»Steig auf!« von Gmork ([ Otayuri ]) ================================================================================ Teil vierzehn: »Erkenntnis« --------------------------- Zanila Smirnowa. Yuri hätte nicht gedacht, dass er Menschen - mit Ausnahme vielleicht von JJ - hassen konnte, ohne sie überhaupt richtig zu kennen. Gut, die Annahme, dass er im Grunde niemanden mochte, stimmte irgendwie. Es gab tatsächlich nur eine Hand voll Ausnahmen. Leute, die er wirklich leiden konnte. Sein Großvater, Yakov, Lilia und … ja, zugegeben, auch Victor und sein Katsudon gehörten seit Kurzem irgendwie dazu. Aber Hass? Hass überstieg Unsympathie bei Weitem. Es war ein so großes, so mächtiges Gefühl, dass es ihn ängstigte. Ähnlich wie Freundschaft. Und gerade eben wünschte er sich von ganzem Herzen, dass er doch einfach weiter einsam und ohne Otabek als Freund geblieben wäre. Zanila Smirnowa. Sie war schön, ohne Frage. Wahrscheinlich entsprach sie genau Otabeks Typ. Jedoch konnte Yuri sich dem nicht sicher sein, wo sie doch niemals über solche Themen gesprochen hatten … Er fragte sich, warum das eigentlich nie zu Wort gekommen war. In ihrem Alter drehte sich normalerweise so gut wie alles darum. Vielleicht konnte er sich Otabek schlichtweg nicht in einer Beziehung vorstellen. Oder er wollte nicht. Zanila Smirnowa. Immer wieder sprach er innerlich diesen Namen aus und spürte den Hass auf sich niedergehen, wie das Wasser, das kalt und schwer seine Schultern peitschte. Wut, Gram und Angst schüttelten ihn. Wut auf Otabek, Gram vor sich selbst und Angst davor, dass er ziemlich in der Klemme zu stecken schien. So sehr er sich auch anstrengte, das Gefühl, dass nun alles anders werden würde, ließ sich nicht abschütteln. Als sei etwas zwischen ihnen zu Bruch gegangen, etwas Seltenes und Kostbares, etwas, dass sich nicht reparieren ließ, sollte man es einmal unvorsichtig behandelt haben. Yuri wusste nur nicht, was es war. Mit gesenktem Kopf stand er da, konzentrierte sich auf das Dröhnen des Wassers über und unter ihm. Es war so kalt, dass sein Blut langsamer zu fließen schien und seine Atmung schwer ging. Er musste um jeden Zug kämpfen und trotzdem fühlte er sich viel besser, als noch vor wenigen Minuten auf der Wiese. Nun, klatschnass von oben bis unten, konnte er wenigstens so tun, würde es diese Tränen gar nicht geben. Alles halb so schlimm. Momentan dominierte die Wut und nur mit Wut konnte er die anderen Gefühle bekämpfen. Er kniff die Augen zusammen, ballte die Hände zu Fäusten. Seine Haut spannte so sehr, dass selbst diese kleine Bewegung schmerzte. Ruckartig legte er den Kopf in den Nacken, der Wasserstrahl trommelte auf seine Stirn und beschwor Kopfschmerzen. Wasser lief über und aus seinen Augen. Die verräterischen heißen Spuren auf seinen Wangen belehrten ihn eines Besseren. Schnell wollte er sie sich aus dem Gesicht wischen, doch da umschlossen fremde Finger sein Handgelenk und ließen ihn zusammenzucken. »Yuri! Hey, was -« Er riss die Augen auf. Sekunden vergingen, bis er im Nebel des Wasserfalls ein passendes Gesicht zu der Stimme erkannte. »Was machst du denn?« Das Schweinchen musste regelrecht brüllen, um das Tosen um sie herum zu übertönen. Eigentlich verstand Yuri ihn nur, weil er es von seinen Lippen ablas. Andere hätten ihn gefragt, ob er noch ganz dicht war, oder noch alle Tassen im Schrank hatte, doch das Katsudon blieb, ganz seinem Charakter entsprechend, ekelhaft höflich. Noch immer hielt er ihn fest und Yuri sah dabei zu, wie sich seine Kleidung langsam mit Wasser vollsog, während er versuchte seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Seine Ärmel waren bereits vollständig durchnässt. Yuri wollte sich losreißen, doch sein Griff war überraschend fest, sodass er nur taumelte und ihn noch weiter mit sich unter den Wasserfall zog. »Lass los, du Idiot!« Immer erwischten sie ihn in Momenten, wo er es absolut nicht gebrauchen konnte. Wahrscheinlich rochen sie es. Aber Yuuri meinte es offenbar nicht böse. Auf seinem Gesicht spiegelte sich die pure Besorgnis, während er sich abmühte, selbst nun triefend nass, sie beide unter dem Wasserfall heraus zu holen. Welch Ironie, dass sie diesen Moment schon einmal zusammen durchlebt hatten. Sein Griff wollte sich nicht lockern und schließlich ergab Yuri sich und folgte ihm mit hängendem Kopf ins Trockene. »Alles in Ordnung?