Tee wieder ab. »Sehr schön. Jetzt bekommst du noch ein bisschen Öl und dann schläfst du dich aus.« »…. Öl?«  Der Gedanke, jetzt auch noch Öl schlucken zu müssen, holte die Übelkeit sofort zurück. Frau Katsuki schüttelte allerdings den Kopf, als könne sie Gedanken lesen. »Leg dich ruhig wieder hin.« Zögerlich kam er der sanften Aufforderung nach. Vorsichtig strich sie ihm ein paar lose Haarsträhnen aus dem Gesicht, legte seine Stirn frei. Das kleine Fläschchen bemerkte er erst, als sie es aufschraubte und sich ein wenig Inhalt auf die Fingerspitzen träufelte. Es roch frisch, ein bisschen ungewohnt, aber nicht unangenehm. Langsam begann sie seine Stirn damit einzureiben. Kreisende Bewegungen über Haaransatz und Schläfen, ein wenig davon verteilte sie sogar in seinem Nacken und entlockte ihm damit ein dankbares Seufzen. »Reines Minzöl. Das wird dir guttun.« Beinahe sofort wusste er, wovon sie sprach, denn von den massierten Partien ging eine überraschende Frische aus. Kurz kribbelte die Gänsehaut in seinem Nacken, doch dann begann das Öl einzuziehen und bereits jetzt einen kleinen Teil seiner Kopfschmerzen mitzunehmen. Er sah sie einige Sekunden an und schloss dann die Augen, sog gierig den Geruch ein, der auch seinen Magen beruhigte. »… Danke.« Seine Stimme klang matt. »Wenn du etwas brauchst, sind wir im Wohnzimmer.« Kurz und liebevoll drückte sie seine Schulter. Wie sie den Raum verließ, bekam er schon gar nicht mehr mit.   Er schlug die Augen auf und fand sich in trüber Dunkelheit wieder. Mondlicht drang unter den Spalt der Jalousien hervor, jedoch zu schwach, um das Zimmer ausreichend zu beleuchten. Unendlich langsam richtete er sich auf, fasste sich an die Stirn. Sein Kopf schmerzte nicht mehr und nur noch eine flaue Nuance erinnerte an die Übelkeit vor wenigen Stunden. Er dankte Yuuris Mutter und ihrem Öl. Trotzdem fühlte er sich, als hätte ihn jemand als Boxsack benutzt. Seine Glieder schmerzten und schienen mit einer zentimeterdicken Rostschicht überzogen zu sein - und sein Kiefer spannte mal wieder. Aus Gewohnheit tastete er neben sich, griff jedoch ins Leere. Verdutzt brauchte er einen Moment, um sich zu erinnern, dass sein Smartphone wohl noch immer in seinem Rucksack steckte, vergraben unter seinem Handtuch und der Badehose, hineingestopft in fehlender Selbstbeherrschung und Schock - und vor allem mit viel Wut. Er konnte sich nicht erinnern, jemals ohne ins Bett gegangen zu sein. Sobald er aufwachte, ging sein erster Handgriff immer neben sich, um zu sehen, ob ihm jemand geschrieben hatte. Aber, wer sollte ihn um so eine Uhrzeit schon schreiben? Ihm fiel nur einer ein und er war sich nicht sicher, ob er momentan über eine Nachricht erfreut wäre. Dennoch stand er auf, um es holen zu gehen - die Macht seiner ungesunden Gewohnheit zwang ihn dazu. Auf leisen Sohlen schlich er in Richtung Tür, fand sie nach wenigen Sekunden in der Dunkelheit und schob sie auf. Das Haus ruhte in gespenstischer Stille. Bemüht kein Geräusch zu machen, ging er auf Zehenspitzen zur Lobby des Restaurants. Wenigstens drang hier weitaus mehr Mondlicht durch die Fenster und ließ ihn nicht ganz und gar blind durch den Flur stolpern. Er wollte niemanden wecken, wo er doch schon für genug Wirbel gesorgt hatte. Im Wohnzimmer angekommen sah er sich um. Wo stand sein Rucksack? Rechts neben der Tür zu einem weiteren Flur machte er ihn schließlich aus, ein unförmiger Klumpen in der Dunkelheit. Er ging darauf zu und stieß sich in seiner Ungeduld das Knie an einen der Esstische. Leise fluchend beugte er sich herunter und zog den Reißverschluss auf, wühlte ein paar Sekunden und bekam es endlich zu fassen. Doch kaum hielt er es in der Hand, wurden seine Knie wackelig. Er sank auf den Boden und lehnte sich an die Wand. Ein tonnenschwerer Stein sackte in seinen Magen, ließ ihn in Schweiß ausbrechen. Er fuhr sich durchs Haar, kaute auf seiner Unterlippe. Wovor hatte er solche Angst? Wenige Minuten vergingen, bis das Kribbeln in seinen Zehen langsam nachließ. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, als zusammen mit dem Display auch Enttäuschung aufflammte. Keine Nachricht. Kein Hallo, kein Irgendwas. Nicht einmal ein Leck mich am Arsch. Natürlich nicht. Ein zweiter Stein leistete dem ersten in seinem Magen Gesellschaft. Auch wenn die anderen glaubten, dass Yuri gesundheitlich angeschlagen war, er wusste es besser. Nicht der angebliche Sonnenstich setzte ihm zu, sondern dieses bescheuerte Foto auf Instagram, auf dem Otabek lächelte, als wäre er der glücklichste Mensch auf der Welt … konnte er das nicht für sich behalten, wenn es tatsächlich so war? So wie alles andere bisher auch? Zittrig erhob er sich, zog die Balkontür des Wohnzimmers auf und betrat den Garten, der an das Onsen angrenzte. Seine Lungen verzehrten sich nach Sauerstoff. Er glaubte, jeden Moment ersticken zu müssen, sollte er nicht rechtzeitig an die frische Luft kommen. Kaum berührten seine nackten Füße den kalten Boden der Terrasse, rannte er los. Im Stillen dankbar, dass der hintere Teil des Grundstückes nicht eingezäunt war, ließ er den Garten hinter sich. Vor über einem Jahr war er zuletzt hier gewesen und dennoch schien er instinktiv den Weg zu einem Ort einzuschlagen, den er noch sehr gut kannte. Erst als er ein gewaltiges Rauschen, Gurgeln und Geplätscher wahrnahm, blieb er stehen. Der Wasserfall. Keuchend warf er sich ins Gras, den Blick gen Himmel gerichtet. Der Mond prangte riesengroß über ihm und saugte sämtliche Farbe aus seiner Umgebung. Wütend starrte er ihn an, kniff dann die Augen zusammen und strich sich mit der Hand über die Stirn. Was machte er hier eigentlich? Otabek postete ein harmloses Selfie und er führte deswegen ein riesiges Melodram auf. Es war doch nur ein dummes Foto … Sein erstes und einziges auf Instagram. Mit einem Mädchen - und sie lächelten. Wenn er ein ach so guter Freund war, sich sogar bester Freund schimpfte, dann sollte er doch eigentlich euphorisch sein, begeistert und erfreut darüber, dass Otabek jemanden gefunden hatte. Jemanden, mit dem er Selfies auf Instagram postete - und keine mit ihm, obwohl durchaus genug davon geschossen worden waren. Sein Herz stach plötzlich, als bohrten sich Dornen hindurch. Es fühlte sich wie eine Bestätigung an. Er mag sie mehr, als dich. Abwehrend warf er den Kopf hin und her, presste die Augen noch fester zusammen und die Hände auf die Ohren, als könnte er so seine innere Stimme ersticken. Leider sprach sie ununterbrochen weiter.  Er wird keine Zeit mehr für dich haben, sie ist wichtiger. »So ein Bullshit!« Wütend richtete er sich auf, nahm sein Smartphone, das er vorhin einfach hatte fallen lassen, in die Hand. »Wir sind Freunde, warum sollte ich ihm plötzlich am Arsch vorbei gehen? Ich sollte mich verdammt nochmal für ihn freuen!« Instagram öffnete sich wie von allein, in der Suchleiste tippte er entschlossen Otabeks Usernamen ein. Er erschien ganz oben bei den Vorschlägen. Wie oft hatte er diesen Namen schon eingegeben, wie oft nach Postings gesucht und keine gefunden. Wie oft war er enttäuscht darüber gewesen. Und nun schwebte sein Finger über dem Icon. Wenigstens war sein Profilfoto noch dasselbe, sein heißgeliebtes Motorrad. Nicht nur heißgeliebt von ihm, sondern auch von Yuri. Er riss sich zusammen und öffnete das Profil.   'Diese Rolltreppe ist so lang. Wirklich lange her, seit ich das letzte Mal in Almaty war. '*   Warum war er so erleichtert darüber, dass auch seine Profilbeschreibung noch dieselbe war? Dieser seltsame Spruch, schwer zu deuten und doch voll spürbarer Nostalgie. Aber dieses Foto ... Das einzige, das er jemals gepostet hatte. Er starrte es an. Selbst in der winzig kleinen Vorschau stach das Lächeln der beiden deutlich hervor. Nur schwer konnte Yuri der harten Faust ausweichen, die erneut in seinen Magen schlagen wollte. Er schluckte. Schweißperlen traten auf seine Stirn, wie paralysiert verharrte sein Daumen nur ein paar Millimeter über dem Display. Sein Mut verpuffte. Allein der Gedanke, ihr Lächeln in Großaufnahme zu sehen, beschwor eine kalte Angst, die durch seinen Körper jagte. Was war das Problem daran, auf dieses Foto zu gehen, ein Herz zu hinterlassen und „Ich freu mich für euch“ drunter zu schreiben? Wieso fühlte er sich nicht einmal imstande, es überhaupt zu öffnen? Tief in seinem Inneren kannte er die Antwort auf diese einfache Frage: Er würde lügen. So sehr er es auch versuchte, da war keine Freude für die beiden. Und er hasste sich für dieses Empfinden. Aber er war kein Lügner. Lieber schrieb er nichts, bevor er zum Heuchler mutierte und genau das tat, was er bei den anderen verachtete. Er starrte Otabeks Profil so lang an, bis das Display schwarz wurde. Erst dann konnte er die Augen schließen und aufatmen. »Herzlichen Glückwunsch, Yuri. Du bist der Gewinner aller Arschloch-Goldmedaillen.« Und für diese Erkenntnis hatte er erst zum Wasserfall flüchten müssen? Wirklich eine sehr schwache Leistung und verschwendete Zeit obendrein, die ihn, mit einer ordentlichen Portion Pech, allerhöchstens noch eine Erkältung bescherte. In Netz seiner Gedanken gefangen, war die Zeit verflogen, wie ein Wimpernschlag. Keine Sterne mehr, kein Mond. Dafür eine zarte Röte, die den Himmel zierte. Ungelenk stand er auf. Die aufgehende Sonne kitzelte sein Gesicht, doch die sanfte Wärme erreichte seine Glieder nicht. Wie spät mochte es wohl sein? Sein Blick auf sein Smartphone verriet ihm die genaue Uhrzeit: Fünf Minuten vor sechs. Yuri wusste nicht, wann die Katsukis aufstanden, aber es würde wahrscheinlich schon sehr bald sein. Wenn er nicht gesehen werden wollte, war es nun höchste Zeit, sich auf den Rückweg zu machen. Doch er rührte sich nicht. Seine Füße schienen mit dem Boden verwachsen. Fahrig strich er sich eine lose Haarsträhne hinter sein Ohr, zwirbelte das Ende zwischen den Fingerkuppen. Es beruhigte ihn nicht. Einem Weckruf gleich vibrierte plötzlich das Smartphone in seiner Hand. Eine Nachricht von Otabek. Als könnte er vor dem Moment davonlaufen, sie zu öffnen und zu lesen, nahm Yuri die Beine in die Hand und rannte. Als er die Lobby betrat, war die Sonne bereits vollends aufgegangen. Aus dem oberen Stockwerk konnte er müdes Fußgetrappel hören, das Schleifen einer Schiebetür. So schnell und leise wie möglich huschte er durch den Flur in sein Zimmer. Gerade, als er sich in seinem Futon verkrochen hatte, ertönten schwere Schritte auf der Treppe. Er schloss die Augen und wartete auf den Morgen.   Otabek Altin – 05.06 5:59 »Hey. Ich weiß gerade nicht wie spät es bei dir ist. Ich bin wieder in Almaty. Hoffentlich genießt du deinen Urlaub weiterhin.«   Von Genuss konnte momentan keine Rede sein. Aber wenigstens konnte er frühstücken, ohne dass ihm schlecht davon wurde. Frau Katsuki hatte extra für ihn eine leicht verdauliche Mahlzeit zubereitet. Sie war froh, dass Yuri sich besser fühlte und er bedankte sich schüchtern für ihre Fürsorglichkeit. Das gemeinsame Essen fiel wesentlich gelassener aus, als am Abend zuvor. Sie unterhielten sich über die letzten anstehenden Tage und was man unternehmen könnte. Zwar glitten Victors und Yuuris Blicke manchmal noch forschend zu ihm, doch Yuri schaffte es, dem keine Beachtung zu schenken. Otabeks Nachricht schwirrte in seinem Kopf herum, zusammen mit der Frage nach einer passenden Antwort. Ihm wollte keine einfallen. Klar, er war froh Otabek wieder in Almaty zu wissen, aber das konnte er ja nicht schreiben! Immerhin war er das hauptsächlich, weil Otabek wieder allein war und nicht mehr bei ihr. Viel zu verdächtig. Sein bester Freund war nicht auf den Kopf gefallen und würde mit hoher Wahrscheinlichkeit sofort merken, dass etwas nicht stimmte. Neutral. Ihm musste etwas möglichst Neutrales einfallen. »Yurio, du schmierst dich voll.« »Häh?« Er blickte auf, direkt in Victors grinsendes Gesicht. »Der Reis gehört in deinen Mund und nicht quer über die Wange.« »Hmpf.« Peinlich berührt legte er die Stäbchen auf die Schüssel, bevor er sein Gesicht mit einer Serviette säuberte. »Darf ich aufstehen?« Sein Blick richtete sich, Victor ignorierend, dabei an die Herren des Hauses, die abwinkten und ihn ziehen ließen. Er nickte knapp mit dem Kopf und entfernte sich vom Frühstückstisch. Frustriert warf er sich auf den Futon und griff nach seinem Smartphone, das daneben lag. Er konnte Otabeks Nachricht nicht unbeantwortet lassen. Der Moment, sich endlich erwachsen und wie ein Freund zu verhalten, stand nun vor der Tür. Trotzdem dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis er die Nachricht abschickte.   Yuri Plisetsky - 05.06 9:34 »Hattest du einen guten Flug? Du hast dich echt lang nicht gemeldet, ich hab mir Sorgen gemacht«   Ohne Smiley, ohne Enthusiasmus. Aber zumindest keine Lüge. Als er die Antwort ein zweites Mal las, verdrehte er von sich selbst genervt die Augen. Keine Lüge zwar, dafür aber ein Vorwurf durch die Blume. »So viel zum Thema neutral. Fuck, man!« Um seinen Fluch noch zu unterstreichen, färbten sich die Häkchen blau. »Reife Leistung …« Gespannt wartete er. Sein Herzschlag wummerte in seinen Schläfen. Ihm war wieder übel.   Otabek Altin - 05.06 9:38 »Tut mir leid. Wir waren die ganze Zeit unterwegs. Ich habe eine Menge von Russland gesehen, Sankt Petersburg haben wir auch besucht.«   Wie aufs Stichwort zog sich sein Magen zusammen und ließ ihn aufstoßen. Otabek ahnte vermutlich nicht, dass sich mit dieser eigentlich so harmlosen Nachricht ein Loch unter Yuri auftat, dass ihn nach unten Riss, ähnlich einem nächtlichen Treppenabstieg, bei dem man die letzte Stufe verpasste. Zwar hatte Yuri es nie ausgesprochen, aber eigentlich hatte er ihm seine Heimatstadt zeigen wollen - irgendwann mal. Wenn er es nur vorgeschlagen hätte, vielleicht wäre Otabek dann nicht mir ihr dorthin gefahren.   Yuri Plisetsky - 05.06 9:40 »Klingt, als hättet ihr Spaß gehabt. Wir sind gerade aufgestanden und schauen mal, was wir in den letzten Tagen noch so machen. Ich hab keinen Bock nach Russland zu fliegen -.- Ist echt viel zu schön hier.«   Otabek Altin - 05.06 9:41 »Ihr werdet schon was finden. Ich muss mich jetzt nur ausruhen, ich bin völlig im Eimer. Genieße die restliche Zeit, wir hören uns dann später.«   Erleichtert und gleichzeitig seltsam enttäuscht schloss Yuri den Chat, ohne zu antworten. Das lief nicht so, wie erwartet. Im Gegenteil, Yuri spürte plötzlich eine unangenehme Distanz zwischen ihnen. Dieses Wort beschrieb ihren Chat von gerade eben ziemlich gut: Unangenehm. Und ziemlich gezwungen. Ob es zu offensichtlich rüberkam, dass er nichts von seiner „Bekanntschaft“ wissen wollte? Ob er Yuri deswegen auch abgewürgt hatte? Er konnte nur hoffen, dass es lediglich an Otabeks Müdigkeit lag. Schwer atmend drehte er sich auf den Bauch und wartete auf das Abklingen seiner Übelkeit, das nur sehr langsam vonstattenging. Panik ließ sie immer wieder neu aufkochen. Panik darüber, seinen besten Freund zu verlieren, weil er sich kindisch benahm. Er musste irgendetwas dagegen tun, aber die Lösung dafür blieb ihm vorerst verborgen. Zum hundertsten Mal las er sich den Chat durch, bis seine Augen an der ersten Nachricht von Otabek hängen blieben. »Hoffentlich genießt du deinen Urlaub weiterhin.« Wie aufs Stichwort klopfte es leise und zaghaft an seiner Tür, bevor sie sich aufschob und ein Gesicht mit schüchternem Ausdruck erschien. »Hey, Yuri. Victor und ich wollen mit Makkachin an den Strand. Kommst du mit?« Er verzog kurz das Gesicht, doch dann rappelte er sich auf. »Ja, okay. Aber wir suchen uns einen Platz im Schatten! Hab keinen Bock wirklich ‘nen Sonnenstich zu kriegen!« Yuuri grinste ihn an. »Das ist bestimmt machbar.« »Ich komm‘ dann gleich, wartet einfach draußen oder so.« Das Katsudon nickte nur, dann ließ es ihn wieder allein. Yuri stand auf und packte wahllos irgendwelches Zeug in den Rucksack. Er konnte nicht leugnen, dass er sich freute und froh war, dass sie ihn wieder dabeihaben wollten. Vielleicht der erste Schritt in die richtige Richtung. Vielleicht sollte er fürs erste wirklich die letzten Tage in Hasetsu genießen.   Er gab sich alle Mühe und tatsächlich: Das flaue Gefühl in seinem Magen verschwand langsam zwischen Meerwasser, Spaziergängen und Spieleabenden. Auch die Chats mit Otabek entspannten sich wieder, obwohl wenn Yuri weiterhin feige blieb und ihn nicht nach dem Mädchen fragte. Er wusste nicht genau, woher die Angst kam, oder vor welcher Antwort er sich eigentlich fürchtete. Sein Geist blockierte einfach, seine Finger erstarrten. Und er lenkte jedes aufkommende Gespräch über Russland in eine andere Richtung. Otabek sagte nichts dazu, ließ es sich nicht anmerken, falls er sich darüber ärgerte. Yuri dankte es ihm im Stillen, doch sich selbst verachtete er schon fast. Was auch immer Victor und sein Katsudon heimlich besprochen hatten, das Ergebnis war, dass auch sie ihn während der letzten Urlaubstage in Ruhe ließen, nichts mehr sagten, nichts mehr fragten. Im Gegenteil, sie trugen einen großen Teil dazu bei, dass Yuri sie so unbeschwert wie möglich verbringen konnte.   Er stand vor dem Spiegel und betrachtete sich von allen Seiten, zupfte den Kragen des Blazers zurecht. Dieses Teil machte wirklich etwas her. Yuri war so hingerissen davon, dass er ihn immer mal wieder aus der Shoppingtüte hervorholte und anzog. Vorerst sollte es jedoch das letzte Mal gewesen sein. Er streifte ihn von den Schultern und faltete ihn ordentlich, bevor er zusammen mit dem Rest seiner Klamotten im Koffer verschwand. Der letzte Abend in Hasetsu stand bevor und begrüßte ihn mit köstlichen Düften aus der Küche. Yuri entschied sich für ein lockeres Outfit und folgte dem Geruch. Die Stimmung glich der ihres ersten Abends im Onsen der Katsukis – die Menge an Besuchern ebenfalls. Wieder waren alle um die zusammengeschobenen Tische versammelt. Frau Katsuki hatte ihr Bestes getan, um ein fantastisches Abschiedsmahl zu zaubern und darauf bestanden, dass Yuri ihr zeigte, wie man die Katsudon-Piroschki von seinem Großvater zubereitete. Vermutlich hatte Yuuri einmal davon geschwärmt. Das Ergebnis schien zufriedenstellend, denn die Platte mit den Piroschki leerte sich beeindruckend schnell. Tatsächlich kamen sie so gut an, dass die Katsukis erwogen, es in ihre Speisekarte aufzunehmen – mit dem Namen Pork Cutlet Plisetsky**, was selbst Yuri zum Lachen brachte. Zum Höhepunkt des Abends überreichten Yuuri, Victor und Yuri den Katsukis ein Geschenk, um ihnen für den Urlaub zu danken: Flugtickets nach Vancouver, wo dieses Jahr das Grand Prix-Finale stattfand und Hotelreservierungen für ganze vier Tage, damit Yuuris Eltern und seine Schwester Mari den kompletten Turnierabschluss hautnah erleben konnten. Vor Begeisterung wurde daraufhin eine weitere Flasche Schampus entkorkt, von der sogar Yuri ein Glas trank. Eine halbe Stunde später wünschte er sich, mehr davon getrunken zu haben. Vielleicht hätte er dann besser mit dem Foto umgehen können, das Minako ihm aufgeregt unter die Nase hielt. Gerade wollte er einen Schluck Sprite nehmen, doch der blieb ihm im Halse stecken und Yuri spürte förmlich, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. »Scheiß Algorithmus! Ich sehe das erst jetzt! Wusstest du, dass er jetzt eine Freundin hat?« Yuri konnte das Lächeln von Otabek keine zwei Sekunden ertragen, deswegen richtete er den Blick in Minakos Gesicht, in der Hoffnung, dass man ihm seine Bestürzung nicht ansah. Möglichst teilnahmslos hob er die Schultern. »Hmpf, keine Ahnung, ob das wirklich seine Freundin ist.« »Hmm.« Minakos Daumen strich über das Smartphone. »Naja, die Kommentare sprechen ziemlich dafür. Und er streitet es auch nicht ab.« »Na dann wird es wohl so sein.« Yuri zwang sich einen weiteren Schluck Sprite hinunter, damit sein Hals nicht vollkommen austrocknete. »Wurde aber auch Zeit! Nie hat man ihm mit jemandem gesehen, obwohl er so gut aussieht und eigentlich ziemlich viele Anwärterinnen haben muss.« »Tja. Die Zeiten sind dann wohl vorbei.« Minakos Blick kribbelte forschend über seine Haut. Wahrscheinlich war sein Tonfall gegen Ende doch rapide gegen Antarktis gesunken. Doch, was auch immer sie gerade dachte, sie sagte nichts dazu, lächelte ihn an und stand dann auf, um sich zwischen Victor und sein Katsudon zu setzen. Yuri war froh darüber, dass ihn auch sonst gerade niemand beachtete. Minako hatte unbeabsichtigt eine Lawine von seltsamen Gedanken und Emotionen losgetreten, mit der Yuri nur schwer zurechtkam. Er brauchte einen Moment, um es einzuordnen. Zuletzt hatte er es vor Monaten gespürt, zu lang her, um sich sofort daran zu erinnern. Doch das plötzliche Kribbeln seiner Füße sprach für sich. Wenn er die Augen schloss, er würde sie spüren können: Die Klippe unter ihm, die Brandung, die mit kalten Händen nach seinen Fußgelenken griff. Noch bevor er die Augen schloss, wusste er, dass es zu spät zum Umkehren war. Er würde fallen. Er spürte es deutlich. Bemüht gelassen stand er auf und betrat den Garten. Niemand sah ihn argwöhnisch an oder fragte gar, wo er hinwollte. Das freudige Stimmengewirr strömte nach draußen und verflog an der frischen Luft. Instinktiv wusste er, wohin ihn seine Füße tragen würden. Wahrscheinlich hoffte er, dort nicht gefunden zu werden. Seine Ruhe zu haben. Er riss sich zusammen, solang, bis das Onsen außer Sichtweite war, dann rannte er los. Das Rauschen des Wasserfalls vermittelte ein Gefühl von Sicherheit, doch Yuri wusste, dass es eine Lüge war. Er hing in der Luft, nur ein seidener Faden hielt ihn an Ort und Stelle. Ein Faden, der in den letzten Tagen merklich an Kraft eingebüßt hatte. Nur wegen diesem dämlichen Foto. »Nein.