Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 49: Stur ---------------- Nate warf einen Blick auf die Korktafel, an der noch immer alltägliche Hinweise hingen. Sie waren ein wenig anders, als noch vor etwa einem Jahr. Statt 'geh vor die Tür' oder 'Mach auch mal Pause' hingen da jetzt Hinweise wie 'Geh liebevoll mit dir um' oder 'Erden'. Ersteres bedeutete ganz allgemein, dass er auf sich selbst achten sollte. Dazu gehörte ein ruhiges Frühstück, ein Kühlschrank, der immer hatte, was er brauchte und der ordentliche Umgang damit, wenn er einmal etwas nicht hin bekam. Die Erdung war das, was er vor einigen Stunden getan hatte. Das innerliche Mantra, dass sie das Jahr 2019 schrieben, er 31 Jahre alt war, für sich selbst sorgte und nicht mehr abhängig von irgendwelchen Erwachsenen war. Die Erdung war gut, um alte Traumata zu bewältigen, weil sie daran erinnerte, dass diese Zeit vorbei war. Es hing noch mehr von diesem Psychokram dort und es half. Auch wenn er nicht genau sagen konnte warum, aber es half. Dort hing auch eine krakelige Blume, die mit dem Namen 'Hana' unterschrieben war. Die Kleine übte fleißig, aber das war ihr erstes Bild, das sie für ihn gemalt hatte und auch wenn er es unsagbar hässlich fand, brachte er es nicht übers Herz, es weg zu werfen. Das war wohl der Charme von Kindern. Er hätte sich nie träumen lassen, einmal mit einem wirklich klar zu kommen. Dennoch waren ihm Teenager lieber. Die waren zwar trotziger und aufmüpfiger, aber wenigstens hatte er das Gefühl, sich mit denen auf einem Level unterhalten zu können. "Und obwohl du sauer warst, sind wir innerhalb von zwei Wochen ein Paar geworden?" Die Stimme kam unvermittelt und riss ihn schon wieder aus seinen Gedanken. Er war es nicht mehr gewohnt, jemanden ständig um sich zu haben und er war müde und ausgelaugt, das trug viel dazu bei. Aber ehe er antworten konnte, winkte Nate schon wieder ab. Warum, wusste Shinji nicht genau, aber er respektierte den Wunsch. "Erzähl mir was, was ich noch nicht wissen sollte. Was hast du gestern gemacht?" Anscheinend tat Nate sich selbst das an, wovor er angst gehabt hatte, dass er es ihm antun würde: Nate überforderte sich. Wäre es nicht vielleicht doch besser, er würde erst einmal etwas Abstand von allem bekommen? Nein, das klang nicht wirklich danach, als könne es funktionieren. "Nichts besonderes", murmelte Shinji nachdenklich und achtete darauf, dass nichts anbrannte. "Ich bin gegen drei Uhr nachmittags aufgestanden, um gemütlich in den Tag starten zu können. Weil ich nachts am besten Arbeiten kann, habe ich mich nach dem Frühstück im Internet vergraben, um Zeit totzuschlagen. Ich habe mit Bekannten gezockt und irgendwann gegen Abend kam der Anruf von Lily. Danach… puh… ich kann's dir gar nicht so genau sagen. Ist alles ein bisschen verschwommen. Ich denke, ich bin hauptsächlich nervös durch die Wohnung getigert und hab Panik geschoben und mir Sorgen gemacht." Es war wieder still zwischen ihnen. Wahrscheinlich verarbeitete Nate nur wieder die Daten. Shinji hatte auch versucht sachlich zu bleiben, aber es fiel ihm schwer, denn der Drang, sich an seinen Freund zu schmiegen und einfach nur zu genießen, dass er da war, war groß. Sehr groß. "Du solltest dir keine Sorgen machen, Kleiner." Er ließ fast das Kochbesteck fallen und riss den Kopf herum, erwartete, dass Nate da stand, lächelte und ihn wieder voller Liebe anblickte. Aber als er wieder nur in das ausdruckslose Gesicht sah, wusste er, dass es nur Zufall gewesen war. Er lachte bitter. Es blieb ihm fast im Hals stecken. "Jetzt hast du schon alles vergessen und ich bin den Spitznamen immer noch nicht los? Verdammt, ich hab aber auch gar