»Steig auf!« von Gmork ([ Otayuri ]) ================================================================================ Teil fünf: »Überraschung« ------------------------- »Aufwachen.« »Ich will nicht … Hilfe!« Unwirsch schlug Yuri die Hand weg, die bis eben noch rüttelnd an seiner Schulter lag. Die Decke zerrte er sich verbissen über den Kopf, sog ihren Geruch ein: Weichspüler und irgendetwas anderes, das er nicht greifen konnte. Unbekannt und trotzdem angenehm vertraut. »Du bist ein Morgenmuffel. Ich wusste es.« Nur kurz schlüpfte seine Hand wieder hervor, um Otabek den gereckten Mittelfinger zu zeigen. »Gut. Ein paar Minuten hast du noch.« Yuri hörte ganz klar die Belustigung in seiner Stimme. Als er bemerkte, dass keine weiteren Weckversuche kamen, entspannte sich sein Körper automatisch. Er glaubte niemals von dieser herrlich gemütlichen Couch hochzukommen. Die Geräuschkulisse um ihn herum wog ihn hin und her. Leise, aber feste Schritte auf dem Parkett. Radiowellen aus der Küche, irgendein Rocksender, der The Doors spielte. Schranktüren öffneten und schlossen sich wieder. Jemand klappte ein Fenster an, stellte dann eine Pfanne auf dem Kochfeld ab. Alltag, Normalität. Ein Gefühl, als gehörte er seit Jahren in diese Wohnung, obwohl er sich nicht einmal erinnern konnte, wann, beziehungsweise wie sie schlafen gegangen waren. Nur verschwommene Bilder zogen an seinem inneren Auge vorbei. Da lief ein Film. Vage kam ihn in den Sinn, wie Otabek eine Decke aus dem Schlafzimmer holte, sie entfaltete und sich dann wieder neben ihn setzte, mit den Worten er könne ruhig schlafen, aber er würde den Film gerne noch zu Ende sehen. Und dann … nichts mehr. So wie er sich selbst kannte, war er vermutlich sofort eingeschlafen. Wie lange Otabek wohl noch wachgeblieben war und neben ihm gesessen hatte? Hoffentlich hatte er nicht geschnarcht oder andere komische Töne von sich gegeben! Yuri wollte sich diese Peinlichkeit nicht länger vorstellen und kniff die Augen zusammen. Sein Herz machte weitere Gedanken in diese Richtung nicht mit. Zehn Minuten ließ er sich treiben. Der Geruch von Spiegeleiern umhüllte ihn. Sein Magen knurrte, aber die Müdigkeit gewann. Dachte er. Unter seinem Kopfkissen begann es zu vibrieren. Stimmt, da war ja was. Die ganze Aufregung um das Wiedersehen mit Otabek hatte jeden Gedanken daran verdrängt. Tief durchatmend zog er das Smartphone hervor. Eingehender Anruf von Yakov. Er starrte aufs Display, regte sich nicht. Er wollte nicht telefonieren. Yakov schien das zu ahnen, denn er unterbrach seinen Versuch. Als Yuri seine Mitteilungen durchging, bemerkte er Nachrichten von Victor, vom Katsudon, einigen Eisläufern, Trainingskollegen. Genervt schaltete er das Smartphone ab. So viel Trubel um nichts. Die Couch sank unter plötzlichem Gewicht nach unten. »Aufstehen.« Schon lag wieder die große warme Hand an seiner Schulter. Ein Rütteln. Er rührte sich nicht, alles konzentrierte sich auf diese Berührung. »Aufwachen, Yurio.« Mit plötzlicher Wucht saß er aufrecht, ohne seinem Hirn bewusst einen Befehl erteilt zu haben. Allein dieser furchtbare Spitzname war Ansporn genug. Gott, wie er ihn hasste. »Hey!« Umständlich strampelte er sich unter der Decke hervor. Ob das eventuell lächerlich aussah interessierte ihn nicht. Die Warnung in seinem Blick glich eher peinlicher Empörung. »Spinnst du, hä? Nenn mich nicht so!