»Steig auf!« von Gmork ([ Otayuri ]) ================================================================================ Teil sechzehn: »Konversation« ----------------------------- Der Sonntag diente der Erholung. Keine Arbeit, kein Training, kein Stress. Abschalten, entspannen, glücklich sein. Die Seele baumeln lassen und sich selbst etwas gönnen - damit die neue Woche mit guten Leistungen begann. Er glitt über die Eisfläche, den Blick auf seine Füße gerichtet, während er sich für den nächsten Sprung wappnete. Tief einatmend wartete er auf den richtigen Moment, streckte die Arme nach oben, drückte die Beine durch. Konzentration! Fahrt aufnehmend zog er sein Tempo an, löste den Spread Eagle auf und stieß sich ab. Schon im Sprung bemerkte er seinen Fehler: Er hatte den linken Arm zu spät eingezogen. Aus geplanten drei Rotationen wurde nur eine – und zu allem Überfluss rutschte sein rechter Fuß nach außen weg und nahm ihm so die Standkraft. Ein ekliger Schmerz zog sein Bein in die Länge. Unsauberer Sprung und eine dreckige Landung, die ihn mit einem harten Aufprall strafte. Sein Fluchen erstickte im Keim und wurde zu einem unterdrückten Stöhnen. Frustriert rieb er sich das pochende Knie, stieß heißen, zittrigen Atem aus. Sonntage schienen ihre Wirkung bei Yuri zu verfehlen. »Was war das denn schon wieder?« Yakovs wütende Stimme untermalte sein Versagen. »Wo ist dein Kopf heute? Hör auf in den Wolken zu schweben!« Wenn der wüsste! Was dachte der sich? Etwa, dass er hier vor lauter Freude über sein tolles Leben einen Sprung nach dem anderen versemmelte? »Ach, drauf geschissen!« Schnaufend erhob er sich. Die Aufmerksamkeit der anderen schmerzte fast noch mehr, als sein angeschlagenes und überdehntes Knie. Alle sahen ihn an. Mitleidig, irritiert, manche sogar wütend - wie zum Beispiel Yakov. Doch selbst die Drohung in seinem Blick konnte ihn nicht aufhalten. »Was machst du da? Geh sofort zurück aufs Eis! Wir sind noch nicht fertig für heute!« »Leck mich, alter Sack!« »YURI!« Unwirsch stapfte er weiter zu seinen Sachen, die er auf dem Podium deponiert hatte, zog eine Wasserflasche aus dem Rucksack hervor. Große Schlucke nehmend beobachtete er, wie Lilia sich zu Yakov gesellte. Sie unterhielten sich leise, sahen alle paar Sekunden zu ihm. Lilia wirkte ruhig und gefasst, Yakov allerdings noch immer wütend - daran konnte auch ihre Hand auf seiner Schulter nichts ändern. Irritiert starrte er auf ihren Daumen, verfolgte die kreisende und vermutlich sanfte Bewegung. Es sah so vertraut aus. Noch etwas, was ihn seit Tagen beschäftigte, ohne dass er eine Antwort bekam. Seit wann waren die beiden wieder derart … innig miteinander? Bevor sie ihn noch zurück aufs Eis zerrten, unterbrach er den Blickkontakt und streifte sich schnell die Schlittschuhe ab. Seine Füße offenbarten ihm wunde Stellen und schmerzende Schwellungen an den Knöcheln - die Zeugnisse aller misslungenen Sprünge des Tages. Der einzige Erfolg seines kurzen Trainings bestand darin, dass seine Motivation sich komplett in Rauch aufgelöst hatte. Seine eh schon mäßigen Leistungen in den letzten Tagen standen heute an ihrem tiefsten Punkt. Dabei wollte er doch eine perfekte Kür beim Grand Prix abliefern. Seufzend löste er seinen Pferdeschwanz auf, fuhr sich durch die Haare. Wenn er so darüber nachdachte, hatte er das Thema mittlerweile komplett verfehlt. Resigniert erhob er sich, kramte ein Handtuch und saubere Kleidung hervor und steuerte die Umkleidekabinen an. Er musste sich unbedingt sein Knie näher ansehen, hoffend, einer Verstauchung entkommen zu sein. Bevor er die Halle verließ, sah er noch einmal zurück. Yakov und Lilia würdigten ihn keines Blickes mehr, konzentrierten sich stattdessen auf die anderen Läufer. Zwar hatte er das so einigermaßen gewollt, jedoch versetzte ihm diese doch sehr raue Geste einen leisen Stich in die Brust. Als wollten sie ihn mit Liebesentzug strafen. Victor stand neben ihnen, seine Aufmerksamkeit vollends auf das Schweinchen gerichtet, das saubere Bahnen auf dem Eis zog. Plötzlich aber ging sein Blick in Yuris Richtung, als spürte er seine Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu den anderen spiegelte sich weder Wut noch Mitleid in seinen Augen. Viel eher … Ermutigung. Ein stiller Zuspruch, als wollte er sagen: Bis nachher. Wir reden später. Er hielt den Blickkontakt einige Sekunden aufrecht, riss sich aber los, als er anfing unangenehm zu werden. In den Umkleiden angekommen ließ er sich auf eine der rustikalen Holzbänke fallen und krempelte den dünnen Stoff seines Trainingsanzugs nach oben, um sein Knie unter die Lupe zu nehmen. Keine Schwellung, nur ein kreisförmiger Bluterguss wuchs dunkelblau heran. Bewegungen schmerzten