»Steig auf!« von Gmork ([ Otayuri ]) ================================================================================ Teil elf: »Auszeit« ------------------- »Der Altin-Junge, hm?« Yakovs Finger drehten das Glas in seinen Händen hin und her. »Scheint in Ordnung zu sein.« »Hmpf.« Yuri saß mit verschränkten Armen da und beobachtete ihn. Obwohl das Gespräch ähnlich ruhig wie das mit Lilia stattgefunden hattte und er wirklich gewillt war auch Yakovs Entschuldigung anzunehmen, fühlte er sich noch immer ein wenig unwohl in seiner Nähe. »Stell dir vor, ist er! Vorausgesetzt man unterstellt ihm nicht irgendeine Scheiße!« Yakov kratzte sich an der kahlen Stelle seines Kopfes, bevor er das Glas auf dem Tisch abstellte. Yuri betrachtete die Eiswürfel, die im flüssigem Bernstein schwammen. Es war gerade einmal fünfzehn Uhr, doch das trübe Wetter ließ den Tag vorzeitig altern. »Im Ernst, Yakov, nur weil Victor und sein Katsudon irgendwelche komischen Sachen treiben, heißt das nicht, dass das gleich auf mich abfärbt, okay? Als ob ich was mit einem Kerl anfange!« Dieser absurde Vorwurf machte ihn noch immer wütend – und trotzdem stach ihn seine eigene Dementierung unangenehm in den Magen. Die Abneigung in seiner Stimme schürte das schlechte Gewissen Otabek gegenüber. »Ich gebe zu, dass ich ein wenig übertrieben habe.« Missmutig kaute Yuri auf seiner Unterlippe herum. Untertriebener konnte man sich wohl kaum ausdrücken. »Was du tust und was nicht, ist allein deine Entscheidung, Junge. Wir wollen nur, dass du in Zukunft deinen Kopf einschaltest. In allen Bereichen.« Die Mahnung in Yakovs Blick ließ Yuri die Augen verdrehen. »Gilt auch für dich, man!« Mangels weißer Fahne, die man herumwedeln konnte, hob er beschwichtigend die Hände. »Aber ja, schon klar: Keine Eskapaden mehr, kein schlechtes Benehmen, kein Rumgefluche und keine Besäufnisse. Ja, ja.« Yakov beobachtete ihn genau, doch Überzeugung sah anders aus, als er mit einem schlichten »Gut« antwortete. »Ich hab‘s Lilia auch schon versprochen und daran halte ich mich! Kann ich dann jetzt auf mein Zimmer?« Resigniert wedelte Yakov mit seiner Hand herum. Yuri erhob sich und streckte seine Glieder, während er ihn dabei beobachtete, wie er erneut das Glas zwischen seinen Fingern zu drehen begann. »Übrigens: So früh schon Whisky zu trinken zeugt auch nicht gerade von gutem Benehmen, Opa.« Mürrisch vernichtete Yakov seinen Drink mit einem tiefen Zug und knallte das Glas zurück auf den Tisch, dass die Vase kurz bedenklich schwankte. »Verschwinde bloß!« Grinsend wandte Yuri sich ab und entfloh aus dem Wohnzimmer. Er spürte, dass alles wieder in Ordnung war. Alle Viere von sich gestreckt, schmiss er sich auf sein Bett. »Was für ein Tag! Selten, dass wir alle mal so eklig lieb zueinander waren. Furchtbar, echt!« Zum ersten Mal seit seiner Ankunft, war seine Lunge wirklich frei zum Atmen. Noch immer hing in seinem Zimmer ein Hauch von Fenchel und Anis. Mit geschlossenen Augen ließ er die Gespräche mit Yakov und Lilia Revue passieren. Besonders die Konversation mit Lilia ließ ihn nicht los. Ihre seltsamen Andeutungen, diese Freundschaft zu wahren ... Was für ein Schwachsinn! Als hätte er jemals etwas anderes vorgehabt! Minuten vergingen, in denen er mit seinen Augen die geschwungenen Muster des Stucks nachzeichnete, wie er es immer tat, wenn er tief im Meer seiner Gedanken trieb. Gerade, als er abdriften wollte, kam ihm ein Gedanke an etwas, dass er den ganzen Tag komplett ignoriert hatte: Sein Smartphone! Deswegen war ihm die Stille in seinem Zimmer so seltsam vorgekommen! Schnell richtete er sich auf und suchte wühlend danach, warf dabei mehrere Kissen und Katzenplüschtiere zu Boden. Wahrscheinlich wartete Otabek schon den ganzen Tag auf seine Berichterstattung! Endlich bekam er es zu Fassen. Als er auf den Home-Button drückte, blieb der Bildschirm schwarz. Akkus hatten auch einmal bessere Arbeit geleistet. Weitere Minuten vergingen, bis er das Ladegerät aus seinem Rucksack hervorgezogen hatte. Erwartungsvoll entsperrte er den Bildschirm, sich auf den Schwall der Vibrationen von eingehenden Nachrichten einstellend. Oder … zumindest einer? »Hmpf.