« Nein. Nichts war in Ordnung. Er glaubte alles Positive in seinem Leben im Rauschen des Wassers zurückgelassen zu haben. Trotzdem bemühte er sich möglichst überzeugt zu klingen. »Mir gehts gut.« Ein Lächeln versuchte er gar nicht erst, denn das war zum Scheitern verurteilt. Aber immerhin konnte man - so hoffte er jedenfalls - keine Spur von Tränen mehr in seinem Gesicht ausmachen. Yuuri schwieg einen Moment, während sein forschender Blick Yuris mühselig aufrecht erhaltene Fassade durchdrang, als würde er durch Glas blicken. »Deine Augen sind rot.« Ein simpler Satz, der das Glas zerspringen ließ. Trotzig wischte er sich übers Gesicht. »Vertrage das Wasser einfach nicht.« Schweigen. Argwohn. Yuri konnte dem Schweinchen nichts vormachen, das spürte er genau. Ratlose Stille hing zwischen ihnen. Falls Yuuri etwas sagen wollte, so behielt er es für sich. »… Wir sollten zurück.« Plötzlich alamiert riss Yuri seinen Blick nach oben. »Haben … Haben die anderen bemerkt, dass ich weg bin?« Trotz der Nässe brach ihm der Schweiß aus. »Nur Victor und ich.« »Hmpf.« Das waren zwei zu viel. »Na los.« Yuuri startete einen zweiten Versuch, ihn weg zu ziehen. »Wir können uns ins Onsen schleichen und uns aufwärmen.« Yuri fragte sich, woher er immer diesen Optimismus nahm. Sein eigener bewegte sich irgendwo im Minusbereich. Aber der Vorschlag klang wirklich nicht schlecht. Er fror erbärmlich und wahrscheinlich ging es seinem Gegenüber nicht viel besser. Also nickte er und während sie sich auf den Weg zurück machten, klaubte er sein Smartphone auf, das unschuldig auf der Wiese lag. Sie liefen langsam nebeneinander her, folgten dem Mondlicht und den Geräuschen, die jetzt allmählich aus der Richtung der Feier zu ihnen hervordrangen. In seiner Gegenwart fühlte sich Yuri seltsam sicher. Es wurde nichts gefragt, nichts gesagt. Ihr Schweigen glich einem stillen Versprechen, einem Geheimnis, das sie mit ins Grab nehmen würden, unausgesprochen und trotzdem existent. »Wie lang war ich weg?« »Hm.« Yuuri kratzte sich am Kopf, während er überlegte. »Weiß nicht. Vielleicht ‘ne Stunde. Victor und ich dachten erst, dass du schon schläfst. Aber deine Zimmertür stand sperrangelweit offen und du warst nicht da … wir haben uns Sorgen gemacht.« Etwas durchfuhr ihn und Yuri brauchte einen Moment, um es als Reue zu erkennen. »Wie hast du mich gefunden?« Einfache Fragen, die einfache Antworten brachten - und mit ein bisschen Glück würde er sich so von allem anderen ablenken können. »Tja. Gute Frage.« Vorsichtig wandte er sich ihm zu. »Ich hab‘s irgendwie … gespürt?« »Aha.« Yuuri lächelte matt. »Schon seltsam, oder? Irgendwie hat mich das an damals erinnert, als Victor uns zum Nachdenken verdonnert hat.« Er kam nicht umhin, das Lächeln schmal zu erwidern. »Hab’ vorhin dasselbe gedacht.« Mittlerweile waren sie dem Onsen so nahe, dass die Geräusche sich zu klarem Stimmengewirr und Gelächter formten. Warmes Licht drang aus der geöffneten Tür zur Lobby und tauchte den Garten in entspannte Atmosphäre. Yuri wünschte sich, einer von den Feiernden zu sein. Dann könnte er sorgenlos Katsudon in sich hineinschaufeln und Gespräche über Musik führen, wie an ihrem ersten Abend des Urlaubs. »Wir gehen einfach von der anderen Seite rein, dann sieht uns niemand.« Im Schatten des großen Hauses folgte Yuri ihm, mittlerweile zitternd vor Kälte. Die Dämpfe der heißen Quelle begrüßten sie einladend. »Steig schon rein. Ich hole trockene Sachen für uns.« Und schon hatte er sich auf leisen Sohlen ins Haus geschlichen. Yuri zögerte nicht lang und entledigte sich seiner Klamotten, die ihn unangenehm am Körper klebten. Bevor er ins Becken stieg, legte er sein Smartphone gewissenhaft an einen sicheren Platz. Die plötzliche Hitze brannte auf seiner Haut, doch schon nach wenigen Sekunden verflog der anfängliche Schmerz und er konnte sich zurücklehnen. Mit geschlossenen Augen tauchte er unter und erst, als ihm der Sauerstoff ausging, kehrte er luftschnappend zurück. »Und, geht es besser?« Er fuhr zusammen und stieß sich den Ellenbogen am Becken. Yuuri saß ihm gegenüber, nur sein Kopf war zu sehen. Wann war er eingestiegen? »Victor wollte mitkommen, aber ich habe ihn gebeten bei den anderen zu bleiben. Das hätte sonst zu viel Aufmerksamkeit erregt.« »Hmpf.« Yuri rieb sich den pulsierenden Arm. »Die anderen wissen von nichts?« Zur Antwort zuckte das Schweinchen mit Unschuldsmine die Schultern. »Wir sind nur ein wenig spazieren, weil ich einen über den Durst getrunken habe und frische Luft brauche. Ist doch nichts dabei.