»Steig auf!« von Gmork ([ Otayuri ]) ================================================================================ Teil zehn: »Tellerrand« ----------------------- Yuri Plisetsky war ein Kämpfer mit scharfen Zähnen. Er biss sich durchs Leben und stellte sich allen Herausforderungen mit erhobenem Haupt. Abgesehen von den alltäglichen Dingen, die jeder irgendwo fürchtete, ließ er sich von nichts und niemandem einschüchtern. Trotzdem fühlte er eine drückende Beklemmung in seiner Brust, als seine Füße ihn zurücktrugen und tiefe Spuren im Schnee hinterließen.   Durchgefroren klingelte er an der Tür. Dem überstürzten Aufbruch sei Dank führte er weder Handy noch Schlüssel mit sich. Aber er schätzte, etwas über eine Stunde unterwegs gewesen zu sein. Weitaus mehr, als vorgehabt und das spürte er nun. Er konnte sich kaum rühren, betätigte erneut die Klingel und flehte den Himmel an, dass die Haustüre sich doch endlich öffnete. Prompt wurde er erhört. Yakov stand vor ihm. Yuri wusste nicht, wer von den beiden schlimmer gewesen wäre. »Mach Platz, alter Mann.« Unwirsch drängte er sich an ihm vorbei. Abweisung ließ seine Stimme triefen. Seltsamerweise ließ Yakov es geschehen, trat sogar freiwillig beiseite. Yuri wollte ihn weder sehen noch hören, kickte sich die Schuhe von den Füßen und steuerte sofort sein Zimmer an - nur um gleich in das nächste unerwünschte Gesicht zu blicken. Lilia saß in einem Sessel neben seinem Bett. Auf dem runden Beistelltisch stand eine Kanne mit Tee, dazu zwei Tassen auf schrecklich kitschigen Untersetzern. Es roch nach Fenchel und Anis. Potya thronte auf ihrem Schoß und ließ sich die schwarzen Ohren kraulen, während sie sich elegant einschenkte, ohne ihn dabei anzusehen. Die Aura, die sie ausstrahlte, knisterte durch das Zimmer. Yuri stand wie angewurzelt da. Vielleicht war Yakov ihm doch lieber. Sie nippte und nickte den Geschmack ab, bevor sie die Tasse zurückstellte. »In die Wanne. Ich warte hier.« Ihre Stimme klang so kalt wie an den ersten Tagen ihres Kennenlernens. Sie deutete auf sein Bett. Als Yuri ihrer Bewegung folgte, sah er dort frische, trockene Kleidung. Sie kannte ihn wohl schon zu gut, um zu wissen, dass er jetzt keine ruppige Erwiderung wagen würde. Schlurfend trottete er durch den Raum und schnappte sich die herausgelegten Sachen. Er hasste es, wie klein er sich in ihrer Gegenwart fühlte. Aber er gehorchte. Dieser Ton verhieß nie etwas Gutes und konnte noch weitaus Schlimmeres, als Hausarrest und Internetverbot nach sich ziehen. »Du hast zwanzig Minuten.« Sein Blick heftete sich auf das Parkett in Fischgrätenmuster, als er das Zimmer verließ und lautlos die Tür hinter sich schloss. Im Bad drehte er mit noch immer klammen Händen den Wasserhahn auf, entkleidete sich mühselig. Seine Glieder und Gelenke waren steif vor Kälte. Nach kurzer Überlegung tat er einen Badezusatz dazu, der angeblich die Muskeln lockern sollte. Punkt zwanzig Minuten später kehrte er leise in sein Zimmer zurück, aufgewärmt, aber unentspannt. Er fürchtete sich vor dem Gespräch. Lilia saß noch immer an Ort und Stelle, nur Potya war auf sein Bett geflüchtet. Zögerlich nahm er ihr gegenüber Platz, verfolgte ihre Bewegungen. Sie schenkte nun auch ihm Tee ein. Ihr dezentes Parfum streifte seine Nase. Irgendetwas blumiges, er vermutete Rosen. Nach all der Zeit wusste er noch immer nicht, ob er den Geruch mochte.  Sie schob ihm die Tasse zu. Der stummen Aufforderung folgend nahm er einen Schluck, verzog dann das Gesicht und stellte das viel zu heiße Getränk gleich wieder ab. Sie schlug die Beine übereinander, ihre feingliedrigen Finger verschränkten sich. Yuri schrumpfte unter ihrem forschenden Blick zusammen. »Hast du dir die Zunge verbrannt?