« Oh ja, es war ihm peinlich. Sehr peinlich. Besonders aus Otabeks Mund. Schon schlimm genug, dass ihn alle anderen so nannten … nicht er auch noch. Bitte. Otabek blieb gelassen. »Irgendwie muss man dich ja aus der Reserve locken.« Wütend pustete Yuri eine Haarsträhne aus seiner Stirn. »Glückwunsch, ist dir gelungen!« Doch dann entspannte er sich, atmete aus. »Hab‘ ich vielleicht verdient, nachdem ich hier faul rumgelegen hab.« »Schon gut.« Otabek winkte ab und stand auf. »Ich war darauf eingestellt.« Während er sprach faltete er routiniert die Decke zusammen, legte sie neben Yuri auf die Couch. Er beobachtete ihn, fragend zogen sich seine Augenbrauen zusammen. »Und wie kommt‘s?« »Naja. Es kam nicht nur einmal vor, dass du, wenn wir gegen Mittag geschrieben haben, noch im Bett gelegen hast.« »Dass du dir sowas merkst.« Yuri stand auf, streckte sich und ließ seine Gelenke knacken. Das tat gut. »Ich merk mir eine ganze Menge.« »Äh, aha? Was denn noch?« Otabeks Schultern zuckten nur, wohl alles, was er dazu beizutragen hatte. »Ich bereite mal das Frühstück weiter vor. Wenn du möchtest, kannst du dich in der Zeit fertig machen.« Ein seltsames Gefühl durchfuhr ihn. Plötzlich war er nervös. Wusste Otabek irgendetwas? Er wagte nicht zu fragen, nickte stattdessen seinen Vorschlag ab und kämmte sich die wilden Haare mit den Fingern durch. In dem Shirt zu schlafen, dass man bereits den ganzen Tag getragen hatte, war eine eher unvorteilhafte Entscheidung gewesen. Es klebte ihm am Körper. »‘Ne Dusche wäre cool …« »Handtücher sind im Schrank links neben der Tür. Bedien dich bei mir, deine Sachen sind bestimmt im Hotel.« Kurz und knapp wie immer – aber mit einem Lächeln. Er ging an Yuri vorbei, verschwand in der Küche. Yuri ertappte sich dabei, seinen getrimmten Undercut anzustarren. Otabeks Haare waren noch feucht. Auch die Schulterpartien seines Shirts wiesen dunklere Flecken auf. Schnell wandte er sich ab und flüchtete durch den Flur ins Badezimmer. Die schwarzen Fliesen unterstrichen die Modernität seiner gesamten Wohnung. Hmpf. Viel besser, als so ‘ne Luxuskaschemme. Er entledigte sich seiner Kleidung und schaltete, bemüht keinen weiteren Gedanken mehr an Otabeks Schultern zu verschwenden, das Radio an und begann mit seinen Morgenritualen.   »Guten Appetit.« »Boah, sieht das lecker aus!« Yuri betrachtete glückselig die Mahlzeit, die vor ihm stand: Spiegelei auf Toast, dazu ein kleiner frischer Salat – und eine eisgekühlte Flasche Sprite. Nichts Besonderes zwar, aber trotzdem für ihn zubereitet. Von Otabek. Er schielte zu ihm herüber. Otabek saß ihm gegenüber und nippte an seinem Kaffee, offensichtlich bemüht ein Schmunzeln zu unterdrücken. »Wenn dir das nicht reicht, habe ich noch was da.« Yuri winkte ab. »Das wird schon reichen. Muss ja in mein Outfit passen, wenn ich dieses Jahr wieder mit Gold auf der Tribüne stehe!« Otabeks Augenbraue wanderte nach oben. »Ach so. Hättest du früher was gesagt, hätte ich dir nur einen kleinen Salat ohne Dressing zubereitet. Und ohne Salat.« Das war einer der seltenen Momente, in denen er seinen trockenen Humor preisgab – diesmal sogar mit einer Prise Sarkasmus - und er entwaffnete Yuri gnadenlos damit. Yuri verschluckte sich an seiner Sprite, als er urplötzlich losprustete. Das Lachen staute sich in seiner Kehle und platzte einfach aus ihm heraus. Er konnte es nicht aufhalten. Otabeks entgeisterter Blick schaukelte ihn nur noch höher und nur die Tischplatte, die er verzweifelt umklammerte, verhinderte, dass er vom Stuhl rutschte. »S-Sorry!