»Steig auf!« von Gmork ([ Otayuri ]) ================================================================================ Teil sieben: »Bankett« ---------------------- Die Reibung der Kufen drückte feine Spuren in das Eis und hinterließ einen sonoren Schauer in seinen Ohren. Sanft und gleichmäßig, eine Melodie ohne Klang. Sie existierte nur in seinem Kopf. Beiläufig verfolgte er die sanften Linien und stellte sich vor ein Gemälde mit ihnen zu zeichnen, vertiefte manche, einige kreuzte er mit anderen. Wie wohl das Resultat aussah? Wie könnte es auf andere wirken? Und was würde er darin sehen? Der Klang öffnete seine Arme und ließ ihn den Kopf in den Nacken werfen. Unbewusst wich er anderen aus, als er verschiedene Sprünge probte. Selbst der vierfache Toeloop war heute kein Problem. Die Schrittfolgen waren tief wie ein Anker in seinem Gedächtnis, so tief, dass er ihren Ablauf kaum realisierte. Seine Augen schlossen sich, als er einen Wirbelsturm aus Pirouetten entfachte. Erst als er stand, stieß er die angehaltene Luft aus, keuchend, mit den Armen hoch in die Luft gestreckt. Stille um ihn herum. Niemand lief mehr. Er hatte das Eis für sich allein, obwohl sich noch viele andere in der Halle aufhielten. Jeder einzelne Platz im Publikum war besetzt. Seine Augen streiften erstaunte Gesichter. Yakov, Lilia, Victor, Katsudon, andere Kontrahenten. Ihre Aufmerksamkeit stach durch seine Brust. Und als würde sich ein unsichtbarer Schalter umlegen, Flutete mit dem Applaus der Zuschauer die Musik sein Bewusstsein. Agape. Unbewusst hatte er sich von seinem Gefühl treiben lassen und herausgekommen war Agape. Dieses Gefühl, was er damals bei seiner Performance vermisst hatte, es durchströmte ihn nun. Wärme trieb bis in seine Fingerspitzen. Ein Feuer wütete in seiner Brust. Es fühlte sich falsch an. Schnaufend glitt er zur Bande und erstach die Gaffer mit seinen Blicken. »Nix zu tun, oder was?« Wie auf Stichwort kam Bewegung in die Eishalle. Sportler betraten die Eisfläche und führten ihre Aufwärmübungen fort, andere probten ihre letzten Sprünge vor dem Showdown. Viele davon warfen ihm verstohlene Blicke zu und fraßen ihn damit auf. Bekannte Gesichter aus anderen Turnieren. Er ignorierte sie, trampelte an Yakov und Lilia vorbei und zog etwas zu Trinken aus seiner Tasche. Das stille Wasser löschte das Feuer in ihm nur kurz, die Glut glomm weiter und stieß Funken hervor. »Das war richtig gut, Junge!« Yakov trat an ihn heran und legte eine Hand auf seine Schulter. »Hmpf. Nix Besonderes. Agape halt.« Auf die Bank hinabgesunken stützte er seinen Kopf mit einer Hand, schenkte den folgenden Worten kaum Gehör. »Das sollte zur Aufwärmung reichen. Lauf gleich nur so wie gerade eben, dann hast du die besten Chancen.« Yuri unterdrückte ein Schnauben. Das waren seit gestern die ersten freundlichen Worte, die er zu hören bekam. Yakov konnte seine Wut nur jämmerlich schlecht verstecken. Und wie wütend er auf Yuri war, weil er sich die drei Tage bei Otabek kein einziges Mal gemeldet hatte. Aber Yuri kannte es nicht anders. Sie keiften sich an, Yuri lief eine grandiose Kür und alles war wieder in Butter. Als würde er sich mit seinem Talent von Yakovs Groll freikaufen können. Es kotzte ihn an. »Ich hab‘ gestern schon beim Kurzprogramm den ersten Platz gemacht, also tu‘ mal nicht so, als ob das was Neues wäre!« Er befestigte die Schoner an den Kufen seiner Schlittschuhe und schüttelte wie nebenbei Yakovs Hand ab. Unwirsch zog er den Reißverschluss seiner Trainingsjacke höher. »Ich geh nochmal raus.« Lilia nickte er kurz zu, dann wandte er sich um, gerade als Otabek die Halle betrat. Beinahe sofort kreuzten sich ihre Blicke. Peinlich berührt und nicht wissend weswegen, beobachtete Yuri, wie er auf ihn zukam. Gott sei Dank hatte sich Yakov bereits zurück zu seiner Ex-Frau gesellt. »Hey.« Otabek hob zum Gruß die Hand. »Hey.