Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 47: Kennenlernen ------------------------ Als Nate vor ihnen stand, musterte er sie beide, doch in seinen Augen lag keine Erkenntnis. Er stand auch noch immer in typischer Militärmanier vor ihnen - steif und viel zu gerade. “Nate, ich bin’s, Lily. Deine Schwester. Erkennst du mich denn gar nicht mehr? Oder ihn? Shinji?” Shinji war sich nicht sicher, ob das die richtige Herangehensweise war. Aber er verstand, dass es Gefühle gab, die man nicht unterdrücken konnte und die einfach raus mussten. Genauso wie seine gerade: “So viel dann also zu ‘ich bin ein Sniper, ich halte mich sowieso von dem Gröbsten fern’” Es war auch ein wenig seine Art zu überspielen, dass Nate ihn nicht erkannte. Andererseits musste er etwas sagen, um diese furchtbare Stille zwischen ihnen zu überbrücken. Er wollte anders sein als Lily, die Nate wahrscheinlich gerade nur unter Druck setzte, aber er war sich nicht sicher, wie er da anstellen sollte. Zuerst einmal unterdrückte er alle Fragen, die ihm auf der Zunge lagen und Nate sowieso nicht beantworten konnte, und stieß ein Seufzen aus, um den angehaltenen Atem wieder los zu werden. Danach atmete er noch einmal durch und streckte Nate die Hand hin. “Hi, mein Name ist Shinji.” Er lächelte Nate nicht an, sondern versuchte, ihn nur neutral anzusehen. Sein blutendes Herz und seine Angst vor der kommenden Zeit versteckte er wohlweislich hinter seiner Maske. Wenn Nate fragen würde, wie sie zueinander gestanden hatten, würde er ihn nicht anlügen, das brachte er nicht über sich und das wusste er jetzt. Aber solange er nicht fragte, würde er ihm auch nichts näheres sagen. Das einzige was gerade für ihn zählte, war bei ihm sein zu dürfen. Hauptsache Nate lebte noch. Alles andere konnte die Zeit hoffentlich wieder richten. Nate sah nur ratlos zwischen ihnen beiden hin und her, ergriff aber Shinjis ausgestreckte Hand. Doch statt mit einem von ihnen zu reden, wandte er sich an den anderen Militärkerl: “Und jetzt? Soll ich einen Geistesblitz bekommen?” Nate klang so genervt, dass Shinji automatisch einen halben Schritt zurückwich. “Das braucht nur etwas Zeit. Du weißt, was der Arzt gesagt hat.” Nate gab ein abfälliges Geräusch von sich: “Der Typ hat auch gesagt, dass mir die Gesichter familiär vorkommen… aber das tun sie nicht.” Als Nate versuchte sich von ihnen weg zu drehen, stöhnte er kurz vor Schmerzen, wahrscheinlich waren unter der Uniform noch wesentlich mehr Verletzungen. Der Drang, zu ihm zu eilen und ihm zu helfen, war für Shinji fast nicht zu ertragen, aber so wie sein Freund reagiert hatte, würde er sich nicht berühren lassen. War er überhaupt noch sein Freund? Für Nate war er gerade nur noch ein Fremder. Nate taumelte gegen die Wand, stützte sich daran ab und knurrte frustriert. Angepisst von der allgemeinen Situation, hatte er sich anscheinend entschieden, ihr einfach aus dem Weg zu gehen, denn ohne ein weiteres Wort verließ er einfach den Raum. Das war nicht typisch für Nate, aber das hier war auch eher eine Ausnahmesituation. Hoffentlich hieß das nicht, dass er sich maßgeblich verändert hatte. Lily wandte sich hilflos an Shinji, sagte aber nichts. Nur ihr Blick fragte stumm, ob er ginge oder sie ihrem Bruder hinterher müsse. Er ging, denn Lily war gerade definitiv nicht in der Verfassung, irgendetwas zu tun. Eigentlich ließ er sie nur ungern allein, aber sie war eine erwachsene Frau, sie würde schon auf sich aufpassen können, er wäre ja gleich wieder bei ihr. Er fand Nate tatsächlich ein Stück den Gang runter, wo er bei ihm stehen