« Er zwinkerte ihm zu. »Und?« »Und was?« Yuri rutschte unruhig hin und her. Sie hatten in den letzten Tagen eine Menge Zeit miteinander verbracht, doch niemals, wie ihm gerade bewusst wurde, nur zu zweit. Immer war entweder Victor oder ein anderes Familienmitglied dabei gewesen. »Geht’s dir besser?« »Ich friere nicht mehr, also ja.« Hoffentlich entkam er damit endlich weiteren Fragen. Yuuris dunkle Augen fixierten ihn. Er wirkte müde, doch in seinem Blick lag eine erstaunliche Klarheit. Aufmerksam musterte er ihn, schien auf etwas zu warten, was allerdings nicht kam. Erst als er sich von ihm abwandte und gen Himmel sah, entspannte Yuri sich etwas. Eine Weile erfüllte nur das leise Plätschern des Wassers und ihr schwerer Atem die Umgebung. Schließlich strich sich Yuuri die nassen schwarzen Haare aus dem Gesicht und lächelte schwer. »Ich hoffe, … dass dir der Urlaub gefallen hat.« Er sprach vorsichtig, als könnte seine Stimme den Einklang zwischen ihnen zerschmettern. Yuri nickte. »Die Onsen werden mir fehlen.« »In Russland gibt es bestimmt auch Thermen, die wir besuchen können, wenn du willst.« »Das ist doch nicht dasselbe.« »Ja, schon. Aber … das täte uns bestimmt gut.« Yuri legte den Kopf in den Nacken, beobachtete ebenfalls die Sterne. Nachts zu baden hatte schon etwas für sich. »… Ja. Vielleicht.« Zufrieden griff Yuuri nach seinem Handtuch, während er sich erhob. »Lass uns reingehen. Sonst schöpft vielleicht wirklich jemand Verdacht.« Yuri wollte am liebsten die ganze Nacht in den Quellen verbringen und konnte sich nur schwer zum Aufstehen überwinden. »Ist wohl besser, wenn ich gleich schlafen gehe.« Er wickelte das Handtuch um sein Haar und stieg in die Sachen für die morgige Rückreise, die Yuuri für ihn aus seinem Zimmer geholt hatte. Das Smartphone wanderte in seine Hosentasche. »Okay.« Yuuri schien mit sich zu hadern, obwohl ihm offensichtlich etwas auf der Zunge lag. Unschlüssig und etwas ratlos standen sie sich gegenüber. Bewusst desinteressiert blickte Yuri in eine andere Richtung. Er ahnte, worauf er hinauswollte, kam ihm aber nicht zur Hilfe und erwiderte nichts. »Wenn du … über irgendetwas reden willst …« »Nein!« Wieder ballte sich seine Hand zur Faust. Er wich einen Schritt zurück, als befürchtete er jeden Moment einen körperlichen Angriff. Das Schweinchen hob abwehrend seine Hände, musterte ihn dennoch entschlossen. »Du musst nicht. Ich will nur, dass du weißt, dass du immer zu mir und Victor kommen kannst. Egal wann.« Yuri schnaubte und schämte sich für seine Reaktion auf ein Angebot, dass von nichts anderem zeugte, als von Gutherzigkeit und Sorge. Er konnte es nicht annehmen. Vielleicht, weil er nicht wollte. Viel eher aber, weil er ein Feigling war und als einer sterben würde. »Es gibt nichts, worüber ich reden will.« Damit wandte er sich um und ließ ihn stehen.   Zanila Smirnowa. Geräuschlos glitten sie durch den Himmel, teilten Wolken und hinterließen Streifen am Horizont. Schon seit Stunden war die Landschaft unter ihnen nur ein winziges Gemälde, eingerahmt von runden Fenstern. Stecknadelgroße Städte, filigrane Autobahnlinien, winzige Berge mit Hüten aus Zuckerwatte. Die meisten Passagiere schliefen, Yuri allerdings war hellwach. Immer wieder schaute er forschend um sich, doch niemand schenkte ihm Beachtung. Die beiden Turteltauben schliefen seelenruhig, Yuuris Kopf auf Victors Schulter, ihre Finger ineinander verflochten. Widerwillig wandte er sich wieder dem Display seines Smartphones zu. Das WLAN im Flugzeug war schwach und ihr Profil öffnete sich nur sporadisch – Yuri konnte nicht bestreiten, dass er dankbar um diesen Zustand war. Die wenigen Fotos in der winzigen Vorschau stellten das typisch langweilige Leben einer jungen Frau dar, die offenbar an irgendeiner Universität in Moskau studierte. Yuri erkannte die Stadt an den berühmten Denkmälern und Sehenswürdigkeiten, die jeder dahergelaufene Tourist fotografierte. Inmitten von Starbucks-Kaffeebechern und Schuhen von Nike waren das tatsächlich die gelungensten Fotos. Keine Selfies. Alles ziemlich durchschnittlich. Gerade wollte er ihr Profil schließen – sein Daumen schwebte bereits über dem Home-Button – da erregte das neueste Foto in ihrem Feed seine Aufmerksamkeit. Er hatte ihm bis jetzt keine Beachtung geschenkt, einfach, weil es ewig lang nicht angezeigt worden war. Es war eines von so vielen, glich fast allen anderen, die sie gepostet hatte. Was fand sie nur an ihren eigenen Schuhen so spannend? Jedoch starrte er auf das zweite Paar, die zu jemandem gehörten, der ihr gegenüberstand. Diese abgewetzten Boots hätte er überall erkannt. Otabeks Motorradstiefel. Beklemmung wallte durch sein Inneres. Nervös besah er sich den Post näher und erfuhr doch nicht viel mehr, als die Vorschau anbot. Er scrollte nach unten.   »Er fliegt schon wieder. Abschiede fallen echt schwer.«   Yuris zähne knirschten, eine dicke Ader pulsierte an seiner Schläfe. Am liebsten hätte er sein Smartphone aus dem Fenster geworfen. »Dumme Kuh!« Einige Gesichter wandten sich ihm zu. Er ignorierte sie und steckte sich die Stöpsel seiner Kopfhörer in die Ohren. Musik. Er brauchte jetzt Musik. Da kam ihm ein Sprichwort in den Sinn. Wie ging das noch gleich und von wem war es? Genau … Manchmal hilft nur Musik, wenn man schlecht drauf ist. Er kniff die Augen zusammen. Otabek. Natürlich hatte Otabek das einmal geschrieben. Er scrollte durch seine Playlist, nur um bei NOX inne zu halten. Immer wieder dieses Album, als gäbe es sonst keine Musik auf der Welt. Doch hier war er sich sicher, sich entspannen zu können – dachte er jedenfalls. Doch bereits beim zweiten Titel musste er es wieder abschalten. Heute beruhigten ihn die tiefen Riffs nicht. Im Gegenteil, sie wühlten ihn nur noch stärker auf. NOX war geprägt von dunklen Melodien und dichter Atmosphäre, jeder Song erzählte seine ganz eigene Geschichte, die sich trotzdem in einer poetischen Klarheit in der Mitte trafen. Genau das mochte er an dieser LP so sehr. Ja, es mochte ein trauriges Album sein, anziehend und abstoßend gleichermaßen, jedoch war es immer von inspirierender Zuversicht begleitet, von dem Gefühl, dass schon alles wieder gut werden würde. Das alles fehlte plötzlich komplett. Zurück blieb nur bodenlose Tragik, einem schwarzen See gleichend, in dem er immer tiefer versank. Wütend und frustriert gleichermaßen riss er sich das Headset herunter. Alles, was ihm auf irgendeine Art und Weise Halt gab, schien ihm zu entgleiten. Er fühlte sich hilfloser, als ein Wurm am Angelhaken. Selbst die Wolken, deren fantastische Formen ihn immer fasziniert hatten, hingen träge und unmotiviert am Himmel. Er checkte die Uhrzeit und stellte verbittert fest, dass er noch gute drei Stunden ein Gefangener der Luft war. Vielleicht sollte er es zum hundertsten Mal mit Schlafen versuchen. Er lehnte sich zurück, seine Jacke vorübergehend als Kissen dienend, und schloss angestrengt die Augen.   Kein Schlaf, eher ein träges Dahindämmern - aber wenigstens ohne wirre Gedanken, die seine Synapsen verknoteten. Müde zog er seinen Koffer hinter sich her. Auch Victor und das Schweinchen waren sehr schweigsam. Zwar war der Jetlag mit nur zwei Stunden halbwegs verkraftbar, dennoch laugten derart lange Flugstrecken auch die strapazierfähigsten Menschen aus. Allesamt gähnend verließen sie den Flughafen, selbst die merklich kühleren Temperaturen und die schweren Regentropfen befreiten sie nicht von ihrer Trägheit. Allerdings hielten sie überrascht inne, als ihnen auf dem Parkplatz, zwischen all den zerbeulten Karren, die man in Russland üblicherweise fuhr, ein nahezu perfekt gepflegter Wagen auffiel. Yuri erkannte ihn sofort. Bei dieser scheußlichen roséfarbenen Lackierung rollten sich regelmäßig seine Zehennägel hoch. Und dennoch passte sie außerordentlich gut zu der Besitzerin des Wagens. Lilias offensichtliche Schwäche für diese Farbe zeigte sich nicht nur durch ihr Auto, sondern auch an ihrem Teeservice und dem filigranen Schmuck, der ihren schlanken Hals und die eleganten Finger zierte. Unter dem Schutz des Regenschirmes warteten sie, doch als sie die Neuankömmlinge bemerkten, kam Yakov darunter hervor und öffnete den Kofferraum. Nach einer, dem Wetter geschuldeten, recht hastigen Begrüßung, luden sie ihr Gepäck ein und krochen ins trockene Innere des Wagens. Erleichtert schlugen sie die Türen zu. Yuri blieb nicht viel Zeit, um über die seltsame Tatsache nachzudenken, dass Yakov hinter dem Steuer saß - wo Lilia eigentlich niemand anderes ihren Wagen fahren ließ. »Willkommen zurück.« »Danke, sehr lieb.« Yuuri tätschelte, müde lächelnd, Makkachins Kopf. »Hoffentlich habt ihr das Wetter da genossen. Hier gießt es seit Tagen wie aus Kübeln.« »Hmpf.