« Yuri schüttelte den Kopf, als führte er eine Diskussion mit einem Geist. »Nicht das Bild ist daran schuld.« Er zog sein Smartphone hervor. Oh, welch dummen Fehler er gleich machen würde … Aber Minako hatte die Kommentare erwähnt, die Yuri von Anfang an bewusst ignoriert hatte. Das konnte er nun nicht mehr. Er brauchte eine Antwort, auch wenn er das Gefühl hatte, dass seine Angst jeden Moment zur klarer Form gerann und aus den Schatten der Bäume um ihn herum treten würde. Es war keine Angst vor der Antwort - sondern vor seinen Gefühlen, vor seiner eigenen Reaktion darauf. Dennoch schien eine seltsame Macht seinen Körper fernzusteuern, als er Otabeks Profil auf Instagram öffnete und das Foto antippte. Seine Augen flogen über den Bildschirm und mit jeder Zeile rutschte ihm das Herz tiefer in die Hose.   »Ist das deine Freundin?« »seid wann hast du ne freundin???« »Whoa, krass!« »Eh nicht dein ernst« »Ich wusste es :D :D :D« »die hats gut« »deine fruendni??« »oh nein, das wars dann wohl« »tolles Paar :)« »fuck jetzt ist er vom markt« »Wurde aber auch Zeit« »Scheiße, ich komm zu spät….«   Ja, er fühlte sich ähnlich. Zum ersten Mal spürte er, wie er mit irgendwelchen dahergelaufenen Fangirls einer Meinung war. Und dieser Gedanke erschütterte ihn. Er war … »… eifersüchtig.« Das Wort klirrte in seinem Kopf. Wahrscheinlich war das der springende Punkt. Er war neidisch auf das geheimnisvolle Privileg, das die unbekannte Schönheit bei Otabek genoss. Vermutlich irgendwelche tollen Eigenschaften, die sie über Yuri stellten und sie zu etwas Besonderem machten - wovon Yuri immer blind geglaubt hatte, es für Otabek zu sein. Aber er war es nicht. War es vielleicht nie gewesen. Hatte er sich selbst überschätzt und zu viel in manche Momente interpretiert, die für Otabek alltäglich waren? Yuris Erfahrungen in Sachen Freundschaft beschränkten sich auf das Mindeste, wie sollte er da einschätzen können, ab wann etwas exklusiv war? Der Kurzurlaub in Almaty, Motorradausflüge, Shoppingtouren, Hilfe in Physik, am See liegen und Musik durch das selbe paar Kopfhörer genießen ... Vielleicht war das alles für Otabek ganz normal, etwas dass er mit jedem seiner Freunde tat. Jedoch wisperte eine böse Stimme in sein Ohr, dass es ihm in Wahrheit nicht um Freundschaft ging. Sein Brustkorb quetschte sich schmerzhaft zusammen. Er wollte nicht darüber nachdenken. Er wollte und konnte nicht. Um sich abzulenken, scrollte er weiter durch die Kommentare - wahrscheinlich seine schlechteste Idee des Abends, wenn nicht sogar des gesamten Jahres. Und dann, inmitten all der sinnlosen Bemerkungen, stach ihm plötzlich eine ins Auge. Eigentlich war sie so unauffällig, dass er sie beinahe übersah - wenn sie nicht die einzige mit einer Antwort von Otabek gewesen wäre.   zanila.smirnowa: ♥ otabek-altin: ♥ ;)   Da war sie wieder, die Faust, die in seinen Magen schlug - dieses Mal allerdings mit Eisenstacheln besetzt. Schwindel erklomm ihn und ließ ihn Sterne sehen, zwang ihn, sich ins weiche Gras zu legen. Er spürte den Fall, doch ein Aufprall blieb aus. Jetzt wartete er beinahe sehnsüchtig darauf, in der Hoffnung, von seinen Gedanken erlöst zu werden. Denn die Stimme hatte Recht. Das war keine normale Eifersucht, sondern etwas anderes, etwas viel Größeres … Schnappatmung setzte ein. Ein weiterer Blick aufs Display, während er sich zitternd den Schweiß von der Stirn wischte. Otabeks Lächeln war unerträglich. Ihm war so unglaublich schlecht. Niemals hätte er gedacht, dass - »Nein, nein, nein, nein!« Dieser Gedanke war so lächerlich, dass Yuri heiser auflachte. Sie waren Freunde, die besten sogar. Anscheinend war die Freundschaft zu Otabek nur wahnsinnig eng. So eng, dass es direkt schmerzte, ihren Kommentar und seine Antwort zu lesen. Warum sonst verletzte ihn das so sehr? »Dieser beschissene Sekt!« Warum nur hatte er wieder so einen Scheiß getrunken, wo er doch wusste, dass er ihn nicht vertrug? Wenn er bei Sprite geblieben wäre, würde er jetzt weiterhin bei der Feier sein und sich nicht so dermaßen bescheuert aufführen! Und schlecht wäre ihm auch nicht. Wütend schaltete er sein Smartphone komplett aus. Instagram konnte ihn für die nächsten Tage gestohlen bleiben. »Du beruhigst dich jetzt. Du stehst gleich auf und gehst zurück ins Onsen. Du setzt dich zu den anderen an den Tisch und feierst und hast gute Laune.« Er wiederholte diese Worte wie ein Mantra, versuchte sich dabei auf das Rauschen des Wasserfalls zu konzentrieren. Irgendwann wurde es leiser, bis es kaum noch zu hören war. Aber es war noch um ihn herum, nur klang es jetzt plötzlich … wie von einem See. »Yuri.« Tausende Sterne glitzerten in der Nacht und der Mond schien näher, als jemals zuvor. Er starrte ihn an und seine Augen weiteten sich. Er glaubte Otabek neben sich liegen zu spüren, den Kopf auf seinen verschränkten Armen gebettet. »Du hast echt gute Musik auf deinem Smartphone.« Seine Stimme jagte Wellen durch seinen Körper, schwemmte eine Erinnerung an die Oberfläche. Ein Beben rauschte heran, doch es kam nicht aus der Erde, es kam aus seiner Brust. Sein Herz schlug gegen seinen Kehlkopf, Dornen drückten und schnitten in seinen Magen. Kein Traum, auch wenn es sich danach anfühlte. Er wusste es, weil er mit einem Mal heiße Tränen spürte, die schwer und dick von seinen Schläfen perlten und im Gras versanken. Und wie schmerzhaft wünschte er sich nun, dass es doch nur ein Traum wäre. »Wach endlich auf, Yuri.« Teil vierzehn: »Erkenntnis« --------------------------- Zanila Smirnowa. Yuri hätte nicht gedacht, dass er Menschen - mit Ausnahme vielleicht von JJ - hassen konnte, ohne sie überhaupt richtig zu kennen. Gut, die Annahme, dass er im Grunde niemanden mochte, stimmte irgendwie. Es gab tatsächlich nur eine Hand voll Ausnahmen. Leute, die er wirklich leiden konnte. Sein Großvater, Yakov, Lilia und … ja, zugegeben, auch Victor und sein Katsudon gehörten seit Kurzem irgendwie dazu. Aber Hass? Hass überstieg Unsympathie bei Weitem. Es war ein so großes, so mächtiges Gefühl, dass es ihn ängstigte. Ähnlich wie Freundschaft. Und gerade eben wünschte er sich von ganzem Herzen, dass er doch einfach weiter einsam und ohne Otabek als Freund geblieben wäre. Zanila Smirnowa. Sie war schön, ohne Frage. Wahrscheinlich entsprach sie genau Otabeks Typ. Jedoch konnte Yuri sich dem nicht sicher sein, wo sie doch niemals über solche Themen gesprochen hatten … Er fragte sich, warum das eigentlich nie zu Wort gekommen war. In ihrem Alter drehte sich normalerweise so gut wie alles darum. Vielleicht konnte er sich Otabek schlichtweg nicht in einer Beziehung vorstellen. Oder er wollte nicht. Zanila Smirnowa. Immer wieder sprach er innerlich diesen Namen aus und spürte den Hass auf sich niedergehen, wie das Wasser, das kalt und schwer seine Schultern peitschte. Wut, Gram und Angst schüttelten ihn. Wut auf Otabek, Gram vor sich selbst und Angst davor, dass er ziemlich in der Klemme zu stecken schien. So sehr er sich auch anstrengte, das Gefühl, dass nun alles anders werden würde, ließ sich nicht abschütteln. Als sei etwas zwischen ihnen zu Bruch gegangen, etwas Seltenes und Kostbares, etwas, dass sich nicht reparieren ließ, sollte man es einmal unvorsichtig behandelt haben. Yuri wusste nur nicht, was es war. Mit gesenktem Kopf stand er da, konzentrierte sich auf das Dröhnen des Wassers über und unter ihm. Es war so kalt, dass sein Blut langsamer zu fließen schien und seine Atmung schwer ging. Er musste um jeden Zug kämpfen und trotzdem fühlte er sich viel besser, als noch vor wenigen Minuten auf der Wiese. Nun, klatschnass von oben bis unten, konnte er wenigstens so tun, würde es diese Tränen gar nicht geben. Alles halb so schlimm. Momentan dominierte die Wut und nur mit Wut konnte er die anderen Gefühle bekämpfen. Er kniff die Augen zusammen, ballte die Hände zu Fäusten. Seine Haut spannte so sehr, dass selbst diese kleine Bewegung schmerzte. Ruckartig legte er den Kopf in den Nacken, der Wasserstrahl trommelte auf seine Stirn und beschwor Kopfschmerzen. Wasser lief über und aus seinen Augen. Die verräterischen heißen Spuren auf seinen Wangen belehrten ihn eines Besseren. Schnell wollte er sie sich aus dem Gesicht wischen, doch da umschlossen fremde Finger sein Handgelenk und ließen ihn zusammenzucken. »Yuri! Hey, was -« Er riss die Augen auf. Sekunden vergingen, bis er im Nebel des Wasserfalls ein passendes Gesicht zu der Stimme erkannte. »Was machst du denn?« Das Schweinchen musste regelrecht brüllen, um das Tosen um sie herum zu übertönen. Eigentlich verstand Yuri ihn nur, weil er es von seinen Lippen ablas. Andere hätten ihn gefragt, ob er noch ganz dicht war, oder noch alle Tassen im Schrank hatte, doch das Katsudon blieb, ganz seinem Charakter entsprechend, ekelhaft höflich. Noch immer hielt er ihn fest und Yuri sah dabei zu, wie sich seine Kleidung langsam mit Wasser vollsog, während er versuchte seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Seine Ärmel waren bereits vollständig durchnässt. Yuri wollte sich losreißen, doch sein Griff war überraschend fest, sodass er nur taumelte und ihn noch weiter mit sich unter den Wasserfall zog. »Lass los, du Idiot!« Immer erwischten sie ihn in Momenten, wo er es absolut nicht gebrauchen konnte. Wahrscheinlich rochen sie es. Aber Yuuri meinte es offenbar nicht böse. Auf seinem Gesicht spiegelte sich die pure Besorgnis, während er sich abmühte, selbst nun triefend nass, sie beide unter dem Wasserfall heraus zu holen. Welch Ironie, dass sie diesen Moment schon einmal zusammen durchlebt hatten. Sein Griff wollte sich nicht lockern und schließlich ergab Yuri sich und folgte ihm mit hängendem Kopf ins Trockene. »Alles in Ordnung?« Nein. Nichts war in Ordnung. Er glaubte alles Positive in seinem Leben im Rauschen des Wassers zurückgelassen zu haben. Trotzdem bemühte er sich möglichst überzeugt zu klingen. »Mir gehts gut.« Ein Lächeln versuchte er gar nicht erst, denn das war zum Scheitern verurteilt. Aber immerhin konnte man - so hoffte er jedenfalls - keine Spur von Tränen mehr in seinem Gesicht ausmachen. Yuuri schwieg einen Moment, während sein forschender Blick Yuris mühselig aufrecht erhaltene Fassade durchdrang, als würde er durch Glas blicken. »Deine Augen sind rot.« Ein simpler Satz, der das Glas zerspringen ließ. Trotzig wischte er sich übers Gesicht. »Vertrage das Wasser einfach nicht.« Schweigen. Argwohn. Yuri konnte dem Schweinchen nichts vormachen, das spürte er genau. Ratlose Stille hing zwischen ihnen. Falls Yuuri etwas sagen wollte, so behielt er es für sich. »… Wir sollten zurück.« Plötzlich alamiert riss Yuri seinen Blick nach oben. »Haben … Haben die anderen bemerkt, dass ich weg bin?« Trotz der Nässe brach ihm der Schweiß aus. »Nur Victor und ich.« »Hmpf.« Das waren zwei zu viel. »Na los.« Yuuri startete einen zweiten Versuch, ihn weg zu ziehen. »Wir können uns ins Onsen schleichen und uns aufwärmen.« Yuri fragte sich, woher er immer diesen Optimismus nahm. Sein eigener bewegte sich irgendwo im Minusbereich. Aber der Vorschlag klang wirklich nicht schlecht. Er fror erbärmlich und wahrscheinlich ging es seinem Gegenüber nicht viel besser. Also nickte er und während sie sich auf den Weg zurück machten, klaubte er sein Smartphone auf, das unschuldig auf der Wiese lag. Sie liefen langsam nebeneinander her, folgten dem Mondlicht und den Geräuschen, die jetzt allmählich aus der Richtung der Feier zu ihnen hervordrangen. In seiner Gegenwart fühlte sich Yuri seltsam sicher. Es wurde nichts gefragt, nichts gesagt. Ihr Schweigen glich einem stillen Versprechen, einem Geheimnis, das sie mit ins Grab nehmen würden, unausgesprochen und trotzdem existent. »Wie lang war ich weg?« »Hm.« Yuuri kratzte sich am Kopf, während er überlegte. »Weiß nicht. Vielleicht ‘ne Stunde. Victor und ich dachten erst, dass du schon schläfst. Aber deine Zimmertür stand sperrangelweit offen und du warst nicht da … wir haben uns Sorgen gemacht.« Etwas durchfuhr ihn und Yuri brauchte einen Moment, um es als Reue zu erkennen. »Wie hast du mich gefunden?« Einfache Fragen, die einfache Antworten brachten - und mit ein bisschen Glück würde er sich so von allem anderen ablenken können. »Tja. Gute Frage.« Vorsichtig wandte er sich ihm zu. »Ich hab‘s irgendwie … gespürt?« »Aha.« Yuuri lächelte matt. »Schon seltsam, oder? Irgendwie hat mich das an damals erinnert, als Victor uns zum Nachdenken verdonnert hat.« Er kam nicht umhin, das Lächeln schmal zu erwidern. »Hab’ vorhin dasselbe gedacht.« Mittlerweile waren sie dem Onsen so nahe, dass die Geräusche sich zu klarem Stimmengewirr und Gelächter formten. Warmes Licht drang aus der geöffneten Tür zur Lobby und tauchte den Garten in entspannte Atmosphäre. Yuri wünschte sich, einer von den Feiernden zu sein. Dann könnte er sorgenlos Katsudon in sich hineinschaufeln und Gespräche über Musik führen, wie an ihrem ersten Abend des Urlaubs. »Wir gehen einfach von der anderen Seite rein, dann sieht uns niemand.« Im Schatten des großen Hauses folgte Yuri ihm, mittlerweile zitternd vor Kälte. Die Dämpfe der heißen Quelle begrüßten sie einladend. »Steig schon rein. Ich hole trockene Sachen für uns.« Und schon hatte er sich auf leisen Sohlen ins Haus geschlichen. Yuri zögerte nicht lang und entledigte sich seiner Klamotten, die ihn unangenehm am Körper klebten. Bevor er ins Becken stieg, legte er sein Smartphone gewissenhaft an einen sicheren Platz. Die plötzliche Hitze brannte auf seiner Haut, doch schon nach wenigen Sekunden verflog der anfängliche Schmerz und er konnte sich zurücklehnen. Mit geschlossenen Augen tauchte er unter und erst, als ihm der Sauerstoff ausging, kehrte er luftschnappend zurück. »Und, geht es besser?« Er fuhr zusammen und stieß sich den Ellenbogen am Becken. Yuuri saß ihm gegenüber, nur sein Kopf war zu sehen. Wann war er eingestiegen? »Victor wollte mitkommen, aber ich habe ihn gebeten bei den anderen zu bleiben. Das hätte sonst zu viel Aufmerksamkeit erregt.« »Hmpf.« Yuri rieb sich den pulsierenden Arm. »Die anderen wissen von nichts?« Zur Antwort zuckte das Schweinchen mit Unschuldsmine die Schultern. »Wir sind nur ein wenig spazieren, weil ich einen über den Durst getrunken habe und frische Luft brauche. Ist doch nichts dabei.« Er zwinkerte ihm zu. »Und?« »Und was?« Yuri rutschte unruhig hin und her. Sie hatten in den letzten Tagen eine Menge Zeit miteinander verbracht, doch niemals, wie ihm gerade bewusst wurde, nur zu zweit. Immer war entweder Victor oder ein anderes Familienmitglied dabei gewesen. »Geht’s dir besser?« »Ich friere nicht mehr, also ja.« Hoffentlich entkam er damit endlich weiteren Fragen. Yuuris dunkle Augen fixierten ihn. Er wirkte müde, doch in seinem Blick lag eine erstaunliche Klarheit. Aufmerksam musterte er ihn, schien auf etwas zu warten, was allerdings nicht kam. Erst als er sich von ihm abwandte und gen Himmel sah, entspannte Yuri sich etwas. Eine Weile erfüllte nur das leise Plätschern des Wassers und ihr schwerer Atem die Umgebung. Schließlich strich sich Yuuri die nassen schwarzen Haare aus dem Gesicht und lächelte schwer. »Ich hoffe, … dass dir der Urlaub gefallen hat.« Er sprach vorsichtig, als könnte seine Stimme den Einklang zwischen ihnen zerschmettern. Yuri nickte. »Die Onsen werden mir fehlen.« »In Russland gibt es bestimmt auch Thermen, die wir besuchen können, wenn du willst.« »Das ist doch nicht dasselbe.« »Ja, schon. Aber … das täte uns bestimmt gut.« Yuri legte den Kopf in den Nacken, beobachtete ebenfalls die Sterne. Nachts zu baden hatte schon etwas für sich. »… Ja. Vielleicht.« Zufrieden griff Yuuri nach seinem Handtuch, während er sich erhob. »Lass uns reingehen. Sonst schöpft vielleicht wirklich jemand Verdacht.« Yuri wollte am liebsten die ganze Nacht in den Quellen verbringen und konnte sich nur schwer zum Aufstehen überwinden. »Ist wohl besser, wenn ich gleich schlafen gehe.« Er wickelte das Handtuch um sein Haar und stieg in die Sachen für die morgige Rückreise, die Yuuri für ihn aus seinem Zimmer geholt hatte. Das Smartphone wanderte in seine Hosentasche. »Okay.« Yuuri schien mit sich zu hadern, obwohl ihm offensichtlich etwas auf der Zunge lag. Unschlüssig und etwas ratlos standen sie sich gegenüber. Bewusst desinteressiert blickte Yuri in eine andere Richtung. Er ahnte, worauf er hinauswollte, kam ihm aber nicht zur Hilfe und erwiderte nichts. »Wenn du … über irgendetwas reden willst …« »Nein!« Wieder ballte sich seine Hand zur Faust. Er wich einen Schritt zurück, als befürchtete er jeden Moment einen körperlichen Angriff. Das Schweinchen hob abwehrend seine Hände, musterte ihn dennoch entschlossen. »Du musst nicht. Ich will nur, dass du weißt, dass du immer zu mir und Victor kommen kannst. Egal wann.« Yuri schnaubte und schämte sich für seine Reaktion auf ein Angebot, dass von nichts anderem zeugte, als von Gutherzigkeit und Sorge. Er konnte es nicht annehmen. Vielleicht, weil er nicht wollte. Viel eher aber, weil er ein Feigling war und als einer sterben würde. »Es gibt nichts, worüber ich reden will.« Damit wandte er sich um und ließ ihn stehen.   Zanila Smirnowa. Geräuschlos glitten sie durch den Himmel, teilten Wolken und hinterließen Streifen am Horizont. Schon seit Stunden war die Landschaft unter ihnen nur ein winziges Gemälde, eingerahmt von runden Fenstern. Stecknadelgroße Städte, filigrane Autobahnlinien, winzige Berge mit Hüten aus Zuckerwatte. Die meisten Passagiere schliefen, Yuri allerdings war hellwach. Immer wieder schaute er forschend um sich, doch niemand schenkte ihm Beachtung. Die beiden Turteltauben schliefen seelenruhig, Yuuris Kopf auf Victors Schulter, ihre Finger ineinander verflochten. Widerwillig wandte er sich wieder dem Display seines Smartphones zu. Das WLAN im Flugzeug war schwach und ihr Profil öffnete sich nur sporadisch – Yuri konnte nicht bestreiten, dass er dankbar um diesen Zustand war. Die wenigen Fotos in der winzigen Vorschau stellten das typisch langweilige Leben einer jungen Frau dar, die offenbar an irgendeiner Universität in Moskau studierte. Yuri erkannte die Stadt an den berühmten Denkmälern und Sehenswürdigkeiten, die jeder dahergelaufene Tourist fotografierte. Inmitten von Starbucks-Kaffeebechern und Schuhen von Nike waren das tatsächlich die gelungensten Fotos. Keine Selfies. Alles ziemlich durchschnittlich. Gerade wollte er ihr Profil schließen – sein Daumen schwebte bereits über dem Home-Button – da erregte das neueste Foto in ihrem Feed seine Aufmerksamkeit. Er hatte ihm bis jetzt keine Beachtung geschenkt, einfach, weil es ewig lang nicht angezeigt worden war. Es war eines von so vielen, glich fast allen anderen, die sie gepostet hatte. Was fand sie nur an ihren eigenen Schuhen so spannend? Jedoch starrte er auf das zweite Paar, die zu jemandem gehörten, der ihr gegenüberstand. Diese abgewetzten Boots hätte er überall erkannt. Otabeks Motorradstiefel. Beklemmung wallte durch sein Inneres. Nervös besah er sich den Post näher und erfuhr doch nicht viel mehr, als die Vorschau anbot. Er scrollte nach unten.   »Er fliegt schon wieder. Abschiede fallen echt schwer.«   Yuris zähne knirschten, eine dicke Ader pulsierte an seiner Schläfe. Am liebsten hätte er sein Smartphone aus dem Fenster geworfen. »Dumme Kuh!« Einige Gesichter wandten sich ihm zu. Er ignorierte sie und steckte sich die Stöpsel seiner Kopfhörer in die Ohren. Musik. Er brauchte jetzt Musik. Da kam ihm ein Sprichwort in den Sinn. Wie ging das noch gleich und von wem war es? Genau … Manchmal hilft nur Musik, wenn man schlecht drauf ist. Er kniff die Augen zusammen. Otabek. Natürlich hatte Otabek das einmal geschrieben. Er scrollte durch seine Playlist, nur um bei NOX inne zu halten. Immer wieder dieses Album, als gäbe es sonst keine Musik auf der Welt. Doch hier war er sich sicher, sich entspannen zu können – dachte er jedenfalls. Doch bereits beim zweiten Titel musste er es wieder abschalten. Heute beruhigten ihn die tiefen Riffs nicht. Im Gegenteil, sie wühlten ihn nur noch stärker auf. NOX war geprägt von dunklen Melodien und dichter Atmosphäre, jeder Song erzählte seine ganz eigene Geschichte, die sich trotzdem in einer poetischen Klarheit in der Mitte trafen. Genau das mochte er an dieser LP so sehr. Ja, es mochte ein trauriges Album sein, anziehend und abstoßend gleichermaßen, jedoch war es immer von inspirierender Zuversicht begleitet, von dem Gefühl, dass schon alles wieder gut werden würde. Das alles fehlte plötzlich komplett. Zurück blieb nur bodenlose Tragik, einem schwarzen See gleichend, in dem er immer tiefer versank. Wütend und frustriert gleichermaßen riss er sich das Headset herunter. Alles, was ihm auf irgendeine Art und Weise Halt gab, schien ihm zu entgleiten. Er fühlte sich hilfloser, als ein Wurm am Angelhaken. Selbst die Wolken, deren fantastische Formen ihn immer fasziniert hatten, hingen träge und unmotiviert am Himmel. Er checkte die Uhrzeit und stellte verbittert fest, dass er noch gute drei Stunden ein Gefangener der Luft war. Vielleicht sollte er es zum hundertsten Mal mit Schlafen versuchen. Er lehnte sich zurück, seine Jacke vorübergehend als Kissen dienend, und schloss angestrengt die Augen.   