« Er schlug sich mehrmals gegen die Brust und langsam kehrte wieder Ruhe in seinen Körper ein. »Aber du bist echt zum schießen manchmal!« Zufrieden nahm Otabek sein Besteck in die Hand und begann zu essen. »Soll vorkommen.« Yuri war wirklich froh, dass er seine Ausbrüche, egal welcher Art, immer so gelassen nahm. Ob er nur bei ihm so eine Ausnahme machte?  Er konnte sich im Beisein von anderen immer nur an seine stoische Distanz erinnern. Bei ihm war er wie ausgewechselt. Es fühlte sich seltsam an. »Aber«, Yuri wagte einen zweiten Schluck aus seiner Flasche. »Wer weiß, vielleicht gewinnst du dieses Jahr. Du bist einfach grandios auf dem Eis!« Noch bevor der Satz komplett ausgesprochen war, kroch eine verräterische Hitze seinen Hals hinauf und kämpfte sich bis zu seinen Ohren. Das hatte jetzt anders geklungen, als es rüberkommen sollte. Beinahe schwärmerisch. Otabek hielt in seiner Bewegung inne, ließ die Gabel sinken. »Hm.« Kurz zuckte sein Mundwinkel. Seine dunklen Augen fingen Yuri ein und ließen ihn nicht entkommen. Die Hitze erreichte sein Gesicht. Es war das gleiche Gefühl, wie bei ihrem Telefonat. Nur mit dem gewichtigen Unterschied, dass Otabek ihn jetzt sehen konnte. »Man, was denn?« Fast schon routiniert krallte er sich in die Kapuze seines Hoodies und zog sie sich über den Kopf. Otabeks Nase kräuselte sich, als er ein Grinsen nicht mehr unterdrücken konnte. »Naja. Komplimente werden mit einem Degen geführt, nicht mit einem Breitschwert.« »Hä?« Jetzt lag es an Otabek zu lachen. »Nichts. Danke.« Yuris Lippen verzogen sich schmollend. Das war ernst gemeint, du Idiot. Er starrte ihn verbissen an, in der Hoffnung noch irgendetwas aus ihm heraus zu locken. Aber er erntete nur einen Blick, den er nicht deuten konnte. »Dein Essen wird kalt.« Gut, damit hatte er recht. »Ja! Ja …« Er begann zu essen und schloss genießerisch die Augen. »Vkusno!« »Freut mich.« Otabek schenkte sich Kaffee nach. »Am besten brechen wir direkt auf, wenn wir fertig sind.« »Aaach, stimmt ja …« Training stand an. Yuris Lust hielt sich in Grenzen. Aber er würde das Versprechen an Yakov und Lilia halten. Außerdem war der Gedanke mit Otabek zusammen eiszulaufen auch reizvoll, auf eine besondere Art und Weise. Er war sich sicher, dass sie gegenseitig voneinander lernen konnten.   Nach dem Frühstück brachten sie Ordnung in die Küche. Yuri half freiwillig beim Abwasch, Otabek trocknete das Geschirr. Ihre Schultern streiften sich. Yuri rückte unauffällig von ihm ab, während er den letzten Teller im Schrank verstaute. »Geschafft!« »Wir sollten los.« Als Yuri sich seine Jacke anzog, streifte ein dezenter Geruch seine Nase. Holzig. Otabeks Duschgel benutzt zu haben, fühlte sich komisch an. Irgendwie … intim. Er schulterte seine Tasche, richtete sich dann auf. Otabek wartete, bereit die Tür zuzusperren. Yuri trampelte an ihm vorbei. »Hätte ich das alles vorher gewusst, hätte ich gestern meine Schlittschuhe eingepackt!« »Das Hotel ist auf dem Weg, also kein Problem.« Er reichte Yuri einen der beiden Helme. Bei dem Gedanken gleich wieder mit dem Motorrad zu fahren begannen seine Füße zu kribbeln. Noch vor Otabek war er unten und stürmte hinaus. »Hummeln im Hintern?« »Häh? Einen Teufel hab‘ ich, also Schnauze!