« Sein Smartphone blieb stumm. Otabek hatte sich nicht mehr gemeldet. »Aha. So sehr sorgst du dich also, du Idiot.« Dann würde Yuri halt den ersten Schritt machen.   Yuri Plisetsky – 06.03 15:12 »Ich lebe noch. Gab nicht einmal Hausarrest oder Internetverbot«   Die Antwort blieb aus – eine gefühlte Ewigkeit lang. Um sich abzulenken scrollte Yuri durch Instagram, stalkte seine Konkurrenten, dislikte – aus Prinzip – JJ’s neuestes Video auf Youtube und sah sich neu eingetroffene Shirts mit Tigerprints in seinen Lieblingsshops an. Doch das alles machte nur halb so viel Spaß, wenn man eigentlich nur auf sein Handy starrte, weil man auf etwas wartete. Normalerweise schrieb Otabek innerhalb von wenigen Minuten zurück, doch jetzt hatte er die Nachricht noch nicht einmal gelesen. Gelangweilt sprang Yuri vom Bett und schlüpfte klammheimlich in seinen schwarzen Trainingsanzug. Auf Grund seines Ausflugs in die Kälte hatte Lilia ihm eigentlich vom Training abgeraten – oder es viel eher verboten – doch was war schon gegen ein bisschen Bewegung einzuwenden? Besser, als wenn er den ganzen Tag nur vor sich hingammelte und gar nichts tat. Er wollte nicht stagnieren. Gar nichts zu tun und sich zu langweilen kam nicht infrage – und erst recht würde er seine Zeit nicht wartend verbringen. Mit ein bisschen Glück war er dabei so leise, dass Yakov und Lilia nichts davon mitbekamen.   Tatsächlich ging sein Plan auf. Zwar machte er keine aufwendigen Übungen, aber die Bewegung tat gut. Er trainierte, bis Yakov ihm zum Abendessen rief. Sie saßen gemütlich beisammen und genossen die kräftige Suppe aus Lilias goldenen Händen - vermutlich nur von ihr zubereitet, um eine mögliche Erkältung von Yuri endgültig im Keim zu ersticken. Nichts erinnerte noch an die hochexplosive Stimmung des Vortages. Yuri war sogar so entspannt, dass er sich auf eine Runde Durak einließ: Ein beliebtes Kartenspiel in Russland, bei dem es keinen Gewinner gibt, nur einen Verlierer. Ziel des Spieles ist, sämtliche Karten abzulegen. Derjenige, der am Ende noch Karten auf der Hand hat ist der Narr und verliert somit das Spiel. Bis spätabends saßen sie zusammen, lachten miteinander und fluchten andererseits bei unvorteilhaften Karten. Besonders Lilia verstand es, immer im richtigen Moment die richtige Karte abzulegen. Auch wenn die Atmosphäre der Gemütlichkeit eines Familienabends glich, verflog Yuris Gelassenheit schnell. Beim gefühlt hundertstem Blatt, dass unmöglich einen Vorteil versprach, warf er resigniert die Karten auf den Tisch und beide Arme nach oben. Für heute reichte es ihm, jedoch konnte er es sich durchaus vorstellen Abende solcher Art zu wiederholen. Kurzerhand verabschiedete er sich von Yakov und Lilia, wünschte eine gute Nacht und machte sich auf den Weg in sein Zimmer. Als er die Tür hinter sich zuzog, fiel sein Blick auf sein Smartphone, das noch immer auf seinem Bett lag. Die winzige, blaue Benachrichtigungsleuchte blinkte auf, kaum zu sehen und trotzdem zog sie Yuris Aufmerksamkeit sofort an. Endlich. Seltsam, irgendwie hatte er seit des Trainings nicht mehr an Otabek gedacht. Ein ungewohntes Gefühl. Er ließ sich aufs Bett fallen und öffnete den Chat.   Otabek Altin – 06.03 21:52 »Ich hatte viel zu tun, deswegen antworte ich erst jetzt. Klingt nach guten Nachrichten, dann bin ich beruhigt.«   Gott sei Dank blieb er höflich genug, um den Gesprächsablauf nicht detailliert zu hinterfragen. Yuri atmete erleichtert auf. Wahrscheinlich hätte er es nicht über sich gebracht, ihm von Yakovs und Lilias Interpretation zum Bankett zu erzählen. So ersparte er Yuri diese Unannehmlichkeit.   