Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 32: Gedanken -------------------- Sein Geist schnappte zurück in die Realität, als das Wasser plötzlich nicht mehr da war. Er hatte sich doch gerade nur kurz hin gesetzt, weil er so erschöpft von sich selbst gewesen war. Als er dann ein Handtuch um die Schultern gelegt bekam, sah er auf. Ihm war warm und seine Haut spannte unangenehm. Er war unendlich müde und es dauerte ein bisschen, bis er Nates Gesicht tatsächlich fixieren konnte. Er hatte das Gefühl, Fieber zu haben. "Das nächste mal gehen wir japanisch essen." Hä? Was? Sie waren doch gar nicht essen? Aber japanisch wäre schön. Er hatte nichts japanisches mehr gegessen, seit sein Vater ihn rausgeworfen hatte. "Klingt gut", murmelte er deshalb, auch wenn er nicht wirklich wusste, wie Nate darauf kam. "Warum wartest du immer, bis ich schlafe? Wenn es dir nicht gut geht, will ich das wissen. Wie lange wärst du sonst noch hier sitzen geblieben?" War die Frage nicht eher, wie lange er hier schon saß? Er konnte es nämlich nicht sagen. Es fühlte sich an, als wäre er gerade erst aus dem Zimmer gegangen, aber dann wäre ihm nicht so schwindlig. Er zuckte etwas hilflos mit den Schultern und wusste nicht recht, was er sagen sollte. Er konnte es ja selbst nicht genau erklären. "Das Ablenken hat diesmal so gut funktioniert… und als du weggedöst bist… ich weiß nicht… ich hab selbst gedacht, es wäre in Ordnung, aber ich konnte so nicht schlafen. Ich wollte dich nicht wecken, deshalb hab ich gewartet bis du tief genug eingeschlafen warst… Ich wollte nur duschen, aber als ich dann hier war… ich weiß nicht genau…" Wenn er ehrlich war, waren seine Erinnerungen dann etwas verschwommen. Er hatte sich nicht wohl gefühlt… hatte sich schmutzig gefühlt und als er die Duschkabine betreten hatte… danach verschwamm alles. Er konnte nicht einmal sagen, an was er währenddessen gedacht hatte. Aber er war jetzt auch noch nicht ganz da. Er bemerkte erst jetzt, dass Nate ihn streichelte. Seine große Hand fuhr langsam seine Wirbelsäule auf und ab. Das war ein schönes Gefühl, weil es ihm zeigte, dass er nicht alleine war. "Wie viel Uhr ist es?" "Es ist kurz vor halb vier." Was? Scheiße, er hatte 4 Stunden hier gesessen? Kein wunder, dass es ihm so mieserabel ging. "Kannst du aufstehen?" Um das herauszufinden hielt Nate ihm die Hand hin. Als Shinji sie ergriff, zitterte seine Hand, aber schließlich schaffte er es auf die Beine, er musste sich nur stark an Nate stützen, damit das so blieb. "Danke, dass du nach mir gesehen hast", murmelte er leise. "Und sorry, dass du nicht mal eine Nacht durchschlafen kannst…" "Ich brauche nicht viel Schlaf, also ist das okay." Ob Nate jetzt immer noch dachte, dass er unkompliziert und liebenswert war? So wie er ihn ansah, vermutete er schon, aber wirklich glauben konnte er das nicht. Schritt für Schritt gingen sie Richtung Schlafzimmer, wo Shinji sich dann endlich wieder setzen konnte. Die Welt drehte sich noch immer, aber es wurde langsam besser. "Zieh dir erst einmal die Sachen an. Ich hol dir in der Zwischenzeit etwas zu trinken. Möchtest du Tee?" Wo hatte Nate eigentlich die Kleidung her? Huch… das war sogar die, die er sich mit ins Bad genommen hatte. "Mir wäre ein Glas Wasser gerade lieber." Etwas warmes wäre ihm jetzt zu viel. Nate ging und ließ ihn allein, damit er sich anziehen konnte. Er streifte sich gerade Mal die Hose über, dann hielt er inne. Er fühlte sich wie der letzte Versager, unfähig sein Leben zu leben und unfähig mit seinen Problemen fertig zu werden. Er hatte gehofft, dass sich einfach abzulenken, der