« Das entsprach in etwa genau Yuris Stimmung. Wasser lief die Fensterscheiben hinunter. Er verbrachte die kurze Autofahrt damit, die zarten Linien mit seinen Augen nachzuzeichnen.   Als er sein Zimmer betrat und den vertrauten, sonst nie wahrnehmbaren Geruch einatmete, begrüßte er zum ersten Mal seit Tagen die Stille, die ihn empfing. Allein zu sein hatte seine Vorzüge - und nichts anderes wollte er in diesem Moment. Den Koffer ließ er unbeachtet in der Mitte des Raumes stehen. Vielleicht langweilte er sich an einem späteren Zeitpunkt ja so sehr, dass er ihn freiwillig auspackte. »Potya?« Das Wort war noch nicht komplett über seine Lippen gekommen, da gruben sich bereits winzige Krallen in den Stoff seiner Jeans. Er beugte sich herunter und nahm seinen Kater, der auf zwei Beinen stehend an ihm hochklettern wollte, auf die Arme. »Wenigstens einer, der sich wirklich auf mich gefreut hat.« Zur Bestätigung stupste Potya seinen kleinen Kopf gegen Yuris Nase. Er drückte ihn an sich und vergrub sein Gesicht in dem weichen Fell. »Hast mir gefehlt.« Einige Minuten verharrte er, lauschte seinen eigenen Atemzügen und behielt die Augen geschlossen. Ein Klopfen an der Tür ließ ihn hochschrecken. Potya begann zu strampeln und bat so um Freiheit, die Yuri ihm gewährte. »Hast du Hunger?« Lilia hatte die Tür geöffnet, blieb aber draußen. »Bisschen, ja.« »Es gibt Piroschki.« Ihr Lächeln erreichte tatsächlich ihre stark geschminkten Augen. Noch immer wunderte er sich, wie rapide besser ihr Verhältnis seit der Aussprache war. »Bin gleich da.« Er machte eine vage Bewegung in sein Zimmer. »Hab noch … was zu tun.« Ohne weiter nachzuhaken ließ sie ihn wieder allein. Seufzend zog Yuri sein Smartphone hervor. Schon den ganzen Tag über war es ruhig geblieben, ohne irgendwelche Benachrichtigungen. Er war sich nicht einmal sicher, ob es ihn überhaupt interessierte. Trotzdem öffnete er den Chat und tippte, vielleicht nur von der Gewohnheit angetrieben, eine Nachricht.   Yuri Plisetsky – 10.06 17:52 »Bin wieder in Russland. Flug war gut, aber ich konnte nicht schlafen. Gibt gleich Piroschki … Bei dir alles okay? Irgendwie schreiben wir seit ein paar Tagen kaum noch. Mich nervt das! «   »Fuck, ich hab’s abgeschickt!« Mit enormer Wucht traf seine Hand seine Stirn. »Fuck, fuck, fuck!« Er war so ein Idiot! Die Worte, entsprungen aus seiner Wut über diese belastende Funkstille, hatte er doch eigentlich löschen wollen … zumindest den letzten Teil. Jetzt war Otabek Zeuge seiner unverhohlenen Dummheit. Er sandte ein Stoßgebet zum Himmel, auf dass sich der Boden unter ihm auftun und ihn verschlingen mochte. Nichts dergleichen geschah. Die alten Dielen knarrten nur armselig unter seinen Füßen, als er sich in Bewegung setzte und sich ins Esszimmer begab. Sein Smartphone, das er vor Scham wahrscheinlich die nächsten Tage nicht anrühren würde, blieb auf dem Schreibtisch zurück.   Frisch geduscht und gesättigt kehrte er in sein Zimmer zurück. Lilias Kochkünste hatten ihm tatsächlich gefehlt, ebenso seine Joggingtouren durch den Park. Während der letzten zwei Wochen war an richtiges Training nicht zu denken gewesen und um dem zu trotzen, war er direkt nach dem Essen in seine Laufschuhe gestiegen. Jetzt, reichlich ausgelaugt, erschien ihm sein Bett wie das Paradies auf Erden. Wie ein Stein fiel er in die weichen Kissen, alle Glieder von sich gestreckt. Zwei Wochen Lotterleben zog Konsequenzen nach sich, die sich in Verlust von Kondition äußerten. Nicht imstande sich noch ein einziges Mal mehr zu bewegen als nötig, schielte er auf sein Smartphone, dass er auf dem Weg zum Bett von seinem Schreibtisch stibitzt hatte. Ruckartig setzte er sich auf. Eine Antwort von Otabek. Die Piroschki in seinem Magen schienen plötzlich eine Tonne zu wiegen. Ob er sauer wegen dieser dummen Nachricht war? Nun, das würde er nur herausfinden, wenn er den Chat las. Er schluckte schwer und entriegelte den Sperrbildschirm.   Otabek Altin - 10.06 19:34 »Freut mich, dass du gut gelandet bist. Ich habe momentan viel um die Ohren. Tut mir leid. Aber das sollte sich bald erledigt haben.«   Okay, wütend schien er nicht zu sein. Erleichtert atmete er auf und gleichzeitig fragte er sich, was ihn denn so auf Trab hielt.   Yuri Plisetsky - 10.06 20:17 »Was geht denn bei dir ab? Irgendwas schlimmes? :O«   Otabek Altin - 10.06 20:18 »Das ist eine lange Geschichte und würde unseren Chat sprengen. Hast du Lust in den nächsten Tagen zu skypen? Dann erzähle ich es genauer.