Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 46: Abholen ------------------- Wochen später warf Shinji sein Handy gegen die Wand. Er achtete darauf, dass es nicht kaputt ging. Nicht noch einmal. Das war ihm letzte Woche erst passiert, seitdem hatte er kein Smartphone mehr, sondern ein normales Handy. Mittlerweile versuchte er mehrmals am Tag, fast schon jede Stunde, Nate zu erreichen. Die Angst, dass seinem Freund etwas passiert sein könnte, zerfraß ihn. Schlafen konnte er nur noch mithilfe von Tabletten, die er nicht nahm, weil er Angst hatte, den Anruf zu verpassen. Mittlerweile war er in einem Stadium, in dem er kaum noch in der Lage war zu Arbeiten und damit fehlte ihm die wichtigste Ablenkungsmöglichkeit, die er hatte. Warum nur meldete sich Nate nicht? Das Handy klingelte nur ein mal, da hatte er schon abgehoben. Doch die Stimme am anderen Ende war nicht die, die er hören wollte. “Shinji? Nate kommt zurück.” Lilys Stimme war bar jeder Euphorie. Shinji rutschte das Herz in die Hose. “Was ist passiert? Er lebt noch, oder?” War er Querschnittsgelähmt? Lag er im Koma? Fehlten ihm Gliedmaßen? “Ich weiß nicht, was genau passiert ist. Er ist noch am Leben, aber…” Lilys Stimme zitterte unter Tränen, doch Shinji musste sich zusammenreißen, sie nicht anzuschreien. Die Spannung, die Sorge, die Angst… es war unerträglich für ihn. “Einer der Offiziere hat mich kontaktiert und gemeint, er sei stabil genug, um nach Hause zu fliegen. Aber scheinbar hat er Probleme, sich zu erinnern.” “Was heißt, er hat Probleme sich zu erinnern?” Sich an was zu erinnern? An einen Unfall? An den Einsatz? An sein ganzes Leben? Warum zum Teufel war Lily nicht präziser? “Ich weiß es nicht genau. Ich werde ihn morgen abholen, aber könntest du… könntest du mich begleiten? Ich habe…” Lily wurde so leise, dass er sie kaum noch verstand. “… Angst vor dem Wiedersehen.” Und ihm sollte es da besser gehen? Was, wenn er ihre Beziehung vergessen hatte? Wie sollte er ihm dann gegenübertreten? Als bester Freund? Aber diese Fragen konnte er sich auch unterwegs noch stellen. Er wollte unbedingt mit. Egal was war, er musste Nate sehen. Er musste einfach. “Ja… natürlich komme ich mit. Aber was machst du mit Hana? Wir können sie unmöglich mitnehmen.” Ihren geliebten Onkel wieder zu sehen und dann zu bemerken, dass er sich nicht an sie erinnerte, wäre zu grausam für ein Kind. Oder sie könnte es nicht verstehen, was auch seine eigenen Probleme mit sich brachte. “Hana bringe ich zu einer Freundin.” “Das ist gut…” “Kann ich dich dann morgen abholen? Es wird eine lange Autofahrt, wir müssen zum nächsten Militärflughafen. Danke, Shinji.” Sie sprachen noch miteinander ab, wann sie los fuhren, dann legte er auf. Während Lily gegen Ende wieder ruhiger gewirkt hatte, klopfte sein Herz immer schneller. Was, wenn sie ganz von vorne anfangen mussten? Er konnte Nate doch schlecht sagen, dass sie zusammen waren, sich sogar sicher waren, dass sie ihr Leben zusammen verbringen wollten. Er war noch lange nicht so weit einem ‘vollkommen Fremdem’ von seiner Ausrichtung zu erzählen und schon gar nicht, war er so weit, jemanden zu bezirzen, von dem er nicht einmal wusste, ob er schwul war. Das war eine Katastrophe. Es ging morgens um halb Acht los. Shinji konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal geschlafen hatte, aber so schlimm wie diese Nacht, war es noch nie gewesen. Er konnte auch nicht sagen, wie viele Notfalltropfen er intus hatte. Es waren eigentlich zu viele, aber sie halfen dennoch nicht. Ihm war nur schlecht. Einmal hatte er sich in der Nacht sogar übergeben vor Stress, das war ihm lange nicht mehr passiert. Wie gerne hätte er jetzt mit seinem Therapeuten gesprochen, aber es ging nicht. Es gab wichtigeres. Diesmal musste er das ganz allein auf die Reihe kriegen. Er hatte auch gar keine Wahl mehr, denn er saß bereits im Auto und starrte aus dem Fenster. “Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht… Was ist, wenn es ihn zu sehr schockt, dass er schwul ist? Ich habe Angst ihn zu verlieren… er hat es geschafft mich davon zu überzeugen, dass das nicht Schlimmes ist, aber wenn er das jetzt anders sieht? Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin, dass ich wem anderes vorleben kann, dass das alles kein Problem ist.” Doch Lily lachte nur, was Shinji mehr als irritiert zu ihr sehen ließ. Was bitte war daran denn witzig? “Entschuldige”, stieg sie dann auch sofort darauf ein. “Es ist nur… kann man so was denn vergessen? Nate hat sich ziemlich früh vor uns geoutet. Da war er dreizehn oder vierzehn. Eines Tages ist er in die Küche gekommen und hat gesagt ‘nur damit ihr es wisst, ich bring euch kein Mädel nach Hause. Aber vermutlich nen Jungen. Lebt damit.” Jetzt musste er auch lachen. Das war so typisch für Nate. Er konnte sich das wirklich bildlich vorstellen. Oh, wie sehr wünschte er sich, damals genug Courage gehabt zu haben, um es ihm früher zu sagen. Obwohl es weniger an dem Mut gelegen hatte. Er hatte es nur extrem spät bemerkt, weil er davor einfach kein Interesse an irgendwem gehabt hatte. “Egal wie viel er vergessen hat, es ist immer noch Nate.” Ja, es war noch immer Nate, dennoch. “Ich will ihn nicht überfordern… ich weiß nicht… ich hab Angst vor seiner Reaktion. Wie soll ich das überhaupt machen? ‘Hi, ich bin Shinji, dein Lebensgefährte’? Das klingt irgendwie echt dumm… ich will nicht, dass er sich unter Druck gesetzt fühlt oder denkt, ich hätte die Erwartung, dass er sich am Besten in dem Moment schon wieder erinnert. Natürlich will ich ihn zurück haben… aber gerade will ich einfach nur für ihn da sein können. Ich habe Angst, dass er mich nicht lässt…” Lily schwieg lange und er konnte sehen, dass sie ihm ständig wieder Blicke von der Seite zu warf. “Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er seine große Liebe so einfach vergisst. Hast du eine Ahnung, wie oft er von dir erzählt hat? Er ist total vernarrt in dich.” Lily sagte das, als wäre es die einzige zulässige Antwort. Nach diesem Statement war es wieder etwas stiller im Auto, unter anderem deshalb, weil Shinji sich zusammenreißen musste, nicht wieder darüber nachzudenken, warum Nate ihn eigentlich liebte. Er hatte nichts besonderes getan… zumindest nicht aus seiner Sicht. Er sah wieder aus dem Fenster und lauschte der leisen Musik. Als sie schließlich das Auto auf den vorgeschriebenen Parkplatz lenkten und ausstiegen, bewegten sie sich erst einmal nicht. Der Flughafen war kleiner, als ein normaler, dennoch besser überwacht. Shinjis Hände zitterten leicht und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hatte die Notfalltropfen nicht dabei, weil er schon viel zu viele davon genommen hatte und angst hatte, bei noch mehr, einfach einzuschlafen. Sein Körper schrie nach Schlaf, das musste er nicht auch noch unterstützen. Als Lily vorschlug zu gehen, nickte er nur und versuchte ihr ein Lächeln zu schenken. Es misslang kläglich. Dann setzte er sich in Bewegung. “Und du weißt wirklich nicht, was genau passiert ist?” Es war der klägliche Versuch, die Stille zwischen ihnen endlich zu durchbrechen. “Ich weiß nur, dass ein Manöver schief gelaufen ist und er versucht hat, noch etwas zu retten. Ich habe auch nicht alles verstanden, ich war ziemlich durch den Wind. Ich habe nur gehört ‘Conners’, ‘Ist stabil’ und ‘kommt nach Hause’. Dazwischen hat er auch noch etwas gesagt, aber das ist da wieder raus gekommen.” Lily deutete auf ihr Ohr und lächelte schief. Kurz vor dem Gebäude, wurden sie von einem Soldaten abgefangen, der ihre Ausweise sehen wollte. Es war komisch, einen Soldaten live zu sehen. Der Mann wirkte sehr geschäftsmäßig und abgebrüht, so, wie er sich jemanden vom Militär immer vorgestellt hatte. Genau so, nur noch etwas strenger wirkend, war auch der Mann, der sie letztendlich begrüßte. “Sie müssen Conners’ Schwester sein, richtig?” Er hielt Lily kurz die Hand hin und schien ihn nicht weiter zu beachten. War ihm nur recht so, er brauchte vom Militär keine Aufmerksamkeit, er fühlte sich auch so schon unwohl genug. “Kommen Sie. Wir sind vor einer Stunde hier angekommen. Ich bringe Sie zu ihm.” Eigentlich hatte er den Mann fragen wollen, wie es Nate ging, aber als er nur noch den Rücken sah, traute er sich nicht so recht. Sie wurden in eine Art Warteraum geführt, wo Nate anscheinend auf sie wartete. In der Uniform, die er trug, erkannte Shinji ihn erst gar nicht. Er suchte kurz den Blick seines Freundes, konnte aber nichts darin erkennen. Lily neben ihm war wie erstarrt, weshalb er versuchte das Schweigen, das entstanden war, zu brechen. “Hi, Nate”, grüßte er steif. “Wie… wie geht es dir?” Es war schwer zu sprechen. Diese ganze Umgebung hier machte ihn nervös, schüchterte ihn ein und er wusste beim besten Willen nicht, wie Nate reagieren würde. Er hatte Angst… und er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Nates Blick sich lichtete und er ihn in seine Arme schloss und ihm zuflüsterte, wie sehr er ihn vermisst hatte. Aber sein Blick blieb verschlossen. Nate kam langsam näher. Er humpelte… und als das Licht günstiger auf ihn fiel, konnte Shinji viele kleine Schnittwunden erkennen. “Nate…”, wisperte Lily schockiert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)