« Er wusste nicht, ob die Frage ernst oder sarkastisch gemeint war, denn er brachte noch immer kein Wort heraus. Vielleicht wollte sie auch nur das Eis zwischen ihnen brechen. Er entschied sich für ein bestätigendes Brummen und betonte seine Antwort mit einem Nicken. »Du hast es schon immer zu eilig gehabt. Vorhin hast du genau das wieder demonstriert.« »Hmpf.« Unschlüssig verschränkte er die Arme, wartete. Noch immer waren die Worte in seinem Kopf nur ein schmieriger Klumpen auf seiner Zunge, doch Lilia ignorierte seine Verlegenheit gekonnt und begann mit ihrer Zurechtweisung. »Bevor wir über die Geschehnisse der letzten Tage sprechen, möchte ich dir Eines vorneweg sagen: Ein solches Verhalten wie heute Morgen dulde ich kein zweites Mal. Sollte ein derartiges Benehmen erneut vorkommen, ziehen Yakov und ich die entsprechende Konsequenz.« Beschämt begann er auf der Innenseite seiner Wange zu kauen. Er mochte impulsiv sein und gern über die Stränge schlagen, doch er konnte nicht abstreiten, dass er mit dieser Aktion zu weit gegangen war. Er hatte die beiden aus vollem Halse angebrüllt. Und dabei geflennt. Wahrlich kein Benehmen, das duldsam war, nicht einmal für seine Verhältnisse. »Bei Minusgraden mit kaum Stoff am Leibe und nassen Haaren das Haus zu verlassen ist unverantwortlich. Du hast deine Gesundheit aufs Spiel gesetzt und dich damit in Gefahr gebracht.« Erneut nippte sie an ihrem Tee.  Die Ruhe in ihrer Stimme wirkte seltsam ironisch. »Du bist alt genug, um über dein Handeln nachzudenken, selbst in Ausnahmesituationen. Also übernimm endlich Verantwortung für dich selbst. Andernfalls schließen wir dich aus allen kommenden Wettbewerben für dieses Jahr aus.« Das saß. Ihre Worte schnitten durch seine Haut. Zwischen seinen Augen wummerte es und schlagartig wurde ihm übel. Einer derartig klaren, warnenden Ansage war er bis jetzt immer entkommen. Bis jetzt. Seine Unterlippe begann zu zittern, so sehr strengte es ihn an, die erneuten Tränen zurück zu halten. Das war wirklich ein fieses Blatt, mit dem sie gegen ihn spielte, kein Ass der Welt konnte ihn jetzt noch zum Sieg verhelfen. Und wie überzeugt war er davon, dass sie davon wirklich Gebrauch machen würden, sollte er sich nicht zusammenreißen. Aber … irgendetwas war anders. Irgendetwas … fehlte. Er war an Lilias Rügen gewöhnt, auch wenn sie ihm nie schmeckten, doch heute hatte sie zwar über seine Verantwortungslosigkeit geschimpft, aber noch kein Wort über sein generelles Verhalten an diesem Morgen verloren. »Haben wir uns verstanden?« Plötzlich war ihre Stimme sanft. Eine Mischung aus Verwunderung und Neugierde ließ ihn den Kopf heben. Auch wenn sie ruhig sprach, forderte sie ihn mit ihrem Blick zum Antworten auf. Seine Kehle war trocken und zwang ihn mehrmals zu schlucken, bevor er ein Wort herausbrachte. »…. Ja.« »Sehr schön.« Ihre harten Gesichtszüge erweichten. Potya schien zu spüren, dass das Schlimmste überstanden war, denn er kehrte zurück zu ihr und rollte sich auf ihrem Schoß zusammen. Normalerweise hing sein Kater regelrecht an ihm, doch in Lilias Gegenwart war Yuri wie vergessen. »Aber … das war … na ja … alles?« So recht konnte er das nicht glauben. »Kein Ärger, weil ich euch angebrüllt habe?« Sie sah ihn forschend an. »Ich vermute, dass es dir leidtut.« Zumindest, was Lilia anging, stimmte das. Aber die Wut auf Yakov war noch immer nicht verflogen. Trotzdem nickte er schuldbewusst. »Braucht es nicht.« »Häh?