Kein Schlaf, eher ein träges Dahindämmern - aber wenigstens ohne wirre Gedanken, die seine Synapsen verknoteten. Müde zog er seinen Koffer hinter sich her. Auch Victor und das Schweinchen waren sehr schweigsam. Zwar war der Jetlag mit nur zwei Stunden halbwegs verkraftbar, dennoch laugten derart lange Flugstrecken auch die strapazierfähigsten Menschen aus. Allesamt gähnend verließen sie den Flughafen, selbst die merklich kühleren Temperaturen und die schweren Regentropfen befreiten sie nicht von ihrer Trägheit. Allerdings hielten sie überrascht inne, als ihnen auf dem Parkplatz, zwischen all den zerbeulten Karren, die man in Russland üblicherweise fuhr, ein nahezu perfekt gepflegter Wagen auffiel. Yuri erkannte ihn sofort. Bei dieser scheußlichen roséfarbenen Lackierung rollten sich regelmäßig seine Zehennägel hoch. Und dennoch passte sie außerordentlich gut zu der Besitzerin des Wagens. Lilias offensichtliche Schwäche für diese Farbe zeigte sich nicht nur durch ihr Auto, sondern auch an ihrem Teeservice und dem filigranen Schmuck, der ihren schlanken Hals und die eleganten Finger zierte. Unter dem Schutz des Regenschirmes warteten sie, doch als sie die Neuankömmlinge bemerkten, kam Yakov darunter hervor und öffnete den Kofferraum. Nach einer, dem Wetter geschuldeten, recht hastigen Begrüßung, luden sie ihr Gepäck ein und krochen ins trockene Innere des Wagens. Erleichtert schlugen sie die Türen zu. Yuri blieb nicht viel Zeit, um über die seltsame Tatsache nachzudenken, dass Yakov hinter dem Steuer saß - wo Lilia eigentlich niemand anderes ihren Wagen fahren ließ. »Willkommen zurück.« »Danke, sehr lieb.« Yuuri tätschelte, müde lächelnd, Makkachins Kopf. »Hoffentlich habt ihr das Wetter da genossen. Hier gießt es seit Tagen wie aus Kübeln.« »Hmpf.« Das entsprach in etwa genau Yuris Stimmung. Wasser lief die Fensterscheiben hinunter. Er verbrachte die kurze Autofahrt damit, die zarten Linien mit seinen Augen nachzuzeichnen.   Als er sein Zimmer betrat und den vertrauten, sonst nie wahrnehmbaren Geruch einatmete, begrüßte er zum ersten Mal seit Tagen die Stille, die ihn empfing. Allein zu sein hatte seine Vorzüge - und nichts anderes wollte er in diesem Moment. Den Koffer ließ er unbeachtet in der Mitte des Raumes stehen. Vielleicht langweilte er sich an einem späteren Zeitpunkt ja so sehr, dass er ihn freiwillig auspackte. »Potya?« Das Wort war noch nicht komplett über seine Lippen gekommen, da gruben sich bereits winzige Krallen in den Stoff seiner Jeans. Er beugte sich herunter und nahm seinen Kater, der auf zwei Beinen stehend an ihm hochklettern wollte, auf die Arme. »Wenigstens einer, der sich wirklich auf mich gefreut hat.« Zur Bestätigung stupste Potya seinen kleinen Kopf gegen Yuris Nase. Er drückte ihn an sich und vergrub sein Gesicht in dem weichen Fell. »Hast mir gefehlt.« Einige Minuten verharrte er, lauschte seinen eigenen Atemzügen und behielt die Augen geschlossen. Ein Klopfen an der Tür ließ ihn hochschrecken. Potya begann zu strampeln und bat so um Freiheit, die Yuri ihm gewährte. »Hast du Hunger?« Lilia hatte die Tür geöffnet, blieb aber draußen. »Bisschen, ja.« »Es gibt Piroschki.« Ihr Lächeln erreichte tatsächlich ihre stark geschminkten Augen. Noch immer wunderte er sich, wie rapide besser ihr Verhältnis seit der Aussprache war. »Bin gleich da.« Er machte eine vage Bewegung in sein Zimmer. »Hab noch … was zu tun.« Ohne weiter nachzuhaken ließ sie ihn wieder allein. Seufzend zog Yuri sein Smartphone hervor. Schon den ganzen Tag über war es ruhig geblieben, ohne irgendwelche Benachrichtigungen. Er war sich nicht einmal sicher, ob es ihn überhaupt interessierte. Trotzdem öffnete er den Chat und tippte, vielleicht nur von der Gewohnheit angetrieben, eine Nachricht.   Yuri Plisetsky – 10.06 17:52 »Bin wieder in Russland. Flug war gut, aber ich konnte nicht schlafen. Gibt gleich Piroschki … Bei dir alles okay? Irgendwie schreiben wir seit ein paar Tagen kaum noch. Mich nervt das! «   »Fuck, ich hab’s abgeschickt!« Mit enormer Wucht traf seine Hand seine Stirn. »Fuck, fuck, fuck!« Er war so ein Idiot! Die Worte, entsprungen aus seiner Wut über diese belastende Funkstille, hatte er doch eigentlich löschen wollen … zumindest den letzten Teil. Jetzt war Otabek Zeuge seiner unverhohlenen Dummheit. Er sandte ein Stoßgebet zum Himmel, auf dass sich der Boden unter ihm auftun und ihn verschlingen mochte. Nichts dergleichen geschah. Die alten Dielen knarrten nur armselig unter seinen Füßen, als er sich in Bewegung setzte und sich ins Esszimmer begab. Sein Smartphone, das er vor Scham wahrscheinlich die nächsten Tage nicht anrühren würde, blieb auf dem Schreibtisch zurück.   Frisch geduscht und gesättigt kehrte er in sein Zimmer zurück. Lilias Kochkünste hatten ihm tatsächlich gefehlt, ebenso seine Joggingtouren durch den Park. Während der letzten zwei Wochen war an richtiges Training nicht zu denken gewesen und um dem zu trotzen, war er direkt nach dem Essen in seine Laufschuhe gestiegen. Jetzt, reichlich ausgelaugt, erschien ihm sein Bett wie das Paradies auf Erden. Wie ein Stein fiel er in die weichen Kissen, alle Glieder von sich gestreckt. Zwei Wochen Lotterleben zog Konsequenzen nach sich, die sich in Verlust von Kondition äußerten. Nicht imstande sich noch ein einziges Mal mehr zu bewegen als nötig, schielte er auf sein Smartphone, dass er auf dem Weg zum Bett von seinem Schreibtisch stibitzt hatte. Ruckartig setzte er sich auf. Eine Antwort von Otabek. Die Piroschki in seinem Magen schienen plötzlich eine Tonne zu wiegen. Ob er sauer wegen dieser dummen Nachricht war? Nun, das würde er nur herausfinden, wenn er den Chat las. Er schluckte schwer und entriegelte den Sperrbildschirm.   Otabek Altin - 10.06 19:34 »Freut mich, dass du gut gelandet bist. Ich habe momentan viel um die Ohren. Tut mir leid. Aber das sollte sich bald erledigt haben.«   Okay, wütend schien er nicht zu sein. Erleichtert atmete er auf und gleichzeitig fragte er sich, was ihn denn so auf Trab hielt.   Yuri Plisetsky - 10.06 20:17 »Was geht denn bei dir ab? Irgendwas schlimmes? :O«   Otabek Altin - 10.06 20:18 »Das ist eine lange Geschichte und würde unseren Chat sprengen. Hast du Lust in den nächsten Tagen zu skypen? Dann erzähle ich es genauer.«   Yuri Plisetsky - 10.06 20:20 »Geht klar! Freitag? Da hab ich nur bis drei Training :D«   Otabek Altin - 10.06 20:25 »Gut, das schaffe ich. Aber bis dahin habe ich alle Hände voll zu tun und nicht so viel Zeit.«   Das klang, als wäre tatsächlich irgendetwas Großes bei ihm im Gange. Vielleicht ein größerer Gig als DJ, auf den er sich vorbereiten musste? Oder hatte er sein Trainingspensum erhöht? Yuri wusste nicht, ob er wirklich scharf darauf war es zu erfahren, denn Otabeks Stress könnte auch andere Gründe haben … zum Beispiel ein Mädchen in Russland. Schnell schüttelte er den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Er wollte nicht schon wieder über dieses Thema nachdenken.   Yuri Plisetsky - 10.06 20:31 »Also hören wir uns spätestens am Freitag! Überanstreng dich nicht so :D«   Otabek Altin - 10.06 20:32 »Freu mich drauf. ;)«   » … Ich mich auch.« Am liebsten hätte er ihm das auch so geschrieben, doch ein beklemmendes Gefühl hinderte ihn daran. Er freute sich wirklich darauf, ihn wieder zu sprechen. Gleichzeitig entfaltete sich Angst vor irgendwelchen schockierenden Neuigkeiten in seiner Brust. Davon hatte es in den letzten Tagen eindeutig zu viele gegeben.   Anders als in Hasetsu flossen die Tage in Russland zäh und trübe dahin. Obwohl sich die Sonne immer öfter blicken ließ, erreichten sie doch keine sommerlichen Temperaturen, pendelten permanent knapp über zwanzig Grad. Yuri flüchtete sich in Training und Ballett, um nicht an den Freitag denken zu müssen, der langsam in greifbare Nähe rückte. Immer, wenn er sich doch dabei erwischte, wallte eine glimmend heiße Aufregung in seinem Inneren empor. Das selbe Gefühl, wie damals, kurz vor ihrem Wiedersehen - dieses Mal allerdings nicht von nervöser Euphorie begleitet, sondern von Fluchtinstinkten und Ausreden, um nicht bei Skype online gehen zu müssen. Absichtlich trödelte er herum. Alle anderen waren schon verschwunden, bereit den Nachmittag in vollen Zügen zu genießen. Yuri duschte beinahe eine Stunde, bis er sich überwinden konnte und ausstieg. Träge trocknete er sich ab, föhnte sein Haar und stieg in seine Anziehsachen. Yakov und Lilia waren bereits vorgegangen, nachdem er sie überzeugt hatte, dass er den Heimweg auch joggend zurücklegen konnte. Jetzt, als er seine Schlittschuhe wegsperrte, war er froh darum. Vielleicht flaute seine Unruhe so ein wenig ab. Natürlich tat sie das nicht. Nervös sperrte er die Tür auf und kickte seine Schuhe von den Füßen. Aus dem Wohnzimmer drang leises Gelächter an seine Ohren. Yakov und Lilia hielten offenbar wieder eines ihrer neuesten Rituale ab: Im Wohnzimmer sitzen und bei Wein und Kaminfeuer irgendwelche Gespräche führen. Zu aufgewühlt, um sie zu begrüßen, steuerte er direkt sein Zimmer an. Vor wenigen Minuten war eine Nachricht von Otabek eingetrudelt: Er war bereits online und wartete auf ihn. Sein Laptop brauchte ungewohnt lang, um hochzufahren. Normalerweise führte er solche Chats immer in seinem Bett, das Gerät auf dem Schoß gebettet und sein Kopf gestützt von Kissen und abertausenden Katzenplüschtieren. Heute saß er kerzengerade vor dem Schreibtisch, nicht in der Lage sich zu entspannen. Das Öffnen von Skype kam einem Gang zum Galgen gleich. Nervös wartete er, während sich die Verbindung aufbaute. Das Nervige Bimmeln, dass einen eingehenden Anruf signalisierte, vertrieb ihm beinahe aus dem Zimmer. Kurz biss er die Zähne zusammen, bevor er sich wappnete und das Gespräch startete. Otabeks Gesicht flammte auf, zuerst verpixelt, doch nach wenigen Sekunden war die Verbindung stabil, während Yuri sprichwörtlich der Arsch auf Grundeis ging. Offenbar saß er auf der Couch. Yuri erkannte das Plattenregal und seine Konsolensammlung im Hintergrund und wünschte sich plötzlich schmerzlich zurück nach Almaty. Reiß dich zusammen, du dummer Idiot! »Hey.« Ein schiefes Lächeln und in Yuri explodierte alles. Er spürte förmlich, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Da war dieses Gefühl in seiner Brust. Taubheit breitete sich in seinen Beinen aus, während seine Hände unkontrolliert zu schwitzen begangen. Sein Herz schlug so schnell, dass er für einen Moment alles nur durch einen trüben Schleier wahrnahm. Nur wegen eines Lächelns, das allein ihm galt. »Ähm, hi.« Gott, mit dieser hohen Stimme war ihm jede Hauptrolle in der Oper sicher. »Wie geht’s denn so?« Brummend fuhr Otabek durch seine Frisur. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, seine Haltung ungewohnt träge und nicht so kraftvoll, wie Yuri es von ihm kannte. Trotzdem starrte er ihn an. »Jetzt besser.« Staubige Trockenheit nahm seinen Mund ein, seine Zunge schien verknotet und er brachte kaum ein Wort heraus. »Und dir?« Ein wenig zu schnell und übertrieben gelassen winkte er ab, in der Hoffnung, dass Otabek sein peinliches Benehmen nicht bemerkte. Ein Wunder, dass sein Haaransatz bei der Hitze in seinem Gesicht noch nicht in Flammen aufgegangen war. »Keine Spur mehr von Urlaub, aber das Training läuft gut.« »Wenigstens bei einem.« Otabek lehnte sich zurück, gähnte hinter hervorgehaltener Hand. »Ich hinke ziemlich hinterher.« Angespannt rutschte Yuri auf seinem Stuhl herum. Er schwitzte mittlerweile so sehr, dass ihn sein Shirt am Rücken klebte und widerlich juckte. »Naja, du hast ja gesagt, dass du demnächst wieder ein bisschen mehr Zeit hast. Was war denn los?« Da war er nun, dieser Moment, vor dem er sich seit Tagen fürchtete. Was würde Otabek ihm berichten? Er konnte nur hoffen, dass es nicht mit seinem Ausflug nach Russland zusammenhing, über den sie - nur so am Rande bemerkt - noch immer nicht gesprochen hatten. Es schien wie ein Damoklesschwert über ihnen zu hängen. Yuri spürte die Bedrohung im Nacken, als würde sie jeden Moment auf ihn niedersausen und seinen Schädel spalten. Otabek musterte ihn forschend. Sein Blick durchdrang seine Haut und kitzelte seine Organe. Im Gegensatz zu Yuri war er die Gelassenheit in Person - so wie immer. Seinen inneren Zwist schien er nicht zu bemerken, denn abermals erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht und noch bevor er zum Sprechen ansetzte, wusste Yuri, dass es dieses Mal jemand anderem galt. »Du weißt ja, dass ich in Russland war.« Oh, bitte nicht. Seine Finger verkrampften sich, was er Gott sei Dank unter der Tischplatte verbarg. »Mh-hm.« Ein simpler Satz, der all seine mühselig aufgebaute Motivation mit einem Schlag vernichtete. Sie erlosch wie die Flamme eines Streichholzes, das ruckartig ausgepustet wurde. Zurück blieb nur schwere Müdigkeit, die sich wie eine Glocke aus Rauch um ihn hüllte. Augenblicklich sehnte er sich dem Ende des Gesprächs entgegen. Dem Moment, wenn er in sein Bett krabbeln und die Decke über seinen Kopf ziehen konnte. »Jedenfalls ist das auch der Grund für meinen Stress, weil -« Ein überraschend lautes Brummen würgte seine letzten Worte ab. Wahrscheinlich kam es von seinem Smartphone, dass irgendwo neben seinem Laptop auf dem Tisch liegen musste, wo Yuri es nicht sehen konnte. Ein wenig genervt nahm er es in die Hand. Yuri hingegen war erleichtert. Er hatte damit zu kämpfen seine Fassade aufrecht zu erhalten und war dankbar um jeden Moment, der sich dafür bot. Wahrscheinlich blieb ihm nicht allzu viel Zeit, denn Otabek hatte die Angewohnheit sämtliche Gespräche wegzudrücken, wenn er mit ihm skypte. Aber selbst diese wenigen Sekunden brauchte er, um einmal tief durchzuatmen. »Ah, da muss ich leider rangehen. Dauert nicht lang. Warte kurz, okay?« Irritiert musste Yuri seine Antwort regelrecht herauswürgen. »Okay …« Otabek reckte den Daumen nach oben und nahm das Gespräch an. Das Lächeln, von dem Yuri geglaubt hatte, dass es nicht mehr breiter werden konnte, riss ihn beinahe entzwei. Sofort wusste er, wer am anderen Ende der Leitung war. »Lina.« Yuri hörte den mittlerweile beängstigend dünnen Faden regelrecht reißen, als das Schwert plötzlich herabfuhr. Es bohrte sich in seinen Rücken und quer durch seine Brust. Keine sichtbare Wunde, aber so schmerzhaft, dass ihm die Luft versagte. Ein Spitzname. Sie hatte sogar einen Spitznamen. »Nein, du störst nicht.« Tiefe Zuneigung schwang in seiner Stimme mit. Teer ersetzte das Blut in Yuris Adern. Es schien so langsam zu fließen, dass kalter Schwindel ihn packte. Hilflos klammerte er sich an der Tischplatte fest, froh, dass Otabek nicht in seine Richtung sah. Natürlich störte sie nicht. Er chattete ja schließlich nur mit seinem besten Freund. Bester Freund. Hämisch wiederholten sich die Worte in seinem Kopf. Bester Freund. »Hast du die Unterlagen gefunden? … Gut, warte ich sehe mal nach.« Aus dem Augenwinkel sah Yuri, wie Otabek sich erhob und aus seinem Sichtfeld verschwand. Papier raschelte, Schritte hallten über den Laminatboden. Otabeks Stimme wurde undeutlicher, aber dennoch konnte Yuri die Freude darin hören, während er selbst nur noch schreien und seiner Wut freien Lauf lassen wollte. Aber er war nicht wütend. Wut kannte er und die fühlte sich anders an. Zwar ähnlich unkontrolliert, aber weniger beängstigend. Genau so heiß, aber nicht brennend. Zwar im ersten Moment erdrückend, aber befreiend, sobald sie abflaute. Yuri hingegen hatte das Gefühl, von nun an für immer ein Gefangener zu sein. Eingesperrt in Zellen, auf deren Gitterstäben Freundschaft stand. Aber das wollte er nicht. Er wollte kein Freund sein. Er wollte - »Wann kannst du hier sein?« Hier? Bei ihm? Ruckartig schnellte seine Hand noch vorn. Er hielt es nicht aus, weiterhin diesem Gespräch zu lauschen. Überraschend kontrolliert schloss er den Chat, ohne sich zu verabschieden. Es waren die letzten Sekunden, in denen er sich zusammenriss, bevor er mit unvorhersehbarer Wucht seinen Laptop von der Schreibtischplatte fegte. Der Aufprall hallte durch das riesige Zimmer. Ein Geräusch, als würde Glas zerbrechen, das Ratschen von Tapete, als das Kabel die Steckdose halb aus ihrer Verankerung riss. Potya fauchte. Ein dunkler Streifen zierte den zerstörten Bildschirm. Herausgelöste Tasten rollten kreuz und quer über den Boden, winzige Plastiksplitter glitzerten auf den Dielen. Geschockt über sich selbst betrachtete er das Chaos vor ihm. »Fuck!« Er hatte gelogen - vor allem sich selbst gegenüber. Ein Klopfen an der Tür. »Alles okay da drinnen?« Yakov. »G-geht mir gut! Hab nur was fallen gelassen …« »Mach nicht so einen Lärm!« Gedanklich zeigte er ihm dafür den Mittelfinger. Schwere Schritte entfernten sich in Richtung Wohnzimmer. Benommen ignorierte er seinen schrottreifen Laptop und ging ans Fenster, zog es auf. Sanfter Wind brachte seine Haare zum Tanzen. Wie ein Ertrinkender sog er die frische Luft ein, doch das Brennen in seinem Inneren ließ nicht nach, züngelte mit heißen Flammen nur noch weiter nach oben. Er umklammerte den Fensterrahmen so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Sein Smartphone vibrierte.   Otabek Altin - 16.06 17:18 »Alles okay? Du hast den Chat beendet.«   Was sollte er nur tun? Er musste ihm antworten, wenn er keinen Verdacht schöpfen wollte.   Yuri Plisetsky - 16.06 17:20 »Sorry, hier stürmt es. Irgendwas stimmt mit unserem Internet nicht«   Ziemlich solide, im Anbetracht seiner Situation. Eine ziemlich solide Lüge. Er drückte auf Senden, bevor er sich zitternd aufrappelte. Wie ferngesteuert schritt er zu seinem Bett, lehnte sich an das Gestell und zog die Beine an. Was, um Himmels Willen, sollte er jetzt nur machen? Sein Gesicht verschwand zwischen seinen Knien. Gestern noch hatte er seine Tränen verflucht, jetzt wünschte er sie sich verzweifelt herbei. Irgendeinen Katalysator, ein Ventil, um alles heraus zu lassen. Er wollte nicht nur ein Freund sein. Auch nicht der beste. Keine Tränen kamen. Nur Potya, der verwirrt mauzend und offensichtlich besorgt um ihn herumschlich. Er wollte einen Spitznamen. »Fuck!« Plötzlich schien alles so logisch. Dieses unbekannte Gefühl in seiner Brust, das permanente Herzklopfen in seiner Nähe und diese Wut, wenn er sich nicht meldete. Dieser unbegründete Hass auf Zanila „Lina“ Smirnowa. Einem Puzzle gleich setzte sich alles in einer erschütternden Endgültigkeit zusammen. Die Erkenntnis wühlte sich durch seine Rippen - und plötzlich konnte er sich auch seine Eifersucht erklären. Er wollte an ihrer Stelle sein. Unbewusst langte er nach einem Kissen, presste es an seine Brust. Er brauchte etwas, woran er sich festhalten konnte. Etwas, dass ihn vor dem See rettete, in dem er umzukommen drohte. Etwas, worin er sein Gesicht vergraben konnte, wie eine starke Schulter, die ihm Schutz spendete. Eine starke Schulter, die seine stechenden Kopfschmerzen linderte. Wie damals, im Hotelzimmer. Damals, als er mit Otabek auf dem Bett gelegen hatte, die Beine ineinander verknotet, das Sonnenlicht auf seinen Füßen. Damals, als sein Herz wie wild schlug, als warme Finger sein Ohr berührten und eine wilde Strähne zur Seite strichen. Damals, als er geglaubt hatte, dass in dieser sanften Geste irgendeine Gewichtung lag, die sie beide nicht so recht verstanden. »Vielleicht hat es dir nichts bedeutet …« Sein Blick glitt zur Decke und endlich begann der Stuck vor seinen Augen zu verschwimmen. »… Aber mir. Mir schon.