Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 55: Kapitel 55 ----------------------     "Heute war der erste Tag seit über einem Jahr, an dem ich mit meinem Partner in die Öffentlichkeit bin…"     Und das war das ganze Problem gewesen. Er hatte es bemerkt, genau in dem Moment, in dem er die Sicherheit seiner eigenen vier Wände wieder wahrgenommen hatte. Es war alles wieder das alte Problem gewesen. Und der Auslöser, war die unbewusste Angst gewesen, dass Nate übermütig werden könnte, wenn er angetrunken war und etwas tat, dass sie verraten würde. Das war alles gewesen. Ein kleiner Funke Angst, ein kleiner Augenblick und alles lag in Asche.     "War es so schlimm?"     "Eigentlich gar nicht." Und das war die Wahrheit. Es war schön gewesen. Wirklich schön. Am Anfang hatte er wirklich Spaß gehabt und das war das Schlimmste daran. Er hatte einen Rückfall gehabt, kurz nachdem es ihm wirklich gut gegangen war und das ohne irgendeinen Grund. Es war nichts passiert. Nichts war komisch gewesen. Niemand hatte irgendwas gesagt oder sie komisch angesehen, obwohl sie sich wirklich etwas daneben benommen hatten. Und dennoch lag er jetzt hier und fühlte sich, als würde alles wieder von vorne anfangen.     "Ich weiß nicht was los ist. Vor einem Jahr sind wir auch weg gegangen… da habe ich mich auch unwohl gefühlt, aber es war nie so wie jetzt. Ich dachte mit der Therapie wird es besser, nicht noch schlimmer."     Vorher hatte er wenigstens gewusst, warum er so durchdrehte. Diesmal war alles in Ordnung gewesen!     "Vielleicht liegt es daran, weil du denkst, dass es nicht mehr dasselbe ist? Es ist für dich viel Zeit vergangen. Ich bin nicht der einzige, der sich an das hier gewöhnen muss. Du musst dich genauso wieder an mich gewöhnen."     Er schloss die Augen und versuchte sich ganz auf die sanften Finger in seinen Haaren zu konzentrieren. Er schniefte leise.     "Es ist schwer…", gestand er. Noch vor einigen Stunden hatte er das alles vor Nate verbergen wollen. Aber er konnte nicht. Das funktionierte nicht. Das einzige, was das brachte, war, dass es ihn fertig machte. Er war nicht stark. War er nie gewesen. Und als er weiter erklärte, quollen mehr und mehr Tränen unter seinen Augenlidern hervor:     "Du gibst mir keinerlei Grund dafür, aber ich hab dennoch angst, dass sich irgendwas drastisch geändert hat. Ich hatte schon solches Glück, dass du leben heim gekehrt bist. Körperlich einigermaßen unversehrt. Was, wenn mein Glück da aufhört und ich dich dennoch verliere? Mein Leben hat sich bisher nicht wirklich als glückbehaftet heraus gestellt…"     Er hörte Nate tief durchatmen. Ob er genervt war? Sich Sorgen machte? Ob er Schmerzen hatte?     Hätte Nate nicht versucht, ihm sanft die Tränen weg zu wischen, wäre er in diesem Moment vielleicht aufgestanden und hätte versucht, sich zusammen zu reißen. Aber so hoffte er, dass er seinen Freund nicht nervte und der genug Kapazitäten frei hatte, um sich um ihn zu kümmern.     Diese Gedanken ließen ihn sich nur noch schlechter fühlen. Er war so ein Jammerlappen. Nicht einmal zwei Tage hatte er durchgehalten. Nicht einmal zwei…     "Hast du Angst, dass ich dich letztendlich alleine lasse? Oder dass ich doch nicht der bin, auf den du gewartet hast?"     "Beides…", murmelte er.     Obwohl Nate immer wieder versuchte, ihm die Wange trocken zu wischen, blieb es nicht lange dabei. Er konnte nicht aufhören, dieses Gefühl verschwand nicht.     "Ich kann dir nicht versprechen, dass ich der bin, der ich damals war. Aber ich kann dir versichern, dass ich mich wohl bei dir fühle. Mag sein, dass sich etwas zwischen uns verändert hat, aber das hier nicht. Und es ist irrational, weil ich dich eigentlich erst kennengelernt habe. Aber ich vertraue dir. Und ich bin sicher, dass ich irgendwann wieder weiß, wen ich da eigentlich vor mir habe. Hab nur noch ein wenig Geduld…", Nate war immer leise gegen Ende geworden, bis es nur mehr ein leises Flüstern war.     