Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 60: Kapitel 60 ----------------------     Nach dem Essen setzte Lily sie sogar vor der Haustür ab. Hana bestand darauf, von ihnen beiden fest zum Abschied gedrückt zu werden und Lily hatte nicht genau gewusst, wie sie sich verabschieden sollte, bis Nate sie auch kurz in die Arme gezogen hatte. Dann waren sie weg und sie beide wieder allein.     "Na… das lief doch gar nicht so schlecht", kommentierte Shinji und meinte es so. Lily war immer noch angespannt gewesen, aber alles in allem, war es ein ruhiges Essen gewesen.     Sie ließen sich beide aufs Sofa fallen. Nate schien fertiger, als man das nach einem simplen Essen erwarten würde.     "Ahm… ja. Ich glaube zwar, dass Lily noch immer überlegt, was sie sagen soll… aber immerhin sagt sie etwas."     Diesmal schien Nate ein wenig mehr Verständnis dafür aufbringen zu können, was wahrscheinlich daran lag, dass er es mit Hana ganz ähnlich hielt. Um nicht aufzufliegen, zögerte er oft und deutlich, was die kleine zum Glück nicht mitbekam. Vielleicht war Nate deshalb so fertig, das musste Kraft kosten.     In einem Moment, in dem Nate sich auf Hana konzentriert hatte, hatte Lily ihn allerdings an etwas erinnert, worüber er jetzt noch mit Nate reden musste, auch wenn der so aussah, als würde er lieber schlafen.     "Hör mal…", begann er dann langsam. "Morgen ist mein letzter freier Tag und ich dachte, wir könnten einen kleinen Ausflug machen. Was hältst du davon, wenn wir deine Wohnung mal besichtigen fahren?"     Da musste sich Post stapeln und auch wenn er glaubte, dass die notwendigen Rechnungen automatisch bezahlt wurden, sollte mal jemand nach dem Rechten sehen. Soweit er wusste, war Nate seit weit mehr als einem Jahr nicht mehr dort gewesen - obwohl der wahrscheinlich vor seinem Einsatz kurz noch einmal dort gewesen war, aber das änderte nichts daran, dass er ewig nicht da gewesen war.     Überrascht, formten Nates Lippen ein stummes 'Oh', dann nickte er aber zustimmend. "Du weißt schon, dass ich keine Ahnung habe, wo die ist?"     "Lily hat mir vorhin Adresse und deinen Ersatzschlüssel gegeben." Was Nate deutlich nicht mitbekommen hatte, denn die Überraschung verschwand nicht aus seinem Gesicht. "Sie leiht uns auch ihr Auto, wenn wir wollen."     Zum Glück hatte Lily sich Gedanken darum gemacht, ausnahmsweise hatte er etwas so wichtiges wirklich aus den Augen verloren. "Und weißt du, was das Beste an der Sache ist?" Er lächelte aufmunternd. "Wir spielen beide Detektive. Denn ich war auch noch nie da und du hast mir bisher nichts davon erzählt. Wir können also gemeinsam schauen, was uns erwartet und dann dein Leben abseits deiner Partners und deiner Familie erforschen."     Kurz wartete er auf das bekannte, ängstliche Flattern in seiner Brust, wenn er sich selbst als Nates Partner bezeichnete, aber es blieb aus. Es fühlte sich ganz natürlich an.     Nate zog ihn plötzlich in seine Arme und hielt ihn sicher dort fest, knuddelte ihn sogar wieder ein wenig durch. Von der schlechten Laune heute morgen, war wirklich nichts mehr übrig - alles richtig gemacht.     "Klingt nach einem Plan."     Und nachdem ihm Nate noch einen Kuss auf den Schopf gesetzt hatte, machten sie es sich bequem, wie sie es sich vorhin noch vorgenommen hatten und verbrachten einen sehr entspannten, restlichen Tag.          "Wie stellst du dir deine Wohnung vor?", fragte Shinji, als er den Wagen gerade auf die Ausfahrt der Zielstadt gelenkt hatte. "Ich habe sie mir immer groß, hell und modern vorgestellt. Mit vielen Fenstern, weißem Teppich und schwarzen Möbeln."     Sein Therapeut hätte ihn jetzt wahrscheinlich gefragt, ob das wirklich zu Nate passte oder ob er sich durch seine Unsicherheit einfach exakt das Gegenteil von seiner Wohnung vorstellte. Oder ob das vielleicht sogar eine heimliche Wunschvorstellung von ihm war. Möglich war beides, aber Shinji hätte die Frage nicht beantworten können.     "Ich weiß nicht… Leer. Wie ein Hotelzimmer vielleicht. Also mit dem Nötigsten ausgestattet, aber mehr nicht."     Das wäre logisch, schließlich hatte Nate kaum Zeit in der Wohnung verbracht. Aber das klang trotzdem falsch. Nate war nicht praktisch, er war der Romantiker von ihnen beiden. Nate würde es in einer unpersönlichen Wohnung nicht lange aushalten.     Shinji gähnte kurz, weil selbst die zwei Tassen Kaffee, die er noch in sich geschüttet hatte, bevor sie los gefahren waren, nicht reichte, um seinen zerstörten Schlafrhythmus auszugleichen. Es war für ihn wirklich früh, aber späteres Losfahren hätte sich nicht gelohnt. Nates Wohnung war einige Städte weiter weg.     "Ich hoffe, ich habe kein Haustier, das ich vergessen habe, zu füttern."     "Denke nicht, dass du dir darum Sorgen machen musst. Du bist die Hälfte des Jahres nicht da, manchmal auch länger. Mehr als ein Kaktus überlebt das nicht."     "Ein Kaktus", wiederholte Nate lachend. Was auch immer daran so lustig war.     "Wie fühlst du dich?", wechselte Shinji ein wenig ungelenk das Thema, aber er wollte das schon fragen, seit sie heute aufgestanden waren.     Nate schwieg darauf erst einmal, sich vielleicht selbst nicht ganz sicher und sah dabei zu, wie die Landschaft draußen an ihnen vorbei zog. "Ich bin neugierig. Eine Wohnung sagt viel über den Charakter eines Menschen aus…"     "Denkst du, eine Wohnung tut das auch, wenn man eigentlich nie zu Hause ist? Ich würde da nicht zu viel Hoffnung rein stecken." Er sagte das vorsichtig, weil er wirklich nicht wollte, dass Nate hinterher enttäuscht war.     Ein wenig legte er aber auch die Stirn in Falten, als er daran dachte, dass Nate in dieser Stadt vermutlich auch Menschen zurückgelassen hatte. Freunde, Nachbarn. Ob sie davon jemandem begegnen würden?     Einerseits war er wirklich neugierig auf Nates normales Umfeld, andererseits war er nicht gut mit Menschen und Nate hatte heute schon genug zu verdauen.     "In solchen Momenten bemerke ich erst wieder, wie wenig ich eigentlich über dich weiß."     "Das haben wir in diesem Fall gemeinsam." Shinji war sich nicht sicher, ob Nates Unterton Sarkasmus war oder es einfach nur neckend klingen sollte.     "Ich muss sagen… etwas unsicher bin ich schon. Was, wenn wir etwas finden, dass uns beiden nicht gefällt? Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass dort ein heimlicher Geliebter wartet, aber vielleicht finden wir ja ein total verstörendes Hobby. Vielleicht liegen überall gruselige Plüschtiere herum. Shinji…", sagte Nate atemlos. "Was, wenn ich Plüschtiere sammle?"     Der Ton seines Beifahrers deutete an, dass das das Schlimmste war, was passieren könnte und Shinji musste lachen.     "Das kriegen wir schon alles hin, mach dir keine Sorgen. Solange du kein Serienmörder bist, kann ich mit allem leben."     