Yuri Plisetsky – 06.03 22:55 »Danke! Ja, hier läufts richtig gut! Haben sogar nach dem Abendessen zusammen Karten gespielt … schon irgendwie komisch O_O«   Diesmal rutschte Otabeks Status beinahe sofort auf online.   Otabek Altin – 06.03 22:56 »Wieso komisch?«   Yuri kratzte sich am Kopf. Ja … wieso eigentlich? Er brauchte ein paar Minuten, um darüber nachzudenken.   Yuri Plisetsky – 06.03 23:01 »Weiß auch nicht … Irgendwie sind sie mir meistens immer nur auf den Sack gegangen. Aber … man, die können richtig nett sein! Ich hab mich heut zum ersten Mal richtig wohl bei ihnen gefühlt >.<«   Otabek Altin – 06.03 23:03 »Schön, dass eure Aussprache so viel gebracht hat. Freut mich für dich.«   Yuri Plisetsky – 06.03 23:04 »Danke :D Lilia hat sogar gesagt, dass ich ab morgen schwierigere Sprünge in mein Kurzprogramm und in meine Kür einbauen kann! Das ist so geil :O«   Otabek Altin – 06.03 23:04 »Ich bleibe gespannt.«   Yuri Plisetsky – 06.03 23:05 »Musst du nicht! Erwarte einfach das Beste xD Aber ich muss jetzt pennen. Morgen geht’s schon früh los >.<«   Otabek Altin – 06.03 23:07 »Dann schlaf gut. Genieß die gute Stimmung bei dir! Bis demnächst.«   Yuri Plisetsky – 06.03 23:07 »Du auch! Bis morgen :)«   Während er in lockere Schlafsachen stieg, bevor er in sein Bett kroch, dachte er über diese Konversation nach. Irgendwie … hatte es sich anders angefühlt, als in den letzten Tagen. Ohne komisches Kribbeln im Bauch, kein unangenehmes ziehen in seinem Zwerchfell. Kein seltsames Surren zwischen seinen Augen, sondern … normal. Wie früher. Wie vor seinem Urlaub bei ihm. Ein eigenartiges Gefühl durchströmte ihn und es dauerte einen Augenblick, bis er es einordnen konnte: Erleichterung. Wenn er geglaubt hatte, dass er seltsame Empfindungen für Otabek hegen könnte, dann hatte er sich gehörig getäuscht. Noch nie war er in jemanden verliebt gewesen, ein Yuri Plisetsky verfiel nicht einfach so jemandem – erst recht nicht einem Mann. Und am allerwenigsten Otabek. Sie waren Freunde, die besten sogar. Niemals würde dort etwas anderes sein.  Er fühlte es mit jeder Pore seines Körpers. Dieser Tag, der so dramatisch gestartet war, hatte eine überaus glückliche Wendung genommen. Zufrieden deckte er sich zu und umarmte sein Kissen, vergrub sein Gesicht darin.   Innerhalb zweier Monate kehrte der Alltag zurück. Yuri wurde in einen Strudel aus Training, Hausaufgaben, Klausuren und Ballett gerissen. Er lief auf Hochtouren. Seine Fortschritte im Eiskunstlauf konnten besser nicht sein, dennoch fehlte ihm die Zeit, um auf der faulen Haut zu liegen. Nicht einen Tag lang. Für ihn hatte eine anstrengende Phase seines Lebens begonnen, denn neben der Perfektionierung seiner Laufprogramme, musste Yuri sich auch ganz besonders auf die Schule konzentrieren. Nächstes Jahr würde er die elfte Klasse abschließen und schon jetzt waren Fehler ein absolutes No-Go, wenn er sein Staatexamen bestehen wollte. Doch Gott sei Dank rückte der 25. Mai - der offizielle letzte Schultag, bevor die Sommerferien begannen - in greifbare Nähe, und bis dahin bekam er eine Menge Hilfe von Lilia, Otabek, ja, sogar von Victor. Lilia gab ihm Nachhilfe in Rechtschreibung und Grammatik, Victor hämmerte ihn Zahlen, Daten und Fakten der russischen Geschichte ein und Otabek war via Skype zur Stelle, wenn Yuri an Mechanik und Thermodynamik verzweifelte. Die Zeit war anstrengend, aber brachte auch Freude. Seine Chats und Telefonate mit Otabek genoss er mehr, als jemals zuvor. Nach nur wenigen Tagen, seit seiner Rückkehr nach Sankt Petersburg, war dieses zwiespältige, irritierende Gefühl ihm gegenüber vollkommen abgeklungen – und auch alles andere. Keine nervösen Zuckungen mehr, keine verschwitzten