« Yuri ließ seine stattdessen in den Taschen seiner Jacke verschwinden. »Bist ganz schön spät dran! Die Aufwärmphase ist gleich vorbei. Ich glaub dein Trainer wartet auch schon auf dich.« Er konnte den Vorwurf in seiner Stimme nicht so recht verbergen. Eigentlich war abgemacht gewesen sich zusammen aufzuwärmen. Forschend betrachtete er die dunklen Schatten unter seinen Augen. »Du siehst ganz schön beschissen aus. Etwa doch erkältet?« Yuri war froh, dass das Schicksal es offenbar gut mit ihm gemeint hatte, denn nach einem heißen Bad in der vergoldeten Wanne seines Luxuszimmers war alles wieder okay gewesen und er hatte gestern und heute ohne Einschränkungen trainieren können. Wie es bei Otabek aussah, wusste er allerdings nicht. »Nein. Ich habe nur zu lang gearbeitet und den Wecker nicht gehört.« Yuri verzog das Gesicht. Dass Otabek während der heißesten Phase des Turniers noch arbeiten ging, sorgte für Unverständnis. Außerdem stieß ihm der Gedanke, dass er sich geweigert hatte ihn mitzunehmen, noch immer sauer auf. Er wollte nicht weiter darüber nachdenken. »Mhm, ach so. Dann beeil dich jetzt lieber.« Nur ein Nicken und schon ging Otabek an ihm vorbei. Anstatt wie geplant frische Luft zu schnappen, folgte Yuri ihm zur Eisfläche. Sich auf der Bande abstützend beobachtete er, wie er ruhig seine Bahnen zog. Wie wohl seine Kür werden würde? Sein Thema dieser Saison war Sieg. Welche Schlacht er wohl gewonnen hatte? Yuri war zu feige, um dem auf den Grund zu gehen. Sein eigenes Thema war Freundschaft, aus offensichtlichen Gründen. Zum ersten Mal glaubte er, wirklich konform mit seinen Programmen zu sein. Anders, als letztes Jahr. Wirre Gedanken bekamen Flügel und tanzten in seinem Kopf. Von all den Kurzprogrammen und Küren war Agape mit Abstand das schwierigste Stück für ihn gewesen. Selbst die Liebe zu seinem Großvater hatte ihn nur bedingt weiterhelfen können. Und heute … Wo kam diese Leichtigkeit her? Warum erst jetzt? In seinem Kopf wütete das Feuer erneut. Er glaubte eine Antwort gefunden zu haben, doch die gefiel ihm ganz und gar nicht. »- ins Gesicht geschrieben!« »Psst!« Seine Antennen meldeten ihn, dass über ihn geredet wurde und sein Kopf ruckte zur Seite. Er blickte in zwei Gesichter mit völlig unterschiedlichen Ausdrücken: Katsudon ertappt, Victor hingegen … irgendwie wissend. Sie standen ebenfalls an der Bande und beobachteten die anderen Läufer.  Schauder erklomm seinen Körper. »Was?« Seine Stimme schnitt Glas. »Nichts, Yurio. Schon gu-« Katsudon hob beschwichtigend seine Hände, doch Victors Hand auf seinem Mund erstickte mögliche Schlichtungsversuche im Keim. »Uns ist nur aufgefallen, wie beschwingt du vorhin Agape dargeboten hast. Wer hat dir denn diese Flügel verliehen, hm?« Victors Blick huschte scheinbar unbeabsichtigt zu Otabek. Zwischen Yuris Augen blitzte es. »Was laberst du für ‘ne Scheiße, alter Mann?« Victor schmunzelte, der überlegene Zug noch immer im Gesicht. Katsudons Versuche ihn zum Schweigen zu bringen, wischte er einfach weg. »Ich interpretiere nur.« »Ach ja? Dann interpretiere mal lieber, wie ich dein Schweinchen nachher vom Eis fege, du blöder Penner!« Seine Hand ballte sich zitternd zur Faust. Es brodelte in ihm. »Hm.« Victor strich sich mit einer Hand übers Kinn und lächelte ihn an, keine Spur von Verunsicherung zeigte sich. »Mit dieser neuen Leidenschaft könntest du fast eine Chance haben.« »HALT DEIN MAUL ODER ICH STOPF DIR MEINE FAUST BIS ZUR SCHULTER INS GESICH-« Der Griff an seinen Schultern war nicht schmerzhaft, aber fest genug, um ihn ruckartig zum Schweigen zu bringen. Schwer atmend stellte er fest, dass er zum zweiten Mal binnen weniger Minuten die gesamte Aufmerksamkeit der Halle für sich hatte. Die Stille vibrierte. Innerlich beschämt starrte er Viktor weiterhin an, vermied peinlich genau den Blick in eine andere Richtung. »Yuri Plisetsky. Mitkommen, sofort.