richtige Weg gewesen wäre, aber anscheinend hatte es das nur schlimmer gemacht. Was sollte er denn noch tun? Die Ratlosigkeit machte ihm angst. Was, wenn das gar nicht mehr weg ging? Wenn er immer so bliebe? Wenn der Schaden einfach zu groß war? Die Tränen, die er die ganze Nacht zurück gehalten hatte, brachen jetzt aus ihm heraus. Die Verzweiflung und die Angst waren einfach zu groß und er zu schwach um damit fertig zu werden. Dass er schon wieder heulte wie ein kleines Kind, war doch Beweis genug. Er bemerkte Nate erst, als er sich auf das Bett setzte und ihn einfach an sich zog. "Weißt du, was noch mein Manko ist?", fragte er in die Stille der Nacht hinein, während er sein Kinn auf seinem Kopf bettete, "Ich bin echt scheiße im Trösten." "Du solltest das gar nicht tun müssen", er stockte zwischendurch immer wieder ein bisschen, weil er verhindern wollte, zu schluchzen. "Ich sollte mich endlich zusammenreißen. Ich bin 30 Jahre alt! Und statt mich wie ein Mann zu benehmen, sitze ich hier und heule rum! Das löst die Probleme auch nicht." Und es war vor allem so unglaublich untypisch für ihn. Wo kam das nur ständig her? Er verstand es ja selbst nicht. Er fühlte sich gerade schlichtweg elend und obwohl er wusste, dass das gerade nur ein Anfall war und das Gefühl wieder abklingen würde, fühlte es sich so an, als würde es nie mehr weg gehen. "Was hat das mit dem Alter zu tun?", fragte Nate sanft. "Oder mit dem Geschlecht? Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Du zeigst deine Emotionen eben sehr offen." Na, eben nicht! Er war sonst keine solche Heulsuse. "Das muss nichts Schlechtes sein. Und es nur hinunter zu schlucken, als wäre nichts, löst die Probleme genauso wenig." Nate drückte ihn kurz, ehe er voller Überzeugung weitersprach: "Wir finden schon eine Lösung. Bis dahin werde ich dich weiterhin im Arm halten, wenn dich etwas so fertig macht." "Und was ist, wenn es keine Lösung gibt?", warf er sofort dazwischen. Es fühlte sich nicht so an, als gäbe es eine Lösung dafür. "Was, wenn es immer so bleibt? Wenn das jedes Mal passiert, wenn wir miteinander schlafen? Wenn ich jedes Mal einen Babysitter danach brauche? Das ist doch kein Zustand!" Und irgendwann würde das Nate auch leid sein und dann verlor er ihn wieder. Das durfte auf keinen Fall passieren. Er wollte Nate nicht noch einmal aus seinem Leben streichen müssen. "Wenn es immer so bleibt, werde ich dich eben immer danach im Arm halten. Ich kann mir Schlimmeres vorstellen. Stell dir vor, du wärst nicht homophob, sondern stattdessen Sex besessen und ich müsste mir ständig Gedanken darum machen, ob du mich betrügst." Nate drückte ihn ein wenig von sich, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Shinji hatte nicht die Kraft um ihm in die Augen zu schauen, weshalb Nate sich damit begnügte, ihm einfach nur die Tränen von den Wangen zu wischen. "Ich weiß, es ist alles andere als leicht für dich. Ich weiß das. Aber ich bin ziemlich sicher, dass wir eines Tages eine Lösung dafür finden. Vielleicht brauchst du so etwas wie ein Ritual. Wenn du irgendwann mit einem Therapeuten darüber sprichst, wird er dir bestimmt auch helfen können. Und ich werde dich so oft begleiten, wie es nötig ist, damit er mir erklären kann, was ich besser machen kann. Du bist nicht der Einzige, der an sich arbeiten soll. Ich unterstütze dich mit allem, was ich habe." Die Hand, die Shinji eine Haarsträhne hinters Ohr strich, war genauso sanft wie die Stimme von Nate. So wie er das sagte, klang das alles ganz einfach und logisch. Aber es traf auch nicht ganz den Punkt. Was, wenn selbst