kein Glück." Er gluckste freudlos und versuchte sein deprimiertes Gesicht vor seinem Mitbewohner zu verbergen, indem er sich wieder aufs Kochen konzentrierte. Er fühlte sich mieserabel, versuchte aber, es zu verstecken, weil er Nate das nicht antun wollte. Er wollte keine Ansprüche stellen und ihm nicht ständig zeigen, dass er immer noch hoffte, dass Nate sich einfach plötzlich wieder erinnerte. Er wollte ihm wirklich nur beistehen, aber das war schwer. Und er machte seinen Job nicht besonders gut. Nate ging plötzlich in die Mitte des Raumes, sah sich kurz um, schnaubte frustriert, zog eine düstere Miene und marschierte in den Flur. Ein paar Sekunden später, fiel die Haustür geräuschvoll ins Schloss. Stumm stellte Shinji den Herd aus und ließ sich einfach zu Boden sinken. Er schluchzte laut, weil er sich sicher war, dass ihn sowieso niemand hörte. Er war so verzweifelt und verunsichert und so unglaublich wütend. Wütend auf Nate und auf das Schicksal und diesen verdammten Krieg und auf den Rest der Welt. Womit hatten sie beide das verdient? Hatten sie nicht schon genug Schwierigkeiten? Warum das jetzt auch nocht? Das war doch einfach nur zum Kotzen! So saß er da und weinte endlich die Tränen, die er die ganze Zeit zurückgehalten hatte. Er lauschte ständig, denn Nate sollte das auf keinen Fall mitbekommen, es würde ihn nur weiter von ihm weg treiben. Irgendwie mussten sie einen Weg finden, mit der Situation klar zu kommen. Aber er sah einfach keinen. "Sorry, dass du warten musstest." Zum Glück bewegte sich Nate nur langsam, deshalb hatte er genug Zeit gehabt, um aufzuspringen und sich kurz das Gesicht an der Spüle zu waschen. Zumindest hatte er das vor gehabt. Aber wie immer, wenn er versuchte, irgendetwas schnell zu tun, ging das schief. Mit viel zu viel Schwung war er aufgesprungen und wollte gleichzeitig zur Spüle hin, die einen guten Schritt neben ihm war. Das Resultat war ein Gleichgewichtsverlust, der ihn zur Seite kippen ließ. Der Versuch, sich noch abzufangen, endete darin, dass er den Ellbogen auf die Arbeitsplatte donnerte und mit einem lauten Schlag wieder zu Boden ging. Dort hielt er sich wimmernd den Ellbogen. "Fuck!" Als Nate also die Küche betrat, lag er noch immer da und wartete darauf, dass dieser ekelhafte Schmerz nachließ. Wenigstens konnte er die geröteten Augen jetzt den Schmerzenstränen zuordnen, auch wenn er vor Nate dann wohl als totaler Weichling dastand. "Kein Problem", ächzte er. "Ich muss das Essen nur wieder warm machen." Nate beugte sich verwundert über ihn. "Wie hast du das denn geschafft? Hat dich die Küche attackiert?" "Nein, viel gewaltiger. Die ganze Erde ist plötzlich nach rechts gekippt und ich konnte mich nicht mehr schnell genug festhalten." Er grinste etwas verlegen, doch das fiel wieder, als er Nates ernste Miene sah. "Shinji… ich…" Was? Nein! Nein, nein, nein, nein! Nate war noch keine Stunde hier und da kam er mit diesem 'wir müssen reden' Tonfall? Nein! "Kann ich dir helfen?" Es brauchte einige Sekunden, bis er die neue Situation erfassen konnte. Das ging seinem müden Hirn viel zu schnell. Automatisch hielt Shinji ihm die Hand hin, damit er ihm aufhelfen konnte. Nicht, weil er unbedingt Hilfe brauchte, sondern einfach nur, damit er ihn endlich berühren konnte. Der kurze Handschlag zuvor, war viel zu kurz gewesen. Doch noch während er hoch gezogen wurde, wurde ihm bewusst, dass die Situation von gerade nur kurzfristig vorbei war. Wenn sie jetzt nicht darüber sprachen, würde ihr ganzes Konstrukt eher früher als später implodieren. "Ich hab auch darüber nachgedacht, dir vorzuschlagen, dass du erst einmal in ein Hotel zeihst und wir das einfach vor Lily