blieb. Die Zeit war nicht lange genug gewesen, dass er sich einen Schlachtplan hätte zurecht legen können. Es gab nur noch eines, worauf er zurückgreifen konnte und das war seine kühle Nüchternheit. Wahrscheinlich war das nicht die beste Umgangsweise, aber alles andere wäre so mit Gefühlen überschüttet, dass das noch schlechter gewesen wäre. “Ich hab null Ahnung, wie du dich fühlst und genauso wenig Ahnung davon, was du gerade brauchst, was dir gut tut, was dich aufregt oder was in dir welche Reaktion hervorruft.” Die Worte klangen kalt und distanziert, für Shinji waren es reine Informationen. “Ich habe schlicht keine Ahnung, wie ich mit dir umgehen soll. Das sage ich nicht, damit du dich schlecht fühlst… ich sage dir das nur, damit du es weißt und verstehst, warum ich dir jetzt ein paar vielleicht sehr merkwürdige Fragen stelle. Aber durch die Situation müssen wir jetzt beide durch.” Er sah wie Nate noch einmal sein Gesicht musterte, aber Erkenntnis blieb abermals aus. Er ging aber wenigstens nicht wieder weg, das war wenigstens etwas. Shinji schob seine Hände in die Hosentasche, damit sein Gegenüber nicht sehen konnte, wie sehr sie zitterten. Sein Herz hämmerte und er hatte Probleme zu atmen, aber er konnte sich jetzt nicht verkriechen. Innerlich ging er das Mantra durch, das er von seinem Therapeuten empfohlen bekommen hatte. Er war Shinji. 31 Jahre alt. Er kümmerte sich um sich selbst. Sie schrieben das Jahr 2019. Er war kein kleiner Junge mehr, der auf den Schutz von Erwachsenen angewiesen war. Er konnte für sich selbst Sorgen. “Ist es für dich angenehmer, wenn wir uns siezen?”, begann er dann mit den Fragen, doch er wollte auch, dass Nate den Grund dahinter verstand. “Ich will nicht, dass du dich gezwungen fühlst, irgendeine Form von Vertrautheit zu simulieren.” Eine Weile sah Nate ihn nur an, es dauerte etwas, bis er antwortete: “Siezen? Nein, das wäre wohl noch seltsamer, als es ohnehin schon ist.” Er seufzte und rieb sich am Kinn, musterte Shinji wieder: “Shinji, ja? Es tut mir leid, ich weiß, dass es für dich und deine Frau… Das ist meine Schwester, oder?” In Shinjis Kopf erschienen Bilder von einer Kaffeetasse, die mit Lippenstift beschmiert war und auch wenn es schmerzte, dass sein Freund vermutete, dass er mit jemand anderem verheiratet war, musste er Lachen. “Entschuldige”, schob er sofort ein, weil er nicht wollte, dass Nate sich verarscht fühlte. “Es ist nur… ich hab Lily schon mal für deine Frau gehalten. Es ist irgendwie ironisch, dass du jetzt das selbe bei mir vermutest. Nein… ich bin nicht mit Lily zusammen. Wir sind nur Freunde.” Das Lachen hatte irgendwie gut getan und er sah sogar, dass Nate etwas schief zurücklächelte. “Sorry”, entschuldigte der sich, aber Shinji winkte nur ab. “Aber was ich sagen wollte… Es ist bestimmt alles andere als einfach für euch, das ist mir klar. Aber wenn du nicht einmal weißt, wie du mit mir umgehen sollst, wie soll ich das dann wissen?” Leider hatte er sich das Rauchen durch die Amnesie nicht abgewöhnt, denn er griff in seine Hosentasche und zog eine Zigarette heraus. Als Shinji einen Blick auf die Verpackung erhaschen konnte, sah er sogar, dass es die gleiche Marke war. Die schlimmste seiner Angewohnheiten war geblieben, aber an ihn erinnerte er sich nicht mehr? Shinji biss sich auf die Zunge, weil er sonst vor Frust geschrien oder geheult hätte - vielleicht auch beides gleichzeitig. “Bleibst du hier oder kommst du mit?” Er war so in Gedanken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie Nate sich weg gedreht hatte. Klar, in diesem