«   Yuri Plisetsky - 10.06 20:20 »Geht klar! Freitag? Da hab ich nur bis drei Training :D«   Otabek Altin - 10.06 20:25 »Gut, das schaffe ich. Aber bis dahin habe ich alle Hände voll zu tun und nicht so viel Zeit.«   Das klang, als wäre tatsächlich irgendetwas Großes bei ihm im Gange. Vielleicht ein größerer Gig als DJ, auf den er sich vorbereiten musste? Oder hatte er sein Trainingspensum erhöht? Yuri wusste nicht, ob er wirklich scharf darauf war es zu erfahren, denn Otabeks Stress könnte auch andere Gründe haben … zum Beispiel ein Mädchen in Russland. Schnell schüttelte er den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Er wollte nicht schon wieder über dieses Thema nachdenken.   Yuri Plisetsky - 10.06 20:31 »Also hören wir uns spätestens am Freitag! Überanstreng dich nicht so :D«   Otabek Altin - 10.06 20:32 »Freu mich drauf. ;)«   » … Ich mich auch.« Am liebsten hätte er ihm das auch so geschrieben, doch ein beklemmendes Gefühl hinderte ihn daran. Er freute sich wirklich darauf, ihn wieder zu sprechen. Gleichzeitig entfaltete sich Angst vor irgendwelchen schockierenden Neuigkeiten in seiner Brust. Davon hatte es in den letzten Tagen eindeutig zu viele gegeben.   Anders als in Hasetsu flossen die Tage in Russland zäh und trübe dahin. Obwohl sich die Sonne immer öfter blicken ließ, erreichten sie doch keine sommerlichen Temperaturen, pendelten permanent knapp über zwanzig Grad. Yuri flüchtete sich in Training und Ballett, um nicht an den Freitag denken zu müssen, der langsam in greifbare Nähe rückte. Immer, wenn er sich doch dabei erwischte, wallte eine glimmend heiße Aufregung in seinem Inneren empor. Das selbe Gefühl, wie damals, kurz vor ihrem Wiedersehen - dieses Mal allerdings nicht von nervöser Euphorie begleitet, sondern von Fluchtinstinkten und Ausreden, um nicht bei Skype online gehen zu müssen. Absichtlich trödelte er herum. Alle anderen waren schon verschwunden, bereit den Nachmittag in vollen Zügen zu genießen. Yuri duschte beinahe eine Stunde, bis er sich überwinden konnte und ausstieg. Träge trocknete er sich ab, föhnte sein Haar und stieg in seine Anziehsachen. Yakov und Lilia waren bereits vorgegangen, nachdem er sie überzeugt hatte, dass er den Heimweg auch joggend zurücklegen konnte. Jetzt, als er seine Schlittschuhe wegsperrte, war er froh darum. Vielleicht flaute seine Unruhe so ein wenig ab. Natürlich tat sie das nicht. Nervös sperrte er die Tür auf und kickte seine Schuhe von den Füßen. Aus dem Wohnzimmer drang leises Gelächter an seine Ohren. Yakov und Lilia hielten offenbar wieder eines ihrer neuesten Rituale ab: Im Wohnzimmer sitzen und bei Wein und Kaminfeuer irgendwelche Gespräche führen. Zu aufgewühlt, um sie zu begrüßen, steuerte er direkt sein Zimmer an. Vor wenigen Minuten war eine Nachricht von Otabek eingetrudelt: Er war bereits online und wartete auf ihn. Sein Laptop brauchte ungewohnt lang, um hochzufahren. Normalerweise führte er solche Chats immer in seinem Bett, das Gerät auf dem Schoß gebettet und sein Kopf gestützt von Kissen und abertausenden Katzenplüschtieren. Heute saß er kerzengerade vor dem Schreibtisch, nicht in der Lage sich zu entspannen. Das Öffnen von Skype kam einem Gang zum Galgen gleich. Nervös wartete er, während sich die Verbindung aufbaute. Das Nervige Bimmeln, dass einen eingehenden Anruf signalisierte, vertrieb ihm beinahe aus dem Zimmer. Kurz biss er die Zähne zusammen, bevor er sich wappnete und das Gespräch startete. Otabeks Gesicht flammte auf, zuerst verpixelt, doch nach wenigen Sekunden war die Verbindung stabil, während Yuri sprichwörtlich der Arsch auf Grundeis ging. Offenbar saß er auf der Couch. Yuri erkannte das Plattenregal und seine Konsolensammlung im Hintergrund und wünschte sich plötzlich schmerzlich zurück nach Almaty. Reiß dich zusammen, du dummer Idiot! »Hey.« Ein schiefes Lächeln und in Yuri explodierte alles. Er spürte förmlich, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Da war dieses Gefühl in seiner Brust. Taubheit breitete sich in seinen Beinen aus, während seine Hände unkontrolliert zu schwitzen begangen. Sein Herz schlug so schnell, dass er für einen Moment alles nur durch einen trüben Schleier wahrnahm. Nur wegen eines Lächelns, das allein ihm galt. »Ähm, hi.« Gott, mit dieser hohen Stimme war ihm jede Hauptrolle in der Oper sicher. »Wie geht’s denn so?