Hände, kein unangenehmes Ziehen in seinem Magen. Alles war wie früher, wie vor seinem Aufenthalt in Almaty. Leider auch das Fernweh und die Tatsache, seinen besten Freund nur via Laptop sehen zu können. Keine Zockerabende, keine Ausflüge an versteckte Seen. Besonders diese abenteuerlichen Motorradfahrten fehlten ihm. Allerdings gab es auch Tage, an denen Otabek online war, aber nichts von sich hören ließ. Manchmal konnten Stunden vergehen, während er auf sein Smartphone starrte und eine Antwort abwartete. Er versuchte es nicht persönlich zu nehmen, zerbrach sich dennoch den Kopf.  Meistens gelang ihm das, ab und zu jedoch nicht. Dann war da eine geladene Menge heißer Wut in seinem Bauch, deren Herkunft er sich nicht erklären konnte und die erst verging, sobald er eine Antwort bekam. Und an besonders stressigen Tagen, wenn die Stille ihn einholte und er sich vor den anstehenden Klausuren fürchtete, fand er nur Schlaf, wenn er sein Gesicht in einer Ecke des Kissens vergrub und Arme und Beine darum schlang, als würde er sich an jemandem festhalten.   Schweißgebadet wachte er auf. Das rote Licht seines Weckers zeigte vier Uhr morgens an. Mittwoch, der 25. Mai. Heute erfuhr er die Ergebnisse der letzten Prüfungen. Schon allein der Gedanke daran ließ seinen Magen aufquellen, obwohl er das Schlimmste bereits überstanden hatte – und das anfangs sogar mit dem guten Gefühl, die Prüfungen nicht vollkommen verhauen zu haben. Und trotzdem war der Moment gekommen, als die Angst vor dem Versagen ihn einholte. Sie schwamm wie ein sich windender Aal durch seinen Brustkorb. Sich die Augen reibend schaltete er den Wecker aus, bevor er klingeln konnte, und schlürfte aus dem Zimmer. Einschlafen war jetzt eh keine Option mehr, also sprang er unter die Dusche und stieg zwanzig Minuten später mit geföhnten Haaren und trockenen Anziehsachen in seine Laufschuhe, um seiner Aufregung beim Joggen den Kampf anzusagen. Obwohl sich der Sommer ankündigte, waren die Nächte kalt. Nur sehr langsam schlich sich die Sonne am Horizont hervor. Erst, als Yuri den kleinen See erreichte, entfalteten die ersten Sonnenstrahlen zaghaft ihr mildes Licht. Der Anblick beruhigte ihn und die Stille tat ihr Übriges. Als er nach einer knappen Stunde heimlich zurückkehrte, fühlte er sich besser. Trotzdem musste er sich sein Frühstück regelrecht hineinzwingen. »Die Schule endet heut recht früh, oder?« Er versuchte seinen trockenen Hals mit Kakao zu bekämpfen, als er Yakovs fragenden Blick erwiderte. Eigentlich konnte man den der 25. Mai nicht wirklich „Schultag“ nennen. Sie bekamen ihre Zeugnisse und waren damit entlassen. »Mhm.« »Willst du danach direkt in die Eishalle?« »Mhm.« Nur Schweigen konnte noch weniger aussagen, aber Yuri hoffte darauf, dass Yakov und Lilia Verständnis für seine Situation aufbrachten. Tatsächlich sagten sie nichts weiter dazu. Das Angebot ihn zur Schule zu fahren, schlug Yuri dankend aus. Lieber fuhr er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, als im Auto wie auf heißen Kohlen zu sitzen. Während er zum zweiten Mal des Tages seine Schuhe anzog, vibrierte sein Smartphone in seiner Jackentasche. Gleich zwei Personen schrieben ihm, fast im selben Moment.   Victor Nikiforov 25.05 7:32 »Hey Yurioooo Yuuri und ich drücken dir die Daumen für dein Abschlusszeugnis! Wir sehen uns nachher in der Eishalle! ¸.•´ ¸.•*´¨) ☆.(¯`•.•´¯)«   Yuri verdrehte die Augen, unterdrückte aber erfolglos ein Grinsen.   Otabek Altin – 25.05 7:34 »Viel Erfolg heute. Aber den hattest du wahrscheinlich schon.«   »Hoffen wir’s ...« Zu nervös, um beiden zu antworten, ließ er das Smartphone zurück in die Tasche gleiten, zog dann die Haustür auf und brüllte noch ein »Bis später!