« Lilias schlanke Finger gruben sich noch immer in seine Schultern, als sie ihn umdrehte und vom Schauplatz wegführte. Er hatte keine Chance und ergab sich seinem Schicksal. Yakov wäre ihm jetzt viel lieber gewesen, aber der stand nur mit verschränkten Armen da und machte keine Anstalten ihnen zu folgen. Mit seinem Anschiss konnte er umgehen, mit Lilias Kummer über sein Verhalten allerdings nicht. Erst, als sie gehörigen Abstand zwischen sich und das Eis gebracht hatten, hob sie ihre Stimme. »Seit wann lassen wir uns wieder auf solche Töne herab? Ich dachte es wäre Schluss mit dieser grässlichen Angewohnheit.« Ihr strenger Ton war nur Fassade. Yuri hörte deutlich die Verbitterung heraus. »Du enttäuschst mich.« Da war es. Dieses schmerzhafte Ziehen in seiner Brust. Die traurige Wahrheit allerdings sah so aus, dass er sich nie verändert und vor Lilia nur so getan hatte. »… tut mir leid.« Ohne Gegenwehr ließ er sich auf einen der Sitzplätze in der Trainerloge drücken. »Aber Victor-« »Deine Erklärungen interessieren mich nicht. Ich dulde dieses Benehmen nicht. Nach deiner Kür wirst du dich entschuldigen und zwar ohne Widerrede.« Die plötzliche Härte ihrer Worte prallte auf seinen Nacken. Er knirschte mit den Zähnen und schluckte seinen Protest herunter. Erst jetzt ließ sie von seinen Schultern ab. Ihre Finger wanderten zu seinem Kopf und lösten vorsichtig den Gummi, der sein Haar zusammenhielt. Er ließ es geschehen, genoss das Gefühl der Haarbürste, die langsam einige Strähnen entwirrte und die Sanftheit, mit der sich ihre Finger in sein Haar flochten. Nur sie durfte das. Ihre zarten Berührungen wirkten wie Streicheleinheiten und entspannten seine Schultern. All die Wut über Victor floss aus ihm heraus. »Tut mir leid.« Er wiederholte es, weil es stimmte. »Ich weiß.« Ein letztes liebevolles Zurechtzupfen und schließlich fühlte Yuri, wie Lilia seinen frischen Zopf mit einer Klammer nach oben steckte. »Dieses Verhalten entwürdigt dich. Du bist mehr wert und das weißt du.« »Ja …« Wusste er das? So sicher war er da nicht. »Die Aufwärmphase ist vorbei. Du läufst als Vierter.« Hinter ihrem kunstvoll geschminkten Gesicht konnte Yuri eindeutig Gefühle erkennen, die an Mütterlichkeit erinnerten. »Zeige mir und all den anderen deine Schönheit.« Seine Schultern strafften sich. »Werde ich.« Ein letztes Mal strich sie eine lose Haarsträhne hinter sein Ohr, dann lächelte sie fast unsichtbar und wandte sich ab. Yuri blieb allein in der Trainerloge zurück. Nur mäßig interessiert verfolgte er Phichit Chulanont, der mit seiner Kür den Auftakt darbot. Er war talentiert, aber keine Konkurrenz, um die er sich Sorgte. Das sah beim Katsudon schon anders aus. Noch immer stand das Schweinchen unter den Fittichen von Victor Nikiforov. Was die beiden privat miteinander trieben interessierte ihn nicht, jedoch spürte man deutlich, wie das Schweinchen unter Victors Aufmerksamkeit regelrecht aufblühte. Er hatte Teile der neuen Kür bereits in Russland gesehen und musste sich wirklich ranhalten, um ihn zu überholen. Es könnte noch knapper werden, als beim Grand Prix im Jahr zuvor. Und es wurmte ihn zusätzlich, dass Victor mit seinen Worten vorhin irgendeinen Nerv getroffen hatte, dessen Existenz Yuri sich bis zu dem Zeitpunkt gar nicht bewusst gewesen war. Er wusste nicht warum, aber er fühlte sich dadurch schrecklich angreifbar, obwohl Victor es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht einmal böse gemeint hatte. Eine Bewegung neben sich. Jemand ließ sich auf den Platz rechts neben ihn fallen. Yuri blickte starr nach vorn und versuchte ihn nicht in die Augen zu sehen. Sein Ausbruch war ihm mittlerweile schrecklich peinlich, besonders, weil er es auch mitbekommen hatte. »Wieder beruhigt?« Yuri glaubte Belustigung zu hören und schnaubte leise. »Ja. War nichts weiter.