« Das war ihm zu hoch. Sonst hatte er sich für jedes falsche Wort verantworten müssen und jetzt sagte sie ihm, dass es in Ordnung war? Yuri verstand die Welt nicht mehr und offenbar sah man ihm das auch genau an. Lilia schmunzelte kurz über seinen wahrscheinlich sehr verdatterten Gesichtsausdruck, bevor ihr Blick aus dem Fenster glitt und plötzlich melancholisch wurde, als schwelgte sie in Erinnerungen. Eine seltene intime Seite, die sie ihm offenbarte. Es war eigenartig sie so zu sehen. Yuri ahnte, dass er jetzt lieber den Mund halten sollte, also schwieg er. Er schwieg und wartete. Sein Blick heftete sich an ihre langen, geschwungenen Wimpern, unter denen ihre sonst so strengen Augen ungewohnt entspannt dreinblickten. »Damals, in der Ballettschule, hatte ich eine gute Freundin: Anisa. Sie und ich waren die besten Tänzerinnen unter den Junioren. Allerdings hielten wir nicht viel von Regeln und gutem Benehmen. Anisa noch weniger, als ich. Sie war regelrecht rebellisch. Das Mundwerk immer viel zu lose, aber sie konnte es sich leisten. Ihr Talent war einzigartig.« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Noch nie hatte sie irgendetwas von ihrer Vergangenheit preisgegeben. Normalerweise interessierte er sich nicht für die sentimentalen Geschichten von Erwachsenen – ausgenommen die seines Großvaters – doch er ertappte sich dabei, regelrecht an ihren Lippen zu hängen. Diese plötzliche Anekdote aus ihrer Jugend überraschte ihn und zog ihn in ihren Bann. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was hier gerade geschah. Lilia fuhr indessen unbeirrt fort und ignorierte seine Verwirrung. Ihre Hände strichen liebevoll durchs Potyas Fell, der sich mit schnurrenden Lauten dafür bedankte. »Jedenfalls war sie unter unseren Tanzgenossinnen nicht sehr beliebt, weil sie immer besser war, als all die anderen und dazu nie ihren Mund halten konnte. Immer ehrlich und direkt.« Beiläufig trank sie aus ihrer Tasse, den kleinen Finger damenhaft in die Luft gestreckt. Der Blick, den sie ihm dabei zuwarf, ließ ihn erstarren und schnürte ihn am Stuhl fest. »Du erinnerst mich ein wenig an sie.« Hitze erklomm sein Gesicht. Seine Hände suchten nach Beschäftigung, um sein Unbehagen zu dämpfen. Schnell griff er nach seiner Tasse und trank daraus, obwohl er keinen Durst hatte. Er wusste nicht, ob man das als Kompliment verstehen konnte. »Anisas Talent war Fluch und Segen zugleich. Kein anderes Mädchen bekam je die Hauptrolle, wenn sie auch am Vortanzen teilnahm. Es schürte Eifersucht bei den anderen. Sie wollten sie loswerden, also haben sie einen Diebstahl inszeniert. Eines Tages kam eines der Mädchen weinend in den Probesaal gestürmt und klagte ihr Leid über ein angeblich gestohlenes … Irgendwas. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, was es überhaupt war. Höchstwahrscheinlich irgendein Spielzeug. Natürlich haben wir alles abgesucht: Den Probesaal, hinter der Bühne, die Umkleiden, die Duschen. Nichts. Bis das Mädchen plötzlich, sehr überzeugend am Boden zerstört, auf meine Freundin deutet und sagt, dass Anisa schon immer neidisch darauf gewesen wäre und sie sich sicher wäre, dass sie es ihr gestohlen hätte. « Ein tiefes Seufzen kam aus dem Inneren ihrer Brust. Ihre Augen verdunkelten sich und plötzlich wirkte sie traurig und ungewöhnlich zerbrechlich. Yuri spürte etwas, das er ihr gegenüber noch nicht kannte: Mitgefühl. »Und wie ging es weiter?