« in den Flur, in Richtung des Esszimmers. Leider ging die Fahrt zur Schule deutlich zu schnell vorbei. Das Gebäude schien ihn bedrohlich zu mustern, doch Yuri ließ sich nicht weiter einschüchtern und schritt mit erhobenem Haupt in sein Klassenzimmer. Das wilde Gequassel seiner Mitschüler ging ihm auf die Nerven, schuf aber wenigstens Ablenkung. Vor wenigen Stunden hatte er die Stille noch begrüßt, jetzt fürchtete er sich davor. Trotzdem konnte er ihr Einkehren nicht abwenden, als seine Klassenlehrerin das Zimmer betrat. Schlagartig verstummten die Gespräche, gespannte Blicke fixierten den Umschlag in ihren Händen. Da waren sie also. Die Prüfungsergebnisse. Selbstverständlich ging seine Lehrerin nach dem Alphabet. Warum nur musste sein Name mit einem P beginnen? Die Zeit schien beinahe rückwärts zu laufen und ihn von innen aufzufressen. Er konnte nicht sagen, ob ein paar Minuten oder eine Stunde vergangen war und stand mittlerweile so sehr unter Adrenalin, dass er den Aufruf seines Namens nicht mitbekam. »… lisetsky? Möchten sie ihr Zeugnis nicht haben?« Gelächter ließ ihn aufschrecken, doch ein giftiger Blick reichte, um es größtenteils verstummen zu lassen. Mit Knien, die sein Gewicht kaum tragen konnten, ging er nach vorn. Tief durchatmend setzte er sich auf den freien Platz gegenüber vom Lehrerpult. Sie lächelte ihn an, er erwiderte es dünn – zumindest versuchte er es. Gott sei Dank war Lilia gerade nicht anwesend, sodass er ungestört an seinen Fingernägeln knibbeln konnte. »Sie haben ganze Arbeit geleistet.« War das gut oder schlecht? Er wagte kaum einen Blick auf das Dokument, das sie ihm entgegenstreckte. »So schüchtern kennt man Sie sonst gar nicht.« Und schon war es vorbei mit der Selbstbeherrschung. Schnaubend riss er es ihr aus der Hand und während sein Blick über die Ergebnisse flog, weiteten sich seine Augen. Fünfer und Vierer blinkten ihm entgegen, sogar in Physik hatte er es auf eine Vier geschafft. Schockiert und erleichtert gleichermaßen umklammerte er mit schwitzigen Fingern das Dokument. Das war eines seiner besten Zeugnisse … und das obwohl er eigentlich permanent am Smartphone gehangen und nicht immer aufgepasst hatte. »Wow, das … krass!« »Da Sie selbst überrascht sind, wissen Sie höchstwahrscheinlich auch, in welchen Punkten sich ihr Verhalten ändern muss. Wenn sie sich in Zukunft weniger ablenken lassen, könnten Sie einer der Besten aus dem Jahrgang werden.« Verlegen strich er sich eine wilde Strähne hinters Ohr, zwirbelte sie zwischen seinen Fingerkuppen. »Hmpf. Ja, mal sehen.« Er wollte nur in einer Sache der Beste sein: Und zwar im Eiskunstlauf. Trotzdem war er Lilia, Victor und Otabek dankbar, denn nur durch deren Unterstützung war er so weit gekommen. Jetzt war sein Lächeln ehrlich, als er sich erhob und auf seinen Platz zurückkehrte. Die letzten schleppenden Minuten nutzte er, um Otabek zu antworten.   Yuri Plisetsky – 25.05 9:13 »ICH HAB BESTANDEN MIT NER FUCKING VIER IN PHYSIIIIIIK :D :D :D :D :D :D :D Danke nochmal!«   Erwartungsvoll blickte er auf sein Smartphone. Otabek war laut Chat online, aber es kam keine Antwort. Sein Blick blieb starr auf den Bildschirm geheftet, bis das Läuten der Schulglocke ihn aufschrecken ließ. Um ihn herum brach Hektik aus, sämtliche Mitschüler schwangen sich ihre Rucksäcke über die Schultern und strömten wie ein Insektenschwarm aus dem Zimmer. Er nickte seiner Klassenlehrerin zum Abschied zu und verließ ebenfalls das Gebäude. Während alle anderen wie wild geworden in die Sommerferien rannten, waren seine Schritte langsam. Freudenschreie, Gelächter und Fußgetrappel um ihn herum. Einige rempelten ihn versehentlich an. Die meisten stiegen in die wartenden Autos ihrer Eltern, Yuri sah manchen von ihnen nach und machte sich dann auf den Weg zur Straßenbahn, die ihn zur Eishalle trug. Er lehnte seinen Kopf an die kalte Fensterscheibe und versuchte den Neid auf die anderen, der ihn im Nacken saß, zu verdrängen. Auch