« Ohne weiteren Kommentar fuhr er los. Der Verkehr zog an ihnen vorbei und ließ Gänsehaut unter seine Kleidung kriechen. Er blinzelte, weil seine Augen tränten und suchte Schutz hinter Otabeks Rücken. Unbewusst sog er den Geruch seiner Lederjacke ein. Erst als der Fahrstuhl mit einem leisen Pling stoppte, fiel Yuri wieder ein, in welchem Chaos sie sein Hotelzimmer erwarten würde. Etwas peinlich berührt zog er die Karte durch, ließ ihn aber trotzdem herein, als sich die Tür öffnete. Yuri wurde heiß, als Otabek sich gründlich umsah und alles analysierte. Seine Mine blieb blank, als er den klamottengesäumten Pfad mit seinem Blick entlangfuhr. »Wie lang warst du gestern hier drin?« Yuris finsterer Blick prallte an seinem Rücken ab. »Zwanzig Minuten.« Jetzt zuckte Otabeks Augenbraue. »Reife Leistung.« »Ach, sei ruhig, Alter!« Motzig suchte er nach seinen Schlittschuhen, fand sie und schnürte sie am Rucksack fest. Es folgten frische Klamotten, sein Trainingsanzug, Zahnbürste, Duschzeug und sein Ladegerät. Nebenbei kickte er möglichst unauffällig ein paar herumliegende Unterhosen unters Bett, in dem Wissen, dass diese Aktion trotzdem nicht unbeobachtet blieb. »So, raus hier!« Beinahe fluchtartig verließ er das Zimmer und hätte Otabek, der ihm seelenruhig folgte, am liebsten am Ärmel gepackt und mitgezogen. Warum war ihm das so peinlich? Sonst interessierte es ihn doch auch nicht, was irgendwer von seinem Verständnis für Ordnung hielt. Er atmete erst auf, als sie wieder auf den Straßen waren, unterwegs zur Eishalle.   »Scheiße!« Keuchend stützte Yuri sich an der Barde ab, wischte sich eine nasse Strähne aus der Stirn. »Ich hab keinen Bock mehr!« »Trinken nicht vergessen.« Otabek hielt ihm eine Wasserflasche entgegen. Im Gegensatz zu Yuri schien er nicht einmal zu schwitzen. Und das, obwohl sie schon seit Stunden auf der Eisfläche waren. Er hatte ihn schon immer für seine Standhaftigkeit bewundert, aber das beeindruckte ihn wirklich. Gierig leerte er die halbe Flasche mit langen Zügen. Augenblicklich ging es ihm besser. Eventuell sollte er sich von Otabeks regelmäßigen Trinkpausen eine Scheibe abschneiden. Oft genug hatte er es ihm ja geraten. »Du bist echt krass … Null erschöpft. Krass!« Schwer atmend richtete er sich auf, sah verstohlen zu ihm herüber. Erst in seiner engen Trainingskleidung konnte man die feinen Definitionen von Otabeks Muskeln erkennen. Obwohl sie fast gleich groß waren, hatte Otabek einen ganz anderen Körper als Yuri. Schlank, aber keinesfalls zierlich. Kräftig. Breitschultrig. »Hast du genug?« »Hm?« Wohin trieben seine Gedanken schon wieder? »Vom Training? Ja, denke schon. Ich will hier nicht den ganzen Tag versauern!« Außerdem schmerzten seine Füße wie Hölle. Es reichte wirklich. »Ich auch nicht. Schluss für heute.« Dankbar grinste er ihn an. »Richtige Antwort! Außerdem hab‘ ich Hunger!« »Was auch sonst.« »Hey!« Er funkelte ihn an, verschränkte die Arme. »Eine zweite Portion wäre ja dagewesen.« »HEY!« Wut ballte sich in seinem Magen. Warum führte er ihn jetzt vor? Und seit wann ließ er so etwas zu? »Unfair!« »Wir fahren in die Innenstadt. Da gibt’s Geschäfte und Restaurants. Irgendwas werden wir schon finden.« Die Wut verpuffte. Er ließ die Arme sinken. »Du kannst ja doch sinnvolle Sachen sagen.« Keine Antwort. Wie zu erwarten. Yuri stieg aus seinen Schlittschuhen, rieb sich die geschwollenen Gelenke. Das Relikt seiner harten Arbeit. Er hatte heut eine Menge Sprünge gestanden und Stolz flutete seine Brust. Beinahe war er traurig darüber, dass Yakov und Lilia nicht da waren, um ihm zuzusehen. »Ich geh schnell duschen.