der Therapeut nicht helfen konnte? Was, wenn das alles wirklich viel zu tief saß? "Irgendwann wird dir das einfach nur noch furchtbar auf die Nerven gehen.", murmelte er und die Verzweiflung lag mehr als deutlich in seinen Worten. "Und ich kanns verstehen! Mich würde es auch nerven. Stell dir vor, das ist in 10 Jahren immer noch so. Und sowas kommt so schleichend. Irgendwann denkst du dir, dass du eigentlich lieber schlafen würdest, als mich schon wieder zu trösten. Oder, dass du einmal gerne einfach ruhig nach dem Sex neben mir liegen würdest. Und wenn das erst einmal anfängt, dann wird es schlimmer. Dann lehnst du mich irgendwann das erste Mal ab, weil du einen schlechten Tag hast oder dich einfach gestresst fühlst und keine Lust darauf hast, dich auch noch um mich kümmern zu müssen. Das ist menschlich und ganz normal… aber für ein dauerhaftes Zusammenleben tödlich.Das… das kann so auf Dauer nicht funktionieren. Was ist, wenn die Therapie auch nichts bringt?" Er redete schneller als gewöhnlich und hatte immer mehr Probleme ruhig zu atmen. Er schluchzte eigentlich nur noch und schnappte zwischendurch nach Luft, weil er das Gefühl hatte, viel zu wenig davon zu bekommen. Das einzige, was ihn am vollkommenen Durchdrehen hinderte, war die Hand, die noch immer auf seiner Wange lag und ihn sanft ein wenig streichelte. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auch in zehn Jahren noch so ist und ich weiß auch nicht, was ich machen würde, wenn das so wäre. Aber ich weiß, dass ich dich niemals links liegen lassen würde, wenn du weinst. Du wirst auch noch nach zehn Jahren meine oberste Priorität sein, egal ob ich gestresst bin oder einen schlechten Tag habe. Das hat sich immerhin in den letzten fünfzehn Jahren auch nicht geändert." Nate legte die Hand, die ihn eben noch liebkost hatte, auf eine seiner Hände und drückte dort sanft. "Hab ein bisschen mehr Vertrauen in mich, Shinji. Ich liebe dich, verstehst du das?" Nein, hätte er beinahe geantwortet. Nein, ich verstehe es nicht. Wie sollte er das auch verstehen? Er konnte akzeptieren, dass es so war, aber ihm wollte nicht in den Kopf, wie man jemanden wie ihn so sehr lieben konnte. Aber er drehte sich im Kreis. Er wollte Nate unbedingt begreiflich machen, warum er angst hatte und woher das kam. "Ich vertraue dir, Nate. Aber die Logik ist unabstreitbar. Und Liebe…", er machte ein etwas abfälliges Geräusch. "Liebe ist heruntergebrochen doch auch nur ein Hormoncocktail und danach ein Gewöhnungseffekt." Irgendwann in seinem Leben würde er zurück auf diesen Satz blicken und über sich selbst und seine Dummheit lachen. Aber zu diesem Zeitpunkt war er fest davon überzeugt. "Darauf werde ich mich sicher nicht verlassen." Er drehte seine Hand um und verschränkte ihre Finger etwas schüchtern miteinander. Sein Blick fiel automatisch nach unten und betrachtete diese Haltung. "Ich verlasse mich viel lieber auf deine Geduld und deine Gutmütigkeit. Aber alles hat eben seine Grenzen. Ich habe nur Angst davor, eines Tages an deine zu stoßen und sie unwiederbringbar zu überschreiten." Nate lehnte sich etwas vor, so, dass seine Stirn an Shinjis Kopf lag: "Ich weiß, du kannst nicht viel damit anfangen. Du willst alles rational erklären können. Aber irgendwann wirst du auch merken, dass nicht alles logisch ist. Ich kann dir bis dahin nur mein Wort darauf geben, dich zu unterstützen. Aber dafür musst du mich auch helfen lassen, wenn es dir nicht gut geht. Mach das nicht immer nur mit dir alleine aus. Ich bin dazu da, dir deine Last ein wenig abzunehmen." Shinji atmete kurz durch, kam aber schon