Gebäude herrschte sicherlich Rauchverbot. Nickend schloss er zu ihm auf und langsam gingen sie Richtung Ausgang. “Mach dir um uns keine Sorgen, okay? Es ist wichtig, dass du wieder auf die Beine kommst. Alles andere kann man hinten an stellen. Keiner erwartet was von dir…” Das war ein bisschen gelogen, aber er wollte nicht, dass Nate sich unter Druck gesetzt fühlte. Das würde nichts besser machen. “Ich geb mir Mühe, dir nicht allzu sehr auf die Nerven zu gehen, aber ich bin nicht gerade der empathischste Mensch auf dieser Welt. Red also einfach mit mir, wenn dich was stört oder auch freut. Ich denke, das ist die beste Methode, um mit der Situation umgehen zu können. So können wir uns noch einmal neu kennenlernen.” Während er Nate so vor sich hin humpeln sah, begann er abzuwägen, ob es in Ordnung war, ihn danach zu fragen, was passiert war. Aber er entschied, das aufzuschieben. Wahrscheinlich konnte Nate sich sowieso nicht erinnern. Der hatte zu seinem Vorschlag auch einfach nur genickt und fixierte stoisch den Ausgang, der für sein empfinden, wahrscheinlich viel zu langsam näher kam. “Eigentlich haben sie mir Krücken gegeben, damit ich es entlasten kann… Damit wäre es vermutlich schneller gegangen. Aber es sind Krücken…” Shinji musste grinsen. “Typisch du”, kommentierte er das nur und war doch froh, dass ein Teil von Nates Persönlichkeit auf jedenfall noch da war. Er war stur wie eh und je und hasste es Schwäche zu zeigen. Wie damals, als er mit einem angebrochenen Fuß gewandert war. Als sie draußen waren atmete er kurz durch, zumindest solange die Luft noch nicht mit Zigarettenrauch verunreinigt war. “Erzähl mir was”, forderte Nate nach einem tiefen Zug. “Wie lange kennen wir uns schon?” Shinji sah geradeaus und lehnte sich gegen die Wand hinter ihm, die Hände noch immer in den Taschen, auch wenn er sich wieder ein wenig ruhiger fühlte. “Theoretisch seit der High School. Aber du bist damals weg gezogen und wir haben den Kontakt verloren. Wir haben uns erst letztes Jahr wieder getroffen - zwei Wochen bevor du weg musstest. Ich bin es also gewohnt, dich neu kennenzulernen.” “So gute Freunde können wir ja dann nicht gewesen sein, wenn man durch einen Umzug den Kontakt verliert.” Shinji seufzte bitter, als er an die Umstände dachte, die dazu geführt haben. “Wenn du willst, erzähl ich dir, wie es dazu gekommen ist. Aber es ist eine etwas längere Geschichte. Es hatte aber nichts damit zu tun, dass wir nicht gut genug befreundet gewesen sind.” “Erzähl mir lieber was über dich. Was machst du beruflich? Hobbies? Gib mir ein paar Infos.” Er kratzt sich am Hinterkopf: “Ich bin nicht gut darin, von mir zu reden. Aber ich versuche es mal. Mein Name ist Shinji Yamato, ich bin 31 und arbeite als Freelancer in der Softwareentwicklung. Ich bin ein ziemlicher Eigenbrödler, etwas unordentlich und sensibler als es mir lieb ist. Ich zocke viel, bin ein Serienjunkie und hab eine Schwäche für Technik. Außerdem bin ich eine Nachteule. Normalerweise schlaf ich um diese Uhrzeit noch. Ich glaube, das ist so das meiste, was man über mich wissen sollte.” Er brachte es nicht über sich, zuzugeben, dass er schwul war. Aber wenigstens log er nicht, auch wenn es sich so anfühlte. Nate schwieg schon wieder. Er schnippte die Zigarette beiseite und nahm sich die nächste. Irgendwie verständlich, wenn man bedachte, dass er ein Stressraucher war. “Warum ist es zu dem Kontaktabbruch gekommen?” Jetzt sah er Shinji eindringlich an, als würde er ihn gerade verhören. Ob er ahnte, dass er ihm etwas verschwieg? Doch ehe er antworten konnte, ging die