wenn er sich auf das Training freute, sehnte er sich insgeheim nach sonnigen Urlaubstagen ohne Schlittschuhe an den Füßen. Natürlich gäbe es jetzt während der Ferien die Möglichkeit dazu, doch irgendetwas hielt ihn ab. Vielleicht das schlechte Gewissen, weil er das Eislaufen vernachlässigen würde? Außerdem hatte er eh nichts gebucht und jetzt war es wahrscheinlich schon zu spät. Die letzten Monate hatten aus acht Stunden Schule, acht Stunden Training und eventuell acht Stunden Schlaf bestanden. Dazwischen war nicht viel Zeit gewesen, um über unwichtige Sachen, wie Urlaub, nachzudenken. Jetzt bereute er es ein wenig. Und Otabek antwortete ihm auch nicht. Obwohl mit dem Beginn der Sommerferien eine große Last von ihm fallen sollte, fühlte er sich nicht befreit. Im Gegenteil, die Wände der Eishalle schienen näher, als jemals zuvor. Trotzdem stieg er in seinen Trainingsanzug, zog sich die Schlittschuhe fest. Bevor er aufs Eis ging, wählte er die Nummer von seinem Zuhause. Es klingelte und klingelte, aber niemand nahm ab. Das war ungewöhnlich. Schließlich sprang der Anrufbeantworter an. Ein paar Sekunden vergingen, in denen Yuri ratlos schwieg. Schließlich beschloss er, ihnen eine Nachricht zu hinterlassen. Wahrscheinlich waren sie nur einkaufen oder machten andere Sachen, die Erwachsene so taten. »Hey. Also … ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich alle Prüfungen bestanden hab. Noten sind gut. Ich bin in der Eishalle und trainiere. Komme irgendwann abends nach Hause, also … bis später.« Seltsamerweise war die Eishalle wie ausgestorben. Nur wenige Junioren trainierten. Nirgendwo konnte er Victor oder sein Katsudon ausmachen. Stank er, oder warum waren die alle auf der Flucht? Grummelnd wärmte er sich auf, dehnte sich, lockerte die Muskeln, bevor er aufs Eis stieg und die ersten Bahnen zog. Die nächsten Stunden vergingen, ohne dass sich jemand bei Yuri meldete. Yakov und Lilia riefen nicht an, Victor und sein Schweinchen tauchten nicht auf … Otabek schrieb nicht zurück. Mit jeder Stunde, die unspektakulär verstrich, wucherte Unkraut gleich, mehr und mehr der Frust in ihm. »Fuck!« Sich das Knie reibend blieb er einen Moment auf der Eisfläche liegen. Wann hatte er diesen Sprung zuletzt versemmelt? Er wusste es nicht, aber es musste Monate her sein. Und er brauchte verdammt lang, um wieder aufzustehen. Schnaufend glitt er zur Bande, angelte sich seine Wasserflasche hervor. »Nichts gebrochen?« Die Flasche fiel zu Boden und der Inhalt verteilte sich über das Eis. Fluchend drehte Yuri sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Victor saß auf einem der Plätze, das Gesicht auf beiden Händen abgestützt, ein unbekümmertes, besonnenes Lächeln auf den Lippen. »Verdammt! Man ey, das war mein letztes Trinken, du Arsch!« Er bückte sich nach der Flasche. »Warste beim Zahnarzt, oder warum grinst du so dämlich?« Victor hob zur Entschuldigung nur beide Hände, bevor er sich aufrichtete und die wenigen Stufen zu Yuri herunternahm. »Yurio. Ich freue mich auch dich zu sehen!« Wütend löste Yuri seinen Pferdeschwanz auf. »Was willst du hier und seit wann sitzt du schon da?« »Och, nur knappe zwanzig Minuten. Ich wollte dich abholen. Ach ja, Glückwunsch zu den bestandenen Prüfungen!« »Häh, woher weißt du das?« Victor zwinkerte ihm zu. »Yakov hat’s mir erzählt.« Wütend verschränkte er die Arme. »Hmpf. Dir davon erzählen können sie, aber mich mal zurückrufen ist wahrscheinlich zu viel verlangt.« Er konnte mittlerweile kaum noch verstecken, dass er sich eigentlich auf das Lob der anderen gefreut hatte und enttäuscht war, dass es niemandem wirklich zu interessieren schien. »Sei nicht knarzig, sie hatten etwas zu erledigen. Kommst du?« »Häh? Mein Training ist noch nicht zu Ende! Ich bleibe noch!