sehr bald an eine erneute Grenze, die ihn frustriert und auch sarkastisch aufschnauben ließ. "Was soll ich denn sagen?" Wie stellte Nate sich das auch vor? "Soll ich dir wirklich beschreiben, wie elend ich mich fühle? Wie widerlich schmutzig und ekelhaft? Dass mir schlecht wird, wenn ich daran denke, was du mit mir gemacht hast? Was ich mit mir habe machen lassen? Wie sehr ich mich dafür schäme, es auch noch genossen zu haben? Soll ich dir erzählen, wie ich jedes Mal wieder die Kommentare der anderen von damals höre? Ganz zu schweigen von dem Gesichtsausdruck von meinem Vater, als er mich rausgeworfen hat und den ich immer wieder vor meinem inneren Auge habe?" Er merkte, dass er etwas getroffen hatte, tief in Nates Innerem, denn sein Freund spannte sich an. Der konnte ihm wirklich nicht erzählen, dass er das hören wollte. "Was bringt das denn, außer, dass du dich dann auch noch schlecht fühlst? Es ist nun mal mein Problem. Was bringt es, darüber zu reden? Was willst du denn sagen? Dass es nicht schlimm ist, schwul zu sein? Dass ich mich von der Meinung anderer nicht so fertig machen lassen soll? Dass das alles was ganz natürliches ist und es im Prinzip vollkommen egal ist, auf wen man steht? Das weiß ich! Aber es hilft mir nicht, das zu wissen. In den Momenten nach dem Sex… frage ich mich trotzdem immer und immer wieder, wie ich so schwach gewesen sein konnte, dass ich das zugelassen habe, ja, es sogar initiiert habe. Obwohl ich weiß, dass es eigentlich nicht schlimm ist. Es fühlt sich dann aber nicht so an, als wäre alles in Ordnung." Nate schwieg nach dieser Ansprache eine ganze Weile, was ihm nicht zu verübeln war und Shinji war auch recht froh darum, er hatte sich ein wenig zu sehr in Rage geredet und musste erst einmal wieder runter kommen. "Ja", erklang es dann aber schließlich. "Sag mir, wie du dich fühlst und ich werde dir immer eine Antwort geben. Wer gibt dir auch sonst einen Kommentar? Irgendwer muss das doch übernehmen. Wenn du das auch noch machen musst, ist das Energieverschwendung, findest du nicht?" Langsam lotste Nate ihn so, dass sie kurz darauf wieder auf dem Bett lagen. Nate umschloss ihn fast ganz, ein Vorteil seiner enormen größe. "Und behaupte nicht, es wäre nur dein Problem. Wir sind ein Team. Sperr mich nicht überall aus, nur weil du denkst, es könnte holprig werden. Du würdest doch auch nicht einfach tatenlos dabei zusehen, wie ich leide, oder? Würdest du auch denken, es wäre mein Problem?" "Nein", hauchte Shinji sofort. Nein, natürlich nicht. Er würde Nate helfen wollen. Egal wie und egal zu welchem Preis. "Ich will nur nicht… ich will nur das was wir haben… nicht herabwürdigen, verstehst du? Es… es ist schön und wertvoll und… ich will das nicht in den Dreck ziehen, indem ich sage, dass ich es nicht richtig finde." Es klang wahrscheinlich ein wenig irre, aber er schämte sich wirklich dafür, dass er sich dafür schämte, was er war. Nate zog ihn noch ein wenig näher, so dass er nun wirklich gänzlich in der Umarmung verschwand. "Es ist okay, wenn du das sagst, denn obwohl du das denken magst, bist du dennoch hier bei mir und gibst dir Mühe, es nicht zu denken. Solange du das tust, bin ich optimistisch, dass du mir eines Tages sagen kannst, was du für mich empfindest, ohne dich danach schuldig zu fühlen. Bis dahin werde ich auf dich warten." Nach langem Schweigen, während dem Shinji nicht einmal hätte sagen können, woran er dachte, murmelte er letztendlich: "Danke… danke, dass du da bist… dass du mich gewählt hast und dass du mich nicht aufgibst." 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