momentan, allerdings würden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits am nächsten Tag kaum noch spürbar sein. Da war er schon mit schlimmeren Verletzungen auf dem Eis gewesen. Erleichtert schälte er sich aus seinen Klamotten und stieg unter die Dusche. Er glaubte nicht, dass das Katsudon sein Training früher beenden würde und ließ sich Zeit. Doch zu seiner Überraschung fand er die beiden wartend im Eingangsbereich, als er umgezogen und mit geschulterter Tasche die stickigen Räume verließ. Er blieb vor ihnen stehen, die Hände in den Jackentaschen und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Yuri brauchte nicht zu fragen, ob Victor Bescheid wusste. Natürlich wusste er das. Spätestens seit seiner schlechten Trainingsleistung gerade eben war jedem klar, dass etwas nicht stimmte. »Hey, Yurio!« »Hmpf.« Victor stieß sich von der Wand ab. »Na los, gehen wir. Das Wetter ist viel zu schön, um die ganze Zeit hier drin zu sein.« Yuri glaubte es gerade selbst nicht, aber dieser Moment gehörte zu den wirklich seltenen, an denen er ihn um sein sonniges Gemüt beneidete. Sie überquerten den Parkplatz und stiegen in Victors Auto. Yuri saß hinten und starrte mühevoll aus dem Fenster, um sich nicht der Versuchung hinzugeben, die beiden beim Händchenhalten zu beobachten. Zu seiner großen Erleichterung und Victors brachialem Fahrstil zum Dank, erreichten sie ihr Ziel in wenigen Minuten.   Die Wohnung befand sich in einem der vielen historischen Altbauten, die sich nur Leute aus der High Society leisten konnten. Obwohl die beiden ganz in der Nähe der Parkanlage lebten, durch die ihn seine Joggingtouren führten, hatte er sich noch nie die Mühe für einen Besuch gemacht. Eigentlich ziemlich ehrlos, wo sie doch mittlerweile gut miteinander auskamen. Er verhielt sich nicht nur Otabek gegenüber wie ein schlechter Freund – und dieser Gedanke beschwor Unwohlsein, das seine Magensäfte aufschäumte. Sie führten ihn vor eine hübsch verzierte Eingangstür direkt im Erdgeschoss. Victor kramte seine Schlüssel hervor und sperrte auf. Nur zögerlich folgte Yuri seiner einladenden Geste. Er fühlte sich wie ein Eindringling. Helle Räume empfingen ihn. Weiße Wände, alte, aber sehr gepflegte Dielenböden glänzten im milden Sonnenlicht, das aus vielen Fenstern hereinschien. Yuris Blick glitt über die Einrichtung, die an einen Möbelkatalog erinnerte, allerdings weit weniger unpersönlich. Er wunderte sich über die große Wirkung der scheinbar kleinsten Dinge, seien es Familienfotos - bei denen er sich sogar selbst wiederfand - oder das ausgelatschte Hausschuhpaar im Flur, von dem sich das Katsudon offenbar nicht hatte trennen können. Oder auch der Kirschblüten-Bonsai, der auf den ersten Blick unpassend wirkte, sich beim näheren Hinsehen jedoch beinahe lächerlich perfekt in das Gesamtbild einfügte. Penible Sauberkeit unterstrich die feinen Details, die die Harmonie zwischen den beiden greifbar machten. Durch die geöffneten Fenster, die hinaus in den Garten führten, trieb Lavendelduft nach innen. Ein leiser Hauch von Hasetsu hing in der Luft. »Hmpf. Nicht die schlechteste Bude.« »Nicht wahr?« Victors strahlendes Lächeln warf beinahe Schatten. Kaum war sein Satz beendet, ertönte wildes Fußgetrappel und schon im nächsten Moment sauste Makkachin um die Ecke. Er sprang an Victors Beinen hoch, der ihn freudig begrüßte und wollte gerade sein Gesicht abschlecken, als er innehielt, die Nase schnüffelnd nach oben streckte und dann ruckartig in Yuris Richtung sah. Kurz verharrte er still, einzig die Ohren zuckten kurz, bevor er sich winselnd vor Freude auf ihn stürzte. Seit Hasetsu hatten sich die beiden nicht mehr gesehen und Makkachins Euphorie über ihre erneute Zusammenkunft riss Yuri beinahe von den Füßen. »Schon gut, schon gut!« Grinsend kraulte er ihm die Ohren, versuchte seinen Abschleckversuchen zu entkommen. Wenn sich doch nur alle so freuen würden, sobald sie ihn sahen. Yuri wusste schon warum er Haustieren Menschen gegenüber den Vorzug gab. »Wir gehen jetzt spazieren, wie klingt das?« Der übergroße Pudel drehte sich einmal um sich selbst, jaulte und wedelte mit dem Schwanz. Das sollte wohl gut heißen. »Also«, Yuuri wandte sich Victor zu. »wir sind dann mal weg.« Yuri verließ bereits die Wohnung, den Pudel im Schlepptau, um nicht auch noch Zeuge ihrer Knutscherei zu werden. »Bis später.« Victor zwinkerte ihm zu und hob die Hand zum Abschied, bevor die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. Unschlüssig standen sie sich gegenüber. Ohne den ernsten Hintergrund ihres Treffens hätte Yuri sich sogar ein wenig gefreut, mit Makkachin einen Ausflug zu machen. »Also, zum Park?« Das Katsudon lächelte ihn aufmunternd an. »Hm.