« Teil fünfzehn: »Nähe« --------------------- Surrende Kameras, wildes Gekreische und tosender Applaus um ihn herum. Die Geräuschkulisse vibrierte durch sein Inneres, ein zartes Kribbeln, das ihm Gänsehaut bescherte. Sein Gesicht glühte unter der Hitze der vielen Scheinwerfer, während er beinahe in seiner Euphorie ertrank. Zwischen den vielen Stimmen hörte er immer wieder seinen Namen heraus, während er triumphierend die Goldmedaille in die Kamera hielt, auf dass die Presse ein perfektes Foto von seinem Sieg schoss. Sein Gesicht und seine Arme schmerzten bereits vom vielen Posieren, aber es genoss es mehr, als jemals zuvor. Nur langsam ebbte der Applaus ab und die Presse gab den Weg zum Ausgang frei. Yakov, Lilia und Victor empfingen ihn am Rand der Eisfläche, neben ihnen die Trainer der anderen Gewinner und natürlich ein ganzer Haufen restlicher Teilnehmer, die ihm auf die Schulter klopfen wollten. Einem plötzlichen Impuls folgend, wandte er den Kopf nach rechts. Sein Blick traf auf ein braunes Augenpaar, nur wenige Meter entfernt und in der Masse beinahe untergehend. Er glaubte, ein Lächeln darin zu erkennen. Gern hätte er sich mit ihm unterhalten, doch die anderen schoben ihn gnadenlos weiter. So reckte er nur seinen Daumen nach oben - eine Geste, die alles sagte und doch nicht genug. Aber er wusste, dass er es verstehen würde. Im Vorbeigehen bekam er von irgendjemanden einen monströsen Blumenstrauß in die Hand gedrückt, der ihm nun fast die komplette Sicht versperrte. Vom süßen Geruch benebelt, verließ er das Stadion, Yakov und Lilia links und rechts von ihm, während Victor den Schluss bildete. Selbst draußen wurden sie von Jubelschreien empfangen. Die meisten kamen von seinem Fanclub, der bei jedem Wettbewerb an Ort und Stelle war und seinen Sieg scheinbar noch leidenschaftlicher feierte, als er selbst. Ihre lauten Stimmen stachen wie eine schmerzhafte Melodie in seinen Ohren. »Yuri!« « »Yurio!« »Hier drüben, Yuri!« »Er ist so niedlich, ich steeerbe!« »Ich liebe dich, Yuri!« »Bitte, mach ein Foto mit mir, Yuri!« »Mit mir auch!« »ICH WILL AUCH!« »Hey, ich war zuerst da!« »Yurio!« »Yuuuri!« »Yuriooo!« »Yuri.« Lilias Hand legte sich auf seine Schulter. Yuri, der am liebsten einfach weitergelaufen und ins Taxi gestiegen wäre, ahnte schon, was jetzt kam. »Ein guter Eiskunstläufer und wahrer Sieger gibt seinen Fans die Ehre.« Und wie Recht er mit seiner Vermutung hatte. Fuck. Er stöhnte innerlich auf, drückte Victor dennoch unwirsch und ohne ihn anzusehen den Blumenstrauß in die Arme. Seinen Fanclub zu bedienen würde mit Sicherheit wieder Stunden dauern … Aber er hatte ja doch keine andere Wahl. Und irgendwie, auch wenn er das niemals offen zugeben würde, machte es ihm auch Spaß. Zumindest ein wenig … Kaum kam er dem Mob zu nahe, packten ihn schon gierige Hände und zogen ihn in ihre Mitte. Die Massen an Fans schlossen ihn augenblicklich ein. Gefühlt tausend Umarmungen und Selfies stand er tapfer durch, nahm Geschenke, hauptsächlich in Form von Katzenplüschtieren, entgegen und schrieb gleichzeitig seinen Namen auf Fotos von ihm. »So Ladies, Schluss für heute!« Wie aus dem nichts stand Victor plötzlich neben ihm. Es würde wohl für immer ein Rätsel bleiben, wie er es bis zu ihm geschafft hatte. Aber tatsächlich wandten sich viele der Mädchen von Yuri ab - allerdings nur, um jetzt den hochgewachsenen Russen anstatt seiner anzuschmachten. Yuri nutzte die Gunst der Stunde und stahl sich wieder in die Freiheit. Victor folgte keine Minute später. »Na los, hauen wir ab, bevor die noch das Taxi einkreisen.« »Mhm.« Er hatte gerade einen Schritt in Richtung Taxi getan, da traf sein Blick auf blaue Augen, halb versteckt unter einem hellbraunen Haarschopf. Etwas verwundert blieb er stehen. Von den Yuris-Angels war er nur fröhliche Gesichter gewohnt, niemals hatte ihn jemand davon enttäuscht angesehen. Er sah zu ihr herüber, neigte den Kopf dabei leicht nach rechts. Sie war seinem Blick längst ausgewichen und versteckte ihr Gesicht hinter einem Heft, das sie mit beiden Händen so fest umklammerte, dass die Ränder schon unschöne Knicke aufwiesen. Nur mit viel Fantasie konnte man noch einen Teil ihrer Stirn ausmachen, feuerrot angelaufen. Die Menge verstreute sich bereits, doch sie stand wie angewachsen an Ort und Stelle. Kurzerhand ging er auf sie zu. Kaum bemerkte sie ihn, wich sie unbewusst ein kleines Stück zurück. »Hmpf.« Er verschränkte die Arme und versuchte über das Heft hinweg in ihr Gesicht zu sehen. »Und was stehst du hier noch so rum?« Tatsächlich ließ sie das Heft sinken und wagte es, seinen Blick zu erwidern. Ihre rot angelaufenen Wangen bildeten einen seltsamen Kontrast zu ihren hellen Iriden. »Also …« Anhand ihrer Körperhaltung wurde es Yuri schnell klar. Herumdrucksend trat sie von einem Fuß auf den anderen. Scheinbar wollte sie, wie alle anderen seines Fanclubs, ein Foto mit ihm. Den hohen Andrang zum Dank hatte sie es wohl nicht bis zu ihm geschafft. Wahrscheinlich rührte daher auch ihr enttäuschter Gesichtsausdruck. »Also, ich …« Gott, war die schüchtern. Er löste die Verschränkung seiner Arme und griff nach dem Heft. »Zeig mal!« Tatsächlich ließ sie ihn gewähren, auch wenn sie bemüht gelassen in eine andere Richtung sah. Er schlug das Heft auf - und blickte überrascht auf das Foto, das darin lag. Es war eines von ihm, aber nicht darüber wunderte er sich, sondern, dass es keines dieser ausgedruckten Instagram-Selfies war. Es war eine richtige, professionelle Fotografie. Sie zeigte ihn in seinem Küroutfit des letzten Jahres - damals als er auf dem Eis die aufblühende Freundschaft zwischen ihm und Otabek dargeboten hatte. Noch heute erinnerte er sich gern daran zurück. »Hmpf. Wo hast du das denn ausgegraben?« Peinlich berührt verschränkte sie ihre Finger ineinander. »… Ebay.« Er hob eine Braue. »Ebay. Aha. Und wo hast du die halbe Million her, die der dreckige Verkäufer dafür wollte?« Ein Wunder, aber das Rot in ihrem Gesicht konnte tatsächlich noch dunkler werden. »Es gab nicht viele Bieter, also … eine halbe Million war es nicht.« »Na wenigstens etwas.« Er musterte sie forschend, was ihr deutlich unangenehm war. Es war nicht seine Art sich großartig mit seinen Fans zu unterhalten und das schien auch sie zu wissen. Die Verwunderung strömte ihr aus jeder Pore. Und sie war nicht als Einzige davon irritiert. Yuri konnte sich seine Neugierde nicht so recht erklären, aber irgendwas an ihr war … spannend. Schon allein, dass sie ein Kürfoto signieren lassen wollte, hob sie deutlich von den anderen ab. Zum ersten Mal fühlte es sich an, als würde jemand seine wirkliche Arbeit wertschätzen und nicht das ganze Drumherum, das er mit sich brachte. »Also.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen und ignorierte, dass seine drei Begleiter etwas weiter entfernt schon ungeduldig mit den Füßen scharrten. »Du, äh, bist nicht immer dabei, oder? Hab dich vorher noch nie geseh’n.« »Dir fällt so etwas auf?« Verlegen spielte sie mit ihren Haaren herum, die ihr lang und schwer über die Schultern fielen. Yuris Blick verfing sich in den glänzenden Strähnen. Schnell sah er in eine andere Richtung. »Normalerweise nicht.« Warum verengte sich seine Kehle so plötzlich? »Für das Ticket für das Grand Prix Finale musste ich tatsächlich ein bisschen sparen. Beim nächsten Mal kann ich wahrscheinlich nicht dabei sein, aber … das ist nicht so schlimm. Hauptsache, ich habe dich wenigstens einmal laufen gesehen.« Jetzt spürte Yuri eine verräterische Hitze seinen Hals hinaufkriechen. Komplimente bekam er immer zu Hauf, doch die unverblümte Erhrlichkeit in ihren Worten warf ihn ziemlich aus der Bahn. Dazu strahlte sie ihn regelrecht an und das Leuchten ihrer Augen knisterte in seinen Eingeweiden. »Du warst echt toll.« »Hmpf.« Gut, er konnte nicht bestreiten, dass das seit langem ein Kompliment war, worüber er sich wirklich freute. »Ich muss jetzt aber weiter. Hast du ‘nen Stift?« »Oh, äh …« Ein wenig hilflos kramte sie in den Taschen ihrer Jacke, allerdings ohne fündig zu werden. »Ich hab ihn vorhin einem der anderen Mädchen geliehen. Sie hat ihn wohl mitgenommen …« »Okay. Dann wartest du halt schnell.« Und schon kehrte er um und schloss schnellen Schrittes zu den anderen auf. Auffordernd streckte er Yakov eine Hand entgegen. »Stift. Sofort.« »Was treibst du da? Du hältst uns auf!« Yakovs Stimme triefte vor Verstimmung. Yuri verdrehte die Augen. »Jetzt mach schon, sonst dauert das noch länger!« Grimmig zog sein Trainer einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Mantels, den Yuri ihm augenblicklich aus der Hand riss. Schnell zog er noch eine einzelne Blume aus dem Strauß hervor, der irgendwann von Victor in Lilias Hände gewandert sein musste. Das überraschte Pfeifen seines Eislaufkollegen versuchte er zu ignorieren, als er schnurstracks zurück zu dem Mädchen stampfte. Erwartungsvoll hielt sie ihm das Foto entgegen. Und als er zum Schreiben ansetzte, kam ihn eine durchaus peinliche Frage in den Sinn. »Hmpf. Wie heißt du denn eigentlich?« Sie schien diese Nebensächlichkeit auch vergessen zu haben, denn die Röte hielt schlagartig wieder Einzug in ihr Gesicht. »Oh, ähm … Maria.« »Okay.« Bemüht ordentlich schrieb er eine Widmung und seinen Namen auf die Rückseite des Fotos, dann reichte er es ihr zurück. Ihre Finger streiften sich und ein seltsames Gefühl floss durch seinen Körper. Auf einmal fühlte er sich wahnsinnig leicht ums Herz. »Danke!« Kurz drückte sie das Foto an ihre Brust, bevor sie ihm ein verlegenes, aber strahlendes Lächeln schenkte. »Ist mein Job.« Er versuchte zurück zu lächeln, brachte aber nur eine schiefe Grimasse zustande. »Aber, du scheinst ‘n netter Kerl zu sein, also gern geschehen.« Gott, was laberte er nur? Schnell hielt er ihr die Blume entgegen. Sie war dunkelblau und duftete nach Frühling. Ihre Gesichtszüge entgleisten. Fassungslos starrte sie auf den langen grünen Stiel, an dem bereits weitere Knospen aufbrachen. Ihr schienen die Worte zu fehlen, was es für ihn nur noch unangenehmer machte. »Nimm sie schon! Ist ein Geschenk!« Endlich griff sie danach. Yuri achtete bemüht darauf, sie kein zweites Mal zu berühren. Er trat einen Schritt zurück. »Also, ich muss jetzt los.« Sie nickte. »Danke, Yuri. Ehrlich.” Betont lässig winkte er ab. »Schon gut. Nur ein Tipp noch.” Verwirrt wartete sie darauf, dass er weitersprach, also tat er ihr und sich selbst den Gefallen. Er hatte das Gefühl an Ort und Stelle im Boden versinken zu müssen und wollte ins Taxi. Möglichst schnell. »Wenn du das nächste Mal etwas willst, dann sei gefälligst nicht so schüchtern und lass dich nicht zur Seite schieben!« Schon wandte er sich ab und ging davon, wich im letzten Moment Victor aus, um ihn nicht anzurempeln. »Los jetzt!« Unwirsch zog er die Tür des wartenden Taxis auf, stieg ein und knallte sie betont laut wieder zu. Die kalte Fensterscheibe dämpfte die Hitze unter seinen Schläfen, konnte aber seine schwitzigen Hände nicht beruhigen. Als sie losfuhren, brannten die fragenden Blicke der anderen auf seiner Haut. »Haltet bloß die Schnauze, ich hab kein Bock auf dummes Gelaber!« Er wusste auch so, was sie dachten. Schließlich hatte er sich noch nie so verhalten. Noch nie länger als eine Minute mit einem Fan gesprochen oder gar Blumen an sie verschenkt. Lautlos seufzend schloss er die Augen. Und erst recht nicht hatte er jemals seine private Handynummer unter ein Autogramm gekritzelt.   Hätte es so laufen können? Er schlug die Augen auf. Sonnenlicht schien in das Zimmer und strich über seine Wangen. Potya schnurrte leise neben ihm. Yuri beneidete ihn um seinen Schlaf, denn er lag bereits seit Stunden wach. Sonntagmorgen - sein einziger freier Tag in der Woche. Heute herrschte striktes Verbot von Training und Ballett, weil Lilia die Meinung vertrat, dass er wenigstens einen Tag in der Woche nur für sich brauchte. Sehnsüchtig wünschte er sich den Montag herbei, an dem er wieder auf der Eisfläche stehen und sich Sprüngen und Pirouetten hingeben konnte. Heute jedoch stand Selbstbeschäftigung an und mittlerweile hasste Yuri diesen Begriff. Nicht, dass er nichts mit sich anzufangen wusste. Sankt Petersburg bot viele Möglichkeiten einen schönen Tag zu verbringen. Allerdings brachte keine einzige davon tatsächlich Ablenkung. Seit jenem verherenden Telefonat mit Otabek vor zwei Tagen kreisten seine Gedanken unaufhörlich nur um ein Thema. Um ihn herum erwachte das Haus zum Leben. Leise Schritte hallten durch den Flur, die Kaffeemaschine arbeitete blubbernd, Geschirr klirrte, als jemand den Tisch für das Frühstück vorbereitete. Er hörte, wie Yakov und Lilia sich unterhielten. Gelassen und bei weitem nicht so beruflich distanziert, wie er die beiden kannte. Irgendwie … liebevoll. Yuri hatte keine Ahnung von Liebe. Schon allein die Vorstellung, aus heiterem Himmel Gefühle für jemanden zu entwickeln, war ein Absurdium. Ein Yuri Plisetsky verfiel nicht einfach so jemandem. Allein seine Karriere ließ das nicht zu. Ihm fehlte schlichtweg die Zeit für solche Nebensächlichkeiten. Und, der Ehrlichkeit halber, auch das Interesse an Aktivitäten solcher Art. Trotzdem erwischte er sich in den letzten Tagen immer wieder dabei, wie er sich ausmalte, nach einem Auftritt einfach so einem Mädchen zu begegnen, ihr eine Blume zu schenken und seine Handynummer auf ein Autogramm zu kritzeln. So unrealistisch diese Vorstellung auch sein mochte, so war es unter den vielen Möglichkeiten doch die einzig plausible. Wer wusste schon, wie man sich verhielt, wenn zum ersten Mal solch fremde Empfindungen auftraten? Wer wusste schon, wann man sich in jemanden verliebte? Seufzend drehte er sich auf den Bauch und zog sich eines der Kissen über den Kopf, als könnte er so jegliche Emotionen aus seinem Verstand verbannen. Wenn es doch nur so einfach wäre. Aber das war es nicht. Seine Finger krallten sich in die weichen Daunen. Vielleicht hätte alles wirklich so einfach sein können, wäre Otabek nicht in sein Leben getreten. Vielleicht wäre irgendwann ein schüchternes, unaufdringliches Mädchen in seinem Fanclub aufgetaucht, dass er angesprochen hätte. Sie hätte ja nicht einmal Maria heißen müssen, obwohl er diesen Namen von all den Millionen, die es auf der Welt gab, am liebsten hatte. Sich immer wieder in Fantasien über das „Was-wäre-wenn” zu flüchten, half ihm allerdings nicht. Die Realität sah anders aus und sie brachte seine Traumwelt bedrohlich ins Wanken. Kein Mädchen, sondern ein Junge. Es war Otabek. Sein bester Freund, der seit kurzem scheinbar vergeben war. Eigentlich konnte er das „scheinbar” streichen, wo er sich doch zu über neunzig Prozent sicher war. Warum sonst sollte ein Mädchen bei ihm einziehen? Zwar hatte Otabek es nicht ausgesprochen, doch das Gehörte reichte für Yuri vollkommen aus, um sich den Rest zusammen zu reimen. Die schmutzigen Details wollte er lieber gar nicht erst erfahren, obwohl er Otabek vor zwei Tagen noch via Whatsapp versprochen hatte, möglichst bald wieder zu skypen, damit er Yuri von den Neuigkeiten berichten konnte. Eine feste Zeit war dieses Mal nicht geplant, da Otabek aufgrund seines straffen Zeitplanes noch nicht sagen konnte, wann es passte. Er musste die verlorene Zeit beim Training aufholen und die Clubs verlangten auch händeringend nach ihm. Somit fielen die Abende schon einmal flach, außer er stand irgendwann mal nicht hinter dem Pult. Yuri wünschte sich, dass er es ihm doch einfach via WhatsApp schrieb, aber Otabek schien das tatsächlich persönlich besprechen zu wollen. »Scheiße!« Er konnte das nicht. Der Gedanke allein war schon unerträglich, wie sollte er sich dann fühlen, wenn Otabek es ihm ins Gesicht sagte? Lieber täte er, als wüsste er von nichts, als würde sie gar nicht existieren. »Was für ein ekelhafter Gedanke. Du bist wirklich das letzte.« Sein Smartophone vibrierte.   Katsudon das Schweinchen - 18.06 8:42 »Hey Yuri! Du hast heute frei, oder? Hast du Lust was mit uns zu unternehmen?«   Was unternehmen? Mit den beiden? Pärchen konnte er momentan wirklich null gebrauchen. Allerdings – was sollte er sonst machen, außer den ganzen Tag in seinem Zimmer zu versauern? Jetzt, da sein Laptop im Arsch war, hatte er nicht mehr viele Beschäftigungsmöglichkeiten. Wahrscheinlich war es am besten, wenn er sich darauf einließ.   Yuri Plisetsky - 18.06 8:44 »Und was wollt ihr machen?«   Katsudon das Schweinchen - 18.06 8:45 »Wissen wir noch nicht genau. Aber das Wetter ist heute so schön. Wir können ja ein wenig durch die Stadt bummeln und dann ins Kino und anschließend was essen?«   Das klang wirklich sehr standardmäßig. Viel lieber würde er mit ihnen einen Tandemsprung machen, damit wäre defiinitiv für Ablenkung gesorgt.   Yuri Plisetsky - 18.06 8:50 »Geht klar. Wann?«   Katsudon das Schweinchen - 18.06 8:50 »So gegen Mittag? Wir holen dich ab!«   Yuri Plisetsky - 18.06 8:51 »Okay«   Kaum drückte er auf Senden, klopfte es an seiner Tür. »Yuri, komm frühstücken.« Unmotiviert rappelte er sich auf. »Bin gleich da …« Kurz kraulte er Potya die Ohren, der daraufhin verschlafen seinen Kopf hob, dann holte er wahllos irgendwelche Klamotten aus dem Kleiderschrank, zog sie sich über und betrat das Esszimmer. Zwei Stunden später klingelte es an der Tür. Lilia öffnete und komplimentierte die beiden ins Haus. Yuri konnte durch die geschlossene Badezimmertür hören, wie sie sich begrüßten und ins Wohnzimmer gingen. Er selbst war vor einer knappen halben Stunde von seiner Joggingtour, die selbst Lilia ihm nicht verbieten konnte, zurückgekehrt. Für ihren Ausflug hatte er sich bereits in Schale geworfen, gerade putzte er sich noch die Zähne und kämmte zum Abschluss seine Haare ein letztes Mal durch. Zufrieden betrachtete er sich. Er sah so ziemlich normal aus. Gott sei Dank waren die tiefen Ringe unter seinen Augen verschwunden. Um keinen Preis wollte er, dass jemand seine miese emotionale Lage spitzbekam. Schwungvoll stieß er die Tür auf und trampelte ins Wohnzimmer. »Können wir los, oder was?« »Hey, Yuri!« Das Katsudon winkte ihm fröhlich zu, ebenso Victor. »Yurio! Gut siehst du aus!« »Hmpf.« Wenn du wüsstest, alter Mann. »Wo ist Makkachin?« »Zuhause. Ihn überallhin mitzunehmen wird zu anstrengend für uns alle.« Lilia sah sehr glücklich darüber aus. Yuri konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich ihr Gesicht beim Anblick des riesigen Pudels verzog, der sich auf ihrem teuren Teppich herumwälzte. »Hmpf. Also gehen wir jetzt, oder wollt ihr hier pennen?« »Nein, nein.« Beide standen auf und verabschiedeten sich von Yakov und Lilia. Yuri folgte ihnen. Ihr Weg führte sie zu den Märkten von Sankt Petersburg. Obwohl es Sonntag war, wimmelte es hier vor Menschen. Stände mit den verschiedensten Angeboten säumten links und rechts die belebte Einkaufsmeile. Händler priesen mit lauten Stimmen ihre Ware an. Kulinarische Klassiker reihten sich an Delikatessen und Spezialitäten aus fernen Regionen und obwohl Yuri schon des Öfteren hier war, erschlugen ihn die exotischen Gerüche jedes Mal aufs Neue. Victors Beschluss, Makkachin daheim zu lassen, war begründet. Der arme Pudel hätte bei all den Eindrücken nicht gewusst, wo vorne und hinten ist. Sie kaufen nichts, schlenderten nur von Stand zu Stand und bedienten sich an den Kostproben. Allerdings spendierte Victor jeden von ihnen ein großes Softeis, dass sie genüsslich schleckten, als sie die letzten Geschäfte passierten. »Yurio, kennst du eigentlich den Junona-Rynok?« »Häh?« »Scheinbar nicht.« Das Schweinchen gluckste in sich hinein. »Das ist ein riesiger Markt, wo es tausende Schallplatten, CD’s und Filme zu kaufen gibt, die kaum etwas kosten. Das wäre mit Sicherheit was für dich und Otabek!« Das sich heranbahnende Lächeln erstarb automatisch, bevor es auf sein Gesicht treten konnte. »Hm, klingt nicht schlecht.« »Wollen wir da hin?« »Mhm.« Er knabberte an seiner Eiswaffel. »Los geht’s.« »Amazing!« Victor schritt begeistert voran und die beiden Yuris hatten Mühe ihn einzuholen. Yuri ging mit Absicht ein wenig hinter ihnen, beobachtete sie verstohlen. Ständig berührten sie sich, nur um sich zu berühren. Da ein Streichen über den Rücken, hier ein neckender Griff in den Nacken, das Zwirbeln einer Haarsträhne zwischendurch. Zaghaft, fast nur zufällig, aber keinesfalls schüchtern. Sondern … voller Liebe. Froh, endlich den riesigen Markt erreicht zu haben, begann Yuri sich durch die Massen an Platten, CDs und DVDs zu wühlen. Wo Victor und sein Katsudon waren, interessierte ihn nicht. Er war so in diesem musikalischen Reichtum versunken, dass er nicht mehr auf sie achtete. Tatsächlich wurde er fündig - und das mehrmals. CDs von Bands, die als „vergriffen” galten, fand er hier zu lächerlichen niedrigen Preisen. DVDs, an die er altersbedingt in normalen Geschäften nicht herankam, wurden verkauft, ohne dass man ihm nach seinem Ausweis fragte. Das ein oder andere Konsolenspiel gesellte sich zu einer Sammlung, von der Yuri erst heute beschlossen hatte, sie zu gründen. Sein Beutel war mittlerweile so voll, dass er befürchtete, die Trageriemen könnten dem Gewicht nicht standhalten und reißen. Als er das nächste Mal auf seinem Smartphone die Uhrzeit checkte, waren zwei Stunden vergangen. Und er hatte eine Nachricht von Otabek, die ihn mit Sirenenstimmen lockte, doch er zögerte den Chat zu öffnen. Zwischen Freude und Angst spannte sich ein Seil, auf dem er balancierte - und er schwankte bedrohlich. Schließlich steckte er sein Smartphone zurück in die Jackentasche, ohne die Nachricht geöffnet zu haben und widmete sich weiter seinem eskalierenden Einkauf. »Yurio, wir haben Hunger.« Victor stand plötzlich neben ihm. Yuri glaubte einen quengelnden Unterton wahrzunehmen, doch er achtete nicht darauf. Sein Blick ruhte schon seit Minuten auf der LP, dessen Hülle er nur durch Zufall entdeckt und beinahe übersehen hätte. Das schwarze Cover war an allen Ecken ausgefranst und abgegriffen, teilweise so stark, dass die Farbe bereits abblätterte. Bei weitem nicht so edel, wie er es schon einmal in der Hand gehalten hatte und trotzdem zog ihn der Name an: NOX. War es Schicksal oder frappierender Zufall, dass er in diesem Meer aus Musik ausgerechnet auf dieses Album stieß? »Oh.