verheimlich. Aber das werde ich dir nicht vorschlagen. Ich könnte dir natürlich tausend Gründe nennen, warum es für dich besser ist, wenn du hier bleibst… aber das sind alles nicht die Gründe, warum ich will, dass du bleibst. Ich kann dich nicht weggehen lassen… denn wenn du dich von mir fern hältst, verliere ich dich ganz. Und das lasse ich nicht zu. Es tut mir leid, dass du mich am Bein hast. Uns geht es beiden mit der Situation beschissen, aber da müssen wir jetzt eben durch. Ich lass dich nicht weglaufen, egal wie wahnsinnig ich dich mache. Du wirst mich nicht mehr los… schon gar nicht nach nur ein paar Stunden. Also… statt den einfach Weg zu gehen, musst du wohl den schwereren nehmen und einfach mit mir darüber reden, was dich ankotzt. Leb damit… du hast wirklich keine andere Wahl." Er würde Nate nicht aufgeben. Er konnte nicht. Auch wenn die Worte hart klangen, aber Nate sollte nie wieder, auch nur kurz darüber nachdenken, zu gehen. Er würde das nicht zulassen. Statt einer Antwort, wurde er von Nate ungläubig angestarrt, aber das machte nichts. Er starrte zurück. Er wollte ihm klar machen, dass er dieses Gespräch, wenn es sein musste, auch jede neue Stunde noch einmal mit ihm führen würde, bis es in seinem Schädel angekommen war, dass er ihn nicht aufgeben würde. Dann wurde er an den großen Körper gezogen. Viel zu vertraut, wurde ihm durchs Haar gewuschelt, dann legte Nate sein Kinn auf seinen Schopf und schloss zögerlich die Arme um ihn. Er hätte gleich wieder anfangen können zu heulen, aber er zwang sich zur Ruhe, erwiderte nur die Umarmung und schmiegte sich vorsichtig an ihn. Er war sich nicht sicher, ob er sich je in seinem Leben so euphorisch gefühlt hatte. Das war einfach nur der Wahnsinn. Er war so mit seinen überschwänglichen Gefühlen beschäftigt, dass er Nate fast nicht gehört hätte: "Warum hängst du nur so an mir? Im Prinzip könntest du jeden haben." Shinji konnte nicht anders als zu schmunzeln. "Weil du mich immer so genommen hast, wie ich bin.", antwortete er sanft undv vergrub sein Gesicht leicht in Nates Brust. "Egal, was ich angebracht habe, egal, wie hoch ich meine Mauern gezogen habe, du hast mich nie ändern wollen. Du hast mich nur unterstützt, mir geholfen. Es war egal, welche Fehler ich dir von mir gezeigt habe… ob es nun meine Antisozialität war oder meine Homophobie… und während ich vor Selbstzweifel fast vergangen bin, weil du so perfekt und ich so kaputt bin, hast du mir gezeigt, dass du mich für genauso perfekt hältst, wie ich dich. Du hast so viel auf dich genommen, damit es mir besser geht, hattest so unglaublich viel Geduld mit mir und hast mich niemals aufgegeben. Und obwohl du dich damals in den 17 jährigen Partylöwen verliebt hattest, hast du nicht eine Sekunde lang den Eindruck erweckt, als würdest du dir den zurück wünschen. Du hast mich neu kennengelernt und dich neu in mich verliebt und… und… ich weiß nicht… alles das und noch tausend Sachen mehr. Ich will niemand anderen als dich und ich bin mir sicher, schon nach diesen paar Stunden, dass ich mit dem neuen 'du' so empfinden werde. Ich werde dich auch ganz neu kennenlernen und wir werden zusammen neue Erinnerungen schaffen. Du wirst sehne… mit mir hast du nur zwei Wochen und ein paar Telefonate verloren. Das kriegen wir schnell wieder aufgeholt. Wir haben dann auf jedenfall genug Beschäftigung, findest du nicht? Schließlich müssen wir zusammen rausfinden, was du magst und nicht magst. Ich glaube, das kann auch ziemlich viel Spaß machen." Okay, er sah selbst ein, dass er es damit etwas übertrieben hatte und er hatte auch zwischendurch mehrmals den Faden verloren und das Thema gewechselt. Aber er hatte sich einfach