« Brummend fuhr Otabek durch seine Frisur. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, seine Haltung ungewohnt träge und nicht so kraftvoll, wie Yuri es von ihm kannte. Trotzdem starrte er ihn an. »Jetzt besser.« Staubige Trockenheit nahm seinen Mund ein, seine Zunge schien verknotet und er brachte kaum ein Wort heraus. »Und dir?« Ein wenig zu schnell und übertrieben gelassen winkte er ab, in der Hoffnung, dass Otabek sein peinliches Benehmen nicht bemerkte. Ein Wunder, dass sein Haaransatz bei der Hitze in seinem Gesicht noch nicht in Flammen aufgegangen war. »Keine Spur mehr von Urlaub, aber das Training läuft gut.« »Wenigstens bei einem.« Otabek lehnte sich zurück, gähnte hinter hervorgehaltener Hand. »Ich hinke ziemlich hinterher.« Angespannt rutschte Yuri auf seinem Stuhl herum. Er schwitzte mittlerweile so sehr, dass ihn sein Shirt am Rücken klebte und widerlich juckte. »Naja, du hast ja gesagt, dass du demnächst wieder ein bisschen mehr Zeit hast. Was war denn los?« Da war er nun, dieser Moment, vor dem er sich seit Tagen fürchtete. Was würde Otabek ihm berichten? Er konnte nur hoffen, dass es nicht mit seinem Ausflug nach Russland zusammenhing, über den sie - nur so am Rande bemerkt - noch immer nicht gesprochen hatten. Es schien wie ein Damoklesschwert über ihnen zu hängen. Yuri spürte die Bedrohung im Nacken, als würde sie jeden Moment auf ihn niedersausen und seinen Schädel spalten. Otabek musterte ihn forschend. Sein Blick durchdrang seine Haut und kitzelte seine Organe. Im Gegensatz zu Yuri war er die Gelassenheit in Person - so wie immer. Seinen inneren Zwist schien er nicht zu bemerken, denn abermals erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht und noch bevor er zum Sprechen ansetzte, wusste Yuri, dass es dieses Mal jemand anderem galt. »Du weißt ja, dass ich in Russland war.« Oh, bitte nicht. Seine Finger verkrampften sich, was er Gott sei Dank unter der Tischplatte verbarg. »Mh-hm.« Ein simpler Satz, der all seine mühselig aufgebaute Motivation mit einem Schlag vernichtete. Sie erlosch wie die Flamme eines Streichholzes, das ruckartig ausgepustet wurde. Zurück blieb nur schwere Müdigkeit, die sich wie eine Glocke aus Rauch um ihn hüllte. Augenblicklich sehnte er sich dem Ende des Gesprächs entgegen. Dem Moment, wenn er in sein Bett krabbeln und die Decke über seinen Kopf ziehen konnte. »Jedenfalls ist das auch der Grund für meinen Stress, weil -« Ein überraschend lautes Brummen würgte seine letzten Worte ab. Wahrscheinlich kam es von seinem Smartphone, dass irgendwo neben seinem Laptop auf dem Tisch liegen musste, wo Yuri es nicht sehen konnte. Ein wenig genervt nahm er es in die Hand. Yuri hingegen war erleichtert. Er hatte damit zu kämpfen seine Fassade aufrecht zu erhalten und war dankbar um jeden Moment, der sich dafür bot. Wahrscheinlich blieb ihm nicht allzu viel Zeit, denn Otabek hatte die Angewohnheit sämtliche Gespräche wegzudrücken, wenn er mit ihm skypte. Aber selbst diese wenigen Sekunden brauchte er, um einmal tief durchzuatmen. »Ah, da muss ich leider rangehen. Dauert nicht lang. Warte kurz, okay?« Irritiert musste Yuri seine Antwort regelrecht herauswürgen. »Okay …« Otabek reckte den Daumen nach oben und nahm das Gespräch an. Das Lächeln, von dem Yuri geglaubt hatte, dass es nicht mehr breiter werden konnte, riss ihn beinahe entzwei. Sofort wusste er, wer am anderen Ende der Leitung war. »Lina.« Yuri hörte den mittlerweile beängstigend dünnen Faden regelrecht reißen, als das Schwert plötzlich herabfuhr. Es bohrte sich in seinen Rücken und quer durch seine Brust. Keine sichtbare Wunde, aber so schmerzhaft, dass ihm die Luft versagte. Ein Spitzname. Sie hatte sogar einen Spitznamen. »Nein, du störst nicht.« Tiefe Zuneigung schwang in seiner Stimme mit. Teer ersetzte das Blut in Yuris Adern. Es schien so langsam zu fließen, dass kalter Schwindel ihn packte. Hilflos klammerte er sich an der Tischplatte fest, froh, dass Otabek nicht in seine Richtung sah. Natürlich störte sie nicht. Er chattete ja schließlich nur mit seinem besten Freund. Bester Freund. Hämisch wiederholten sich die Worte in seinem Kopf. Bester Freund. »Hast du die Unterlagen gefunden? … Gut, warte ich sehe mal nach.