« Otabek suchte in seinem Gesicht nach der Wahrheit und trieb Hitze in seine Ohren. Scheinbar fand er nichts, denn er wandte seinen Blick wieder zur Eisfläche, die das Katsudon nun in Beschlag nahm. »Willst du nicht näher ran?« Das Blut in seinen Ohren rutschte augenblicklich zu seinen Füßen. »Äh, was?« Otabeks rechte Augenbraue wanderte nach oben. »An die Eisfläche. Katsuki läuft gleich.« Ach so. Gott, wie sehr er plötzlich seine Kapuze vermisste, die er sich sonst immer über den Kopf ziehen konnte. »Manchmal drückst du dich echt bescheuert aus!« Ohne eine Antwort abzuwarten stand er auf und ging zur Bande. Otabek erreichte ihn gerade als der Applaus für das Schweinchen einsetzte. Beide verfolgten seine Performance mit Interesse. Stimmige Schrittfolgen, emotionale Musik, hochwertige Pirouetten. Da machte es auch nichts, dass beim letzten Sprung – dem vierfachen Flip - seine Hand das Eis streifte. »Er ist gut.« Yuri schnaubte, konnte aber nicht widersprechen. »Ja, schon.« Aus dem Augenwinkel beobachtete er Otabek, der, obwohl er bereits der Nächste war, völlig tiefenentspannt an der Brüstung lehnte. »Bist du nicht aufgeregt?« Er löste den Blick vom Katsudon und fixierte stattdessen ihn, ein schmales Lächeln auf den Lippen. »Nein.« Der aufkommende Applaus und die Jubelschreie vom Publikum schnitten Yuris Erwiderung ab. Sich wappnend streifte Otabek seine Trainingsjacke von den Schultern. Yuri staunte, wie elegant er in dem schlichten burgunderroten Hemd aussah. Es stand ihm ausgezeichnet und verlieh ihm etwas Royales. Wie ein König, wie ein Sieger. Er starrte ihn an. »Bis gleich.« Otabek verließ die Loge. Erst als er in der Mitte der Eisfläche stand, erwachte Yuri wieder zum Leben. So schnell seine Füße ihn trugen folgte er ihm, sprang halb über die Bande und versuchte mit seiner Stimme den Lärm vom Publikum zu übertönen. »BEKA! DAVAI!« Beka?! Bist du komplett verblödet im Kopf? Ihm brach der Schweiß aus. Seit wann nannte er ihn denn so? Jetzt wünschte er sich doch, leiser als das Publikum gewesen zu sein. Otabek sah ihm direkt ins Gesicht und reckte antwortend seinen Daumen nach oben, die Miene wie gewohnt stoisch. Was und wie er darüber dachte, blieb im Verborgenen. Die Musik setzte ein und Yuris Nackenhaare richteten sich auf, als er sie sofort wiedererkannte. Ein Stück aus eines der unzähligen Spiele, die sie an ihrem ersten Abend in Otabeks Wohnung gespielt hatten. Nur nebenbei registrierte er von den Moderatoren, dass das Stück den Namen Revived Power trug. Otabeks Bewegungen waren kraftvoll und trotzdem von fließender Geschmeidigkeit. Es erinnerte ihn an den Protagonisten aus dem Spiel, der im Laufe der Geschichte riesige Kreaturen aus eigener Kraft bezwingen musste. Diese Musik hatte oft eingesetzt, wenn sie kurz davor waren, ihr Ziel zu erreichen. Und wie sehr Yuri ihn angefeuert hatte, bei jedem Schuss aus Pfeil und Bogen, bei jedem Hieb mit dem Schwert. Furchtlosigkeit zeichnete sein Gesicht, als er Sprung für Sprung stand, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Jeder Flip, jeder Toeloop, jeder Salchow war ein Titan, den er bezwang. Er vollführte die letzte Pirouette mit beiden Armen in der Luft, kam schließlich zum Stehen. Während die Menge um ihn herum explodierte, blieb Yuri still und brachte kein Wort heraus. Bevor er ihn erreichen konnte, wurde Otabek bereits vom Eis geführt, um auf seine Punktzahl zu warten. Ihre Blicke trafen sich, doch Yuri war noch immer so überrumpelt von dieser Performance, dass er nicht einmal ein Lächeln schaffte. Endlich wurden die Ergebnisse durchgegeben. Otabek hatte insgesamt sagenhafte 300,59 Punkte erreicht und so einen neuen persönlichen Rekord aufgestellt  – damit lag er auf dem zweiten Platz, direkt hinter dem Katsudon, dass sich tatsächlich an die Spitze befördert hatte. »Wow. Respekt.