« Die angespannte Stimmung zwischen ihnen hatte sich in Luft aufgelöst. »Unsere Trainer waren im Zugzwang, also mussten wir damals alle unsere Taschen ausleeren. Und wie der Zufall es so wollte, ist man bei Anisa fündig geworden. Der Plan schien aufgegangen, alles hat darauf hingedeutet, dass Anisa es gestohlen hat. Alle waren gegen sie, selbst unsere Trainer. Ich muss gestehen, dass sie mit ihrem früheren Verhalten auch nicht gerade zu ihrer Glaubwürdigkeit beigetragen hatte. Sie war eben verpönt. Aber ich wusste sofort, dass sie im Unrecht waren. Trotzdem konnte ich nichts tun. Die Eltern des angeblich bestohlenen Mädchens sind angerufen worden, denn ein solches Verhalten war bei uns natürlich nicht erwünscht. Die Konsequenz wurde schnell gezogen: Anisa sollte aus der kommenden Aufführung ausgeschlossen werden. Sie hatte die Hauptrolle.« Yuri rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Eine ziemlich harte Strafe, die auch ihm heute beinahe das Genick gebrochen hätte. Unvorstellbar, dass es auch jemandem passieren konnte, der unschuldig war. »Ich kann mich noch genau an meine Reaktion von damals erinnern: Ich bin aufgesprungen und habe die Erwachsenen angeschrien, dass das andere Mädchen gelogen hat. Ich glaube, so wütend war ich vorher noch nie gewesen. Wütend und enttäuscht darüber, dass man meine Freundin für etwas anklagte, dass sie nicht getan hatte, ohne einmal über den Tellerrand hinauszusehen. Immerhin war auch den Trainern aufgefallen, dass man Anisa bewusst schnitt und sie nicht akzeptiert wurde. Dass man sie offensichtlich loswerden wollte. Und sie einfach damit durchkommen zu lassen, konnte ich nicht hinnehmen. Ich hatte Tränen in den Augen.« Ein Moment des Schweigens verging. Beide saßen still da und tranken ihren Tee. Potyas Schnurren war verstummt, nur seine Ohren zuckten leise im Schlaf. Schließlich stellte Lilia ihre Tasse ab. Die Keramik entfachte eine melodische Reibung auf dem Untersetzer. »Vielleicht verstehst du jetzt, warum deine Reaktion heute Morgen gar nicht so unangebracht war, wie du denkst.« Yuri kratzte sich am Kopf. Wenn er ehrlich war: Nein. Außer, dass Lilia offenbar eine ähnliche Situation durchmachen hatte müssen, wie er, wenn auch in einem völlig anderen Kontext. Aber der Geistesblitz fehlte noch. Sie wartete, doch als er nicht antwortete, beugte sie sich nach vorn. Ihr Blick richtete sich wachsam auf ihn. »Erzähl mir von deinem Urlaub bei Otabek Altin.«  Yuri biss sich auf die Lippe, suchte in ihren Augen nach Argwohn, Misstrauen. Doch sie schien nicht auf der Lauer zu liegen, nicht nach Anzeichen zu suchen, die sie später gegen Otabek verwenden könnte. Er fand nur pure, überraschende Neugierde. Es machte sie glatt zwanzig Jahre jünger. Und ihn brachte es aus dem Konzept. »Äh … alles jetzt, oder wie?« »Das wäre schön. Ich habe dir eine meiner Geschichten aufgezwungen, also darfst du das jetzt auch.« »Du hast mir gar nichts aufgezwungen … Es war echt spannend dir zuzuhören. Aber ich versteh nicht, was du mir damit sagen willst.«  »Ich bin auch noch nicht fertig. Aber jetzt bist du an der Reihe.« Ihr Blick schweifte wieder aus dem Fenster. »Über ein Jahr wohnst du jetzt schon hier. Irgendwie haben wir uns immer nur über Ballett und Eiskunstlauf unterhalten. Das ist zwar mein Job, aber jetzt sind wir privat, unter uns. Eine Abwechslung wäre schön. Außerdem mag ich deine Gesellschaft.