Erst nachdem er das ausgesprochen hatte, zuckte er innerlich zusammen. Eigentlich war Nate das ja… je nachdem wie man einen Krieg auslegte. Der einzige Unterschied war, dass Nate nie dafür festgenommen werden würde. Aber glücklicherweise schien Nate seinen Patzer nicht bemerkt zu haben. "Und wenn, bin ich ja wohl der versteckte Lover.", sprach er schnell weiter und versuchte einen heiteren Unterton in seine Worte zu legen.          Wenige Minuten später parkte Shinji in einer Parklücke nicht weit von dem Gebäudekomplex den sie suchten weg.     "Gut, ich bin bereit. Du auch?"     Shinji wunderte sich etwas, dass Nate sofort schwungvoll die Tür aufriss und geradezu heraus sprang. Das schien ihm doch ein bisschen übertrieben und er glaubte, dass das in Wirklich mehr Aufregung als tatsächliche Euphorie war.     Shinji stieg seinerseits aus und sah sich etwas um. Es war keine besondere Gegend. Weder gehobener noch irgendwie verwahrlost, aber es schien ein wenig ruhiger zu sein, als bei ihm zu Hause. Es war ein modernes Mietshaus, mit acht Stockwerken. Nate wohnte im sechsten. Türnummer 21.     "Letzte Chance, noch können wir umdrehen." Doch statt etwas zu sagen, grinste Nate ihn an und schob die schwere Eingangstür auf.     Sie atmeten beide erleichtert aus, als sie einen Aufzug entdeckten. Der Eingangsbereich war hell, auf dem ersten Treppenabsatz stand eine gut gepflegte Palme, die Treppe an sich war aus diesem grau gesprenkelten Stein und bildete damit einen angenehmen Kontrast zu den weißen Wänden, die ansonsten nur von den dunklen Postfächern unterbrochen wurden. Eines davon war schier am überquellen, doch Nate ging zielstrebig auf den Aufzug zu, weshalb sich Shinji nur eine mentale Notiz machte, dass sie die Post auf dem Rückweg mitnahmen.          Der Aufzug ruckelte etwas, als er im sechsten Stock ankam. Nate streckte den Kopf erst heraus, um zu sehen, in welche Richtung sie mussten und schien die gesuchte Tür dann auch schnell zu entdecken.     "Okay, jetzt wird's interessant.", murmelte er zu sich selbst, als er den Schlüssel ins Schloss schob.     Die Wohnung war groß, und modern - Überraschung. Von einem geräumigen Eingangsbereich ging es in ein Bad, das von Nate ignoriert wurde, und in einen Wohn- und Essbereich, den sie gemeinsam Betraten. Pflanzen gab es keine, dafür eine schwarze Ledercouch und eine aufgeräumte, aus dunklem Stein gefertigte Kücheninsel.     "Nicht einmal einen Kaktus, Shinji", seufzte Nate ein wenig theatralisch und stieß ihm mit dem Ellbogen neckend in die Seite. "Aber ich stehe wohl auf den Himmel. Besser als Plüschtiere."     Shinji lenkte seinen Blick noch einmal zur Couch und betrachtete die Fotos genauer, die dahinter an der Wand hingen. Es war tatsächlich eine Collage aus Bildern, die nur aus Himmel bestanden. Es fanden sich alle verschiedenen Farben und Nuancen. Wirklich schön gemacht. Es gab dem ganzen Raum etwas wohnliches.     "Ich schätze, egal wo man ist, der Himmel sieht immer irgendwie gleich aus. Vielleicht ist das für dich ein Anker in der Welt."     Er folgte seinem Freund zum Kühlschrank, der, wie erwartet, vollkommen leer war. Bis auf Bierflaschen, was… auch nicht besonders verwunderlich war. Das Gefrierfach sah schon anders aus, was auch logisch war. Wenn Nate nach einem Einsatz zurück kam, musste wenigstens irgendetwas essbares im Haus sein und er konnte nie wissen, an welchem Wochentag er ankam oder ob er die Kraft hatte, noch einkaufen zu fahren.     