« Niemand hörte Yuris leise Anerkennung, die Menge tobte noch immer um ihn herum. Einige Sekunden vergingen, bis er abermals eine Hand auf seiner Schulter spürte. Lilia und Yakov waren zu ihm getreten. »Es geht los.« Yuri nickte nur. Routiniert öffnete er seine Jacke und offenbarte sein Outfit. Wie Otabek trug er eine schlichte schwarze Hose und dazu ein elegantes weißes Hemd, das halb aufgeknöpft den Blick auf ein enges, samtschwarzes Top freigab. Die Ärmel waren bis zur Hälfte nach oben gekrempelt. Auf dem Rücken prangte ein Tiger in Schwarzweiß. Noch immer sah er Lilias schockiertes Gesicht vor sich, die sich ein typisch feminines Outfit vorgestellt hatte, wie er es sonst immer trug. Doch Yuri hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht und sich von seiner Vorstellung nicht abbringen lassen. Er war lange genug nach ihrer Pfeife getanzt. Das war sein Auftritt, seine Kür. Nur einmal wollte er alleine über sich selbst bestimmen. Schließlich, nach langen Diskussionen hatten Yakov und Lilia schließlich eingesehen, dass sie verloren hatten und ihn dabei unterstützt. Tief durchatmend betrat er das Eis. Als ihn die Moderatoren ankündigten, schwoll der gerade erst abgeflaute Applaus erneut an. Viele riefen seinen Namen, schrien Davai!s in seine Richtung. Er deutete eine Verbeugung an und als er sich aufrichtete, blickte er direkt in Otabeks dunkle Augen. Er stand an der Bande und reckte den Daumen nach oben. Sein Davai blieb stumm, aber er hörte es trotzdem, las es von seinen Lippen und nickte. Es fühlte sich so an, wie schon vorhin, als er über das Eis glitt. Die Musik nahm ihn an die Hand und führte ihn. Er dachte an Otabeks Motorrad, an die vollen Einkaufstüten und Almatys Schnee, der sich in ihren Haaren verfing. Er sah das Geschenkpapier mit dem Katzenmotiv vor sich, spürte erneut, wie er die letzte Luftblase unter dem Aufkleber zerdrückte. Er dachte an die Musik, die sie zusammen am See gehört hatten und der Geschmack von frischen Piroschki breitete sich auf seiner Zunge aus. Erst diese Erlebnisse brachten Gefühl in seine Choreographie, die bis vor vier Tagen nur auf Telefonaten und Whatsapp-Chats basiert hatte. Erst jetzt fühlte es sich absolut richtig für ihn an. Es durchströmte ihn. Sein Körper leicht wie eine Feder, die Augen geschlossen. Er blieb stehen, beide Arme zur Seite ausgestreckt, die Beine überkreuzt. Erst als er seine Pose auflöste, bemerkte er die Geräuschkulisse um ihn herum. Wildes Gekreische, vermutlich von seinem Fanclub, Klatschen, Jubelgeschrei. Lilia und Yakov holten ihn von der Eisfkäche und führten ihn zur Punktebox. Nebenbei sammelte er noch zugeworfene Katzenplüschtiere auf. Er hatte keine Chance zu sehen, ob Otabek noch an der Bande stand.  Seine erreichte Punktzahl fegte ihn rückwärts von der Bank. 309,56 Punkte. Zwar kein persönlicher Rekord, aber dafür hatte er das Schweinchen erneut vom Siegerpodest gestoßen! Triumphierend riss er seinen Arm nach oben. »Nimm das, Victor!« Nachdem er sich Yakovs Schulterklopfen und Lilias Umarmung abgeholt hatte, machte er sich auf den Weg zurück zur Bande. Wie erwartet waren Victor und Yuuri noch dort. Leicht wiederwillig ging er zu ihnen herüber, blieb mit verschränkten Armen vor ihnen stehen. Eigentlich verspürte er nicht die geringste Lust sich für irgendetwas zu entschuldigen, doch Lilias Worte hallten in seinem Kopf. Er wollte keine Enttäuschung sein, also neigte er pflichtbewusst den Kopf und stellte sich seinem Schicksal. »Yurio! Glückwunsch, das war eine fantastische Kür!« Katsudons Ehrlichkeit irritierte ihn. Es wunderte ihn immer wieder, wie unbeschwert er sich einfach für andere Freuen konnte, selbst wenn sie ihm die Goldmedaille streitig machten. Er nickte ihn knapp zu und fixierte dann Victor. »Ich hätte dich nicht so anblaffen sollen.« Der hingegen sah ihn nur fragend an. Yuris Geduldsfaden spannte sich, wie immer, wenn er diesen Blick abbekam. »Manchmal würde ich dir wirklich gern eine reinhauen, aber Lilia war schon angepisst genug wegen vorhin, also nimm die Entschuldigung jetzt an, oder lass es!