Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 31: Macken ------------------ Es war schön gewesen. Wirklich schön. Unglaublich schön. Und wenn er das weiter dachte, wurde das vielleicht auch wahr. Nein, es war nicht gelogen. Es war wirklich schön gewesen. Aber sollte es schön sein? Hatten sie nicht schon wieder Dinge getan, die sie nicht tun sollten? In seinem Magen machte sich ein merkwürdiges Gefühl breit, das sich auf seine Brust ausbreitete und ihm letztendlich das Atmen schwer machte. Wie hatte er sich schon wieder dazu hinreißen lassen können? Was hatte er die letzten Tage überhaupt getrieben? War er wirklich eine Beziehung eingegangen? Hatte Nate erlaubt ihn zu küssen und zu berühren? Warum? War er vollkommen bescheuert? Genau diese Sachen waren es doch, weshalb man ihn vor die Tür gesetzt hatte, weshalb die Gesellschaft ihn verstoßen hatte. Es war ein Blick auf Nates geschwollene Hand, der ihn komplett ablenkte. Das hatte er vollkommen vergessen. "Geht es einigermaßen?", fragte er besorgt und griff sanft nach der Hand um sie sich noch einmal anzusehen. "Ich habe dich nur mit der Hand eben hochgehoben und auf das Bett geworfen. Glaub mir, es geht mir hervorragend." Shinji war sich nicht ganz sicher, ob er das glauben konnte, aber er hatte wohl keine Wahl. Die Eiswürfel, die sie im Wohnzimmer zurück gelassen hatten, waren sicher geschmolzen, also hatte er sowieso nichts mehr zum Kühlen da. Doch ehe er noch weiter darüber nachdenken konnte, zog Nate ihn enger an sich, dass er vollkommen von seinen Armen umfangen war: "Und was ist mit dir? Ist alles in Ordnung?" Die Frage ließ ihn hart schlucken und es dauerte tatsächlich einen Moment, bis er den Kloß in seinem Hals wieder los war. Er versuchte sich wirklich gegen dieses Gefühl zu wehren, dass er gerade etwas furchtbar falsches getan hatte. Etwas, wofür man ihn hassen sollte, wofür man ihn wieder aus der Stadt jagen würde. Nein… nein er wollte doch… er wollte, dass es funktionierte, weil er Nate nicht wieder verlieren wollte. Er musste sich zusammen reißen. "Du hast schon wieder die ganze Zeit in meinen Haaren rumgefummelt währenddessen. Ich finde das ja ganz angenehm, aber es macht mich neugierig, warum du das ständig machst. Fällt das nicht schon unter einen Fetisch?" Es war sicher nicht der beste Themenwechsel, aber es war der einzige, der ihm einfiel. Er wollte gerade nicht über sich und seine Gefühle sprechen, er hatte die Befürchtung, dass er nicht mehr aufhören würde zu fallen, sobald er es aussprach. "Ja, vielleicht. Aber eigentlich fahr ich dir durch die Haare, um sie aus deinem Gesicht zu bekommen. Ich möchte das nämlich sehen können." Wie zur Untermalung dieser Aussage, strich ihm Nate noch einmal durch die Haare: "Aber jetzt gerade dient es mir nur dazu, zur Ruhe zu kommen." Irgendwas in Shinjis Bewusstsein rebellierte gegen diese Formulierung, weil es sich anhörte, als wäre er ein Hund. Aber dieses Gefühl wallte nur für eine Sekunde auf, ehe er es wieder verdrängte, weil es Schwachsinn war. Nate meinte das nicht abwertend, das wusste er. Was war auch so schlimm daran, dass Nate ruhiger wurde, wenn er ihm durch die Haare streichelte? Er selbst fand es ja sogar angenehm. Ihn machte es auch ruhiger, also war doch alles gut. Aber irgendwie war die Antwort merkwürdig. Nicht, wegen deren Bedeutung an sich, sondern, weil sie so ernst war. Nate war bei so etwas selten so ernst. War das jetzt ein Zeichen von Sorge oder vom Gegenteil? "Ich gewöhne mich langsam daran.", gestand Shinji. "Irgendwie ist es auch echt angenehm." Da Nate ihn so umfing, konnte er den noch immer sehr schnellen Herzschlag von seinem Freund hören und spüren. Das hatte auch etwas sehr angenehmes. Hmmm… was hatte Nate noch gleich gesagt? Er strich ihm die Haare ständig aus dem Gesicht? "Sind dir meine Haare etwa zu lang?", fragte er verwirrt, weil er eigentlich schon für sich festgestellt hatte, dass dem nicht so war, wenn Nate ihm da so gerne durchwuschelte. "Also… nicht, dass ich sie abschneiden lassen würde, wenn es so wäre." So weit käme es ja noch. Das kam wirklich nicht in Frage, damit musste Nate leben. Er musste ja auch damit leben, dass dessen Haare nur ein paar Millimeter lang waren und er dadurch aussah, als wäre er gerade frisch aus dem Gefängnis entlassen. "Es interessiert