« Yuri konnte ein schmales Lächeln nicht unterdrücken. Ihm ging es nicht anders. In ihrer Gegenwart fühlte er sich angenehm sicher, ähnlich wie bei seinem Großvater. Welch Schande, dass sie diesen Schritt nicht schon früher gemacht hatten. Er lehnte sich zurück und begann zu erzählen. Trotzdem zog er sich seine Kapuze über den Kopf, um sich sicherer zu fühlen. Wenn sich die Zunge einmal lockerte, waren Worte unaufhaltsam. Anfangs schüchtern erzählte er ihr von ihrem Kennenlernen, über die absurde Situation von der Flucht vor den Yuri’s Angels, die ihre Freundschaft erst hatte aufbrechen lassen, bis zu ihrem letzten Ausflug an den See. Lilia lauschte ihm aufmerksam, unterbrach kein einziges Mal. Als er beim Bankett angelankt war, zögerte er, unschlüssig darüber, wie er das vernünftig darstellen konnte. Aber all das Grübeln half nichts und schließlich rückte er mit der Wahrheit raus. »Ich … ich hab mich unmöglich genommen. Das weiß ich mittlerweile. Ich … wollte nur meinen letzten Abend mit ihm genießen. Und meinen Sieg feiern. Außerdem kam jeder Idiot mit ‘nem Sektglas zu mir und ich kann so ziemlich jeden Scheiß saufen, ohne —« Er unterbrach und räusperte sich, spähte entschuldigend zu Lilia herüber. »Ich vertrag eigentlich ‘ne Menge, aber Champagner gehört wohl nicht dazu. Ich wusste es nicht. Und Otabek auch nicht. Als er bemerkt hat, wie daneben ich war, hat er mich gleich in mein Zimmer gebracht und sich um mich gekümmert. Eigentlich wollte er abhauen, aber ich … hab ihn angebettelt zu bleiben. Er hat auf mich aufgepasst, falls ich … na ja falls ich hätte kotzen müssen oder so. Aber alles gut. Am nächsten Tag hat er mir ‘ne Schmerztablette besorgt und für mich ausgecheckt. Und das war’s.« Zumindest fast. Doch er brachte es nicht über sich, ihr die komplette Geschichte dieses Morgens zu erzählen. Schon allein, damit sie sich nicht doch noch ein schlechtes Bild von Otabek machte. Und weil er sich selbst nicht eingestehen wollte, dass seit jenem Morgen jeder Gedanke an Otabek Panik in ihm auslöste. Nervös wartete er auf eine Reaktion, doch Lilia übte sich in Schweigen. Mit geschlossenen Augen strich sie sich über ihr Kinn, schien die Situation innerlich zu bewerten. Die Stille begann unangenehmen Druck auszuüben und als Yuri es kaum noch aushielt, lächelte sie ihn endlich an. »Ein netter junger Mann. Und ein Gentleman noch dazu.« Er atmete schwer aus. Seine Finger verknoteten sich. »Also … du glaubst mir?« Lilia lehnte sich zurück und schlug ein Bein übers andere, plötzlich wieder geschäftig wirkend. Potya erwachte und sprang von ihrem Schoß. »Ich muss gestehen, dass ich anfangs ähnliche Gedanken und Sorgen hatte, wie Yakov. Dass dein Freund eventuelle Situationen falsch ausgenutzt haben könnte.« Schlagartig wurde Yuri rot, er war im Begriff hochzufahren und Konter zu geben, doch Lilia hob die Hand und unterbrach ihn. »Verdenke es uns nicht. Auch wir waren mal jung und du bist in einem Alter, wo ein solches Interesse völlig normal ist.« Er wusste, dass sie es gut mit ihm meinte, aber gerade fühlte er sich mehr als unwohl. Hitze schien sein Gesicht regelrecht zu zerkochen. Niemals vorher hatte er auch nur einen Gedanken über Aktivitäten solcher Art verschwendet. Fand hier gerade ein „Aufklärungsgespräch“ statt? Er hoffte nicht. Wenn dem wirklich so war, würde er im Erdboden versinken müssen. »Wir sind deine Vormünder und für dich verantwortlich. Wir sind streng, ja, aber nur weil wir besorgt sind und dein Bestes wollen. Yakov ist allerdings über das Ziel hinausgeschossen, deinem Freund einfach so etwas zu unterstellen und deine Reaktion darauf hat Bände gesprochen. Ich habe mein Teenager-Ich darin wiedererkannt. Dieser entsetzte, wütende Gesichtsausdruck, die Tränen und auch die Enttäuschung. Ich muss damals, als man Anisa den Diebstahl vorgeworfen hatte, ähnlich dreingeschaut haben. Kein Schauspieler der Welt könnte so eine Reaktion glaubhaft heucheln. Ich wusste sofort, dass wir die Lage falsch eingeschätzt hatten. Wir haben nicht über den Tellerrand gesehen und das tut uns leid.