« »Okay, auf geht’s.« Wortlos liefen sie nebeneinander her. Yuris Blick heftete sich an Victors Haustier, das fröhlich vor ihnen umhersprang und den Weg offenbar auswendig kannte. Sonnenlicht glitt über sein Gesicht, streichelte seine Wangen. Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Sollte er etwas sagen? Wartete das Katsudon darauf, dass er zu sprechen begann? Solche Situationen waren ihm fremd und frustriert musste er feststellen, dass er völlig unvorbereitet war. Legte man sich vorher passende Worte zurecht? Wartete man auf Fragen, die der andere stellte? Wütend ballte er die Hände zu Fäusten. Konnte es nicht einmal einfach sein? Vor ihnen öffnete sich die gut besuchte Grünanlage. Bevor sie ihn aufhalten konnten, stürmte Makkachin los, sprang über die Wiese und rollte im Gras umher. Die für sein hohes Alter noch fast unverbrauchten Kraftreserven versetzten Yuri immer wieder ins Staunen. Irgendwann schmerzte sein Arm von den gefühlt abertausenden Stöckchen, die er so weit warf, wie er konnte. Doch selbst die längsten Strecken schienen kein Problem. Erst nach weit über einer Stunde ließ er sich erschöpft ins Gras fallen, Makkachin zu seinen Füßen, den Kopf liebevoll auf seinem Oberschenkel gebettet. Das Spielen hatte auch Yuri gutgetan, er fühlte sich gelöst und sein Kopf war einigermaßen frei. Und wenigstens für diese Stunde hatte er nicht an das bevorstehende Gespräch denken müssen. »Das sah nach Spaß aus.« Das Katsudon saß neben ihm, stützte sich auf beiden Händen ab. Der Wind fuhr durch sein Haar, dass sich der geschmeidigen Bewegung hingab. Wieder dieses Lächeln. Immer lächelte er, als hätte er gerade einen Wettbewerb gewonnen. Oder einen Heiratsantrag bekommen. »Hmpf. War ganz okay.« Wow, was für eine tolle Konversation. Würden sie dann als nächstes über das Wetter sprechen? » …Was ist mit deinem Knie?« Fragend zogen sich seine Augenbrauen zusammen. »Was soll damit sein?« »Tuts noch weh? Der Sturz vorhin sah übel aus.« »Hmpf. Du brauchst mich nicht zu bemitleiden!« Alles, nur diese Folter nicht. Natürlich spürte er es noch, erst recht nach dem Herumtollen mit Makkachin, aber es würde ihn nicht davon abhalten, ab morgen wieder aufs Eis zu gehen. Er wollte nicht für ein Schwächling gehalten werden. Von niemandem, meinte er es auch noch so gut. »Keine Angst, das tue ich nicht.« Yuuri beugte sich nach vorn, ein ernster Zug um seine Augen. »Mitleid hilft dir auch nicht bei deinem Problem.« »Häh, was denn für ein Problem?« Er zog sich die Kapuze tief ins Gesicht, als könnte sie ihn schützen vor dem, was auf ihn zukam. »Dein Problem mit Otabek.« Er konnte seine Worte noch so sanft und bedächtig aussprechen, sie schmerzten wie ein Schlag ins Gesicht. Selbst Yuris Kopf ruckte in eine andere Richtung. Schon allein der Name seines besten Freundes beschwor wellenartige Kälteschauer, die bis in seine Fingerspitzen trieben. Mit gesenktem Kopf knibbelte er an seinen Fingernägeln herum. »Ich hab‘ kein Problem mit ihm!« Leider zeugte die Abwehr in seiner Stimme vom Gegenteil. Er bekämpfte das Offensichtliche und würde am liebsten wegrennen. Wie ein Feigling. Sein gestriger Schwur dagegen anzukämpfen, sich endlich der Realität zu stellen und lernen damit umzugehen – alles Schall und Rauch. Er sehnte sich nach eines seiner vielen Kissen, das er sich wieder einmal über den Kopf ziehen konnte. »Was ist es dann?« Yuuri hingegen blieb weiterhin ruhig. Er drängte ihm zu nichts, übte sich in Geduld, doch seine Tonlage verriet eindeutig, dass es eine rhetorische Frage war. Dass er ihm nicht glaubte und Widerworte nichts brachten. Übelnehmen konnte Yuri es ihm nicht, wo er sich doch nicht einmal selbst überzeugen konnte. Schluss damit! Er riss sich die Kapuze vom Kopf, fuhr sich durch die Haare und sah dann unschlüssig zu ihm. Da waren Worte, die sich auf seiner Zunge bildeten, doch er schaffte den letzten Schritt nicht. Wie ein Kleinkind auf dem Sprungbrett des Drei-Meter-Turmes. Nur, dass unter ihm kein Pool lauerte, sondern bodenlose Schwärze. Da fehlte ein frecher Klassenkamerad oder ein großer Bruder, der ihm den letzten Stoß verpasste. Statt endlich den Mund zu öffnen, zog er sein Smartphone aus der Jackentasche. Vielleicht würde es helfen, wenn er es ihm einfach zeigte. So oft war er schon auf ihrem Profil gewesen, ohne zu wissen, was er eigentlich suchte - und eventuell sogar finden würde. So wie heute Morgen. Er tippte ihr neuestes Foto an und reichte das Smartphone Yuuri herüber, mied erneut jeglichen Blickkontakt. Er nahm es ihm aus der Hand, betrachtete das, was er auf dem Display sah. »Oh. Das ist doch …« Ja. Sie war es. Mal wieder. Heute vor einem Spiegel stehend, einen Koffer neben und Umzugskartons hinter sich. Die Worte unter ihrem Foto kannte er auswendig - das Resultat, wenn man den ganzen Morgen damit verbrachte sie immer wieder zu lesen.   »Nach monatelangem Kontakt und dem ersehnten Treffen ist alles Organisatorische geklärt. Die nächsten Tage läuten einen neuen aufregenden und, zugegeben, auch schweren Lebensabschnitt ein. Ich verlasse Moskau mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Es fällt schwer, all die Menschen, die ich kennen und lieben gelernt habe, zurück zu lassen, aber ich wollte schon immer nach Almaty und ich danke dir, dass du nach einer so kurzen Zeit diesen Schritt mit mir wagst.«   »Oh, das klingt … schön.« »Schön?« Fassungslos starrte er ihn an. Er hielt ihm hier den Ursprung seines Kummers unter die Nase und er lobte sie auch noch für ihre poetischen Worte? »Ob du total brennst?« Innerlich schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Dieses Gespräch war wirklich eine Schnapsidee vor dem Herrn. Was hatte er auch erwartet? Dass das Katsudon ihn vielleicht mit Hasstriaden gegen sie ermutigte? Die Lust noch weiter mit ihm zu reden schrumpfte sekundenschnell auf ein Minimum. Fahrig rappelte er sich auf, riss ihm das Smartphone wieder aus der Hand und stopfte es zurück in die Jackentasche. »Ich hau ab! War ‘ne miese Idee.« Doch Yuuris Griff nach seinem Ärmel, überraschend fest und bestimmt, hielt ihn zurück. »Setz dich wieder hin!« Er stockte. Okay, dieser Ton war neu. Seine sonst so weiche Stimme barg plötzlich eine scharfe Note, die zusammen mit dem ungewohnt strengen Blick ihre Wirkung nicht verfehlte. Überrascht folgte Yuri seiner Aufforderung, kratzte sich verlegen am Kopf. Das Schweinchen musterte ihn einige Sekunden, dann atmete er schwer aus und als er erneut zum Sprechen ansetzte, war seine übliche Sanftmütigkeit zurückgekehrt. »Also … Eigentlich solltest du dich ja schon für ihn freuen.« Yuri sah dabei zu, wie er einen Finger ans Kinn legte. In seinen Augen lag ein seltsames Funkeln, ein Zeichen, dass er offenbar angestrengt nachdachte, seine eigenen Schlüsse zog. »Aber du freust dich nicht, Im Gegenteil.« Er beugte sich nach vorn, auf die Antwort gespannt. Neugierig, aber unaufdringlich. »Warum?« Yuris Herz krampfte sich zusammen. Er vergrub die Finger im Gras, rupfte ganze Hände voll davon heraus. Es ging nicht. Seine Unsicherheit war wie Sekundenkleber, der seine Lippen versiegelte. Er sog den grünen Geruch ein und schloss die Augen. Gestern hatte er es aussprechen können. Zwar unter größter Anstrengung und nur vor sich selbst, aber er hatte es geschafft. Dieser Mut fehlte ihm jetzt. Ob nur er sich so anstellte? Worin bestand das Problem mit jemandem darüber zu reden? Darüber, wie es sich anfühlte, wenn plötzlich Gefühle an die Oberfläche traten, dessen Existenz man nicht einmal in Betracht gezogen hatte? Hatte sein Namensvetter mit ähnlichen Problemen zu kämpfen gehabt? Ruckartig hob er den Kopf. Natürlich. Wie dumm er war, sich auf der Suche nach Antworten das Hirn zu zermartern, während das Katsudon wie ein offenes Lösungsbuch neben ihm saß!  Er musste nur darin lesen … beziehungsweise die richtigen Fragen stellen. Schnell wandte er sich dem Schweinchen zu, der, von der plötzlichen Bewegung überrascht, ein paar Zentimeter von ihm abrückte. »Sag mal …« Los, frag ihn! Du willst es doch wissen, also frag ihn! »Ich, äh … wie war das eigentlich?« »Hm?« Verwundert neigte Yuuri seinen Kopf, offenbar nicht verstehend, worauf sich die Frage bezog. »Man, verdammt!« Leider konnte seine laute Stimme nicht die Hitze aufhalten, die schleichend sein Gesicht einnahm. »Ich meine das mit dir und Victor! Wie … wie kam das und wie hat sich das … angefühlt?« Mit jedem Wort dämpfte er seine Stimme ein wenig mehr, doch sein Gegenüber verstand jede Silbe. Ein Blinzeln. Auf Irritation folgte Erkenntnis und dann … Verlegenheit. Anscheinend teilten sie sich nicht nur ihren Namen, sondern auch ihr viel zu flüssiges Blut, denn seine Gesichtsfarbe stellte die von Yuri innerhalb weniger Sekunden in den Schatten. »Oh, das meinst du.« Er antwortete nicht, sondern wartete ab, in der leisen Hoffnung, dass das Katsudon redseliger war, als er. Vielleicht würde das seine eigene Zunge endlich mal lockern. »Also.« Er nahm sich die Brille ab und benutze den Saum seines Shirts als Poliertuch. Schindete er damit Zeit? Reden schien wirklich kein leichtes Unterfangen, denn auch er mühte sich sichtlich ab mit seiner Suche nach den richtigen Worten. Schließlich aber lehnte er sich wieder zurück und sah in den Himmel, die Lippen von einem sanften Lächeln umspielt. »Es kam auf jeden Fall unerwartet.