« Victor lehnte sich über seine Schulter und sah auf das Cover. »Ist das nicht das Album, das Otabek dir mal empfohlen hat?« »Hmpf.« Wie sehr wünschte er sich nun, niemandem davon erzählt zu haben. »Uhm, ganz schön teuer.« Tatsächlich war diese abgewetzte Schallplatte mit stolzen 5850 Rubel teurer, als seine anderen Fundsachen zusammen. Yuri verstand es nur zu gut, denn laut Verkäufer war NOX mit gerade mal hundertzwanzig Exemplaren weltweit eine Rarität. Er wollte lieber nicht wissen, wie viel Otabek für seine nagelneue hingeblättert haben musste, wenn eine stark gebrauchte schon so viel Geld brachte. Ohne Victor zu antworten überlegte er noch ein paar Sekunden, bevor er das Album - zugegeben mit einer Wagenladung Überwindung - zurück in die Box gleiten ließ. Hätte er es ein paar Wochen zuvor gefunden, wäre der Kauf besiegelt gewesen. Heute allerdings sah die Sache anders aus. Die tiefen, beruhigenden Wellen der Gitarren hatten sich in den letzten Tagen in heiße Lava verwandelt, die sein Inneres quälend verbrannten und seine Organe zu Stein werden ließen. Wo er sich in manchen Phasen nur zu diesen Songs hatte entspannen können, fühlte er mittlerweile keine erlösende Euphorie mehr, sondern nur noch dumpfe Betrübnis. Dabei liebte er dieses Album. Vielleicht war genau das der Grund. »Gehen wir.«   Yuri freute sich, dass Victor und sein Katsudon ihn seit ihrem gemeinsamen Urlaub in Hasetsu immer öfter in ihre Freizeitaktivitäten miteinplanten. Trotzdem durchströmte ihn Erleichterung, als er endlich die Tür seines Zimmers hinter sich schließen konnte. Schwer atmend ließ er den Beutel mit seinen Errungenschaften zu Boden gleiten und rieb sich die vom Gewicht schmerzende Schulter. Gott sei Dank hatten sie den Kinobesuch gestrichen und den Abend in einem Restaurant ausklingen lassen. Eigentlich hätte man den Sonntag als gelungen bezeichnen können - wäre nicht immer wieder dieses beklemmende Gefühl in seiner Brust aufgestiegen, wenn er die beiden bei ihrem unscheinbaren Austausch von Zärtlichkeiten beobachtet hatte. Ihre Gefühle standen ihnen stets ins Gesicht geschrieben, auch wenn sie es zu verbergen versuchten. Ihre Augen verrieten es, ihr Lächeln, die heimlich zugeworfenen Blicke. Sie liebten sich. Sein Smartphone vibrierte. Er zog es hervor. Eine zweite Nachricht von ihm, obwohl selbst die Erste noch ungelesen war.   Otabek Altin - 18.06 14:05 »Hey. Wie siehts heute bei dir aus?«   Otabek Altin - 18.06 19:56 »Der Club hat mich versetzt, also hab ich Zeit und bin online.«   Wenn die Menschen in seiner Umgebung von Liebe sprachen, dann sprachen sie von den berühmten Schmetterlingen im Bauch, die Yuri lediglich ein Augenrollen hervorlockten. Von dem Gefühl federleicht zu sein und alles schaffen zu können. Von Hingabe, Anziehung und Zärtlichkeiten. Bedingungslosigkeit, Vertrauen, Verlangen.   Yuri Plisetsky - 18.06 19:59 »Sorry, ich bin noch mit Victor und dem Schweinchen unterwegs. Gehen noch ins Kino«   Niemand hatte je von Schmerz gesprochen. Von der anderen, dunklen Seite der Medaille. Yuri hatte sich beides immer nur sehr vage vorstellen können, versucht es sich auszumalen, mit dem Pinsel seiner Fantasie. Doch die Leinwand war immer seltsam farblos geblieben, ohne Form oder Konturen. Wenn er jetzt ein Bild malen würde, wäre Otabek darin zu erkennen? Welche Farbe hätte es? Mit welchen Farben malte man Lügen? Denn schon wieder log er ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. Seltsam, wie schnell man seine eigenen Prinzipien über Bord werfen konnte. Aber selbst wenn er zugestimmt hätte: Skypen war momentan so oder so keine Option. Dafür brauchte es erst einmal einen neuen Laptop.   Otabek Altin - 18.06 20:01 »Okay, dann wünsche ich euch viel Spaß. ;)«   Immer wieder dieser Smiley. Langsam ließ er sich auf sein Bett fallen, den Chat noch immer offen. Für einen Moment war er verführt, bis ganz nach oben zu scrollen und alles von Anfang an durchzulesen. Doch dann legte er sein Smartphone beiseite, denn lebensmüde war er nicht. Aber müde.   Hitze ließ ihn schwer atmen. Seine Haut prickelte. Der Geruch kam aus allen Richtungen und hüllte ihn ein. Leder und Frischluft. So beruhigend, so vertraut. Doch da war noch etwas anderes, etwas Neues und Aufregendes. Nähe. Gesunde Haut und heißer Atem, der seine Wange streifte, wie eine Sommerbrise. Das Heben und Senken einer Brust. Warme Finger streiften seine Ohrmuschel, schoben eine wilde Haarsträhne zur Seite und zwirbelten das Ende zwischen den Kuppen. Er vergrub das Gesicht in seiner Halsbeuge und sog die holzige Note seines Duschgels ein. Die Hand setzte ihre Wanderung fort, glitt in seinen Nacken und vergrub sich in seinem Haaransatz, zog leicht und neckend daran, ohne ihn Schmerzen zu bereiten. Erschaudernd ging er selbst nun auf Erkundungsreise, zeichnete mit seinen Fingern die kräftigen Schlüsselbeine nach, fuhr über den zuckenden Adamsapfel, übers Kinn bis hoch zu den Wangen. Seine Belohnung, ein Lächeln, fühlte er mehr, als dass er es sah. Die Mundwinkel verzogen sich deutlich und er glaubte ein Grinsen zu erkennen. Schelmisch und anziehend. Er wollte es nicht nur mit den Händen spüren, stützte sich auf und erklomm den heißen Körper, dessen Arme sich öffneten und ihn bereitwillig empfingen. Da waren so viele Fragen, doch die Antworten interessierten ihn nicht. Nicht jetzt. Jetzt zählte nur der Genuss, die Kostprobe des Unbekannten. Er wollte es schmecken. Angenehm schweres Gewicht legte sich um seine Schultern, zog ihn unnachgiebig in die Tiefe, näher zu sich. Hände glitten seinen Rücken hinab. Er schloss die Augen, kam ihm entgegen und –   – saß kerzengerade im Bett. Seine Lungen zogen sich schmerzhaft zusammen und pressten keuchenden Atem hervor. Mit weit aufgerissenen Augen sah er sich um. Die Dämmerung war dabei den Tag einzuholen und schickte die ersten Schatten in die Ecken seines Zimmers. Seine Klamotten klebten ihm schweißnass am Körper. Zitternd griff er sich in den Nacken, wo er noch immer eine schwere Hand zu spüren glaubte. Doch da war keine Hand. Niemand war hier, außer er. Schwer atmend fiel er zurück in die Kissen, breitete die Arme aus und sah an die Decke. Ein Traum. Nur ein verdammt intensiver Traum. Intensiv und voller Verlangen. So viel Verlangen, dass es ihm in die Realität gefolgt war und sich mit enormem Druck in seiner Körpermitte zusammenballte. »Fuck …« Peinliche Hitze entflammte auf seinen Wangen. Es war nicht seine erste Erektion nach dem Schlaf, allerdings die erste, der er gewillt war, sich hinzugeben. Sich selbst zu erkunden und dem Kribbeln Raum zu geben, den es vorher nie hatte. Verbissen starrte er weiter nach oben, versuchte das beständige Pochen in seinen Lenden und das wilde Gefühl in seinem Inneren abzuschütteln. Nein! Das ging nicht. Das war nicht richtig. Und doch – dieses Mal flauten die Erinnerungen nicht ab, viel eher vertieften sie sich noch. Noch immer spürte er die heißen Pfade, die Otabeks Hände auf seinem Rücken hinterlassen hatten und zu seinem größten Unmut bäumte sich der Druck immer weiter auf, rieb unangenehm über den Stoff seiner Shorts. Seine Augen tränten bereits vor Anstrengung, doch seine Gedanken waren unaufhaltsam. Es hatte sich so echt angefühlt, so greifbar. So gut. »Fuck … denk an irgendetwas anderes.« Vielleicht an JJ – aber das wäre wohl zu viel des Guten. Lieber spielte er innerlich die Kurzprogramme seiner Eislaufkonkurrenten ab, konzentrierte sich auf die Erinnerung der Lieder, die sie dafür ausgewählt hatten. Soweit so gut. Doch ausgerechnet, als das Katsudon begann seinen Eros zu tanzen, zog sich seine Körpermitte beinahe schmerzhaft zusammen. Damit hatte er genau das Gegenteil erreicht und alles nur noch schlimmer gemacht. Ausgerechnet beim Schweinchen meldete sich das Kribbeln zurück. Wollte sein Körper ihn eigentlich komplett verarschen? Schweiß- und Kälteeinbrüche tobten in ihm. Wütend strampelte er die Decke von sich. Schuld daran war einzig und allein, dass er ihn und Victor bei ihrem kitschigen Pärchengehabe beobachtet und sich vorgestellt hatte, wie sich das mit Otabek anfühlen mochte. Ihn zu berühren, seine Hand zu nehmen, vielleicht sogar seine Lippen auf seinen zu spüren. Leugnen war zwecklos. Er wollte es erleben. Wieder und wieder und nicht nur im Schlaf. Auch nicht mit einem Mädchen, selbst wenn sie Maria hieß. Otabek war es, der ohne in der Nähe sein zu müssen elektrische Impulse in verbotene Regionen schickte. »Scheiße.« Nicht mehr als ein klägliches Wimmern brachte er zustande. »Ich will nicht in dich verliebt sein.« Ein Jammer, dass Worte nicht genug Macht besaßen, um Tatsachen zu ändern. Natürlich war es ihm schon seit letztem Freitag bewusst, doch es laut auszusprechen verlieh seinem Dilemma eine einschneidende Endgültigkeit, der er sich nicht entziehen konnte.   »Aber ich bin es. Und auch noch unglücklich.« Was sollte er nur tun? Gegen Zanila Smirnowa versprach er sich nicht den Hauch einer Chance. Und selbst wenn doch, so war die Wahrscheinlichkeit, dass Otabek Interesse an Yuri haben könnte, mehr als gering. Warum sollte er auch? Er war erwachsen, gutaussehend, arbeitete als DJ, hatte eine eigene Wohnung und ein verdammtes Motorrad. Yuri wusste, dass es einige Kandidatinnen gab, die ihn anschmachteten. Und er wusste, dass Otabek das wusste. Mit so vielen Möglichkeiten würde Yuri ihm gar nicht erst in den Sinn kommen. Das stand fester, als seine nächste Qualifikation für den Grand Prix. Trotzdem konnte es so nicht weitergehen. Und wenn er lernen musste es zu akzeptieren, so war das noch immer besser, als ihre Freundschaft aufs Spiel zu setzen. Denn Otabek zu verlieren war ein Albtraum, dem er sich niemals stellen wollte. Abwesend strich er über den Bund seiner Shorts, versuchte seine Erektion zu ignorieren, die bei der leisesten Berührung zuckte und ihm immer wieder neue Schweißperlen auf die Stirn trieb. Nur zu gern würde er dem nachgeben, sich fallen lassen, einen Moment der Realität entfliehen und sich vorstellen, Otabek nahe zu sein. Doch er blieb eisern, drehte sich auf den Bauch und angelte nach seinem Smartphone. Wenn er handeln wollte, dann musste er sofort damit beginnen. Er würde sich Otabeks Neuigkeiten stellen und sich über sein persönliches Glück freuen. Wenn er glücklich war, konnte er es auch sein. Hoffentlich. Alles war besser, als im Selbstmitleid zu versinken. In Russland gab es keine Wasserfälle, unter die er sich flüchten konnte. Er wollte nicht mehr davonlaufen – und mit der Erinnerung an den Wasserfall, fiel ihm der erste Schritt in die richtige Richtung wie Schuppen von den Augen. Eigentlich hatte er jetzt Otabek schreiben und nach einem Telefonat fragen wollen, jedoch verschwand diese Idee im Schatten einer anderen - einer besseren. Entschlossen öffnete er den Chat mit dem Schweinchen und tippte eine Nachricht.   Yuri Plisetsky – 18.06 22:07 »Hey Schweinchen, hast du morgen Zeit? Du hast gewonnen, okay? Ich muss mit dir reden >.<«   Abgeschickt. Gespannt wartete er auf eine Antwort und die folgte prompt.   Katsudon das Schweinchen – 18.06 22:08 »Morgen nach dem Training? Wir können eine Runde mit Makkachin in den Park gehen. Ohne Victor.«   Kurz und knapp – scheinbar wusste sein Namensvetter sofort, worum es ging. Dankbar bestätigte Yuri seinen Vorschlag, dann rappelte er sich auf, um seinen Gefühlen mit einer kalten Dusche den Kampf anzusagen. Teil sechzehn: »Konversation« ----------------------------- Der Sonntag diente der Erholung. Keine Arbeit, kein Training, kein Stress. Abschalten, entspannen, glücklich sein. Die Seele baumeln lassen und sich selbst etwas gönnen - damit die neue Woche mit guten Leistungen begann. Er glitt über die Eisfläche, den Blick auf seine Füße gerichtet, während er sich für den nächsten Sprung wappnete. Tief einatmend wartete er auf den richtigen Moment, streckte die Arme nach oben, drückte die Beine durch. Konzentration! Fahrt aufnehmend zog er sein Tempo an, löste den Spread Eagle auf und stieß sich ab. Schon im Sprung bemerkte er seinen Fehler: Er hatte den linken Arm zu spät eingezogen. Aus geplanten drei Rotationen wurde nur eine – und zu allem Überfluss rutschte sein rechter Fuß nach außen weg und nahm ihm so die Standkraft. Ein ekliger Schmerz zog sein Bein in die Länge. Unsauberer Sprung und eine dreckige Landung, die ihn mit einem harten Aufprall strafte. Sein Fluchen erstickte im Keim und wurde zu einem unterdrückten Stöhnen. Frustriert rieb er sich das pochende Knie, stieß heißen, zittrigen Atem aus. Sonntage schienen ihre Wirkung bei Yuri zu verfehlen. »Was war das denn schon wieder?« Yakovs wütende Stimme untermalte sein Versagen. »Wo ist dein Kopf heute? Hör auf in den Wolken zu schweben!« Wenn der wüsste! Was dachte der sich? Etwa, dass er hier vor lauter Freude über sein tolles Leben einen Sprung nach dem anderen versemmelte? »Ach, drauf geschissen!« Schnaufend erhob er sich. Die Aufmerksamkeit der anderen schmerzte fast noch mehr, als sein angeschlagenes und überdehntes Knie. Alle sahen ihn an. Mitleidig, irritiert, manche sogar wütend - wie zum Beispiel Yakov. Doch selbst die Drohung in seinem Blick konnte ihn nicht aufhalten. »Was machst du da? Geh sofort zurück aufs Eis! Wir sind noch nicht fertig für heute!« »Leck mich, alter Sack!« »YURI!« Unwirsch stapfte er weiter zu seinen Sachen, die er auf dem Podium deponiert hatte, zog eine Wasserflasche aus dem Rucksack hervor. Große Schlucke nehmend beobachtete er, wie Lilia sich zu Yakov gesellte. Sie unterhielten sich leise, sahen alle paar Sekunden zu ihm. Lilia wirkte ruhig und gefasst, Yakov allerdings noch immer wütend - daran konnte auch ihre Hand auf seiner Schulter nichts ändern. Irritiert starrte er auf ihren Daumen, verfolgte die kreisende und vermutlich sanfte Bewegung. Es sah so vertraut aus. Noch etwas, was ihn seit Tagen beschäftigte, ohne dass er eine Antwort bekam. Seit wann waren die beiden wieder derart … innig miteinander? Bevor sie ihn noch zurück aufs Eis zerrten, unterbrach er den Blickkontakt und streifte sich schnell die Schlittschuhe ab. Seine Füße offenbarten ihm wunde Stellen und schmerzende Schwellungen an den Knöcheln - die Zeugnisse aller misslungenen Sprünge des Tages. Der einzige Erfolg seines kurzen Trainings bestand darin, dass seine Motivation sich komplett in Rauch aufgelöst hatte. Seine eh schon mäßigen Leistungen in den letzten Tagen standen heute an ihrem tiefsten Punkt. Dabei wollte er doch eine perfekte Kür beim Grand Prix abliefern. Seufzend löste er seinen Pferdeschwanz auf, fuhr sich durch die Haare. Wenn er so darüber nachdachte, hatte er das Thema mittlerweile komplett verfehlt. Resigniert erhob er sich, kramte ein Handtuch und saubere Kleidung hervor und steuerte die Umkleidekabinen an. Er musste sich unbedingt sein Knie näher ansehen, hoffend, einer Verstauchung entkommen zu sein. Bevor er die Halle verließ, sah er noch einmal zurück. Yakov und Lilia würdigten ihn keines Blickes mehr, konzentrierten sich stattdessen auf die anderen Läufer. Zwar hatte er das so einigermaßen gewollt, jedoch versetzte ihm diese doch sehr raue Geste einen leisen Stich in die Brust. Als wollten sie ihn mit Liebesentzug strafen. Victor stand neben ihnen, seine Aufmerksamkeit vollends auf das Schweinchen gerichtet, das saubere Bahnen auf dem Eis zog. Plötzlich aber ging sein Blick in Yuris Richtung, als spürte er seine Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu den anderen spiegelte sich weder Wut noch Mitleid in seinen Augen. Viel eher … Ermutigung. Ein stiller Zuspruch, als wollte er sagen: Bis nachher. Wir reden später. Er hielt den Blickkontakt einige Sekunden aufrecht, riss sich aber los, als er anfing unangenehm zu werden. In den Umkleiden angekommen ließ er sich auf eine der rustikalen Holzbänke fallen und krempelte den dünnen Stoff seines Trainingsanzugs nach oben, um sein Knie unter die Lupe zu nehmen. Keine Schwellung, nur ein kreisförmiger Bluterguss wuchs dunkelblau heran. Bewegungen schmerzten momentan, allerdings würden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits am nächsten Tag kaum noch spürbar sein. Da war er schon mit schlimmeren Verletzungen auf dem Eis gewesen. Erleichtert schälte er sich aus seinen Klamotten und stieg unter die Dusche. Er glaubte nicht, dass das Katsudon sein Training früher beenden würde und ließ sich Zeit. Doch zu seiner Überraschung fand er die beiden wartend im Eingangsbereich, als er umgezogen und mit geschulterter Tasche die stickigen Räume verließ. Er blieb vor ihnen stehen, die Hände in den Jackentaschen und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Yuri brauchte nicht zu fragen, ob Victor Bescheid wusste. Natürlich wusste er das. Spätestens seit seiner schlechten Trainingsleistung gerade eben war jedem klar, dass etwas nicht stimmte. »Hey, Yurio!« »Hmpf.« Victor stieß sich von der Wand ab. »Na los, gehen wir. Das Wetter ist viel zu schön, um die ganze Zeit hier drin zu sein.« Yuri glaubte es gerade selbst nicht, aber dieser Moment gehörte zu den wirklich seltenen, an denen er ihn um sein sonniges Gemüt beneidete. Sie überquerten den Parkplatz und stiegen in Victors Auto. Yuri saß hinten und starrte mühevoll aus dem Fenster, um sich nicht der Versuchung hinzugeben, die beiden beim Händchenhalten zu beobachten. Zu seiner großen Erleichterung und Victors brachialem Fahrstil zum Dank, erreichten sie ihr Ziel in wenigen Minuten.   Die Wohnung befand sich in einem der vielen historischen Altbauten, die sich nur Leute aus der High Society leisten konnten. Obwohl die beiden ganz in der Nähe der Parkanlage lebten, durch die ihn seine Joggingtouren führten, hatte er sich noch nie die Mühe für einen Besuch gemacht. Eigentlich ziemlich ehrlos, wo sie doch mittlerweile gut miteinander auskamen. Er verhielt sich nicht nur Otabek gegenüber wie ein schlechter Freund – und dieser Gedanke beschwor Unwohlsein, das seine Magensäfte aufschäumte. Sie führten ihn vor eine hübsch verzierte Eingangstür direkt im Erdgeschoss. Victor kramte seine Schlüssel hervor und sperrte auf. Nur zögerlich folgte Yuri seiner einladenden Geste. Er fühlte sich wie ein Eindringling. Helle Räume empfingen ihn. Weiße Wände, alte, aber sehr gepflegte Dielenböden glänzten im milden Sonnenlicht, das aus vielen Fenstern hereinschien. Yuris Blick glitt über die Einrichtung, die an einen Möbelkatalog erinnerte, allerdings weit weniger unpersönlich. Er wunderte sich über die große Wirkung der scheinbar kleinsten Dinge, seien es Familienfotos - bei denen er sich sogar selbst wiederfand - oder das ausgelatschte Hausschuhpaar im Flur, von dem sich das Katsudon offenbar nicht hatte trennen können. Oder auch der Kirschblüten-Bonsai, der auf den ersten Blick unpassend wirkte, sich beim näheren Hinsehen jedoch beinahe lächerlich perfekt in das Gesamtbild einfügte. Penible Sauberkeit unterstrich die feinen Details, die die Harmonie zwischen den beiden greifbar machten. Durch die geöffneten Fenster, die hinaus in den Garten führten, trieb Lavendelduft nach innen. Ein leiser Hauch von Hasetsu hing in der Luft. »Hmpf. Nicht die schlechteste Bude.« »Nicht wahr?« Victors strahlendes Lächeln warf beinahe Schatten. Kaum war sein Satz beendet, ertönte wildes Fußgetrappel und schon im nächsten Moment sauste Makkachin um die Ecke. Er sprang an Victors Beinen hoch, der ihn freudig begrüßte und wollte gerade sein Gesicht abschlecken, als er innehielt, die Nase schnüffelnd nach oben streckte und dann ruckartig in Yuris Richtung sah. Kurz verharrte er still, einzig die Ohren zuckten kurz, bevor er sich winselnd vor Freude auf ihn stürzte. Seit Hasetsu hatten sich die beiden nicht mehr gesehen und Makkachins Euphorie über ihre erneute Zusammenkunft riss Yuri beinahe von den Füßen. »Schon gut, schon gut!« Grinsend kraulte er ihm die Ohren, versuchte seinen Abschleckversuchen zu entkommen. Wenn sich doch nur alle so freuen würden, sobald sie ihn sahen. Yuri wusste schon warum er Haustieren Menschen gegenüber den Vorzug gab. »Wir gehen jetzt spazieren, wie klingt das?« Der übergroße Pudel drehte sich einmal um sich selbst, jaulte und wedelte mit dem Schwanz. Das sollte wohl gut heißen. »Also«, Yuuri wandte sich Victor zu. »wir sind dann mal weg.« Yuri verließ bereits die Wohnung, den Pudel im Schlepptau, um nicht auch noch Zeuge ihrer Knutscherei zu werden. »Bis später.« Victor zwinkerte ihm zu und hob die Hand zum Abschied, bevor die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. Unschlüssig standen sie sich gegenüber. Ohne den ernsten Hintergrund ihres Treffens hätte Yuri sich sogar ein wenig gefreut, mit Makkachin einen Ausflug zu machen. »Also, zum Park?« Das Katsudon lächelte ihn aufmunternd an. »Hm.« »Okay, auf geht’s.« Wortlos liefen sie nebeneinander her. Yuris Blick heftete sich an Victors Haustier, das fröhlich vor ihnen umhersprang und den Weg offenbar auswendig kannte. Sonnenlicht glitt über sein Gesicht, streichelte seine Wangen. Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Sollte er etwas sagen? Wartete das Katsudon darauf, dass er zu sprechen begann? Solche Situationen waren ihm fremd und frustriert musste er feststellen, dass er völlig unvorbereitet war. Legte man sich vorher passende Worte zurecht? Wartete man auf Fragen, die der andere stellte? Wütend ballte er die Hände zu Fäusten. Konnte es nicht einmal einfach sein? Vor ihnen öffnete sich die gut besuchte Grünanlage. Bevor sie ihn aufhalten konnten, stürmte Makkachin los, sprang über die Wiese und rollte im Gras umher. Die für sein hohes Alter noch fast unverbrauchten Kraftreserven versetzten Yuri immer wieder ins Staunen. Irgendwann schmerzte sein Arm von den gefühlt abertausenden Stöckchen, die er so weit warf, wie er konnte. Doch selbst die längsten Strecken schienen kein Problem. Erst nach weit über einer Stunde ließ er sich erschöpft ins Gras fallen, Makkachin zu seinen Füßen, den Kopf liebevoll auf seinem Oberschenkel gebettet. Das Spielen hatte auch Yuri gutgetan, er fühlte sich gelöst und sein Kopf war einigermaßen frei. Und wenigstens für diese Stunde hatte er nicht an das bevorstehende Gespräch denken müssen. »Das sah nach Spaß aus.« Das Katsudon saß neben ihm, stützte sich auf beiden Händen ab. Der Wind fuhr durch sein Haar, dass sich der geschmeidigen Bewegung hingab. Wieder dieses Lächeln. Immer lächelte er, als hätte er gerade einen Wettbewerb gewonnen. Oder einen Heiratsantrag bekommen. »Hmpf. War ganz okay.« Wow, was für eine tolle Konversation. Würden sie dann als nächstes über das Wetter sprechen? » …Was ist mit deinem Knie?« Fragend zogen sich seine Augenbrauen zusammen. »Was soll damit sein?« »Tuts noch weh? Der Sturz vorhin sah übel aus.« »Hmpf. Du brauchst mich nicht zu bemitleiden!« Alles, nur diese Folter nicht. Natürlich spürte er es noch, erst recht nach dem Herumtollen mit Makkachin, aber es würde ihn nicht davon abhalten, ab morgen wieder aufs Eis zu gehen. Er wollte nicht für ein Schwächling gehalten werden. Von niemandem, meinte er es auch noch so gut. »Keine Angst, das tue ich nicht.« Yuuri beugte sich nach vorn, ein ernster Zug um seine Augen. »Mitleid hilft dir auch nicht bei deinem Problem.« »Häh, was denn für ein Problem?« Er zog sich die Kapuze tief ins Gesicht, als könnte sie ihn schützen vor dem, was auf ihn zukam. »Dein Problem mit Otabek.« Er konnte seine Worte noch so sanft und bedächtig aussprechen, sie schmerzten wie ein Schlag ins Gesicht. Selbst Yuris Kopf ruckte in eine andere Richtung. Schon allein der Name seines besten Freundes beschwor wellenartige Kälteschauer, die bis in seine Fingerspitzen trieben. Mit gesenktem Kopf knibbelte er an seinen Fingernägeln herum. »Ich hab‘ kein Problem mit ihm!« Leider zeugte die Abwehr in seiner Stimme vom Gegenteil. Er bekämpfte das Offensichtliche und würde am liebsten wegrennen. Wie ein Feigling. Sein gestriger Schwur dagegen anzukämpfen, sich endlich der Realität zu stellen und lernen damit umzugehen – alles Schall und Rauch. Er sehnte sich nach eines seiner vielen Kissen, das er sich wieder einmal über den Kopf ziehen konnte. »Was ist es dann?« Yuuri hingegen blieb weiterhin ruhig. Er drängte ihm zu nichts, übte sich in Geduld, doch seine Tonlage verriet eindeutig, dass es eine rhetorische Frage war. Dass er ihm nicht glaubte und Widerworte nichts brachten. Übelnehmen konnte Yuri es ihm nicht, wo er sich doch nicht einmal selbst überzeugen konnte. Schluss damit! Er riss sich die Kapuze vom Kopf, fuhr sich durch die Haare und sah dann unschlüssig zu ihm. Da waren Worte, die sich auf seiner Zunge bildeten, doch er schaffte den letzten Schritt nicht. Wie ein Kleinkind auf dem Sprungbrett des Drei-Meter-Turmes. Nur, dass unter ihm kein Pool lauerte, sondern bodenlose Schwärze. Da fehlte ein frecher Klassenkamerad oder ein großer Bruder, der ihm den letzten Stoß verpasste. Statt endlich den Mund zu öffnen, zog er sein Smartphone aus der Jackentasche. Vielleicht würde es helfen, wenn er es ihm einfach zeigte. So oft war er schon auf ihrem Profil gewesen, ohne zu wissen, was er eigentlich suchte - und eventuell sogar finden würde. So wie heute Morgen. Er tippte ihr neuestes Foto an und reichte das Smartphone Yuuri herüber, mied erneut jeglichen Blickkontakt. Er nahm es ihm aus der Hand, betrachtete das, was er auf dem Display sah. »Oh. Das ist doch …« Ja. Sie war es. Mal wieder. Heute vor einem Spiegel stehend, einen Koffer neben und Umzugskartons hinter sich. Die Worte unter ihrem Foto kannte er auswendig - das Resultat, wenn man den ganzen Morgen damit verbrachte sie immer wieder zu lesen.   »Nach monatelangem Kontakt und dem ersehnten Treffen ist alles Organisatorische geklärt. Die nächsten Tage läuten einen neuen aufregenden und, zugegeben, auch schweren Lebensabschnitt ein. Ich verlasse Moskau mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Es fällt schwer, all die Menschen, die ich kennen und lieben gelernt habe, zurück zu lassen, aber ich wollte schon immer nach Almaty und ich danke dir, dass du nach einer so kurzen Zeit diesen Schritt mit mir wagst.«   »Oh, das klingt … schön.« »Schön?« Fassungslos starrte er ihn an. Er hielt ihm hier den Ursprung seines Kummers unter die Nase und er lobte sie auch noch für ihre poetischen Worte? »Ob du total brennst?« Innerlich schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Dieses Gespräch war wirklich eine Schnapsidee vor dem Herrn. Was hatte er auch erwartet? Dass das Katsudon ihn vielleicht mit Hasstriaden gegen sie ermutigte? Die Lust noch weiter mit ihm zu reden schrumpfte sekundenschnell auf ein Minimum. Fahrig rappelte er sich auf, riss ihm das Smartphone wieder aus der Hand und stopfte es zurück in die Jackentasche. »Ich hau ab! War ‘ne miese Idee.« Doch Yuuris Griff nach seinem Ärmel, überraschend fest und bestimmt, hielt ihn zurück. »Setz dich wieder hin!« Er stockte. Okay, dieser Ton war neu. Seine sonst so weiche Stimme barg plötzlich eine scharfe Note, die zusammen mit dem ungewohnt strengen Blick ihre Wirkung nicht verfehlte. Überrascht folgte Yuri seiner Aufforderung, kratzte sich verlegen am Kopf. Das Schweinchen musterte ihn einige Sekunden, dann atmete er schwer aus und als er erneut zum Sprechen ansetzte, war seine übliche Sanftmütigkeit zurückgekehrt. »Also … Eigentlich solltest du dich ja schon für ihn freuen.« Yuri sah dabei zu, wie er einen Finger ans Kinn legte. In seinen Augen lag ein seltsames Funkeln, ein Zeichen, dass er offenbar angestrengt nachdachte, seine eigenen Schlüsse zog. »Aber du freust dich nicht, Im Gegenteil.« Er beugte sich nach vorn, auf die Antwort gespannt. Neugierig, aber unaufdringlich. »Warum?« Yuris Herz krampfte sich zusammen. Er vergrub die Finger im Gras, rupfte ganze Hände voll davon heraus. Es ging nicht. Seine Unsicherheit war wie Sekundenkleber, der seine Lippen versiegelte. Er sog den grünen Geruch ein und schloss die Augen. Gestern hatte er es aussprechen können. Zwar unter größter Anstrengung und nur vor sich selbst, aber er hatte es geschafft. Dieser Mut fehlte ihm jetzt. Ob nur er sich so anstellte? Worin bestand das Problem mit jemandem darüber zu reden? Darüber, wie es sich anfühlte, wenn plötzlich Gefühle an die Oberfläche traten, dessen Existenz man nicht einmal in Betracht gezogen hatte? Hatte sein Namensvetter mit ähnlichen Problemen zu kämpfen gehabt? Ruckartig hob er den Kopf. Natürlich. Wie dumm er war, sich auf der Suche nach Antworten das Hirn zu zermartern, während das Katsudon wie ein offenes Lösungsbuch neben ihm saß!  Er musste nur darin lesen … beziehungsweise die richtigen Fragen stellen. Schnell wandte er sich dem Schweinchen zu, der, von der plötzlichen Bewegung überrascht, ein paar Zentimeter von ihm abrückte. »Sag mal …« Los, frag ihn! Du willst es doch wissen, also frag ihn! »Ich, äh … wie war das eigentlich?« »Hm?« Verwundert neigte Yuuri seinen Kopf, offenbar nicht verstehend, worauf sich die Frage bezog. »Man, verdammt!« Leider konnte seine laute Stimme nicht die Hitze aufhalten, die schleichend sein Gesicht einnahm. »Ich meine das mit dir und Victor! Wie … wie kam das und wie hat sich das … angefühlt?« Mit jedem Wort dämpfte er seine Stimme ein wenig mehr, doch sein Gegenüber verstand jede Silbe. Ein Blinzeln. Auf Irritation folgte Erkenntnis und dann … Verlegenheit. Anscheinend teilten sie sich nicht nur ihren Namen, sondern auch ihr viel zu flüssiges Blut, denn seine Gesichtsfarbe stellte die von Yuri innerhalb weniger Sekunden in den Schatten. »Oh, das meinst du.« Er antwortete nicht, sondern wartete ab, in der leisen Hoffnung, dass das Katsudon redseliger war, als er. Vielleicht würde das seine eigene Zunge endlich mal lockern. »Also.« Er nahm sich die Brille ab und benutze den Saum seines Shirts als Poliertuch. Schindete er damit Zeit? Reden schien wirklich kein leichtes Unterfangen, denn auch er mühte sich sichtlich ab mit seiner Suche nach den richtigen Worten. Schließlich aber lehnte er sich wieder zurück und sah in den Himmel, die Lippen von einem sanften Lächeln umspielt. »Es kam auf jeden Fall unerwartet.« Die Röte in seinem Gesicht verblasste nur sehr langsam, bereit bei der nächsten Gelegenheit wieder hochzuschwappen. »Victor war immer jemand, von dem ich dachte, er sei unerreichbar für mich. Ich habe mein halbes Leben zu ihm aufgesehen. Gegen ihn anzutreten war damals die Erfüllung aller meiner Träume.« Yuri verzog das Gesicht. Seine jetzigen Träume von Victor wollte er lieber gar nicht wissen. »Das war zwar der schlechteste Auftritt meines Lebens, aber … wenigstens ein Traum hatte sich damit erfüllt. Du hast damals übrigens gar nicht so falsch gelegen. Ich wollte meine Kufen wirklich an den Nagel hängen.« Ein Feuer setzte Yuris Brust wie ein welkes Blatt in Flammen. Erst jetzt realisierte er, wie er sich damals verhalten und was er getan hatte. Ihn getreten, als er schon am Boden lag. Wenn Yuri jetzt weinen würde, würde das Katsudon dasselbe tun? Vermutlich nicht. Ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil. Er schob den Gedanken beiseite, für weitere Gewissensbisse waren seine Energiereserven eindeutig zu niedrig. Yuuri, der von seinem inneren Disput nichts mitbekam, sprach unbeirrt und ein wenig träumerisch weiter: »Aber … Dann stand er plötzlich vor mir und offenbarte mir, mein Trainer werden zu wollen. Im Onsen. Ohne Klamotten …« »Ürgs.« Yuri unterbrach ihn, indem er abwehrend mit der Hand vor seinem Gesicht herumwedelte. »Danke, verschone mich mit den schmutzigen Details!« Er wusste eh schon genug darüber. Victors damalige Flucht nach Hasetsu war beinahe noch viraler gegangen, als das Amateurvideo, in dem das Schweinchen seine Kür kopierte. Peinlich berührt kratzte sich das Katsudon am Kopf. »Tschuldigung. Ich schweife ab, das kennst du ja alles schon. Äh …« Ein kurzer Moment des Schweigens trat zwischen sie. Yuri wartete gespannt. Selbst Makkachin hatte neugierig den Kopf gehoben und blickte erwartungsvoll zu ihnen, als verstünde er alles. »Es war wie im Traum, so … surreal. Die ersten Tage habe ich verbissen nach den versteckten Kameras gesucht, überzeugt davon, dass mich jemand ziemlich böse auf den Arm nehmen wollte. Aber Victor meinte es wirklich ernst. Und damals konnte ich mich noch nicht an das erinnern, was im Jahr zuvor auf dem Bankett abgegangen ist und dass er nur deswegen überhaupt zu mir gekommen ist … Ich war immer unglaublich aufgeregt in seiner Nähe.« Seine Hand fuhr fast wie automatisch hoch zu seiner Brust. »Mein Herz hat wie wild geschlagen, mir ist heiß geworden, immer wenn er mich wie zufällig irgendwo berührte, oder mir eine Spur zu lang in die Augen sah. Anfangs hab ich mir dabei gar nichts gedacht, habe es darauf geschoben, dass er eben mein größtes Idol und ich einfach nur aufgeregt in seiner Nähe war. „Das geht schon irgendwann weg” habe ich mir immer und immer wieder eingeredet. Aber das Gegenteil passierte, es wurde schlimmer. So schlimm, bis ich es in seiner Nähe kaum noch aushielt.« »Hmpf. Und was hast du dann getan?« Er kratzte sich am Kopf. »Naja … erst mal nichts. Ich hab das alles gar nicht verstanden. Nicht gerafft, dass das kein simples Aufsehen mehr zu ihm ist, nicht nur die Faszination über sein Eislauftalent und der Respekt vor ihm als Künstler und Inspiration. Sondern ... Naja, eben etwas Größeres. Und als mir endlich ein Licht aufging, war es längst zu spät. Wahrscheinlich hat mir jeder angesehen, was ich fühle. Auch Victor, denn … Irgendwann, im Laufe der Zeit, als wir meine Kür geplant haben, fiel mir auf, dass seine Suche nach Nähe nicht an seinem von Grund auf extrovertierten Charakter lag, so wie ich es mir immer eingebildet habe. Sondern …« Unruhig und offensichtlich peinlich berührt rutschte er auf der Wiese herum, spielte gedankenverloren mit dem Ring an seinem Finger, drehte ihn hin und her. Wahrscheinlich eine Geste, um sich selbst abzukühlen, ähnlich wie Yuris Knibbeln an den Fingernägeln. »Er wollte die Nähe zu mir. Wir haben es beide gespürt. Diese Verbindung, die sich in all den Wochen aufgebaut hatte. Niemand hat es ausgesprochen oder den ersten Schritt gewagt und trotzdem wussten wir es, wenn wir uns in die Augen sahen. Erst beim Cup of China hat Victor es … naja, bekannt gemacht.« Yuri unterdrückte ein hämisches Lachen. »Er hat dich vor den Augen aller, vor sämtlichen Kameras abgeschlabbert!« Vor Schreck rutschte ihm die Brille von der Nase. Fahrig fing er sie auf und schob sie sich zurück auf die Nase, die Wangen wieder hochrot. »Das ist nicht wahr! Es war ohne Zunge!« »Buärg!« Yuri kniff die Augen zusammen und verschloss seine Ohren mit beiden Zeigefingern. »Mir kommt gleich die Galle hoch, vielen Dank!« Einen Augenblick sahen sie sich in die Augen - nur um dann gleichzeitig loszuprusten. Makkachin jaulte freudig auf und sprang um sie herum. Yuri kraulte ihn beruhigend, strich sich mit der anderen Hand eine Träne aus dem Augenwinkel. Es vergingen wenige Minuten, in denen sie wieder Atem fassten. Yuri dankte ihm still für seine Bereitschaft aus dem Nähkästchen zu plaudern. »… Also mit anderen Worten: Ihr beide habt eigentlich überhaupt keinen Plan, wie es dazu gekommen ist.« Verlegen neigte das Schweinchen zur Bestätigung den Kopf. »Mhm. Kann man wohl so sagen.« »Alter! Und du kommst hier mit ‘nem halben Roman um die Ecke. Das hättest du auch in einen Satz packen können!« »Das vielleicht schon.« Sein Lächeln konkurrierte mit dem Strahlen der Sonne. »Aber es hat gutgetan, mal jemandem davon zu erzählen. Du bist bis jetzt der Erste, der mal nachgefragt hat, wie es dazu gekommen ist.« »… Häh?« Das überraschte ihn. »Ich hätte eher geglaubt, dass du das schon tausenden Leuten erzählen musstest.« »Nein, irgendwie nicht. Alle haben sich gefreut und uns Glück gewünscht. Aber nachgehakt hat niemand. Vielleicht wollten sie mich nicht in Verlegenheit bringen. Ist ja schon ein sensibles Thema.« »Mhm ja. Stimmt schon. Aber …« Um irgendetwas mit seinen Händen zu machen, nahm er die überaus gründliche Arbeit von vorhin - das Herausreißen von Grashalmen - wieder auf. »Also, äh – naja. Hat sich das nicht komisch angefühlt?« »Hm, was genau?« Yuri zog die Knie an und bettete seinen Kopf darauf. Wieder schaffte er es nicht ihm in die Augen zu sehen, oder gar zu antworten. Das Katsudon nahm ihn mit der nächsten Frage an die Hand. »Dass ich mich in einen Mann verliebt habe?« Yuri bewunderte, dass er es so offen aussprechen konnte. Er bewunderte und hasste ihn gleichermaßen dafür. Mit geschlossenen Augen und plötzlich wieder versiegelten Lippen brachte er nur ein knappes Nicken zustande. Er wusste, dass sich das Gespräch demnächst unweigerlich wieder auf ihn und sein Problem mit Otabek konzentrieren würde. Gerade bot sich ja die perfekte Überleitung dazu an. Das Katsudon war schließlich nicht dumm und wusste mit turmhoher Wahrscheinlichkeit, was Yuri erst zu diesem Gespräch bewogen hatte. »Ja, anfangs war es seltsam. Überraschend, ungewohnt … und vor allem neu. Ich dachte immer … naja, dass ich Mädchen mag.« »Ja, das … dachte ich auch immer.« Seine Worte waren nur ein Hauch, dennoch für Yuuri hörbar und sie beide wussten, dass Yuris Feststellung nicht ihm galt, sondern sich selbst. »Also stimmt es. Du bist in Otabek verliebt.« Am liebsten wäre Yuri komplett in seinem Hoodie verschwunden. Sich nur die Kapuze über den Kopf zu ziehen, um sich zu verstecken, reichte gerade nicht aus. Sein Herz hämmerte in Spechtgeschwindigkeit gegen seinen Brustkorb. Aber Leugnen war zwecklos. Und er wollte es auch gar nicht mehr. »… Ja. Bin ich. Glaub ich.« Er würgte es beinahe hervor. Unsicher ging sein Blick nach links. Warme braune Augen fixierten ihn. »Du glaubst?« Er vergrub sein Gesicht in den Armen, schüttelte den Kopf. »Ich … weiß es.« »Empfindest du das erste Mal so für jemandem?« Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme wog Yuri in Sicherheit. Er spürte, dass das Katsudon ihm helfen wollte. »Ja …« Ein bitteres, verzweifeltes Lachen brach aus ihm heraus, seine Finger krallten sich in seine Arme. »Ich hab mir das echt anders vorgestellt. Ich dachte immer, dass noch Jahre vergehen werden, bis mir sowas passiert … falls überhaupt. Und außerdem …« Seine Zähne knirschten. Aber kaum ausgesprochen, brachten seine Worte einen großen Stein ins Rollen, auch wenn die folgenden am schwersten fielen. »Außerdem wollte ich mich nicht in einen Mann verlieben! Und erst recht nicht in meinen verdammten besten Freund! Ich … warum –« Er unterbrach sich, als sein Blick verschwamm. Schnell sah er zur Seite. »… Scheiße.« Makkachin winselte, richtete sich auf und drückte tröstend seinen Kopf an seine Brust. Dankbar strich er ihm durchs Fell, versuchte zur ruhigen Atmung zurückzufinden. Mit einem Ärmel wischte er sich über die Nase, nur mit Mühe ein Schniefen unterdrückend. Schließlich schluckte er ein paar Mal und sprach weiter. Er hatte das Gefühl es loswerden zu müssen. »Das fühlt sich so … falsch an! Als ob ich – als ob mit mir etwas nicht stimmt.« Schon auf halbem Weg bereute er seine Worte. Immerhin lief er Gefahr, nicht nur sich selbst, sondern auch Yuuri damit zu verletzen. Aber falls dem so war, so ließ er sich nichts anmerken. Viel mehr versuchte er ihn Kraft zu spenden, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte. Zögerlich hob Yuri den Kopf, versuchte seinen braunen Augen Stand zu halten. »Ich kenne dieses Gefühl, deswegen kann ich dich gut verstehen. Anfangs ging es mir ähnlich. Weißt du … ich war früher mal ziemlich schlimm in Yuuko verknallt. Zwar lief nie was und ich hatte auch seitdem niemanden, aber … trotzdem war ich überzeugt, hetero zu sein. Meine Gefühle zu Victor haben mir Angst eingejagt. Keine Angst vor seiner Reaktion, oder die der anderen, sondern … Angst vor mir selbst. Weil ich das von mir selbst als letztes erwartet hätte.« Yuri schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, während er zuhörte. Seine weiche Stimme spendete Trost und brachte neues Wissen mit sich. Erkenntnisse, dass er nicht allein war. »Gefühle entwickeln sich, ohne dass wir es verhindern können, Yuri. Wir suchen uns nicht aus, wen wir lieben. Wenn wir alles nach unserem Willen beeinflussen könnten, wären wir allmächtig. Aber das sind wir nun mal nicht. Du magst, wen du magst. Ob Mädchen oder Junge ist völlig egal. Liebe kennt kein Geschlecht und keine Regeln. Es gibt keine Norm, sondern nur Schranken, die wir selbst herunterlassen.« Die Hand an seiner Schulter drückte fester zu. »Nichts an dir ist falsch oder unnormal. Du bist jung und verliebt, nicht mehr und nicht weniger. Versuche das zu verinnerlichen, denn alles andere ist unwichtig. Ich habe auch mit mir gekämpft, aber Victor hat es mich gelehrt. Und er hat Recht.« Yuri versuchte sich an einem Lächeln. Zwar nur mit mäßigem Erfolg, aber dafür ehrlich. Die Wirkung dieser Worte überraschte ihn, lockerten die Schnüre um seine Brust. Plötzlich kam viel mehr Sauerstoff in seine Lungen. Er blinzelte mehrmals, um die lästige Feuchtigkeit aus seinen Augen zu vertreiben. »Danke …« Ein Lächeln und ein Abwinken, als wäre das alles legitim. Aber das stimmte nicht. Um sie herum rauschten die Baumkronen. Kinderlachen, Hundegebell und Vogelzwitschern erfüllte den Park. Ein zarter Windhauch trug den schweren Duft von Flieder zu ihnen. Er war müde, seine Gliedmaßen erschöpft. Einen Moment schloss er die Augen, genoss die Sonne, die durch die Kapuze seinen Nacken wärmte und die tanzenden Schatten zu ihren Füßen. Und wie ging es nun weiter? Gab es überhaupt ein Weitergehen? »Wirst du es ihm sagen?« Oh. Tatsächlich hatte ihn sein Gefühlscocktail so sehr auf Trab gehalten, dass er noch nicht einmal auf diesen Gedanken gekommen war. Allerdings gab es da nur eine vernünftige Antwort. Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, lieber verrecke ich elendig in der Hölle oder gründe einen Fanclub für JJ.« Das sollte lustig sein, doch das Lächeln vom Schweinchen wirkte gezwungen. »Was hast du zu verlieren?