« Zum ersten Mal erlebte er, wie Victor das Gesicht verzog. »Ich habe dir zugesehen. Nicht falsch verstehen, aber du hattest schon bessere Tage. Deine Pirouetten sind unkontrolliert, deine Sprünge unsauber. Du musstest dich das letzte Mal vor Jahren mit den Händen bei der Landung abstützen.« Yuri ballte die Hände zur Faust. »Na und! Dann hab‘ ich halt ‘nen schlechten Tag, kann dir doch egal sein!« Deutlich unbeeindruckt winkte Victor ab. »Weißt du, ich hatte diese Tage auch. Meistens nach Wettkämpfen und Weltmeisterschaften. Wochen- nein, monatelang läuft man auf Hochtouren und wenn alles vorüber ist, sollte man sich eigentlich richtig gut fühlen und nur so vor Motivation strotzen. Stattdessen vergeigt man einen Sprung nach dem anderen … Aber ich glaube das ist normal. Irgendwann braucht jeder eine Auszeit.« Resignierend ließ Yuri sich auf einen Platz fallen, behielt die Schlittschuhe allerdings an. »Aha. Danke für diese tolle Geschichte. Kommt da noch was?« Victors Lächeln kehrte schnell zurück. »Yuuri und ich fliegen nach Hasetsu, um ein wenig auszuspannen.« Hasetsu … Auch wenn er dort seinen ersten Sieg gegen das Schweinchen eingebüßt hatte, verband er tolle Erinnerungen mit diesem Ort. Der Gedanke an die idyllische Kleinstadt mit dem Tempel, dem Wasserfall und den Onsen, die zum Familienbetrieb der Katsukis gehörten, ließ Nostalgie in ihm aufsteigen. Schade, dass er nie dorthin zurückgekehrt war, anders als Victor und Yuuri. Und da war es wieder – dieses Gefühl von vorhin. Es grub sich mit tiefen Zähnen in seine Brust. Neid. »Wow, schön für euch. Und warum erzählst du das jetzt?« Nur Victor verstand es, bei seinen harschen Worten nicht beleidigt oder verunsichert zu sein. »Na, weil du mitkommst.« »Häääääh?« Victor richtete sich auf. »Ich hab doch gesagt ich bin hier, um dich abzuholen. Also zieh dich um, dann machen wir los.« Unglaube fesselte Yuri an die Bank. Seit wann stand das fest? Warum wusste er von nichts? Hatten sie das etwa heimlich geplant? Er war so überrumpelt davon, dass ihm jede schnippische Erwiderung im Halse stecken blieb. »Jetzt guck doch nicht so! Beeil dich lieber!« Eine schlanke Hand streckte sich ihm entgegen. Der goldene Verlobungsring glitzerte in der Sonne. Yuri war noch immer nicht in der Lage rational zu denken – was wohl auch erklärte, dass er sie tatsächlich ergriff und sich auf die Füße ziehen ließ. »Aber … wann geht’s denn los?« Ein Blick auf die Uhr, bevor Victors Augenbrauen nach oben wanderten. »Lass mich überlegen. Ah, etwa in zwei Stunden.« »Wie jetzt, in zwei Stunden, habt ihr ‘ne Scheibe?« Ruckartig zerrte Yuri sich die Schlittschuhe von den Füßen. »In zwei Stunden krieg ich gar nichts gerissen, weder zu duschen, noch meinen Koffer zu packen! Wessen bescheuerte Idee war das? Ihr habt sie doch nicht mehr alle!« »Freut mich, dass du dich freust. Dein Koffer ist bereits gepackt.« Victor griff nach Yuris Tasche und warf sie sich über die Schulter. »Na los, außer du willst hierbleiben.« Seine Worte zeigten ihre Wirkung. Yuri gab sich Mühe auf Socken mit ihm Schritt zu halten, auch wenn er das alles noch nicht so ganz realisierte. »Also, wer hatte die Idee?« Victor entriegelte bereits seinen Wagen, öffnete die Tür und stieg ein. »Yuuri. Er hat gesehen wie du dich in den letzten Wochen reingehangen hast, und da wir eh nach Hasetsu wollten, hat sich das angeboten. Freust du dich gar nicht?« Auch Yuri ließ sich in die weiche Polsterung sinken. Genussvoll streckte er die Beine aus. »… Hey, doch. Klar! Ich bin nur überrascht.« »Das war der Sinn dahinter.« Mit diesen Worten drückte Victor das Gaspedal durch und schlängelte sich durch den Ferienverkehr von Sankt Petersburg. Bei seiner sonst so besonnenen Art vergaß Yuri immer wieder, wie wild und zügellos er hinter dem Steuer war. »Aber, was hättet ihr getan, wenn ich abgelehnt hätte?