« Aus dem Augenwinkel sah Yuri, wie Otabek sich erhob und aus seinem Sichtfeld verschwand. Papier raschelte, Schritte hallten über den Laminatboden. Otabeks Stimme wurde undeutlicher, aber dennoch konnte Yuri die Freude darin hören, während er selbst nur noch schreien und seiner Wut freien Lauf lassen wollte. Aber er war nicht wütend. Wut kannte er und die fühlte sich anders an. Zwar ähnlich unkontrolliert, aber weniger beängstigend. Genau so heiß, aber nicht brennend. Zwar im ersten Moment erdrückend, aber befreiend, sobald sie abflaute. Yuri hingegen hatte das Gefühl, von nun an für immer ein Gefangener zu sein. Eingesperrt in Zellen, auf deren Gitterstäben Freundschaft stand. Aber das wollte er nicht. Er wollte kein Freund sein. Er wollte - »Wann kannst du hier sein?« Hier? Bei ihm? Ruckartig schnellte seine Hand noch vorn. Er hielt es nicht aus, weiterhin diesem Gespräch zu lauschen. Überraschend kontrolliert schloss er den Chat, ohne sich zu verabschieden. Es waren die letzten Sekunden, in denen er sich zusammenriss, bevor er mit unvorhersehbarer Wucht seinen Laptop von der Schreibtischplatte fegte. Der Aufprall hallte durch das riesige Zimmer. Ein Geräusch, als würde Glas zerbrechen, das Ratschen von Tapete, als das Kabel die Steckdose halb aus ihrer Verankerung riss. Potya fauchte. Ein dunkler Streifen zierte den zerstörten Bildschirm. Herausgelöste Tasten rollten kreuz und quer über den Boden, winzige Plastiksplitter glitzerten auf den Dielen. Geschockt über sich selbst betrachtete er das Chaos vor ihm. »Fuck!« Er hatte gelogen - vor allem sich selbst gegenüber. Ein Klopfen an der Tür. »Alles okay da drinnen?« Yakov. »G-geht mir gut! Hab nur was fallen gelassen …« »Mach nicht so einen Lärm!« Gedanklich zeigte er ihm dafür den Mittelfinger. Schwere Schritte entfernten sich in Richtung Wohnzimmer. Benommen ignorierte er seinen schrottreifen Laptop und ging ans Fenster, zog es auf. Sanfter Wind brachte seine Haare zum Tanzen. Wie ein Ertrinkender sog er die frische Luft ein, doch das Brennen in seinem Inneren ließ nicht nach, züngelte mit heißen Flammen nur noch weiter nach oben. Er umklammerte den Fensterrahmen so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Sein Smartphone vibrierte.   Otabek Altin - 16.06 17:18 »Alles okay? Du hast den Chat beendet.«   Was sollte er nur tun? Er musste ihm antworten, wenn er keinen Verdacht schöpfen wollte.   Yuri Plisetsky - 16.06 17:20 »Sorry, hier stürmt es. Irgendwas stimmt mit unserem Internet nicht«   Ziemlich solide, im Anbetracht seiner Situation. Eine ziemlich solide Lüge. Er drückte auf Senden, bevor er sich zitternd aufrappelte. Wie ferngesteuert schritt er zu seinem Bett, lehnte sich an das Gestell und zog die Beine an. Was, um Himmels Willen, sollte er jetzt nur machen? Sein Gesicht verschwand zwischen seinen Knien. Gestern noch hatte er seine Tränen verflucht, jetzt wünschte er sie sich verzweifelt herbei. Irgendeinen Katalysator, ein Ventil, um alles heraus zu lassen. Er wollte nicht nur ein Freund sein. Auch nicht der beste. Keine Tränen kamen. Nur Potya, der verwirrt mauzend und offensichtlich besorgt um ihn herumschlich. Er wollte einen Spitznamen. »Fuck!« Plötzlich schien alles so logisch. Dieses unbekannte Gefühl in seiner Brust, das permanente Herzklopfen in seiner Nähe und diese Wut, wenn er sich nicht meldete. Dieser unbegründete Hass auf Zanila „Lina“ Smirnowa. Einem Puzzle gleich setzte sich alles in einer erschütternden Endgültigkeit zusammen. Die Erkenntnis wühlte sich durch seine Rippen - und plötzlich konnte er sich auch seine Eifersucht erklären. Er wollte an ihrer Stelle sein. Unbewusst langte er nach einem Kissen, presste es an seine Brust. Er brauchte etwas, woran er sich festhalten konnte. Etwas, dass ihn vor dem See rettete, in dem er umzukommen drohte. Etwas, worin er sein Gesicht vergraben konnte, wie eine starke Schulter, die ihm Schutz spendete. Eine starke Schulter, die seine stechenden Kopfschmerzen linderte. Wie damals, im Hotelzimmer. Damals, als er mit Otabek auf dem Bett gelegen hatte, die Beine ineinander verknotet, das Sonnenlicht auf seinen Füßen. Damals, als sein Herz wie wild schlug, als warme Finger sein Ohr berührten und eine wilde Strähne zur Seite strichen. Damals, als er geglaubt hatte, dass in dieser sanften Geste irgendeine Gewichtung lag, die sie beide nicht so recht verstanden. »Vielleicht hat es dir nichts bedeutet …« Sein Blick glitt zur Decke und endlich begann der Stuck vor seinen Augen zu verschwimmen. »… Aber mir. Mir schon.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)