« »Mal überlegen«, Yuri machte eine Geste, als läge das doch auf der Hand. »meinen besten Freund zum Beispiel?« »Wer sagt das?« »Spätestens seine Freundin wird was dagegen haben, wenn sie’s rauskriegt.« Die eben verscheuchte Beklemmung kehrte schlagartig zurück, nur jetzt aus einem anderen Grund. Er hatte keine Chance gegen sie. Er wusste es. »Kannst du überhaupt sicher sagen, dass sie seine Freundin ist? Dass sie zusammen sind?« Wie nebenbei langte er nach vorn und packte Yuris Hand, eine unausgesprochene Aufforderung, die Fürsorge ausdrückte: Hör auf damit. Yuri blickte auf seinen Daumen. Unbemerkt hatte er wieder daran herumgeknibbelt. Die empfindliche Haut protestierte bereits und ein feiner Riss füllte sich mit Blut. Ohne zu überlegen wischte er es mit dem Stoff seiner Jacke fort, bevor er antwortete. »Er hat es mir noch nicht gesagt, aber ich kapier’s auch so. Diese kitschige Scheiße spricht doch für sich. Sogar er ist auf einmal wahnsinnig gefühlvoll und postet eklige Selfies mit ihr.« Und nicht mit mir. »Aber sicher kannst du dir da nicht sein.« Nein, konnte er selbstverständlich nicht. Sicherheit würde er erst bekommen, wenn er einem längst überfälligen Telefonat zusagte. Tief durchatmend setzte er sich auf. »Ich werd’s bald wissen. Otabek will es mir schon seit Tagen, vermutlich Wochen erzählen, aber ich hab mich quergestellt, weil ich es nicht hören wollte. Aber das hat sich jetzt erledigt. Wird langsam Zeit das zu klären, bevor unsere Freundschaft komplett in den Abgrund geht. Ich glaube, dass ich ihn damit wehgetan habe und das will ich nicht mehr.« »Aber … nur mal so in die Tüte gesprochen: Falls es nicht seine Freundin ist –« »Dann werde ich trotzdem die Schnauze halten! Selbst wenn es so wäre, ich glaube nicht, dass Otabek auf kleine Jungs steht! Ich hab einfach Angst, dass es dann nicht mehr wie vorher sein wird und bevor ich ihm meine Gefühle aufhalse und ihm ein schlechtes Gewissen mache, lasse ich es lieber!« Zerstörte Hoffnungen hinterließen die tiefsten Narben. Narben, die er sich nicht zuziehen wollte. Eine Zurückweisung wäre schier unerträglich für ihn und hätte vermutlich den Worst Case zur Folge: Das Ende ihrer Freundschaft. Einer der Gründe, warum er keine andere Möglichkeit zuließ, als die, dass Otabek und dieses Mädchen ein Pärchen waren. Vielleicht hielt genau dieser Gedanke den dünnen Faden ihrer Freundschaft zusammen. Aber das behielt er für sich, um sich wenigstens ein bisschen Stolz zu bewahren. Das Katsudon antwortete nicht. Vielleicht weil er ihn verstand. Vielleicht aber auch, weil er wusste, dass er für heute nichts mehr ausrichten konnte. Die Baumkronen rauschten nicht mehr, hingen energielos in der sommerlichen Hitze. Die meisten Besucher des Parks traten den Heimweg an und auch Makkachin wirkte, als sei er in Aufbruchstimmung.  Schließlich stand Yuuri auf und reichte ihm die Hand. »Wir sollten los.« »Mhm. Kann ich noch mit bis vor die Haustür?« Yuri wollte nicht nach Hause. Der Gedanke, dass Yakov und Lilia dort auf ihn warteten, unzufrieden, noch bevor er zur Tür hereinkam, jagte ihm eisige Schauer über den Rücken. Das Katsudon lachte zur Antwort. »Musst du sogar. Deine Trainingstasche liegt immerhin noch bei uns.« »Oh, äh - hmpf.« Tatsächlich. Als er sich verstohlen umsah, konnte er sie nirgendwo entdecken. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass sie die ganze Zeit über nicht dabei gewesen war. »Dann los.« Den restlichen Weg verbrachten sie mit schöneren Gesprächsthemen. Belanglose Sachen. Alles, was zu Otabek führen konnte, wurde vermieden. Sie erreichten sein Zuhause viel zu schnell. Bevor sie klingeln oder aufschließen konnten, öffnete Victor ihnen bereits die Tür. »Willkommen zurück!« »Danke!« Yuri hielt den Mund. Er war erschöpft von ihrer Unterhaltung. Erschöpft von den vielen aufgetretenen Emotionen. »Hier, deine Tasche!« Victor fragte nicht nach dem Verlauf des Gesprächs, hielt ihm nur höflich das schwere Ding entgegen. »Soll ich dich fahren? Yakov und Lilia haben gefragt, wo du bist. Sie machen sich bestimmt Sorgen.« »Nein, ich … schon gut.« Er zögerte, als er die Tasche entgegennehmen wollte. Sein Blick ruhte auf dem goldenen Verlobungsring an seinem Finger, von dem er wusste, dass Yuuri den Gleichen trug. Ein stilles Zeichen ihrer Verbundenheit. »… Das ist kein Tinnef.« An den verdutzten Gesichtern der beiden erkannte er, dass er diesen Gedanken, der eigentlich nur für sich selbst bestimmt war, laut ausgesprochen hatte. Er war ihm plötzlich durch den Kopf geschossen. Peinlich berührt nahm er Victor endlich die Tasche ab, bevor er den Blick hob und in seine blauen, überraschten Augen sah. »Das, was ich da in Barcelona zu dir gesagt habe … das war Scheiße. Ich nehm’s zurück.« Victor brauchte einen Moment, um zu verstehen, doch dann breitete sich ein seliges Lächeln auf seinem Gesicht aus, dass eine Spur Dankbarkeit in sich trug. »Ach, Yurio!« Plötzlich quetschten seine Arme ihn liebevoll zusammen. »Das ist so süß von dir!« Er wollte ihn gar nicht mehr loslassen, selbst nicht, als er schon zappelnd nach Luft schnappte. »Ich war dir nie böse deswegen.« Auch das Katsudon trat an ihn heran, legte erneut eine Hand auf seine Schulter. »Wenn du wieder jemanden zum Reden brauchst, sag uns Bescheid.« Victor unterstrich diese Worte mit einem dumpfen Nicken. »Egal was. Auch wenn dir das Training mal zu viel wird. Wir wissen, dass Yakov und Lilia streng mit dir sind und wenn du mal eine Auszeit brauchst, dann -« »Ja, ist ja gut jetzt!« Nicht grob aber nachdrücklich befreite er sich aus der Umarmung, zog sich mit hochroten Wangen die heruntergerutschte Kapuze zurück über den Kopf. »Wir müssen ja nicht gleich sentimental werden und das Heulen anfangen! Ich hau jetzt ab, wir sehen uns dann morgen auf dem Eis!« Victor und sein Katsudon lachten nur über seinen hilflosen, abwehrenden Ton. Natürlich wussten sie, dass sie ihn in Verlegenheit gebracht hatten. Aber scheinbar schien ihnen das Spaß zu machen. Die beiden bestmöglich ignorierend kraulte Yuri Makkachin ein letztes Mal hinter den Ohren und hob dann die Hand zum Abschiedsgruß, bevor er mit schnellen Schritten aus dem Haus flüchtete. Draußen angekommen, lehnte er sich an die schwere Eingangstür. »Trotzdem danke. Oder so …« Er hoffte, nie wieder darauf zurückkommen zu müssen. Im Laufe des Nachhauseweges zog er sein Smartphone hervor. Eine Nachricht von Otabek, die irgendwann unbemerkt eingetrudelt sein musste. Es schmerzte, seinen Namen zu lesen. Da war dieses Gefühl in seiner Brust. Es wand sich wie eine Schlange und sprühte heißes Gift durch seine Adern. Dieses Gefühl, dessen Namen er sich endlich traute auszusprechen. Er wollte, dass es aufhörte. Er wollte ihren freundschaftlichen Alltag zurück. Er wollte nicht mehr unglücklich in Otabek verliebt sein. Deswegen traf er eine Entscheidung, öffnete ihren Chat und tippte eine Antwort. Er würde sich an seinen eigenen Haaren zurück aus dem Sumpf ziehen, sich der bitteren Wahrheit stellen. Und dann damit abschließen. Teil siebzehn: »Wahrheit« ------------------------- Otabek Altin – 19.06 21:59 »Also Samstag. Klingt gut, aber ich weiß noch nicht wann genau. Wahrscheinlich gegen Abend, je nachdem, wie lang das Training dauert.«   Yuris Magen rumorte, aber nicht des Hungers wegen. Eher war ihm schlecht, als er sich in seinem Bett auf den Rücken drehte, das Smartphone mit beiden Händen über das Gesicht balancierend.   Yuri Plisetsky – 19.06 22:00 »Kein Ding, ich warte dann einfach. Hab ja am nächsten Tag frei :D«   So fröhlich wie seine Antwort klang, wäre er gern wirklich gewesen. Aber da war so viel Angst, die sein aufgesetztes Lächeln verdunkelte.   Otabek Altin – 19.06 22:02 »Also bis spätestens Samstag. Ich freu mich ;)«   Das glaubte Yuri ihm aufs Wort. Wer freute sich auch nicht darauf, jemandem von seiner frisch aufgeblühten Beziehung zu erzählen? Er schloss die Augen und ließ das Smartphone neben sich auf die Matratze fallen. Er wollte sich so sehr für Otabek freuen. Aber wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er noch keine großen Schritte in die gewünschte Richtung getan. Er stand noch immer an demselben Punkt, wie vor einigen Wochen in Hasetsu – nur ohne Wellen, die ihre schäumende Gischt um seine Füße trieben. Außer Unbehagen und Eifersucht, wenn er an die beiden dachte, regte sich nichts in seinem Inneren und er wusste, dass ein gefälschtes Lächeln nicht ausreichte, um darüber hinweg zu täuschen. Bisher war das auch nie nötig gewesen. Yuris Ruf eilte ihm voraus und jeder wusste, dass er seine Meinung gern ungefiltert in unschuldige Gesichter schleuderte. In dem Fall sah die Sache allerdings anders aus. Zu seinem eigenen Wohl würde er sich verstellen müssen. Aber wie reagierte man korrekt auf so eine Nachricht? Bei ihrem letzten Telefonat hatte Yuri nicht gerade durch seine grandiose Schauspielerei geglänzt. Viel eher verdankte er es einer gehörigen Portion Glück, dass er den Chat hatte beenden können, ohne sich verdächtig zu machen. Ein tiefer Seufzer verließ seine Brust. Noch blieb ein wenig Zeit. Fünf Tage. Fünf Tage, um sich darauf vorzubereiten. Das Ticken der Uhr in seinem Zimmer klang lauter, als jemals zuvor. In der Hoffnung Schlaf zu finden löschte er das Licht und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Fünf Tage. Er schloss die Augen, versuchte gleichmäßig zu atmen und sich nicht mehr zu bewegen. Er musste optimistisch sein. Vielleicht käme er besser damit klar, wenn er es endlich von Otabek persönlich hörte. Und vielleicht bestand doch noch ein Funken Hoffnung, dass es nicht so schwer werden würde.     »Keine Chance.« »Gar keine?« Ein Kopfschütteln. »Nope. Sorry.« Yuri stieß die angehaltene Luft aus, seine Schultern fielen enttäuscht nach unten. Nicht einmal zwei Minuten der Begutachtung und zum Scheitern verurteiltes Herumdrücken auf den wenigen noch vorhandenen Knöpfen - und das sollte das Ergebnis sein. Zwar mochte er damit gerechnet haben, aber die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt. Ein ungutes Gefühl waberte seine Beine hinauf. »Scheiße!« »Nichts für ungut, aber was haste auch erwartet? Das Teil ist reif für die Schrottpresse. Was’n damit passiert?« Nicht im Traum würde er ernsthaft auf diese Frage antworten. Dass er seinen Laptop aus Wut und Verzweiflung vom Schreibtisch gefegt hatte, musste niemand wissen, außer er selbst. Er biss sich auf die Lippe, schloss kurz die Augen. »Da … sind noch Schulsachen von mir drauf. Referate und so weiter …« Von den ganzen Fotos und seiner Musik mal abgesehen. Außerdem lief ihm die Zeit davon. In der Spirale aus Stress und Nervosität war die Zeit schneller verflogen, als Yuri so manches Piroschki verdrücken konnte. Sein Trainingsplan war straffer denn je und er hatte sich auch – unbewusst – davor gedrückt, seinen Laptop endlich reparieren zu lassen, als würde er so dem anstehenden Telefonat entkommen können. Natürlich absoluter Unsinn, ebenso die Tatsache, dass er wirklich Wert auf seine Daten legte. Jedoch bot sich das gerade als perfekte Ausrede, um nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten, ohne als verrückt abgestempelt zu werden. »Man, ich brauch das Zeug!« Ausnahmsweise war ihm sein trotziger Ton direkt peinlich. »Kann man da denn gar nichts machen?« »Hm.« Skeptisch drehte der Mitarbeiter den zerstörten Laptop herum, um die Rückseite zu begutachten. Das verzogene Plastik knirschte beunruhigend laut in Yuris Ohren. »Naja. Mit’n bisschen Glück ist die Festplatte noch zu retten. Ich kann versuchen sie auszubauen und dann schauen was noch geht.« Während er überlegte, fuhr er sich durch die schwarzen Haare, dann fixierte er Yuri mit seinen dunklen Augen. Die dichten Brauen zogen sich zusammen. »Alles klar bei dir?« Er schien irritiert. Yuri starrte ihn an, als würde er ihn jetzt erst richtig wahrnehmen und der plötzliche Blickkontakt holte ihn schnell zurück ins Fachgeschäft für Elektrowaren, zurück zu dem künstlichen Licht und dem Piepen der Geräte - und weg von der Illusion, dass der Mitarbeiter einer gewissen Person erstaunlich ähnlichsah. »Hmpf.« Schnell verschränkte er die Arme, darauf hoffend, dass sein Gesicht seine natürliche Farbe behielt. »Ja, alles gut. Also … wäre sehr cool, wenn das klappen könnte.« Falls er schräg rüberkam, ließ sich der Mitarbeiter nichts anmerken und bewahrte seine berufliche Kompetenz. Dessen Blick glättete sich wieder und plötzlich war sein Gesicht weit weniger markant, der Unterkiefer kaum definiert, die Augen heller und die Haare nicht so dicht, wie die von … Alter, spinnst du völlig? Schnell schüttelte Yuri den Kopf, froh, dass sein Gegenüber sich währenddessen wieder dem Laptop zugewandt hatte und nichts bemerkte. Wenn er jetzt schon anfing, in jedem Mann mit schwarzen Haaren und braunen Augen Otabek zu sehen, dann stand es wirklich schlecht um ihn. »Wird ‘ne Weile dauern, aber wenn‘s klappt, baue ich die gleich in ein neues Gerät ein.« Yuri nickte. Das hörte sich zwar nicht perfekt an, aber wenigstens einigermaßen optimistisch. »Komm mal übermorgen wieder vorbei, dann weiß ich Genaueres. Du kannst in der Zeit ein Leihgerät haben, kostet hier fast nichts.« »Okay.« Er nickte und schon wenige Minuten später verließ er das Geschäft, im Rucksack einen MAC aus einer früheren Generation - zwar älter, als sein Zerstörter, aber wenigstens funktionstüchtig. Somit war die einzige Ausrede, sein Telefonat mit Otabek zu verschieben, vernichtet. Mit zittrigen Knien lehnte er sich wartend an die nächste Haltestelle und sog die milde Luft ein, den Kopf in den Nacken gelegt. Er öffnete seine Augen erst wieder, als sich ratternd und klingelnd die heranrollende Straßenbahn ankündigte. Dem allgemeinen Schwung der Masse folgend setzte er sich auf den letzten freien Platz und lehnte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Das Computerfachgeschäft - offenbar ein Geheitipp - lag am anderen Ende der Stadt und so stand ihm eine recht lange Fahrt bevor. Sicherlich hätte er in jedes x-beliebige Geschäft spazieren können, doch lieber war er der Empfehlung des Schweinchens gefolgt, der selbst schon einmal Probleme mit seinem PC hatte bewältigen müssen und dabei auf diesen Laden gestoßen war. Tatsächlich hatte er mit den günstigen Preisen und der … Freundlichkeit des Personals nicht zu viel versprochen. Seine Zähne mahlten. Gott sei Dank hielt ihn die Vibration seines Smartphones davon ab, erneut die dunklen Augen des Mitarbeiters mit denen von Otabek zu vergleichen.   Otabek Altin - 23.06 15:11 »Das Training dauert länger heute, also wundere dich nicht.«   Hätte es doch nur nicht geklingelt.   Yuri Plisetsky - 24.06 15:12 »Jo, passt. Kein Thema«   Er stieß einen frustrierten Seufzer aus und stopfte das Smartphone zurück in die Jackentasche. Sein Blick glitt aus dem Fenster, vorbei an Menschen, die Sommerhüte und Sonnenbrillen trugen, über herumtollende Kinder und händchenhaltende Pärchen, die ihre Hunde spazieren führten. Sorglose Gesichter, zum strahlenden Himmel gewandt. Sein Smartphone vibrierte abermals und unterbrach ihn bei einem erneuten Seufzer. Etwas verdutzt holte er es hervor. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er auf eine allzu bekannte und trotzdem unerwartete Nummer sah.   Opa – 23.06 15:20 »Yurachka wir telefonieren eindeutig zu wenig und yakov hat mir geraten dass ich dir vielleicht schreiben sollte  wie geht es dir  mmelde dich doch mal wieder bei deinem alten herrn ps diese neumodernen telefone sind grauenvoll  es hat mich eine halbe stunde gekostet das hier zu schreiben  und ich finde weder satzzeichen noch irgendeinen befehl für grosse buchstaben«   Yuri prustete los. Feine Speicheltropfen regneten auf das Display. Er hatte jeden erwartet, aber nicht seinen Großvater. Und diese unbeholfene Nachricht, die selbst seine eigene grammatikalische Ignoranz bei weitem übertraf, vertrieb kurzzeitig die trüben Wolken aus seinen Gedanken. Es rührte Yuri, dass sich sein Opa für ihn auf so unbekanntes, modernes Terrain begab. Gleichzeitig rutsche ihm das Herz in die Hose. Ihr letztes Telefonat lag wirklich schon eine lange Zeit zurück und augenblicklich schämte er sich dafür, ihn so lang vernachlässigt zu haben. Ungeniert wischte er sein Smartphone mit dem Ärmel trocken, bevor er fahrig eine Antwort tippte.   Yuri Plisetsky – 23.06 15:22 »Opa?!?! Hast du dir nur wegen mir ein Smartphone zugelegt!?!? :‘D :‘D :‘D Das ist ja zum Totlachen! :D :D :D Mir geht es so weit gut, das Training nervt momentan nur. Warte, ich schick dir ein paar Bilder«   Daraufhin versandte er eine ganze Wagenladung Fotos. In der Eishalle beim Training, Selfies, Fotos von Potya, Yakov und Lilia. Sogar welche von Victor und seinem Katsudon – von dem Tag, als sie den Junona-Rynok besucht und tonnenweise Platten und CD’s gekauft hatten.   Yuri Plisetsky – 23.06 15:25 »So, jetzt hast du was zum angucken! :D Wie geht es dir denn sonst so?? PS: Die Satzzeichen sind in der Regel ganz unten in der Leiste und wenn du auf den Pfeil ganz links drückst, werden die Buchstaben groß!«   Wartend starrte er auf sein Telefon, während die Straßenbahn Station um Station passierte und hinter sich ließ. Es dauerte und dauerte. Aber die App zeigte an, dass sein Opa eine Nachricht schrieb. Die Antwort trudelte ein, als Yuri gerade ausstieg und auf dem Heimweg den Park durchquerte.   Opa – 23.06 15:40 »Wenn ich dann wenigstens das Gesicht meines Enkels sehe, nehme ich auch neumodernen Schwachsinn auf mich. Hauptsache du vernachlässigst dein Training nicht wenn du so viele Fotos machst. Aber wenn du welche machst, dann schick sie mir. Mir geht es gut. Werde jetzt einkaufen gehen und dann kochen.«   »Ach, Opa …« Wann hatte er das letzte Mal auch für Yuri gekocht und nicht nur für sich selbst? Der Gedanke, dass er allein in seiner kleinen Wohnung saß und still seine Mahlzeit zu sich nahm, stimmte ihn traurig.   Yuri Plisetsky – 23.06 15:42 »Ich muss dich dringend mal wieder besuchen kommen. Oder du kommst zu Lilia. Ist schon wieder viel zu lang her. :(«   Opa – 23.06 15:53 »Das stimmt. Aber wir finden schon einen Weg. Wenn ich gebraucht werde dann bin ich da.