« »Gut.« Otabek reckte seinen Daumen nach oben. Kein Lächeln zupfte an seinem Mund, aber seine Augen glühten. Yuri erwiderte die Geste, bevor er sich umwandte. Yakov und Lilia waren zwar nicht da, aber dafür jemand anderes. Ein gutes Gefühl. Er betrat die Umkleideräume und spülte sich den Schweiß vom Körper. Warmes Wasser trug seine Schmerzen fort. Entspannt stieg er in seine Alltagskleidung, froh das Training überstanden zu haben. Die Arbeit war getan, Vergnügen sollte folgen. Und das schnell. Routiniert verstaute er seine Trainingsklamotten und schnürte die Schlittschuhe abermals am Rucksack fest, bevor er nervös sein Smartphone wiedereinschaltete. Verpasste Anrufe, unbeantwortete Chats, SMSen. Eine bestimmte Nummer sprang ihm ins Auge und das schlechte Gewissen zog tiefe Bahnen durch Yuris Körper. Er konnte viele Anrufe ignorieren, aber diesen nicht. Seine Hand bebte, als er den Rückruf auslöste. »Yurochka.« »… Hey Großvater … Tut mir leid, ich hab trainiert … Ja, sogar heute, wieso auch nicht? … Danke. Ich mach mir jetzt ‘nen schönen Nachmittag … Ja, ich … hör doch auf. Danke … Ja, ich bin bald wieder in Sankt Petersburg, dann komm ich dich besuchen. Versprochen … Dir auch … Ich hab dich auch lieb. Bis bald ja?... Mach‘s gut.« Wie hoch seine Stimme wurde, immer wenn er mit ihm sprach. Kurz wurde sein Herz schwer. Er fehlte ihm, sie sahen sich eindeutig zu wenig. Seufzend schaltete er sein Smartphone wieder ab, bevor er das Gebäude verließ. Otabek wartete bereits auf ihn, die Arme verschränkt. »Guck nicht so, ich bin ja schon da!« Er hasste Momente wie diese. Es gab nicht viele Personen, die seine Verletzlichkeit herauslockten. Sein Großvater schaffte es immer wieder. Irgendwie musste er das kompensieren, aber es an Otabek auszulassen zeugte nicht von viel Ehre und schürte sein Gewissen. Mit hochrotem Kopf schwang er sich auf die Maschine, seinem Blick ausweichend. »Sorry.« »Ist alles gut?«  »Ja. Ich brauch nur Ablenkung vom Training.« »Sollte machbar sein.« Yuri Hoffnung stieg, als sie losfuhren. Das Motorrad trug sie durch die Straßen bis in die Innenstadt. Neugierig betrachtete er vorbeiziehende alte Gebäude, große Stadien, Konzerthallen und Sehenswürdigkeiten. Almaty hatte einiges zu bieten und als sie nach knapp zwanzig Minuten Halt machten, spürte er aufatmend die zurückgekehrte Leichtigkeit in seiner Brust. Auch hier sah er sich aufmerksam um. Geschäft reihte sich an Geschäft, Stimmengewusel, Gelächter, schnelle Schritte. Lichter zogen über das rege Treiben der Menschen. Restauraunts versuchten mit ihren Gerüchen potenzielle Gäste zu locken – eine Shoppingmeile. »Willst du dich erst umsehen, oder gleich etwas essen?« Yuris Magen knurrte zwar laut, jedoch zog bereits das erste Geschäft seinen Blick an. Im Schaufenster sah er einen schwarzen Hoodie mit einem Tigerprint auf dem Rücken. Automatisch setzte er bereits ein paar Schritte in diese Richtung, wandte sich dann aber um. »Äh … Du stehst nicht so auf shoppen, oder?« Otabek schüttelte zur Antwort mit dem Kopf. »Nein.« »Aber… würdest du trotzdem mitkommen?