Plötzlich flog eine Packung Eis auf ihn zu. Ben&Jerry's. Und das Grinsen auf Nates Gesicht, ließ Shinjis Herz kurz wild schlagen. Erinnerte sich Nate an diesen einen Abend mit Hana?     Aber der Moment verflog sofort, als Nate begann nach einem Löffel zu suchen. Vielleicht war da ein Erinnerungsfetzen gewesen, aber Nate hatte ihn anscheinend selbst nicht einmal bemerkt.     "Oh, das ist cool!", rief Nate dann plötzlich aus und Shinji suchte nach was immer Nate entdeckt hatte. Es war nicht schwer zu finden. Eigentlich war es sogar ziemlich offensichtlich. Die komplette Wand hinter der Küchenzeile, war mit Kronkorken tapeziert. Wenn er richtig sah, war kein einziger davon doppelt. "Schau mal, wie viele verschiedene Kronkorken!"     Nate freute sich wie ein kleines Kind, was Shinji ehrlich schmunzeln ließ. Nate war wohl doch ein Sammler. Kronkorken und Fotos vom Himmel. Es gab schlimmeres.     "Dann bist du ja prächtig auf die atomare Apokalypse vorbereitet.", witzelte er, auch wenn er wusste, dass Nate die Anspielung nicht verstand. Nate sah ihn wie erwartet verwirrt an, was ihn nur unschuldig die Schultern zucken ließ: "Gamer Witz, sorry. Es gibt ein Spiel, da bezahlt man mit Kronkorken."     Er trat dann an das Kunstwerk heran und betrachtete es genauer: "Das ist echt krass, wie viele das sind. So was sollten wir in unserer Wohnung vielleicht auch anfangen?"     Das amüsierte Grinsen, gefolgt von einem sehr sanften 'Ja, sollten wir', verwirrte Shinji etwas, aber bevor er fragen konnte, wuschelte Nate ihm durch die Haare und schlüpfte an ihm vorbei.     "Schlafzimmer", hörte er seinen Freund schließlich rufen und folgte ihm, während er begann, sein Eis zu essen. "Und es hat 'nen Balkon!"     Das erklärte dann wohl, warum die Wohnung nicht nach Zigaretten roch. Als er ebenfalls in dem Zimmer ankam, sah er auch gerade, wie Nate nach einem Päckchen tastete. Doch dann erstarrte die große Gestalt und starrte neben sich. Da stand ein Couchstuhl, auf dessen Sitzfläche ein großer, weißer Plüschtiger saß. Einen Augenblick fiel Shinji das atmen schwer.     "Du hast ihn noch?", stieß er ehrfürchtig aus und so leise, als könnte der Gegenstand zum Leben erwachen und flüchten, wenn er zu laut wäre. Vorsichtig näherte er sich und nahm das Stofftier dann auf den Arm. Es wirkte gleich viel größer, weil er selbst so klein war.     Nach kurzem, andächtigem Schweigen, brach die Freude doch aus ihm heraus und er ließ sich glücklich lachend auf den Stuhl fallen, um dort das Stofftier durch zu knuddeln.     "Ich hab ihn noch?", echote Nate etwas irritiert und blickte zwischen dem Kuscheltier und Shinji hin und her bis der sich erbarmte, es zu erklären:     "Ich glaub es echt nicht, dass du den noch hast. Mein Vater hat ihn irgendwann mal weg geworfen, weil er meinte, ich sei zu alt dafür, mal abgesehen davon, dass Stofftiere allgemein viel zu unmännlich sind, aber das hat er natürlich nicht gesagt. Wir haben ihn dann zusammen in der Nacht vor der Mülleerung aus der Tonne gefischt und du hast ihn dann bei dir behalten, damit mein Vater das nicht mitbekommt."     Den würde er mit zu sich nehmen. Der würde nicht weiter hier verstauben, auch wenn er erstaunlich gepflegt wirkte. Nicht vergilbt oder so, als hätte sich Nate ab und zu darum gekümmert.     "Wir sind schon immer zusammen durch dick und dünn gegangen, was?"     "Ja", antwortete er, erstarrte dann aber, als er von dem Tiger zu Nate aufsah. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)