« Dass die Entschuldigung als solche noch unausgesprochen war, ignorierte er. »Ach, Yurio!« Die plötzliche Umarmung zerquetschte seine Lungen. »Du bist so süß, wenn du dich entschuldigst!« Wahrscheinlich warst du nicht einmal sauer, alter Mann. »Nicht wahr?« Oh Gott, diese Stimme. Dieses schmierige Gesäusel würde er überall heraushören. Yuris Haare sträubten sich. Er wandte sich aus Victors Armen und versuchte ihn zu ignorieren, doch es fruchtete nicht, denn er sprach einfach weiter. »Wie ein schnurrendes Kätzchen.« Yuri drehte sich um und sah die wandelnde Plage auf zwei Beinen vor sich stehen: JJ. In voller Montur, bereit als Letzter zu laufen. Automatisch ging er in Angriffsposition. JJ’s Grinsen konnte amüsierter nicht sein. »Willst du mir nicht ein Davai zurufen? Ich mag es von dir angefeuert zu werden, Yuri-chan.« »Ach ja? Und ich mag das Geräusch, wenn du die Fresse hältst, King-Arschloch! Verpiss dich!« JJ lachte nur. Entweder übersah er Yuris Abneigung absichtlich oder er war einfach nur dumm. »Ach, komm schon, Yuri-chan! Nachher auf dem Podest müssen wir uns doch verstehen, wenn wir gemeinsam in die Kamera lächeln!« Er machte Anstalten Yuris Kopf zu tätscheln – was dieser definitiv zu verhindern gewusst hätte – doch eine Hand an seinem Arm hielt ihn bereits vorher zurück. Verwundert drehte er sich um und sah direkt in Otabeks dunkle Augen. Obwohl er gute zehn Zentimeter kleiner als JJ war, machte die Warnung in seinem Blick deutlich Eindruck. Selbst Victor und Yuuri, die die Geschehnisse beobachtet hatten, verzogen sich lieber. Anscheinend schätzten sie die Situation so ein, dass Otabek Yuri da schon rausholen würde. Wirklich tolle Kameraden waren das. »Ich denke, du hast ihn gehört. Er legt keinen Wert auf deine Gesellschaft. Vernünftige Menschen respektieren so etwas.« JJ’s Blick wich von verwundert zu belustigt zurück. »Ich wusste gar nicht, dass der russische Punk seit Neuestem Unterstützung braucht.« Spott ertränkte seine Stimme. »Aber schon klar, mein „Held aus Kasachstan“. Hab verstanden.« Otabek ließ sich auf keine Erwiderung herab. Erst, als JJ’s Name anmoderiert wurde, löste er seinen Griff. JJ zwinkerte Yuri zu, bevor er das Eis betrat und brachte ihn dazu angewidert das Gesicht zu verziehen. »Ich hoffe der fliegt jetzt gleich richtig böse auf die Fresse und stirbt.« Mir verschränkten Armen sah er ihm nach. Die Wut in seinem Blick hätte man in Flaschen abfüllen und als Rattengift verkaufen können. Als Otabek nichts erwiderte, fixierte Yuri ihn, pendelnd zwischen Zorn und Scham. »Ich hätte das auch ohne deine Hilfe geschafft, man!« »Schon klar. Eigentlich wollte ich dir auch nur zu der gelungenen Kür gratulieren.« Warum er trotzdem eingeschritten war, offenbarte er Yuri nicht. Aber seine Worte besänftigten ihn. »Danke! Ich dir auch! Du warst richtig krass!« Seine Augen begannen zu strahlen. »Wie du einfach jeden verdammten Sprung gestanden hast, als wäre das das Einfachste auf der Welt. Respekt, echt!« Otabek winkte ab, lächelte aber. »Nicht der Rede wert. Deine Kür hat mir auch sehr gut gefallen.« »Danke!« Das war die Hauptsache. Immerhin war er für ihre Freundschaft gelaufen. Auch wenn Otabek es nicht aussprach, erkannte er stillen Respekt und Dankbarkeit in seinen Gesichtszügen. Erleichterung flutete ihn. Zusammen sahen sie sich den letzten Auftritt der Vier-Kontinente-Meisterschaften an. JJ legte sich zu Yuris Bedauern nicht aufs Eis, konnte allerdings auch nicht so viele Punkte holen, wie vermutet. Vielleicht würde diese Erfahrung sein Ego endlich mal stutzen. Und so kam es, dass Yuri zum ersten Mal zusammen mit Otabek auf dem Podest stand. Das Schweinchen neben ihm strahlte auf dem zweiten Platz, Yuri versuchte so cool und lässig wie möglich auszusehen und Otabek … dessen Miene war blanker, als jemals zuvor, während er seine Medaille in die Kamera hielt. Froh dem Blitzlichtgewitter und den Fragen der Reporter endlich entkommen zu sein, schloss Yuri die Tür seines Hotelzimmers hinter sich. An Durchatmen war jedoch nicht zu denken. In einer knappen halben Stunde begann das verhasste Bankett, als lächerlicher Abschluss einer jeden Meisterschaft. Die Etikette sollte ja schließlich bis zu allerletzt gewahrt werden, also sprang er unter die Dusche, bevor er sich lustlos in seinen Anzug zwängte. Wenigstens hatte Yakov ihn erlaubt mit den anderen auf seinen Sieg anzustoßen. Ein schwacher Trost, aber besser als gar keiner. Außerdem hatte Otabek versprochen so lange zu bleiben, wie Yuri Lust hatte. Eine letzte Chance sich vernünftig voneinander zu verabschieden, die er nutzen musste.   Das erste Glas Sekt schmeckte immer viel zu bitter. Das zweite war unangenehm sauer. Das dritte war perfekt. Ab dem vierten wurde es wieder ekelhaft. Wahnsinn, wie viele Leute ihn gratulieren wollten. Als stünden sie Schlange, kam einer nach dem nächsten an, jeder mit einem Sektglas für ihn in der Hand. Er kippte sich das Zeug in den Hals, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Das wievielte hatte er jetzt schon drin? Wahrscheinlich das sechste oder siebente. Und kein Otabek in Sicht. Wo blieb der nur? Langsam wurde er wütend – und irgendwie war da ziemlich viel Nebel in seinem Kopf. Kurzentschlossen ging er zum Buffet. Er hatte heut kaum etwas gegessen und einen Bärenhunger.  Mit Geschirr bewaffnet betrachtete er die riesige Auswahl und begann sogleich seinen Teller zu beladen. »Hey. Glückwunsch zur Goldmedaille.« Vor Schreck ließ Yuri die Gabel fallen. Klirrend landete sie auf dem Boden. Otabek stand urplötzlich neben ihm und nahm sich ebenfalls einen Teller. Ihre Schultern berührten sich. »Wo hast du gesteckt?« Hilfsbereit bückte Otabek sich nach der Gabel und reichte sie ihm zurück. »Ich war schon die ganze Zeit hier. Es ist nur schwer an dich heran zu kommen, also habe ich hier gewartet.« Yuri lachte schnaubend. »Und wenn ich heute keinen Hunger mehr gehabt hätte?« Obwohl er gefühlt zwei Liter Sekt intus hatte, war seine Stimme noch ungewöhnlich klar. »Dann wäre ich dorthin gegangen, wo die Musik herkommt.« Yuri gab sich geschlagen, während er begann das Essen in sich hinein zu schaufeln. »Heißt das, du hättest mit mir getanzt?« Otabek aß höflich in kleinen Bissen. »Wahrscheinlich nicht.« »Dich will ich mal als DJ erleben. Du stehst bestimmt da wie ‘ne Mauer, während du deine Platten auflegst. So locker wie ‘ne Stange Eisen.« Er prustete los über seinen stumpfen Humor. Das Lächeln zupfte an Otabeks Mundwinkel. »Das wird wohl fürs erste noch mein Geheimnis bleiben.« »Wie jetzt? Nicht mal heute kann dich zum Feiern bewegen?« Otabek schüttelte den Kopf. »Keine Chance.« »Echt enttäuschend, man.« Yuri knallte das leere Sektglas auf den Buffettisch. »Gehen wir trotzdem näher zur Musik?« Schulterzuckend nickte Otabek. »Klar.« So standen sie am Rande der Tanzfläche, die hauptsächlich von Eisläufern und deren Begleitung gesäumt war. Die Trainer und Sponsoren hielten sich lieber zurück – ein Glück für all die anderen. Durch den Krach konnten sie sich nicht großartig unterhalten, jedoch war Schweigen zwischen ihnen noch nie ein Problem gewesen. Otabek teilte sein drittes Bier mit ihm. Der Takt der Musik brachte Yuris Finger zum Tippen. Irgendwann machten seine Füße mit. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Otabek ihn beobachtete. Dennoch erschrak er, als seine Lippen seinem Ohr plötzlich ganz nah waren. »Geh tanzen.« Verwundert sah Yuri ihn an, beugte sich ebenfalls nach vorn. »Was ist mit dir?