« Die Frage war noch nicht vollends ausgesprochen, da war er schon an Yuri vorbeigezogen und betrat den Laden, die Hände in den Hosentaschen. Obwohl er offensichtlich zweifelte hier etwas zu finden, das seinem Geschmack entsprach, sah er sich aufmerksam um. Yuri folgte ihm euphorisch und dankbar. Tatsächlich erwiesen sich Shoppingtouren mit Otabek als überaus spaßig, auch wenn Yuris wortkarger Freund alles dafür tat, seine neutrale Mine beizubehalten. Trotzdem tat er seine Meinung aufrichtig kund, riet Yuri von manchen Kleidungsstücken ab und ermutigte ihn zum Kauf anderer. Yuri fühlte sich beschwingt, als sie mit vollen Tüten die Einkaufsmeile hinter sich ließen und ein Restaurant ansteuerten. Das warme Ambiente empfing sie mit offenen Armen und saugte die Kälte aus ihren Gliedern. Yuri rieb sich die schmerzenden Hände, als sie einen freien Tisch ansteuerten. Der würzige Geruch aus der Küche ließ seinen Magen rumoren. »Ich sterbe gleich vor Hunger!« Schwer atmend fiel er auf einen Stuhl und legte den Kopf in den Nacken. Otabek studierte bereits das Menü.  Yuris Blick verfing sich in den dichten schwarzen Haaren, die hinter der Karte hervorlugten. »Bist du öfter hier?« Sein Kopf ruckte. Ein Nicken. »Hier gibt es die besten Burger in ganz Almaty.« Somit wusste Yuri schon, welches Gericht er bestellen würde. Nach nur kurzer Zeit kamen die Getränke: Grüner Tee für Otabek, Sprite für Yuri, welch Überraschung. Sie redeten nicht, während sie auf ihre Mahlzeit warteten. Yuris Blick wanderte über die Tische und Menschen, blieb schließlich an Otabek haften. »Hey … Danke für heute. Das hat Spaß gemacht.« Ein Abwinken. »Gern.« Dann schwiegen sie wieder. Die Anstrengung vom Tag war ihnen auf den Versen und im Begriff sie einzuholen. Erst als die Bedienung kam und servierte, erwachten sie aus ihrer Trägheit. Während Otabek manierlich mit Messer und Gabel aß, biss Yuri ungeniert in seinen Burger hinein. Schmachtend stöhnte er auf. Otabek hatte keineswegs zu viel versprochen. »Der Wahnsinn!« Konnte dieser Tag noch besser werden? Es folgte ein Dessert für Yuri und ein weiterer grüner Tee für Otabek. Sie saßen noch ein paar Minuten da, ließen das Essen sacken und redeten über den Tag, bis die Rechnung kam. Gerade als Yuri sein Portemonnaie herausholen wollte, legte sich eine große warme Hand auf seinen Arm. Otabeks dunkle Augen fixierten ihn ernst. »Schon gut. Geht auf mich.« Irritiert starrte Yuri ihn an, während er ohne mit der Wimper zu zucken bezahlte. Plötzlich war dort wieder dieses flaue Gefühl in seinem Magen. Er ahnte etwas, aber er hoffte Unrecht zu haben. Er selbst hatte den ganzen Tag seit dem Telefonat mit seinem Großvater keinen einzigen Gedanken mehr daran verschwendet. Woher … »Wollen wir los?« Otabek zog bereits seine Jacke über, doch Yuri blieb sitzen, seinen Blick noch immer fragend auf ihn gerichtet. »Warum die Einladung?« Da war dieser Funken in seinem Blick. »Du weißt, wieso.« Yuri spürte förmlich, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Seine Zunge lag ihm wie ein Stein im Mund. Zum ersten Mal herrschte unangenehmes Schweigen zwischen ihnen. Er sagte noch immer nichts, als Otabek wie selbstverständlich seine Wohnung ansteuerte. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, machte er keine Anstalten sich die Schuhe abzustreifen. Mit gesenkten Kopf stand er da, ließ seinen Rucksack achtlos auf den Boden fallen. Otabeks Blick kribbelte auf seinen Schultern. »Was ist los?« Ja, was war bitte los? Er wusste es selber nicht. Otabek hatte immerhin nichts falsch gemacht, im Gegenteil. Er freute sich. Aber gleichzeitig zog Scham an seinem Zwerchfell. Diese beiden Emotionen spielten Tauziehen mit seinem Körper. In welche Richtung sollte er? »Yuri.