« Die Röte in seinem Gesicht verblasste nur sehr langsam, bereit bei der nächsten Gelegenheit wieder hochzuschwappen. »Victor war immer jemand, von dem ich dachte, er sei unerreichbar für mich. Ich habe mein halbes Leben zu ihm aufgesehen. Gegen ihn anzutreten war damals die Erfüllung aller meiner Träume.« Yuri verzog das Gesicht. Seine jetzigen Träume von Victor wollte er lieber gar nicht wissen. »Das war zwar der schlechteste Auftritt meines Lebens, aber … wenigstens ein Traum hatte sich damit erfüllt. Du hast damals übrigens gar nicht so falsch gelegen. Ich wollte meine Kufen wirklich an den Nagel hängen.« Ein Feuer setzte Yuris Brust wie ein welkes Blatt in Flammen. Erst jetzt realisierte er, wie er sich damals verhalten und was er getan hatte. Ihn getreten, als er schon am Boden lag. Wenn Yuri jetzt weinen würde, würde das Katsudon dasselbe tun? Vermutlich nicht. Ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil. Er schob den Gedanken beiseite, für weitere Gewissensbisse waren seine Energiereserven eindeutig zu niedrig. Yuuri, der von seinem inneren Disput nichts mitbekam, sprach unbeirrt und ein wenig träumerisch weiter: »Aber … Dann stand er plötzlich vor mir und offenbarte mir, mein Trainer werden zu wollen. Im Onsen. Ohne Klamotten …« »Ürgs.« Yuri unterbrach ihn, indem er abwehrend mit der Hand vor seinem Gesicht herumwedelte. »Danke, verschone mich mit den schmutzigen Details!« Er wusste eh schon genug darüber. Victors damalige Flucht nach Hasetsu war beinahe noch viraler gegangen, als das Amateurvideo, in dem das Schweinchen seine Kür kopierte. Peinlich berührt kratzte sich das Katsudon am Kopf. »Tschuldigung. Ich schweife ab, das kennst du ja alles schon. Äh …« Ein kurzer Moment des Schweigens trat zwischen sie. Yuri wartete gespannt. Selbst Makkachin hatte neugierig den Kopf gehoben und blickte erwartungsvoll zu ihnen, als verstünde er alles. »Es war wie im Traum, so … surreal. Die ersten Tage habe ich verbissen nach den versteckten Kameras gesucht, überzeugt davon, dass mich jemand ziemlich böse auf den Arm nehmen wollte. Aber Victor meinte es wirklich ernst. Und damals konnte ich mich noch nicht an das erinnern, was im Jahr zuvor auf dem Bankett abgegangen ist und dass er nur deswegen überhaupt zu mir gekommen ist … Ich war immer unglaublich aufgeregt in seiner Nähe.« Seine Hand fuhr fast wie automatisch hoch zu seiner Brust. »Mein Herz hat wie wild geschlagen, mir ist heiß geworden, immer wenn er mich wie zufällig irgendwo berührte, oder mir eine Spur zu lang in die Augen sah. Anfangs hab ich mir dabei gar nichts gedacht, habe es darauf geschoben, dass er eben mein größtes Idol und ich einfach nur aufgeregt in seiner Nähe war. „Das geht schon irgendwann weg” habe ich mir immer und immer wieder eingeredet. Aber das Gegenteil passierte, es wurde schlimmer. So schlimm, bis ich es in seiner Nähe kaum noch aushielt.« »Hmpf. Und was hast du dann getan?« Er kratzte sich am Kopf. »Naja … erst mal nichts. Ich hab das alles gar nicht verstanden. Nicht gerafft, dass das kein simples Aufsehen mehr zu ihm ist, nicht nur die Faszination über sein Eislauftalent und der Respekt vor ihm als Künstler und Inspiration. Sondern ... Naja, eben etwas Größeres. Und als mir endlich ein Licht aufging, war es längst zu spät. Wahrscheinlich hat mir jeder angesehen, was ich fühle. Auch Victor, denn … Irgendwann, im Laufe der Zeit, als wir meine Kür geplant haben, fiel mir auf, dass seine Suche nach Nähe nicht an seinem von Grund auf extrovertierten Charakter lag, so wie ich es mir immer eingebildet habe. Sondern …« Unruhig und offensichtlich peinlich berührt rutschte er auf der Wiese herum, spielte gedankenverloren mit dem Ring an seinem Finger, drehte ihn hin und her. Wahrscheinlich eine Geste, um sich selbst abzukühlen, ähnlich wie Yuris Knibbeln an den Fingernägeln. »Er wollte die Nähe zu mir. Wir haben es beide gespürt. Diese Verbindung, die sich in all den Wochen aufgebaut hatte. Niemand hat es ausgesprochen oder den ersten Schritt gewagt und trotzdem wussten wir es, wenn wir uns in die Augen sahen. Erst beim Cup of China hat Victor es … naja, bekannt gemacht.« Yuri unterdrückte ein hämisches Lachen. »Er hat dich vor den Augen aller, vor sämtlichen Kameras abgeschlabbert!« Vor Schreck rutschte ihm die Brille von der Nase. Fahrig fing er sie auf und schob sie sich zurück auf die Nase, die Wangen wieder hochrot. »Das ist nicht wahr! Es war ohne Zunge!« »Buärg!« Yuri kniff die Augen zusammen und verschloss seine Ohren mit beiden Zeigefingern. »Mir kommt gleich die Galle hoch, vielen Dank!