Machte er sich etwa Sorgen, dass er ihn verlassen würde, wenn er sich nicht erinnerte? Schnell schüttelte Shinji den Kopf, rollte sich etwas ein und krallte sich in die Jeans von Nate. Ob nun, weil er Angst hatte, dass Nate weglief oder um ihm zu zeigen, dass er bei ihm blieb, wusste er selbst nicht so genau.     "Nein… nein, das solltest du nicht denken. Ich will nicht, dass du denkst, dass du dich erinnern musst. Ich mag dich… wirklich. Ich mag dich auch so wie du jetzt bist. Es ist nur… so wei du selbst sagst… es ist irrational… du weißt nicht einmal warum du mich magst und mir vertraust… und ich hab angst, dass die Gefühle irgendwann doch weg gehen… besonders wenn du bemerkst, wie kaputt ich eigentlich bin… wir kompliziert und anstrengend eine Beziehung mit mir ist…"     Er merkte selbst, dass er sich gedanklich im Kreis drehte. Das Thema hatten sie heute morgen erst gehabt. Er schniefte wieder und schluchzte leise.     "Und statt mich zusammen zu reißen und ausnahmsweise stark zu sein, liege ich jetzt hier und zeige dir genau das… und es tut mir leid, dass das so ist… du solltest dich dafür nicht verantwortlich fühlen müssen… jetzt musst du dich um einen Fremden kümmern, während du selbst mehr als genug eigene Probleme hast…"     Plötzlich löste sich die Hand aus seinen Haaren und Nate beugte sich leicht vor, legte seine Hand auf Shinjis, die sich in die Jeans gekrallt hatte.     "Es ist nicht wichtig, warum ich dich mag… Oder dir vertraue. Wichtig ist doch, dass ich es tue. Natürlich kann sich das alles irgendwann ändern, aber es muss nicht zwangsläufig ich sein. Was ist, wenn deine Gefühle sich irgendwann ändern und DU eines Tages sagst, du würdest das hier beenden wollen, weil ich es immer noch nicht geschafft habe, mich zu erinnern? Wir wissen beide nicht, was die Zukunft noch bringen wird. Warum lassen wir es nicht einfach auf uns zukommen?"     Er verkroch sich so gut er konnte in der halben Umarmung. Ganz langsam nur versiegten seine Tränen.     "Du brauchst keine Erinnerungen, damit es für mich funktioniert, Nate. Wirklich nicht. Das ist nichts, wovor du dich fürchten musst, bitte. Ich habe nur Angst davor, dir wieder alles von mir zu zeigen. Das war das erste Mal schon so unglaublich schwer… darum geht es mir. Ich…"     Doch er kam nicht weiter, denn Nate beugte sich noch weiter zu ihm herunter, bis er dessen Atem an seinem Ohr spürte:     "Ich mag dich, Shinji. Deshalb kümmere ich mich gerne um dich. Du würdest auch dasselbe für mich tun, oder?"     Er war wirklich gerührt. Nate hatte sich wirklich nicht verändert. Wie oft musste er das noch feststellen, um es endlich zu begreifen?     Er wandte sich um und überbrückte den Abstand zwischen ihnen um Nate einen verzweifelten Kuss zu geben. Als er sich wieder löste, sah er Nate aus verweinten Augen an: "Natürlich würde ich das."     Auch wenn er vielleicht gerade doch zu sehr mit sich beschäftigt war, aber er würde jederzeit alles stehen und liegen lassen, wenn Nate wirklich Hilfe bräuchte. Dann wäre ihm sein aktueller seelischer Zustand auch vollkommen egal.     "Wie… wie ist das eigentlich…?" Er sollte diese Frage nicht stellen. Er sollte nicht… musste er sich denn immer selbst weh tun? Er sollte das nicht tun… er sollte nicht… er sollte nicht… fuck, er sollte wirklich nicht…     "Würdest du… wärst du gern mit mir zusammen? Ich meine… so offiziell? Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen."     Und er tat es trotzdem. Warum eigentlich? Es lief doch alles ganz hervorragend. Warum sabotierte er sich selbst so dermaßen? Das durfte wirklich nicht wahr sein!     "Ahm…"     Ja, was sollte Nate auch schon groß dazu sagen? Der hatte ihn gestern erst kennengelernt. Gestern! So viel dann also zu 'nicht unter Druck setzen'!     "Um ehrlich zu sein"     Shinji wollte schon einspringen und sagen, dass er es einfach vergessen sollte. Aber es war zu spät. Nate hatte sich schon eine Meinung gebildet, da würde er nicht mehr heraus kommen.     "Habe ich noch nicht direkt darüber nachgedacht. Ab dem Zeitpunkt, an dem du mir gesagt hast, dass wir zusammen seien… beziehungsweise, dass du die Person seist, der ich schreiben wollte, war ich neugierig darauf, wie sich das entwickeln könnte, wenn wir einfach dort weitermachen würden, wo wir aufgehört haben. Ich bin nicht sicher, was es heißt, in einer Beziehung zu sein. Aber wenn es heißt, mit dir zusammen zu sein, dann würde ich sagen: Ja."     Shinjis Herz sprang ihm fast aus der Brust vor Freude. Nur für einen Moment. Dann dachte er wieder daran, dass Nate ihn immer noch nicht kannte und die ganze Tragweite dieser Worte gar nicht verstand und noch tausend weitere Dinge, die seine gute Laune bremste. Zurück blieb ein zufriedenes Gefühl und der Gedanke, dass das eine wesentlich schönere Antwort war, als er erwartet hatte.     Er nickte und schmiegte sein verweintes Gesicht an den Bauch seines Freundes und seufzte leise, aber trotz allem irgendwie zufrieden.     "Manchmal frage ich mich, ob uns ständig so ein Mist passiert, weil irgendwer nicht will, dass wir zusammen sind… dass zwei Männer zusammen sind. Als ich meinem Therapeuten das erzählt habe, hat er mich gefragt, ob ich an höhere Mächte glaube - was ich nicht tue. Er hat mich gefragt, wem ich es denn dann unterstellen würde… darauf habe ich bis heute keine Antwort. Er hat mir dann vorgeschlagen, dass ich mir einen der Götter aussuche, denen die sexuelle Ausrichtung egal ist. Eine ziemlich verrückte Vorstellung, ehrlich gesagt. Aber ich hab es nicht gemacht, weil mir die Vorstellung, einen Glauben anzunehmen, nicht gefällt. … … irgendwie komme ich vom Thema ab… worauf wollte ich hinaus?"     Nate lachte und strich ihm über den Hinterkopf, richtete sich auch jetzt erst wieder auf. Wahrscheinlich weil er jetzt wusste, dass alles wieder einigermaßen okay war.     "Ich habe keine Ahnung. Willst du wissen, was meine Meinung dazu ist? - Ich glaube nicht, dass uns so etwas passiert, weil man uns auseinander bringen möchte. Denn dann wäre das ein Schuss in den Ofen. Wenn überhaupt denke ich viel mehr, dass es ein Test ist. Meinen wir es wirklich ernst? Denn wenn ja, dann sollte das alles kein Problem sein."     Shinji drehte sich auf den Rücken, damit er Nate leicht anlächeln konnte und er wollte auch schon etwas antworten, als er bemerkte, wir Nates Lächeln langsam schwand. Sein Blick glitt kurz in die Ferne, ehe er sich wieder fokussierte. Dennoch klang Nates Stimme abwesend, als er fragte:     "Shinji… kann es sein, dass ich dich im Supermarkt gesehen habe?"     "Im Supermarkt? Wie meinst du… … oh… OH!"     Seine Augen wurden groß, als er begriff, dass Nate sich an ihr erstes Treffen erinnerte:     "Ja… ja! Wir haben uns das erste Mal hier im Supermarkt wieder getroffen. Der gegenüber von dem Wohngebäude deiner Schwester. An was kannst du dich erinnern?"     "An den Supermarkt…", sagte Nate und schnaubte, wahrscheinlich selbst etwas frustriert über die spärlichen Informationen. "Ich glaube, ich bin gegen dich gedonnert… mit dem Wagen, oder?"     Aufgeregt nickte er viel zu oft: "Ja! Wir sind zusammen gestoßen. Als ich dich erkannt habe, hab ich geflucht und versucht mich aus dem Staub zu machen. Aber du hast nicht locker gelassen."     Nate schien noch weiter graben zu wollen, schaffte es aber nicht. "Entschuldige… davor und danach ist alles schwarz."     Doch Shinji lächelte nur kopfschüttelnd und strich ihm mit einer Hand über die Wange: "Kein Grund dich zu entschuldigen. Im Gegenteil. Das ist großartig! Ein erster Schritt und das schon am zweiten Tag. Ich bin sicher, mit etwas mehr Zeit erinnerst du dich auch an mehr."     Das gab wirklich Kraft, weiter zu machen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)