« »Hmpf!« Er verschränkte die Arme. »Woher weißt du das?« Sofort bereute er seinen abweisenden Ton. Die Entschuldigung blieb ihm im Halse stecken. »Ich meine … ich hab‘ mir nichts anmerken lassen.« »Ich bin aufmerksam.« Mehr sagte er nicht. Yuri zwang sich tief durchzuatmen. Es stimmte, Otabek war noch nie etwas entgangen. Eigentlich hätte er es wissen müssen. Aber auch Naivität musste bestraft werden. Ein kleines Lächeln zupfte an seinem Mundwinkel. »Hast mich ganz schön kalt erwischt, Alter. Nicht mal vor dir hab‘ ich heute meine Ruhe.« »Tu nicht so, als wäre das etwas Schlimmes.« Schnell schüttelte er den Kopf. »Nein, so – häh? Was soll das jetzt werden?« Otabek hatte etwas aus der Kommode im Flur gezogen und Yuri in die Hand gedrückt. Ein filigranes Päckchen, nicht größer und dicker, als ein Briefumschlag. Yuri nahm es entgegen und starrte das Geschenkpapier mit Katzenmotiv an. Sein Gesicht stand in Flammen. Otabek wartete mit verschränkten Armen, neigte nur seinen Kopf, als stumme Aufforderung es auszupacken. Seine Finger bebten, als er das dünne Papier öffnete, sehr bemüht, möglichst wenig davon zu zerreißen. Zum Vorschein kam ein hauchdünnes Blatt aus glänzendem Kunststoff. Ein … Aufkleber?! Seine Augen fuhren leuchtend über das Motiv: Ein Tiger auf einem Motorrad. Mit Sonnenbrille. Es traf seinen Geschmack so perfekt, dass die Freude darüber bittersüß in sein Herz stach. »Bist du beknackt, Alter?« Otabek schien aufzuatmen. »Du freust dich. Ich bin beruhigt.« Peinlich berührt verzog er das Gesicht, doch dann strahlte er ihn an. »Ja! Das ist supercool! Aber …« Suchend blickte er sich um, analysierte seinen Rucksack, das Smartphone, die Schlittschuhe. Natürlich wollte er sein Geschenk gleich überall präsentieren. Allerdings gab es da ein kleines Problem. »Wo kleb‘ ich den hin? Der passt nirgendwo drauf!« Fast schon traurig ließ er die Schultern hängen. »Ich weiß, wo.« Etwas flog auf ihn zu. Schon beinahe routiniert fing er es auf und sein Körper erstarrte zu Stein. »Den konnte ich dir nicht einpacken, weil du ihn die ganze Zeit getragen hast.« Er glotzte den Motorradhelm an, ohne ihn zu sehen. Seine Kinnlade machte gefühlt Bekanntschaft mit dem Boden. Das war nicht sein Ernst! Emotionen aller Art fluteten seine Brust und ließen seine Hände schwitzen. Da war Überraschung, Freude, Verlegenheit, Begeisterung und … etwas, das er nicht in Worte fassen konnte. Für Otabek war das vielleicht nur ein Helm, für Yuri allerdings war er so etwas wie das Symbol ihrer Freundschaft. Mit diesem Helm hatte alles begonnen. In fast jedem Moment, den er mit Otabek verbracht hatte, war dieser verdammte Helm dabei gewesen. Dass er nun wirklich ihm gehörte … Es war Otabeks stummer Beweis, es mit dieser Freundschaft wirklich ernst zu meinen. Sein Blick verschwamm. Hatte er nicht geglaubt, dass der Tag nicht besser werden konnte? Du fängst jetzt bloß nicht das Heulen an! Zögerlich hob er den Kopf und sah Otabek ins Gesicht, der den Blick ruhig erwiderte. Er brauchte nur wenige Schritte, um bei ihm zu sein. Er wusste was kam und reagierte. Yuri umfasste Otabeks Hand und drückte zu. Stumm besiegelten sie ihre Freundschaft und das Funkeln in Yuris Augen sprang auf ihn über. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)