« Einen Augenblick sahen sie sich in die Augen - nur um dann gleichzeitig loszuprusten. Makkachin jaulte freudig auf und sprang um sie herum. Yuri kraulte ihn beruhigend, strich sich mit der anderen Hand eine Träne aus dem Augenwinkel. Es vergingen wenige Minuten, in denen sie wieder Atem fassten. Yuri dankte ihm still für seine Bereitschaft aus dem Nähkästchen zu plaudern. »… Also mit anderen Worten: Ihr beide habt eigentlich überhaupt keinen Plan, wie es dazu gekommen ist.« Verlegen neigte das Schweinchen zur Bestätigung den Kopf. »Mhm. Kann man wohl so sagen.« »Alter! Und du kommst hier mit ‘nem halben Roman um die Ecke. Das hättest du auch in einen Satz packen können!« »Das vielleicht schon.« Sein Lächeln konkurrierte mit dem Strahlen der Sonne. »Aber es hat gutgetan, mal jemandem davon zu erzählen. Du bist bis jetzt der Erste, der mal nachgefragt hat, wie es dazu gekommen ist.« »… Häh?« Das überraschte ihn. »Ich hätte eher geglaubt, dass du das schon tausenden Leuten erzählen musstest.« »Nein, irgendwie nicht. Alle haben sich gefreut und uns Glück gewünscht. Aber nachgehakt hat niemand. Vielleicht wollten sie mich nicht in Verlegenheit bringen. Ist ja schon ein sensibles Thema.« »Mhm ja. Stimmt schon. Aber …« Um irgendetwas mit seinen Händen zu machen, nahm er die überaus gründliche Arbeit von vorhin - das Herausreißen von Grashalmen - wieder auf. »Also, äh – naja. Hat sich das nicht komisch angefühlt?« »Hm, was genau?« Yuri zog die Knie an und bettete seinen Kopf darauf. Wieder schaffte er es nicht ihm in die Augen zu sehen, oder gar zu antworten. Das Katsudon nahm ihn mit der nächsten Frage an die Hand. »Dass ich mich in einen Mann verliebt habe?« Yuri bewunderte, dass er es so offen aussprechen konnte. Er bewunderte und hasste ihn gleichermaßen dafür. Mit geschlossenen Augen und plötzlich wieder versiegelten Lippen brachte er nur ein knappes Nicken zustande. Er wusste, dass sich das Gespräch demnächst unweigerlich wieder auf ihn und sein Problem mit Otabek konzentrieren würde. Gerade bot sich ja die perfekte Überleitung dazu an. Das Katsudon war schließlich nicht dumm und wusste mit turmhoher Wahrscheinlichkeit, was Yuri erst zu diesem Gespräch bewogen hatte. »Ja, anfangs war es seltsam. Überraschend, ungewohnt … und vor allem neu. Ich dachte immer … naja, dass ich Mädchen mag.« »Ja, das … dachte ich auch immer.« Seine Worte waren nur ein Hauch, dennoch für Yuuri hörbar und sie beide wussten, dass Yuris Feststellung nicht ihm galt, sondern sich selbst. »Also stimmt es. Du bist in Otabek verliebt.« Am liebsten wäre Yuri komplett in seinem Hoodie verschwunden. Sich nur die Kapuze über den Kopf zu ziehen, um sich zu verstecken, reichte gerade nicht aus. Sein Herz hämmerte in Spechtgeschwindigkeit gegen seinen Brustkorb. Aber Leugnen war zwecklos. Und er wollte es auch gar nicht mehr. »… Ja. Bin ich. Glaub ich.« Er würgte es beinahe hervor. Unsicher ging sein Blick nach links. Warme braune Augen fixierten ihn. »Du glaubst?« Er vergrub sein Gesicht in den Armen, schüttelte den Kopf. »Ich … weiß es.« »Empfindest du das erste Mal so für jemandem?« Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme wog Yuri in Sicherheit. Er spürte, dass das Katsudon ihm helfen wollte. »Ja …« Ein bitteres, verzweifeltes Lachen brach aus ihm heraus, seine Finger krallten sich in seine Arme. »Ich hab mir das echt anders vorgestellt. Ich dachte immer, dass noch Jahre vergehen werden, bis mir sowas passiert … falls überhaupt. Und außerdem …« Seine Zähne knirschten. Aber kaum ausgesprochen, brachten seine Worte einen großen Stein ins Rollen, auch wenn die folgenden am schwersten fielen. »Außerdem wollte ich mich nicht in einen Mann verlieben! Und erst recht nicht in meinen verdammten besten Freund! Ich … warum –« Er unterbrach sich, als sein Blick verschwamm. Schnell sah er zur Seite. »… Scheiße.« Makkachin winselte, richtete sich auf und drückte tröstend seinen Kopf an seine Brust. Dankbar strich er ihm durchs Fell, versuchte zur ruhigen Atmung zurückzufinden. Mit einem Ärmel wischte er sich über die Nase, nur mit Mühe ein Schniefen unterdrückend. Schließlich schluckte er ein paar Mal und sprach weiter. Er hatte das Gefühl es loswerden zu müssen. »Das fühlt sich so … falsch an! Als ob ich – als ob mit mir etwas nicht stimmt.« Schon auf halbem Weg bereute er seine Worte. Immerhin lief er Gefahr, nicht nur sich selbst, sondern auch Yuuri damit zu verletzen. Aber falls dem so war, so ließ er sich nichts anmerken. Viel mehr versuchte er ihn Kraft zu spenden, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte. Zögerlich hob Yuri den Kopf, versuchte seinen braunen Augen Stand zu halten. »Ich kenne dieses Gefühl, deswegen kann ich dich gut verstehen. Anfangs ging es mir ähnlich. Weißt du … ich war früher mal ziemlich schlimm in Yuuko verknallt. Zwar lief nie was und ich hatte auch seitdem niemanden, aber … trotzdem war ich überzeugt, hetero zu sein. Meine Gefühle zu Victor haben mir Angst eingejagt. Keine Angst vor seiner Reaktion, oder die der anderen, sondern … Angst vor mir selbst. Weil ich das von mir selbst als letztes erwartet hätte.