« »Hm.« Wo er eben noch wie ein Wasserfall hatte reden können, fand er nun keine Worte mehr. Er wusste nichts zu erwidern. Dabei hatte doch er selbst nicht über den Tellerrand geblickt, sondern seine Trainer als unehrenhaft abgestempelt, weil sie ihm angeblich nicht vertrauten. Auf den Gedanken, dass sie sich nur um ihn sorgten, wäre er niemals gekommen, jedenfalls nicht von allein. Eigentlich war er Derjenige, der ihnen Unrecht getan hatte. Es fiel ihm schwer, sich dies klarzumachen, doch er gestand es sich ein. Dankbarkeit spießte ihn auf, nur um die Wunde gleich wieder heilen zu lassen. Seine Zunge lag wie ein Schwamm in seinem Mund, der sich mit Schuldgefühlen vollgesogen hatte. »Ich … « Er begann an seinen Fingernägeln zu knibbeln – das tat er oft, wenn er sich unwohl fühlte. »Tut mir leid, dass ich so arschig war.« Ihre Hand legte sich auf seine und unterbrach sein Tun. Unter vielen Dingen mochte sie es am wenigsten, wenn er seine Fingernägel ohne Schere kürzte, oder – noch schlimmer – daran mit den Zähnen knabberte. »Es ist okay. Lassen wir Gras darüber wachsen.« Mit diesen Worten erhob sie sich und strich sich unnötigerweise ihre perfekt sitzende Bluse glatt. Auch Yuri stand auf, stellte die leeren Teetassen zurück auf das Tablett. Die Kanne war leer. Die Wärme war von Yuris Füßen bis in seine Zehenspitzen vorgedrungen. »Lilia … wie ist das mit Anisa ausgegangen?« Die Hand bereits an der Klinke, drehte sie sich zu ihm um. Sie schien überrascht über diese Frage und brauchte einige Sekunden, bis sie antwortete. »Anisa und ihre Eltern haben sich diesen Vorwurf nicht gefallen lassen. Sie sind in eine andere Stadt gezogen und haben sich eine neue Ballettschule und neue Sponsoren gesucht. Ich habe sie danach nicht mehr oft gesehen.« Ein Schleier legte sich über ihre Augen. Yuri glaubte, dass Anisa ihr fehlte. Wie er sich wohl fühlen würde, wenn Otabek so plötzlich wieder aus seinem Leben verschwand?  Otabek … »Vermisst du sie?« Lilia lächelte, doch es wirkte zu bemüht, um echt zu sein. »Nach all den Jahren, tue ich das manchmal tatsächlich noch. Ich hatte danach nie wieder eine Freundin wie sie. Aber ich war selbst schuld. Ich habe mich zu sehr auf meine Karriere konzentriert und dabei aus den Augen verloren, dass es kostbarere Dinge im Leben gibt.« Yuri glaubte zu wissen, was sie meinte. »Ab heute reiße ich mich zusammen und baue keinen Mist mehr. Versprochen. Ich will keine Enttäuschung mehr sein.« Die Worte waren draußen, ohne, dass er es verhindern konnte. Sie sah ihn an, hob ihre Hand und strich ihm eine Strähne hinters Ohr, ließ Yuri unwissentlich erschaudern. »Ich weiß. Aber verliere nicht den Blick für das Wesentliche. Mache nicht den gleichen Fehler wie ich und hüte diese Freundschaft.« Yuri wusste nicht, ob sie etwas von seinen zwiespältigen Gefühlen zu Otabek ahnte. Aber selbst, wenn es so war, blieb sie höflich und diskret genug, um nichts dazu zu sagen. Trotzdem fühlten sich ihre Worte wie ein weiser Ratschlag an, einer unterschwelligen Botschaft gleich. Ihre Hand ruhte kurz auf seiner Wange, dann ließ sie von ihm ab. »Yakov wusste nicht, wie lang unser Gespräch dauert, deswegen wartet er im Wohnzimmer. Er würde sich gern entschuldigen. Tu mir den Gefallen und geh zu ihm.« Yuri nickte. »Okay ...« Aber zuerst würde er versuchen seine guten Vorsätze gleich umzusetzen und das Teeservice in die Küche bringen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)