« Er musste regelrecht brüllen, um die Musik zu übertönen. Zur Antwort erntete er nur ein Abwinken. Otabek machte ihn durch Gestiken deutlich, dass er hierbleiben und warten würde. Yuri warf ihm ein dankbares Lächeln zu und stürzte sich ins Getümmel. Gesichter rauschten an ihm vorbei, während er sich dem Verlangen hingab, dass ihn bereits vor wenigen Tagen heimgesucht hatte. Irgendwann waren seine Beine so taub, dass er kaum noch geradestehen konnte. Seine Haare klebten ihm im Gesicht und die Krawatte fühlte sich unangenehm eng an. Während er sich aus dem Knoten der anderen Menschen löste, zog er sie sich über den Kopf und stopfte sie in die Tasche seines Sakkos. Keine Sekunde später erkannte er Otabek, noch immer an der Wand lehnend. Mit einigen Kurven ging er geradewegs auf ihn zu, knöpfte sich dabei den oberen Teil seines Hemdes auf. »Heeey … IS MIR HEIẞ!« Er stützte sich schwer atmend neben ihn an der Wand ab. »Luft … Ich glaub ich brauch jetzt frische Luft.« Otabek sah ihn forschend an. »Sicher?« »Häh? Was soll die Frage?« Genervt verdrehte er die Augen. »Ich ersticke gleich, man!« Resignierend stieß er sich von der Wand ab. »Na dann los.« Yuri fragte sich, warum er führend seinen Oberarm umfasste, aber er wehrte sich nicht dagegen. Die frische Luft verpasste ihn eine Ohrfeige. Irgendwie … irgendwie fühlte er sich plötzlich überhaupt nicht mehr so gut, wie noch vor wenigen Minuten. Schwindel hatte ihn mit heißen Händen gepackt. »Wow. Okay, das … das hatte ich noch nie!« »So viel zum Thema trinkfest.« Yuri vermochte nicht zu sagen, ob Wut oder Belustigung in Otabeks Stimme mitschwang. »Du solltest auf dein Zimmer.« »Wo sind Yakov und Lilia?« »Schon weg. Ich hab versprochen auf dich aufzupassen.« Plötzlich klang er bitter enttäuscht. Von sich selbst, weil er scheinbar gescheitert war? Er führte ihn zu den Fahrstühlen. »Wo hast du deine Chipkarte?« Wortlos brummend kramte Yuri in den Innentaschen seines Sakkos herum. Es dauerte gefühlte zehn Minuten, bis er die Karte endlich fand. Seine Bewegungen waren spürbar eingeschränkt und irgendwie schien der Nebel in seinem Kopf dichter geworden zu sein. Gott sei Dank war Otabek zur Stelle. Wenn Yuri es sich so recht überlegte, war der Held aus Kasachstan ein ziemlich passender Spitzname. Mit Leichtigkeit zog Otabek die Chipkarte durch und öffnete die Tür. »Wir sind da.« »Gott sei Dank. Was ist denn auf einmal los, hä?« »Zu viel Sekt wahrscheinlich. Wie viele Gläser hattest du?« Da Yuri nun spürbar schwankte, legte er einen Arm um seine Taille. Yuri nuschelte gegen seinen Hals. Es roch holzig. »Keine Ahnung … sechs oder sieben?« »Großartig. Und ich dreh dir auch noch Bier an. Kein Wunder, dass du jetzt so drauf bist.« Otabek drückte ihn vorsichtig, aber bestimmt aufs Bett und zog ihm die Schuhe von den Füßen. Yuri ließ es mit Gottvertrauen geschehen. »Du solltest schlafen. Ich hol dir noch was zu trinken.« Er nickte matt, froh darüber mit ausgestreckten Armen im Bett liegen zu können. Er hörte, wie Otabek mit leisen Schritten durch das Zimmer lief, bevor er kurze Zeit später wieder bei ihm war. »Alles dreht sich.« Es fühlte sich seltsam an, aber irgendwie nicht schlecht. »Ich hab’s dir neben das Bett gestellt. Versuch zu schlafen, dein Flieger geht morgen Mittag.« Yuri verspürte den Drang Otabek zu trösten, der noch immer irgendwie niedergeschlagen klang. »Es ist nicht deine Schuld, okay? Ich bin doch selbst schuld, wenn ich mich zulöte.« Otabek seufzte nur. An seinen Augenlidern hing Blei, doch Yuri riss sich zusammen und ließ sie offen, sah ihm nach. Er wollte jetzt ernsthaft abhauen? Das sollte ihr Abschied sein? Er bezweifelte, dass sie sich morgen noch einmal sehen würden. Es fühlte sich noch tausendmal unbefriedigender an, als ihr überstürzter Aufbruch vom See. Otabek war bereits im Begriff sich abzuwenden, als Yuri lautlos seine Hand ausstreckte und ihn am Ärmel festhielt. »Beka« Seine Worte nur ein leises Flehen. »… Bleib hier.« Hosted by Animexx e.V. 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