« Yuri schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, während er zuhörte. Seine weiche Stimme spendete Trost und brachte neues Wissen mit sich. Erkenntnisse, dass er nicht allein war. »Gefühle entwickeln sich, ohne dass wir es verhindern können, Yuri. Wir suchen uns nicht aus, wen wir lieben. Wenn wir alles nach unserem Willen beeinflussen könnten, wären wir allmächtig. Aber das sind wir nun mal nicht. Du magst, wen du magst. Ob Mädchen oder Junge ist völlig egal. Liebe kennt kein Geschlecht und keine Regeln. Es gibt keine Norm, sondern nur Schranken, die wir selbst herunterlassen.« Die Hand an seiner Schulter drückte fester zu. »Nichts an dir ist falsch oder unnormal. Du bist jung und verliebt, nicht mehr und nicht weniger. Versuche das zu verinnerlichen, denn alles andere ist unwichtig. Ich habe auch mit mir gekämpft, aber Victor hat es mich gelehrt. Und er hat Recht.« Yuri versuchte sich an einem Lächeln. Zwar nur mit mäßigem Erfolg, aber dafür ehrlich. Die Wirkung dieser Worte überraschte ihn, lockerten die Schnüre um seine Brust. Plötzlich kam viel mehr Sauerstoff in seine Lungen. Er blinzelte mehrmals, um die lästige Feuchtigkeit aus seinen Augen zu vertreiben. »Danke …« Ein Lächeln und ein Abwinken, als wäre das alles legitim. Aber das stimmte nicht. Um sie herum rauschten die Baumkronen. Kinderlachen, Hundegebell und Vogelzwitschern erfüllte den Park. Ein zarter Windhauch trug den schweren Duft von Flieder zu ihnen. Er war müde, seine Gliedmaßen erschöpft. Einen Moment schloss er die Augen, genoss die Sonne, die durch die Kapuze seinen Nacken wärmte und die tanzenden Schatten zu ihren Füßen. Und wie ging es nun weiter? Gab es überhaupt ein Weitergehen? »Wirst du es ihm sagen?« Oh. Tatsächlich hatte ihn sein Gefühlscocktail so sehr auf Trab gehalten, dass er noch nicht einmal auf diesen Gedanken gekommen war. Allerdings gab es da nur eine vernünftige Antwort. Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, lieber verrecke ich elendig in der Hölle oder gründe einen Fanclub für JJ.« Das sollte lustig sein, doch das Lächeln vom Schweinchen wirkte gezwungen. »Was hast du zu verlieren?« »Mal überlegen«, Yuri machte eine Geste, als läge das doch auf der Hand. »meinen besten Freund zum Beispiel?« »Wer sagt das?« »Spätestens seine Freundin wird was dagegen haben, wenn sie’s rauskriegt.« Die eben verscheuchte Beklemmung kehrte schlagartig zurück, nur jetzt aus einem anderen Grund. Er hatte keine Chance gegen sie. Er wusste es. »Kannst du überhaupt sicher sagen, dass sie seine Freundin ist? Dass sie zusammen sind?« Wie nebenbei langte er nach vorn und packte Yuris Hand, eine unausgesprochene Aufforderung, die Fürsorge ausdrückte: Hör auf damit. Yuri blickte auf seinen Daumen. Unbemerkt hatte er wieder daran herumgeknibbelt. Die empfindliche Haut protestierte bereits und ein feiner Riss füllte sich mit Blut. Ohne zu überlegen wischte er es mit dem Stoff seiner Jacke fort, bevor er antwortete. »Er hat es mir noch nicht gesagt, aber ich kapier’s auch so. Diese kitschige Scheiße spricht doch für sich. Sogar er ist auf einmal wahnsinnig gefühlvoll und postet eklige Selfies mit ihr.« Und nicht mit mir. »Aber sicher kannst du dir da nicht sein.« Nein, konnte er selbstverständlich nicht. Sicherheit würde er erst bekommen, wenn er einem längst überfälligen Telefonat zusagte. Tief durchatmend setzte er sich auf. »Ich werd’s bald wissen. Otabek will es mir schon seit Tagen, vermutlich Wochen erzählen, aber ich hab mich quergestellt, weil ich es nicht hören wollte. Aber das hat sich jetzt erledigt. Wird langsam Zeit das zu klären, bevor unsere Freundschaft komplett in den Abgrund geht. Ich glaube, dass ich ihn damit wehgetan habe und das will ich nicht mehr.« »Aber … nur mal so in die Tüte gesprochen: Falls es nicht seine Freundin ist –« »Dann werde ich trotzdem die Schnauze halten! Selbst wenn es so wäre, ich glaube nicht, dass Otabek auf kleine Jungs steht! Ich hab einfach Angst, dass es dann nicht mehr wie vorher sein wird und bevor ich ihm meine Gefühle aufhalse und ihm ein schlechtes Gewissen mache, lasse ich es lieber!