Tür auf und Lily kam mit dem Militärkerl heraus. Der Mann hatte einen Rucksack in der Hand, wahrscheinlich waren das Nates Habseligkeiten. “Ich denke, wir sollten langsam los. Sonst wird es zu spät, bis wir zu Hause sind.”, merkte Lily an und lächelte unsicher zu Nate. “Wohn ich etwa mit dir zusammen?” Die Irritation war überdeutlich zu hören. “Äh… nein. Normalerweise nicht. Aber…” “Nimms mir nicht übel, aber ich wäre gerne dort, wo ich zu Hause bin.” “Nate… du solltest jetzt wirklich nicht alleine sein. Es ist besser so.” “… Ich habe vielleicht mein Gedächtnis verloren, aber ich bin bestimmt nicht behindert. Ich brauche keine Aufpasserin.” Lily sah hilfesuchend zu Shinji und dem Militärkerl, wobei letzterer sich hütete, etwas dazu zu sagen. Shinji warf einen Blick auf den Fremden in der Runde. Er konnte unmöglich hier preisgeben, dass ein erwachsener Mann bei einem anderen lebte. Er wollte Nate keinen Ärger machen. “Komm am Besten erst einmal mit zum Auto, ich erklär dir deine Wohnsituation auf dem Weg. Das ist etwas komplexer…” “Was ist daran komplex? Wohn ich etwa unter einer Brücke oder was?” Offensichtlich hatte Nates Geduld gelitten, aber es war ihm kaum zu verdenken. Doch ehe er explodieren konnte, drückte ihm der Militärtyp den Rucksack in die Hand. “Wir bleiben in Verbindung, Connors. Und vergessen Sie ihre Rehastunden nicht.” Bei dem Wort ‘vergessen’, traf den Kerl ein vernichtender Blick, der letztlich auch dafür sorgte, dass er eilig abzog. Sie setzten sich in Bewegung, während Nate mit einem weiteren Blick zu verstehen gab, dass er jetzt eine Erklärung wollte. “Du hast zwar eine eigene Wohnung, aber bevor du weg bist, bist du bei mir eingezogen und ich weiß, dass du meine Wohnung definitiv mehr als ‘dein zu Hause’ angesehen hast, als deine eigene.” Er ratterte das etwas schnell herunter, aber er war auch unglaublich nervös. Entweder würde Nate jetzt darauf plädieren, trotzdem in seine eigene Wohnung zu gehen oder würde fragen, warum er mit jemandem zusammen gezogen war, den er erst zwei Wochen zuvor wieder gesehen hatte. Shinji wusste, dass er da nicht mehr raus kam, auch wenn er das Gespräch nicht führen wollte, aber es würde sowieso irgendwann raus kommen und dann könnte man ihm wirklich vorwerfen, gelogen zu haben. Oder - und das war sogar noch schlimmer - Nate würde sich an jemand anderen heran machen. “Warum? Ist deine Wohnung etwa so cool?” Lily schloss das Auto auf, was Shinji kurz einen Moment gab, um sich eine Antwort zurecht zu legen. Er wusste, dass genau jetzt der Moment war. Jetzt… genau jetzt. Aber er schaffte es nicht. Ihm blieben die Worte im Hals stecken. Er war ein elendiger Feigling. “Du fühlst dich da einfach sehr wohl…”, er murmelte das so undeutlich, dass eigentlich klar sein musste, dass er etwas verschwieg. Dass Nate das begriff, sah man an dessen skeptischem Blick. Aber er grummelte nur, lud seinen Rucksack ein und setzte sich dann auf die Rückbank, wo er sein Bein ausstrecken konnte. Damit ersparte er Shinji die schwere Entscheidung, wo er platznehmen sollte. Er setzte sich auf den Beifahrersitz. Für einige Zeit hingen alle ihren eigenen Gedanken nach, doch erstaunlicherweise war es Nate, der die Stille durchbrach. “Hey.” Shinji sah nach hinten und beobachtete, wie Nate das Bein von der Rückbank nahm und sich zu ihnen vorlehnte. “Gibt es da draußen eigentlich jemanden, der auf mich wartet? Wo ist denn die Person, der ich das hier schreiben wollte?” Vollkommen schockiert las Shinji die Worte auf dem Handydisplay. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)