«   Eine seltsam kryptische Nachricht, so als ahnte er etwas. Aber wie? Hatte er sich irgendwann verraten? Unwirsch schüttelte er den Kopf und versuchte nicht in Schweiß auszubrechen. Sein Großvater mochte zwar ein gutes Gespür für derartige Dinge haben, aber das konnte er einfach nicht wissen. Er verabschiedete sich noch von ihm, dann steckte er sein Smartphone zurück in die Jackentasche, um seinen Schlüssel hervor zu holen, während er die Stufen zur Eingangstür seines Zuhauses nahm. Stille begrüßte ihn, Yakov und Lilia waren vermutlich noch in der Eishalle. Schnell betrat er sein Zimmer, packte den geliehenen MAC aus und platzierte ihn – möglichst weit vom Rand entfernt – auf seinem Schreibtisch und schloss das Netzteil an der Steckdose an. Mit einem leisen Surren fuhr das Gerät hoch. Erstaunt stellte Yuri fest, dass Skype bereits installiert war. Seine Finger bebten, als er sich einloggte und sein Blick suchend über die Kontaktliste fuhr. Otabeks Status zeigte ihn als offline an. Unbewusst stieß er seinen angehaltenen Atem aus, bevor er auf die Uhr sah. Früher Nachmittag. Allein den Chat zu öffnen brachte ihn an den Rand seiner Contenance. Dabei wusste er doch, dass sie erst gegen Abend verabredet waren und es bei Otabek sogar später werden würde. Yuri fürchtete sich – und das nicht nur vor ihrem Gespräch. Zwar hatte ihn die Unterhaltung mit dem Katsudon einigermaßen beruhigt, trotzdem überrollten ihn seine Gefühle regelmäßig in den unpassendsten Momenten. Der Gedanke in einen Mann verliebt zu sein, zerfraß ihn beinahe noch mehr, als die Tatsache, dass es sein bester Freund war. Zwar stritt er es nicht mehr ab, aber es zu akzeptieren war ein Berg, dessen Aufstieg unmöglich erschien. Nun, er gab zu, es bis jetzt auch nicht besonders konsequent versucht zu haben. Ihm schien die nötige Ausrüstung zu fehlen. Doch den Berg einfach zu umrunden, stellte sich als aussichtslos dar. Egal wie weit er ging, er fand keinen Winkel, durch den er schlüpfen konnte. Und jeden Morgen verschwitzt aufzuwachen, mit Otabeks Geruch in der Nase und eindeutig zu viel Blut in seiner Lendengegend, verbesserte die Situation nicht. Im Gegenteil. Es fühlte sich grässlich an, als würde er ihre Freundschaft mit unzüchtigen Gedanken beschmutzen – obwohl Yuri wusste, dass er nichts dafürkonnte. Die Reaktion seines Körpers überforderte ihn schlichtweg, niemals zuvor hatte er Gedanken in solche Richtungen gehegt, egal ob an Mann oder Frau. Beziehungen und sexuelles Interesse waren ein Buch mit sieben Siegeln und für ihn uninteressant. Dachte er. Seit ein paar Tagen sah das jedoch anders aus. Eine verbotene Neugierde hatte ihn gepackt und gierte nach Aufmerksamkeit. Jeden Abend ging er auf Entdeckungsreise, begab sich gedanklich in fremde Arme und schmeckte Lippen, die nicht ihm gehörten. Das Gefühl, wie es sein könnte schwebte vor ihm, zum Greifen nah und entzog sich seinen Händen doch immer wieder, als wäre es ein lebendiges Wesen. Zurück blieb nur Frustration und die Frage nach dem was wäre, wenn. Unschlüssig grub er seine Zähne in die Unterlippe. Er war allein und hatte Zeit. Vielleicht genug, um sich aktiv auf die Suche zu begeben. Nicht, um sich selbst zu finden – das war eine Reise, die im Worst Case Jahre beanspruchte – aber vielleicht taten ihm Erfahrungen gut. Berichte von anderen, die sich ein Boot mit ihm teilten und ebenfalls nicht untergehen wollten. Er öffnete den Browser und tippte, anfangs zögerlich, doch dann mit plötzlich aufflammender Energie, Worte in die Suchmaschine ein. Worte und Fragen, die Unbehagen auslösten und doch tausende Antworten ausspuckten. Ein ganzer Schwall an Ergebnissen präsentierte sich vor ihm. Seine Augen glitten über Foreneinträge, die nicht enden wollten, suchten Links ab und überflogen Webseiten, die Austausch und Hilfe anboten. Schnell stellte sich ein Gefühl der Erleichterung ein, denn so allein, wie er sich in den letzten Tagen gefühlt hatte, war er nicht. Im Gegenteil. Dieser See war voller Boote, mit Menschen jeden Alters und in den verschiedensten Phasen ihres Lebens. Einige jünger, als Yuri selbst, andere weit über vierzig und verheiratet. Sein Rücken schmerzte und irgendwann brannten ihm die Augen, als sich Dunkelheit in seinem Zimmer ausbreitete und das helle Licht des MACs anstrengend wurde. Yuri ignorierte es. Lieber saugte er die Antworten mit einem Interesse auf, dass er sich auch für die Stunden in der Schule wünschte. Kein Eintrag glich dem anderen und trotzdem war die Kernaussage der Beiträge gleich: Gleichgeschlechtliches Interesse war nicht unnormal oder unanständig. Etwas nicht Kontrollierbares, nichts worüber man sich schämen oder gar verstecken musste. Homosexuelle Liebe barg Schwierigkeiten und schöne Momente, so wie jede andere Liebe auch. Beinahe dieselben Worte, wie sie auch schon Yuuri an ihn gerichtet hatte. Die Zahlen seines Weckers sprangen auf zweiundzwanzig Uhr. Yuri lehnte sich zurück und schloss die Augen. Seine Glieder waren schwer und er fühlte sich matt und übersättigt, erschlagen von den Stunden, in denen er nichts anderes getan hatte, als zu lesen. Gleichzeitig durchströmte ihn eine seltsame Empfindung, eine ungewohnte Wärme und Schwerelosigkeit, als hätte er eine riesengroße Last abgeworfen. Es mochte noch ein weiter Weg sein, doch der erschien ihm nun weit weniger steinig, der Berg flacher und ohne hinterlistige Klippen, in die er stürzen könnte. Es würde nicht alles von heute auf morgen gut werden und sicherlich versteckten sich irgendwo Stolperfallen, doch Yuri war ein Kämpfer. Er würde aufstehen und weiterlaufen. Die Eingangstür öffnete und schloss sich wieder. Mit einem Ruck saß er kerzengerade da und als stünde er kurz davor bei einer Peinlichkeit erwischt zu werden, klappte er den Laptop zu und sprang auf die Beine. Im Stillen ohrfeigte er sich dafür, immerhin tat er nichts Unanständiges. Er nahm es als Beweis dafür, dass er noch viel Arbeit vor sich hatte und schlich zur Tür seines Zimmers, um sie einen Spalt breit zu öffnen. Im schwachen Schein des Flurlichtes sah er Yakov und Lilia, die gerade unverhältnismäßig spät das Haus betraten. Leise Worte wehten zu ihm herüber. Yakovs Hand ruhte auf ihrem Rücken und sie hatte ihm ihr Gesicht zugewandt, die feinen Lippen zeigten ein sanftes Lächeln. Es war ein Moment, so unscheinbar und doch so eindeutig, dass Yuri nach Luft schnappte und ruckartig die Tür komplett aufriss. Von der plötzlichen Bewegung überrascht hielten beide inne – und nun sahen sie plötzlich so aus, als wären sie bei einer Heimlichtuerei erwischt worden. Yakov ergriff als Erster das Wort. »Du bist noch wach.« Yuri verschränkte mit gerunzelter Stirn die Arme vor der Brust und dachte gar nicht erst daran, auf diese Feststellung einzugehen. »Wo wart ihr denn so lange?« Sie warfen sich einen Blick zu, seltsam unschlüssig und doch wirkte es, als hätten sie sich auf irgendetwas vorbereitet. »Wir waren etwas essen und ein wenig spazieren.« Dieses Mal antwortete Lilia. »Hmpf.« Yuri beobachtete die beiden mit Argusaugen, suchte nach einer Bestätigung für das, was er sich gerade zusammenreimte. »So lang, ja? So so.« »Wir sind dir keine Rechenschaft schuldig, Bursche!« Yakovs Keifen war Aussage genug. Er bellte ihn an, wie ein getroffener Hund. Amüsiert zog Yuri die Augenbrauen nach oben. Seltsamerweise war er nicht einmal sauer. »Ja, ja, schon klar. Ihr seid die Erwachsenen und könnt machen, was ihr wollt. Weiß ich.« Bemüht ein zugegeben leicht schadenfrohes Grinsen zu unterdrücken, ließ er die Arme sinken. »Aber wann wolltet ihr mir, naja« Er machte eine allumfassende Geste in der Luft »das denn mal erzählen?« Siegessicher sah er Lilias Gesicht um ein paar Nuancen blasser werden und nur mit großer Mühe konnte er seine Unschuldsmiene aufrechterhalten. »Oder wolltet ihr das gar nicht?« Seine Worte hingen in der Luft und schweigsame Sekunden dehnten den Raum. Schließlich zog Yakov resigniert seine Jacke aus und nahm auch Lilia ihren Mantel ab. »Irgendwann hätten wir mit dir darüber gesprochen.« »Hmpf, bestimmt. Spätestens kurz vor den zweiten Flitterwochen, was?« Seine Mundwinkel zuckten verräterisch. »Wir haben auf den passenden Moment gewartet.« »Ah ja. So wie der heute Morgen am Frühstückstisch? Oder gestern auf dem Weg nach Hause?« »Yuri!« Lilia legte Yakov eine Hand auf den Arm und dieser verstummte sofort, obwohl ihm bereits der Mund für eine weitere Zurechtweisung offenstand. Sie räusperte sich und ihr Gesicht nahm den geschäftigen Ausdruck an, den Yuri schon so gut kannte. »Das ist für uns alle eine neue Situation, an die wir uns gewöhnen müssen.« Yuri schnaubte. Das wäre momentan nicht die erste für ihn. »Und seit wann läuft das?« Sie tauschten Blicke aus, Yakov ruckte nur mit dem Kopf in Lilias Richtung – ein Zeichen, dass er sich ergeben hatte. »Ungefähr seit deinem Urlaub in Hasetsu.« »Hmpf.« Das war länger, als vermutet. »Unfassbar, dass ihr so lang nicht die Zähne auseinandergekriegt habt.« »Yakov und ich haben lange darüber gesprochen. Du musst dir keine Sorgen machen, wir werden uns nicht anders verhalten als sonst auch.« »Kein Stress, ich mach‘ mir keine Sorgen. Aber ich werd‘ mich ja wohl für euch freuen dürfen, oder?« Beide starrten ihn an. Yuri wusste nicht, welches Szenario sie sich ausgemalt hatten, doch seine Reaktion schien sie zu überraschen. Er verdrehte die Augen. Anscheinend trauten sie ihm solche Laster wie Empathie nicht zu. Dabei freute er sich wirklich. Sie mochten sich streiten und immer so tun, als ginge es ihnen nur ums Geschäft, doch tief in ihrem Inneren mochten sie sich eben doch noch so, wie vor einigen Jahren. Was auch immer der Grund für ihre Scheidung gewesen sein mochte, wenn die beiden der Meinung waren, es noch einmal versuchen zu wollen, wäre Yuri der letzte, der sich querstellte. Immerhin war er kein Richter, der über das Glück anderer entschied. Der Gedanke sickerte plötzlich wie klares Wasser in sein Bewusstsein: Auch nicht über das Glück von Otabek und diesem Mädchen. Selbst wenn es weh tat. »Also … natürlich ist es schön, dass es für dich in Ordnung ist.« Lilias Lächeln war getränkt in freudiger Erleichterung. »Aber wenn dich etwas stört, dann -« »Ja, ja, schon gut, man!« Abwehrend riss er die Arme nach oben. »Dann kann ich mit euch reden, ich bin ja nicht blöd! Und jetzt lassen wir diese schmierige Schnulzenparade, ich hab‘ noch was zu tun!« Damit wandte er sich wieder seiner Zimmertür zu. »Gute Nacht!« Die Antwort wartete er gar nicht erst ab. Kopfschüttelnd fiel er zurück auf den Stuhl, gähnte einmal kräftig und streckte grinsend seine müden Glieder. Yakov und Lilia mussten erleichtert sein, dass es nun raus war. Es war ja nicht so, als hätte Yuri in den letzten Tagen nichts bemerkt. Es stimmte schon, dass er sich nicht mit Wissen über Liebe und Beziehungen schmücken konnte, aber blind war er nicht. Und er gönnte es den beiden wirklich, sollten sie doch machen was sie wollten. »Wenn sich doch alles so einfach lösen würde …« Wie zur Bestätigung hallte plötzlich ein nervtötendes Klingeln durch sein Zimmer. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Wie gut er diesen Ton doch kannte – und seit dem letzten Mal verband er keine positiven Gefühle damit. Der Bildschirm des Laptops leuchtete auf und unten rechts verkündete ein dezentes Blinken, dass jemand versuchte ihn via Skype zu erreichen. Augenblicklich wurde ihm schlecht. Für einen Moment unschlüssig was er tun wollte, saß er wie eine Statue da und starrte ins Leere. Erst als das Klingeln verstummte, kam er wieder zu sich. Benommen ging er zum Fenster, öffnete es und atmete tief durch. Dann schlich er in die Küche, holte sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und ließ sich dann, plötzlich wieder müde und ausgelaugt, auf den Stuhl sinken. Der Anruf war verstummt, doch Otabek blieb online. Yuris Herz schlug wie wild. Ihm war heiß. Schnell nahm er einen tiefen Zug aus der Flasche, um seine verklebte Kehle zu befeuchten. »Mach schon, es führt doch eh kein Weg daran vorbei. Bring‘s endlich hinter dich!« Noch während er Otabek zurückrief, wiederholte er diese Worte wie ein Mantra, versuchte sich selbst Mut zu machen, wo dieser eigentlich schon längst verpufft war. Es dauerte gefühlte Stunden, bis er endlich den Anruf annahm und ihn erlöste – oder ihn noch tiefer ins Verderben riss. »Yuri.« Otabek grinste ihn an und ihm wurde schwindelig. Er sah so gut aus, wie er da auf seiner Couch saß, in seinem ausgewaschenem Tanktop und der zerrissenen Jeans. Auf dem Tisch stand eine geöffnete Flasche Bier und seine Lederjacke lag zusammengeknüllt auf der Couch neben ihm. Er wirkte, als wäre er gerade erst zur Tür hereingekommen. »Hey …« Gott sei Dank war Yuris Stimme ruhig und schon fast gelassen. Er biss die Zähne zusammen und erwiderte das Lächeln, möglichst ohne das Gesicht dabei zu verziehen. »Na, ‘nen harten Tag gehabt?« Otabek fuhr sich über das Gesicht und trank aus der Bierflasche. »Das kann man wohl sagen. Mein Trainer ist der Meinung, dass mir ein paar mehr Vierfachsprünge in der Choreografie guttun würden. Mir tut alles weh.« »Na dann sei froh, dass du nicht arbeiten musst! Aber ich kenn’s. Hab letztens ziemlich abgekackt beim Training und jetzt werd‘ ich richtig hart rangenommen.« Augenblicklich wurde Otabeks Blick wachsam, er richtete sich auf. »Alles okay?« Nein, nicht wirklich. »Joah, ich war nur nicht so ganz bei der Sache.« »Ist irgendetwas vorgefallen?« Ach, er machte sich ja keine Vorstellung. Momentan war bei Yuri wirklich eine Menge los. »Nein, eigentlich nicht.« »Dann ist es ja gut.« Otabek sah erleichtert aus, Yuri hingegen fühlte sich schlechter als jemals zuvor. Immerhin konnte sein bester Freund nichts für seine Lage und war trotzdem irgendwie schuld daran. »Ist echt lange her, dass wir mal so richtig miteinander geredet haben.« Unhörbar seufzte Yuri, bevor er bestätigend mit dem Kopf nickte. »Mhm. Stimmt.« Das darauffolgende Schweigen zwischen ihnen bewegte sich irgendwo zwischen erleichtert und unangenehm. »Ich hatte verdammt viel um die Ohren in den letzten Wochen. Es ist eine Menge passiert und -« Irgendwo hinter ihm krachte es. Ein Geräusch, als hätte jemand Geschirr fallen lassen. Beide zuckten zusammen und Otabek wandte schuldbewusst seinen Kopf nach hinten, dorthin, wo sich, Yuris Erinnerungen nach, die Küche befand. »Alles okay?« Er klang belustigt, während etwas in Yuris Innerem zu Eis erstarrte. Er war nicht allein in seiner Wohnung. Irgendjemand war bei ihm. Und er brauchte nicht lang zu überlegen, wer es war. Scheiße! Aus der Küche kam eine Antwort, durch die Internetverbindung kaum zu hören und dennoch erkannte Yuri sofort eine weibliche Stimme. Es klang verdächtig nach einer peinlich berührten Entschuldigung. Sie ist hier! Sie ist schon da! Es zog Yuri den Boden unter den Füßen weg. Bis jetzt war sie nur eine Illusion gewesen, lediglich existent in Form von Instagram-Selfies. Bis jetzt hatte Yuri sie immer irgendwie … ausblenden können. Sie nun aber in seiner Nähe zu wissen und sie sogar gehört zu haben, machte sie unverhofft erschütternd real und greifbar. Und es schmerzte. Eine heiße Kluft schien seine Brust zu spalten und Panik verteilte ihre Lava in seinen Blutgefäßen. Er war auf alles vorbereitet gewesen, jedenfalls halbwegs – aber darauf nicht. Otabek erwiderte nur ein knappes »Dann ist ja gut« und wandte sich wieder dem Gespräch zu. »Sorry dafür. Aber jetzt ist die Katze ja eh aus dem Sack. Ich wollte eigentlich sagen, dass ich nicht mehr alleine wohne, aber sie hat sich gerade eben schon von selbst vorgestellt.« Yuri erwiderte nichts. Er starrte einfach nur auf den Bildschirm. Falls Otabek etwas mitbekam, sagte er nichts dazu. Stattdessen wandte er den Kopf wieder nach hinten. »Lina, kommst du mal kurz zu mir?« Lina. Machtlos beobachtete Yuri, wie eine schlanke Gestalt zögerlich das Wohnzimmer betrat, in den Händen Feger und Schippe. Scheinbar war sie gerade dabei gewesen, die verursachte Unordnung zu beseitigen. Diese stellte sie nun beiseite, bevor sie sich von hinten über die Lehne der Couch beugte und einen schüchternen Blick in die Kamera warf. Sie ist es. Yuri erkannte sie sofort, obwohl sie doch irgendwie anders aussah. Erwachsener und reifer, als man von ihren Bildern schließen konnte. »Wird Zeit, dass ich euch mal vorstelle. Das ist Yuri, mein bester Freund.« Sofort erhellte Neugierde ihren Blick. Sie lehnte sich noch weiter nach vorn und legte, wie nebenbei, ihre Hände auf Otabeks Schultern ab. Ihre Augen waren in Wahrheit größer, das Haar, lang und glänzend, fiel ihr geschmeidig bis zur Taille. Ihr Lächeln war seltsam einnehmend – vielleicht auch, weil es ein ehrliches war. »Hey, Yuri! Ich wusste gar nicht, dass ihr heute verabredet wart! Das freut mich jetzt aber, nachdem Beka schon so viel von dir erzählt hat!« Sie klang nett, obwohl sie ihn Beka nannte. Vor seinen Augen flimmerte es. »Äh … Hi …« Er hob eine Hand zum Gruß und klopfte sich im Stillen auf die Schulter, dass er überhaupt einen Ton hervorbrachte. Er konnte nur hoffen, dass man ihm seinen Schock nicht an den zitternden Fingern ablesen konnte. »Ist ja schön, dich mal „live“ zu sehen, statt immer nur auf Fotos!« Ein Lachen, glockenhell und klar, wie ihre Stimme. Sie schien gerne viel zu reden. »Vielleicht kommst du Beka mal wieder besuchen, dann können wir uns mal richtig kennen lernen!« Ihre Zähne blitzten in der künstlichen Beleuchtung des Bildschirmes. »Das wäre wirklich toll.« Seine herausgewürgte Erwiderung bog seine Mundwinkel unnatürlich weit nach oben. So ähnlich fühlte er sich immer, wenn sein bescheuerter Fanclub, die Yuris-Angels, ihn zu Selfies zwangen. Oder wenn JJ seinen gewünschten Abstand von zwanzig Metern durchbrach. Nur – das hier, das war schlimmer. Das Schlimmste überhaupt. Er wollte weg. Nur weg. Du musst ihr antworten! »Ja, das … Toll.« Seine Stimme klang trockener, als ein Eimer Sand. Dieser Tag würde wohl in die Geschichte des unangenehmen Schweigens eingehen. Die beiden sahen ihn an, als schienen sie genau zu wissen, was in ihm vorging. Schweiß glitt mit kalten Fingern über seinen Rücken, als er unruhig auf dem Stuhl herumrutschte. »Oh, sorry.« Sie ließ von Otabeks Schultern ab und richtete sich auf. »Ich wollte gar nicht so drauf los reden, entschuldige. Ich lass euch mal wieder. Aber hat mich gefreut!« Die Erwiderung blieb Yuri im Halse stecken. Erneut lächelte sie ihn so furchtbar ehrlich an, bevor sie wieder in der Küche und aus seinem Blickfeld verschwand. Otabeks Blick ruhte noch immer auf ihm, mit diesem abschätzenden Ausdruck, wenn er Situationen analysierte. Okay, von einer Skala von hundert bis tausend: Wie sehr hatte er es versaut? »Du siehst überrumpelt aus. Das war wohl ein bisschen taktlos von uns.« Ertappt riss Yuri die Arme nach oben, überspielte mit wedelnden Händen die Tatsache, dass ihr Auftauchen ihn mehr als nur ein wenig aus dem Konzept gebracht hatte. »Neee, schon gut! Alles cool!« Seine Stimme überschlug sich ein wenig zu sehr, um nicht verdächtig zu wirken. Überstürzt plapperte er einfach weiter. »Das ist nicht die erste frohe Botschaft heute! Mich schockt gar nichts mehr!« Schnell griff er zu seiner Wasserflasche, um endlich das unangemessene Herumgefuchtel zu unterbinden. »Aha. Was gibt’s denn sonst so für tolle Neuigkeiten? Wollen Nikiforov und Katsuki endlich heiraten?« Oabeks Augenbraue zuckte, vermutlich amüsierte er sich darüber, wusste er doch ganz genau wie begeistert Yuri davon wäre. Yuri verzog das Gesicht bei dem bloßen Gedanken daran, schüttelte den Kopf und trank, nur um etwas zu tun. Mit Erleichterung stellte er fest, dass er sich tatsächlich ein wenig beruhigte. Das Adrenalin schäumte nicht mehr in seinem Magen und seine Finger schlossen den Deckel der Flasche überraschend ruhig. Er wollte es nicht darauf schieben, dass sich dieses Mädchen nicht mehr im Wohnzimmer aufhielt, aber insgeheim wusste er es doch besser. »Ne, hau mir ab damit. Die planen das wirklich schon.« Er schnaufte. »Ich hab ‘ne viel bessere Nachricht. Meine Trainer sind der Meinung einen auf Romanze zu machen und wieder miteinander gehen zu müssen.« Otabek pfiff überrascht durch die Zähne. »Nicht schlecht.« »Ja, wirklich ganz toll. Ich hab‘ totale Lust, die beiden beim Knutschen zu beobachten.« Allein die Vorstellung schüttelte ihn. »Hab ja nicht schon genug Kitsch um mich herum.« Und IN mir, wenn ich an dich denke. »Victor und das Schweinchen reichen ja nicht, jetzt müssen Yakov und Lilia auch noch damit ankommen. Selbst Georgi sülzt seit ‘ner Woche alles und jeden wegen seiner neuen Ische zu und verteilt den Schmalz in der ganzen Eishalle. Vielen Dank auch …« »Ach, jetzt zier dich nicht so.« Otabek schmunzelte und war natürlich die personifizierte Gelassenheit, die das alles selbstverständlich gar nicht so furchtbar fand. »Lass sie doch und freu dich für sie mit. Liebe kann echt was Schönes sein.« Es klang wie die Bestätigung aller seiner bösen Vorahnungen. Und es schmerzte Yuri, als er den passenden Moment erkannte, um auf das eigentliche Thema zurück zu lenken. Sich wappnend richtete er sich auf, versuchte so ausgeglichen wie möglich zu klingen und vielleicht noch eine Prise Neugierde in seine Stimme zu packen. Tief durchatmen. »Ja, ich merk schon. Du kannst da jetzt ja auch ein Liedchen davon singen, was?« Oh Gott, es fühlte sich so falsch an. Ohne, dass Otabek es mitbekam, knibbelte er unter dem Tisch an seinen Fingernägeln. »Hm.« Seine braunen Augen durchbohrten ihn, doch anstatt Offenbarung fand Yuri darin nur … Verwirrung. »Wovon redest du genau?« Konsterniert zog Yuri die Brauen zusammen. Wie jetzt? »Naaaaaja, also – ähm.« In der Hoffnung, dass Otabek den Wink verstand, hob er sein Kinn und machte eine unwirsche Bewegung in Richtung der Küche, wo sie sich vermutlich noch aufhielt. »Lina.« Der Name hinterließ einen modrigen Geschmack auf seiner Zunge, aber er redete weiter. »Ich meine, ich dachte, äh, naja, dass sie … und du …« Jetzt hielt er doch inne. Er brachte den alles entscheidenden Satz nicht über die Lippen. War Otabek wirklich so schwer von Begriff? Anscheinend ja, denn für einige Sekunde schwebte Ratlosigkeit zwischen ihnen – bis sich Otabeks Wangen plötzlich blähten und der Versuch sein Lachen zurückzuhalten jämmerlich scheiterte. Es brach so plötzlich aus ihm hervor, dass Yuri einen erschrockenen Satz nach hinten tat. Seine Schultern bebten, er prustete erst, doch dann konnte er nicht mehr an sich halten und warf den Kopf in den Nacken. Das tiefe Timbre vibrierte in Yuris Brust, es klang dunkel und grollend und barg all das Kindliche, das Otabek sonst mit Bravour unterdrückte. Ein Lachen, dass man im Normalfall sofort erwiderte, doch diese Situation war eben alles andere, als normal. Hitze schoss ihm in die Wangen und völlig hilflos konnte er nur abwarten, bis er sich wieder fing, während er nun selbst das Gefühl hatte, absolut und komplett verrückt zu werden. Was sollte das? Im Licht der Küche nahm er eine Bewegung wahr. Lina beugte sich nach hinten und sah zu ihnen, die Augenbrauen skeptisch verzogen. »Gott, Hilfe …« Endlich schien sein bester Freund sich zu besinnen und wieder ansprechbar zu werden – auch wenn seine Brust noch immer vibrierte und Tränen in seinen Augenwinkeln standen. »Bitte nicht! Ich glaube, da hast du etwas völlig falsch verstanden, Yuri.« Falsch. Er verstand überhaupt nichts mehr und mittlerweile war er so durch den Wind, dass er für einen Moment seine Missgunst Lina gegenüber abwarf und in ihren braunen Augen nach Hilfe suchte. Ihre braunen Augen. Plötzlich regte sich etwas in ihm. Ein Gefühl, als würde eine riesige imaginäre Hand mit rasender Geschwindigkeit gegen seine Stirn prallen. Eine riesige Hand aus Stein. Wahrscheinlich hörte man den Groschen sogar in Kasachstan fallen. Nicht Otabek war schwer von Begriff. Sondern Yuri selbst. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)