« Victors Lachen hallte durchs Auto. »Wir hätten dein Ticket storniert und dir die Gebühren aufgebrummt.« »Hmpf.« Yuri glaubte keine Sekunde, dass er scherzte. Gerade als er antworten sollte, begann sein Smartphone zu vibrieren. Das konnten nur Yakov und Lilia sein! Ohne auf das Display zu sehen zog er es hervor und nahm den Anruf an. »Das habt ihr euch ja wirklich toll ausgedacht!« Kurzes, verdutztes Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Nun … ich bin mir keiner Schuld bewusst.« Nur diese Stimme schaffte es, dass Yuri schlagartig so rot anlief, als hätte man seinen Kopf in einen Eimer Farbe getunkt. »Äh … Otabek?« »Am Apparat.« »Wow, äh, mit dir hab‘ ich gerade nicht gerechnet.« Aus dem Augenwinkel sah er, wie Victor anzüglich mit seinen Augenbrauen wackelte. Yuris stumme, aber durch Herumfuchteln beider Arme Ausdruck verleihende Drohung prallte offensichtlich an ihm ab. »Was gibt’s denn?« »Ich wollte dir gratulieren. Und was hat die Person verbrochen, mit dessen Anruf du eigentlich gerechnet hast?« »Danke! Ja, naja. Ich werde gerade spontan nach Hasetsu entführt. Für, äh …« Sein Blick ging zu Victor, dessen Augenbrauen noch immer verräterisch zuckten. »Wie lange eigentlich, alter Mann?« »Zwei Wochen.« Yuri sprach wieder in den Hörer. »Hast du gehört? Für zwei Wochen. Die labern hier alle rum, dass ich angeblich mal Urlaub brauche … Aber ich freu mich schon drauf.« »Das klingt … toll.« Klang es das wirklich? Otabeks Antwort ließ eher auf das Gegenteil schließen. Yuri konnte nicht verhindern, dass ihm das Herz in die Hose rutschte. »Aber damit erübrigt sich der zweite Grund meines Anrufes schon wieder.« Yuris Schulter sackten nach unten. »… Oh. Tut mir leid. Was ist denn los?« »Ich bin nächste Woche spontan für zwei Tage in Russland und hatte gehofft, dass wir uns sehen können.« Ihr Gespräch glich einem Staffellauf. Erst schwieg Otabek, bevor er die Stille an Yuri weiterreichte. » … Oh. Wow …« Augenblicklich war die Freude über den spontanen Ausflug wie weggewischt und Victors fragender Blick machte es nicht besser. »Man, das stinkt mir jetzt aber gewaltig.« Ein tiefes Durchatmen. Er klang nicht sauer. »Ist ja nicht deine Schuld. Vielleicht ein anderes Mal.« »Auf jeden Fall!« Ruckartig bog Victor in Lilias Einfahrt ein. Die Tür stand sperrangelweit offen und die Hektik spürte er schon, obwohl sie noch im Auto saßen. »Mist, ich muss jetzt auflegen. Sorry, dass ich dich jetzt so abwimmle.« »Keine Sorge. Ich wünsch dir einen guten Flug. Pass auf dich auf.« »Klar doch! Ich schreib dir, sobald ich angekommen bin.« »Gut. Bis dann.« Und schon ertönte nur noch das Freizeichen in seinem Ohr. Verwirrt steckte Yuri sein Smartphone ein, bevor er Victor folgte und aus dem Wagen stieg. Wie bereits angekündigt stand sein Koffer bereits gepackt im Flur. Die Gratulationen zum Prüfungserfolg nahm er nur am Rande wahr. Wenn sie den Flieger nicht verpassen wollten, mussten sie sich ranhalten, also sprang er direkt unter die Dusche, um den Schweiß seines Trainings abzuspülen. Trotz der Vorfreude lag seit dem Telefonat mit Otabek ein Schatten über dem bevorstehenden Ausflug. Zu gern hätte er ihn wiedergesehen und diese verpasste Chance tat ihm beinahe körperlich weh.   Das Schicksal meinte es gut mit ihnen, denn sie erreichten den Flughafen pünktlich. Victor und sein Katsudon verabschiedeten sich überschwänglich von Yakov und Lilia und auch Yuri ließ sich zu einer Umarmung der beiden hinreißen, die sonst in ihren gemeinsamen Alltag eher knapp ausfielen. Jedoch fand er keine Ruhe, denn sobald sie im Flieger saßen und Yuri aus dem Fenster sah, während das Album NOX in seinen Ohren dröhnte, drängte sich eine Frage an die Oberfläche, an die er bis gerade eben keinen einzigen Gedanken verschwendet hatte: Was zur Hölle hatte Otabek in Russland zu suchen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)