« Zerstörte Hoffnungen hinterließen die tiefsten Narben. Narben, die er sich nicht zuziehen wollte. Eine Zurückweisung wäre schier unerträglich für ihn und hätte vermutlich den Worst Case zur Folge: Das Ende ihrer Freundschaft. Einer der Gründe, warum er keine andere Möglichkeit zuließ, als die, dass Otabek und dieses Mädchen ein Pärchen waren. Vielleicht hielt genau dieser Gedanke den dünnen Faden ihrer Freundschaft zusammen. Aber das behielt er für sich, um sich wenigstens ein bisschen Stolz zu bewahren. Das Katsudon antwortete nicht. Vielleicht weil er ihn verstand. Vielleicht aber auch, weil er wusste, dass er für heute nichts mehr ausrichten konnte. Die Baumkronen rauschten nicht mehr, hingen energielos in der sommerlichen Hitze. Die meisten Besucher des Parks traten den Heimweg an und auch Makkachin wirkte, als sei er in Aufbruchstimmung.  Schließlich stand Yuuri auf und reichte ihm die Hand. »Wir sollten los.« »Mhm. Kann ich noch mit bis vor die Haustür?« Yuri wollte nicht nach Hause. Der Gedanke, dass Yakov und Lilia dort auf ihn warteten, unzufrieden, noch bevor er zur Tür hereinkam, jagte ihm eisige Schauer über den Rücken. Das Katsudon lachte zur Antwort. »Musst du sogar. Deine Trainingstasche liegt immerhin noch bei uns.« »Oh, äh - hmpf.« Tatsächlich. Als er sich verstohlen umsah, konnte er sie nirgendwo entdecken. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass sie die ganze Zeit über nicht dabei gewesen war. »Dann los.« Den restlichen Weg verbrachten sie mit schöneren Gesprächsthemen. Belanglose Sachen. Alles, was zu Otabek führen konnte, wurde vermieden. Sie erreichten sein Zuhause viel zu schnell. Bevor sie klingeln oder aufschließen konnten, öffnete Victor ihnen bereits die Tür. »Willkommen zurück!« »Danke!« Yuri hielt den Mund. Er war erschöpft von ihrer Unterhaltung. Erschöpft von den vielen aufgetretenen Emotionen. »Hier, deine Tasche!« Victor fragte nicht nach dem Verlauf des Gesprächs, hielt ihm nur höflich das schwere Ding entgegen. »Soll ich dich fahren? Yakov und Lilia haben gefragt, wo du bist. Sie machen sich bestimmt Sorgen.« »Nein, ich … schon gut.« Er zögerte, als er die Tasche entgegennehmen wollte. Sein Blick ruhte auf dem goldenen Verlobungsring an seinem Finger, von dem er wusste, dass Yuuri den Gleichen trug. Ein stilles Zeichen ihrer Verbundenheit. »… Das ist kein Tinnef.« An den verdutzten Gesichtern der beiden erkannte er, dass er diesen Gedanken, der eigentlich nur für sich selbst bestimmt war, laut ausgesprochen hatte. Er war ihm plötzlich durch den Kopf geschossen. Peinlich berührt nahm er Victor endlich die Tasche ab, bevor er den Blick hob und in seine blauen, überraschten Augen sah. »Das, was ich da in Barcelona zu dir gesagt habe … das war Scheiße. Ich nehm’s zurück.« Victor brauchte einen Moment, um zu verstehen, doch dann breitete sich ein seliges Lächeln auf seinem Gesicht aus, dass eine Spur Dankbarkeit in sich trug. »Ach, Yurio!« Plötzlich quetschten seine Arme ihn liebevoll zusammen. »Das ist so süß von dir!« Er wollte ihn gar nicht mehr loslassen, selbst nicht, als er schon zappelnd nach Luft schnappte. »Ich war dir nie böse deswegen.« Auch das Katsudon trat an ihn heran, legte erneut eine Hand auf seine Schulter. »Wenn du wieder jemanden zum Reden brauchst, sag uns Bescheid.« Victor unterstrich diese Worte mit einem dumpfen Nicken. »Egal was. Auch wenn dir das Training mal zu viel wird. Wir wissen, dass Yakov und Lilia streng mit dir sind und wenn du mal eine Auszeit brauchst, dann -« »Ja, ist ja gut jetzt!« Nicht grob aber nachdrücklich befreite er sich aus der Umarmung, zog sich mit hochroten Wangen die heruntergerutschte Kapuze zurück über den Kopf. »Wir müssen ja nicht gleich sentimental werden und das Heulen anfangen! Ich hau jetzt ab, wir sehen uns dann morgen auf dem Eis!« Victor und sein Katsudon lachten nur über seinen hilflosen, abwehrenden Ton. Natürlich wussten sie, dass sie ihn in Verlegenheit gebracht hatten. Aber scheinbar schien ihnen das Spaß zu machen. Die beiden bestmöglich ignorierend kraulte Yuri Makkachin ein letztes Mal hinter den Ohren und hob dann die Hand zum Abschiedsgruß, bevor er mit schnellen Schritten aus dem Haus flüchtete. Draußen angekommen, lehnte er sich an die schwere Eingangstür. »Trotzdem danke. Oder so …« Er hoffte, nie wieder darauf zurückkommen zu müssen. Im Laufe des Nachhauseweges zog er sein Smartphone hervor. Eine Nachricht von Otabek, die irgendwann unbemerkt eingetrudelt sein musste. Es schmerzte, seinen Namen zu lesen. Da war dieses Gefühl in seiner Brust. Es wand sich wie eine Schlange und sprühte heißes Gift durch seine Adern. Dieses Gefühl, dessen Namen er sich endlich traute auszusprechen. Er wollte, dass es aufhörte. Er wollte ihren freundschaftlichen Alltag zurück. Er wollte nicht mehr unglücklich in Otabek verliebt sein. Deswegen traf er eine Entscheidung, öffnete ihren Chat und tippte eine Antwort. Er würde sich an seinen eigenen Haaren zurück aus dem Sumpf ziehen, sich der bitteren Wahrheit stellen. Und dann damit abschließen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)