nicht zurückhalten können. Es war aus ihm herausgesprudelt, weil er gerade einfach so glücklich war. Konnte man ihm das verdenken? Schließlich lag er endlich wieder in Nates Armen, es gab kein schöneres Gefühl. Zum Glück schien Nate sich nicht unterkriegen zu lassen: "Spaß, was? Du hast eine seltsame Definition von Spaß" Der neckende Tonfall beflügelte Shinji noch weiter, obwohl Nate ihn jetzt ein wenig von sich weg drückte. "Aber das klingt nach nem guten Plan." Shinji grinste schief und zuckte etwas die Schultern: "Ich hab eine ziemlich seltsame Definition von so gut wie allem…" Er sah Nate in die Augen, die jetzt wesentlich offener wirkten. Der harte Zug um seine Mundwinkel war verschwunden, die Haltung wirkte entspannter. "Nur red mit mir, ja? Ich weiß, es fällt schwer, jemand Fremden offen seine Gedanken und Gefühle mitzuteilen. Aber es ist notwendig, damit es dir besser geht. Denn wenn ich nicht weiß, wie es dir geht, kann ich dir nicht helfen. Wenn dir Dinge auf die Nerven ehen oder du frustriert bist, dann sag mir das, das ist vollkommen in Ordnung. Aber umgekehrt solltest du mir auch sagen, wenn du was gut fandest. Ich bin nicht besonders empathisch. Ich sehe zum Beispiel, dass deine Körperhaltung etwas entspannter ist, aber dennoch hab ich keine Ahnung, ob du mich umarmt hast, weil dir selbst danach war oder weil du dachtest, du müsstest das machen. Und ich kann auch nicht sagen, ob für dich die Umarmung wirklich etwas positives hatte." "Das ist wirklich bemerkenswert", erwiderte Nate mit einem verhaltenen Grinsen. "Du kannst gleichzeitig süß und nervig sein." Es dauerte einige Sekunden, bis in seinem Hirn angekommen war, dass Nate ihn nicht nur als süß bezeichnet hatte. Oh Mann… gut… er hatte es wirklich übertrieben. "Ich habe nach Reflex gehandelt. Aber ich muss zugeben… du hast irgendwas Beruhigendes." Nate schien ihm nicht böse zu sein, aber er beschloss, vorsichtiger mit seinen Redeschwällen zu sein. "Sorry", sagte er aber dennoch. "Ich hab das Bedürfnis, Leuten, die ich mag, eine Gebrauchsanweisung von mir in die Hand zu drücken, damit sie wissen, woran sie sind…" Er löste sich jetzt auch ganz von Nate, damit er nicht als aufdringlich rüber kam. "Ich lese keine Gebrauchsanweisungen", erwiderte Nate nur und grinste ein wenig dunkel. "Mein Therapeut meint, dass es sowieso eher eine Abwehrreaktion gegen sozialen Kontakt ist. Ich werfe Leuten die mir emotional näher kommen, so lange Unzulänglichkeiten von mir an den Kopf, bis ich sie damit verschrecke. Es ist also sowieso besser, wenn du gar nicht erst genauer zuhörst", erklärte er eine weitere Unzulänglichkeit von sich. Nate antwortete nicht mehr und weil er angst hatte, dass wieder unangenehme Stille zwischen ihnen entstehen könnte, wies er zu dem Tisch: "Setz dich schon mal, ich mache das Essen wieder warm. Das dauert ein paar Minuten." Das würde jetzt wahrscheinlich nicht halb so gut wie sonst schmecken, aber das war nicht mehr zu ändern. Hätte er den Herd an gelassen, wäre es ihm nur verbrannt. "Noch ein Bier dazu? Oder was anderes?" "Bier ist immer gut." Zumindest hatte sich das nicht geändert, auch wenn er ihm nur noch das eine geben würde. Die Gefahr, dass er zu viel trank und das durch die Schmerzmittel verstärkt würde, war ihm zu groß. Nate war letztendlich so begeistert von dem Essen, dass sie abmachten, jeden Tag eine andere Landesküche auszuprobieren, um zu sehen, welche Gewürzpaletten Nate mochte. Sie waren sich beide einig, dass das eine gute Beschäftigung war und ziemlichen Spaß bringen würde. Es war etwas, das sie beide etwas freudiger in die Zukunft blicken ließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)