mich nur." Nate stoppte nicht damit, ihm durchs Haar zu kraulen, wechselte nach der Frage nur dazu, ihm noch einmal eine Haarsträhne hinter die Ohren zu streichen. "Ich mag deine Haare so, wie sie sind." Das war doch schön zu hören. Dann gab es auch keine Probleme. Sehr gut. "Ich würde nichts an dir ändern wollen." Als wollte Nate ihn nach dieser Aussage zusammen halten, zog er ihn noch näher zu sich, aber es half nichts. Sofort waren die Stimmen des Zweifels wieder da, die Erinnerungen an die Ablehnung, nur, weil er war, wie er war. Niemand konnte behaupten, er wäre gut so, wie er war. Das war doch Unsinn. Plötzlich brannten doch wieder Tränen in seinen Augen: "Das stimmt doch nicht… du kannst mir nicht sagen, dass du meine Psyche nicht gerne anders hättest." Wo andere darauf bestanden, dass er hetero war, würde sich Nate doch sicher wünschen, dass er nicht jedes Mal, wenn sie miteinander schliefen, danach kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Das konnte keiner gut finden. Er glaubte auch nicht, dass es Nate gut fand, dass er ihre Beziehung nie irgendwie öffentlich zugeben würde, oder dass er sie sogar verleugnen würde, würde man ihn direkt danach fragen. "Wieso?", fragte Nate ganz sanft, strich ihm mit der Hand über die Wange, dann wieder durch die Haare und schließlich beruhigend über den Rücken. "Weil du plötzlich so schutzbedürftig wirkst, nachdem wir miteinander geschlafen haben? Oder weil du zu verbergen versuchst, was du eigentlich möchtest? Ich will deine Psyche nicht ändern, ich will dir nur helfen, damit umzugehen. Deine wahren Gefühle ausgraben." Wie konnte das nur okay für Nate sein? Es musste ihn doch nerven und frustrieren und was sonst noch alles. Wenn er nur daran dachte, was sie gerade getan hatten, bekam er das Bedürfnis, sich schon wieder die Haut von den Knochen zu schrubben. Er fühlte sich schmutzig. So unglaublich schmutzig und ekelhaft und falsch. Wie konnte Nate damit nur so leicht umgehen? Wo war bei Nate das "aber"? Wenn er normalerweise so toll war, musste da doch ein riesiges "aber" sein, oder? Kein Mensch war so gut… das sagten ihm seine Erfahrungen. Warum sollte Nate die Ausnahme sein? "Ich kann es nicht genau erklären", fuhr Nate fort. "Aber ich kann mit deinen Mankos leben. Kannst du das mit meinen auch?" Wo kam denn dieser Themenwechsel plötzlich her? Konnte Nate Gedanken lesen? Aber es brachte ihn automatisch zum Lachen, auch wenn es hohl und leer war: "Welche Mankos?", fragte er ehrlich. "Das einzige, was etwas schwierig wird, ist dein Job. Sonst habe ich noch keine gefunden." "Du kennst meine Mankos, Shinji." "Ich bin mir nicht sicher", antwortete der aber etwas irritiert. "Ehrlich nicht, was meinst du? Vielleicht nehme ich das nicht als Mankos wahr? Ich brauch wohl ein bisschen Starthilfe." Was sollte denn da auch sein? Klar, jeder Mensch hatte so seine Eigenheiten und die hatte Nate auch, aber das war normal und nichts Schlimmes. Aber vielleicht suchte er einfach nur zu oberflächlich? Denn im Vergleich zu ihm selbst, wirkten die meisten Menschen gesund und unkompliziert. Er merkte erst so richtig, dass er zu Nate aufgesehen hatte, als der ihm mit dem Daumen über eine Augenbraue fuhr. "Vielleicht siehst du mich ja einfach nur durch die rosarote Brille? Aber wenn du dich zurück erinnerst… Wie oft sind wir denn damals in eine Schlägerei geraten, weil ich denjenigen scheiße gefunden habe? Und wie oft hast du mir danach die Leviten gelesen? Ich bin nicht gerade geduldig, wenn ich sehe, dass jemand ungerecht behandelt wird." Shinji musste nicht wirklich lange überlegen, ehe er antwortete. "Ich hab dir schon mal versucht, zu erklären, dass mich die Schicksale von anderen Menschen nicht wirklich berühren. Nicht mehr… Heißt nicht, dass ich dir nicht wieder die Leviten lesen würde, wenn du dich unnötig in Gefahr bringst oder es übertreibst, aber ansonsten… ja, klar würde ich damit klar kommen. Das bin ich damals schon, daran hat sich nichts geändert." Trotz der engen Umarmung zuckte er die Schultern. "Weiter?" Nate lachte leise und eine Weile sahen sie sich einfach nur an. Doch letztendlich fuhr Nate fort: "Was noch? Okay. Du weißt doch, dass es mir bei einer täglichen Routine langweilig wird? Deshalb habe ich früher schon die Schule geschwänzt und das ist mitunter ein Grund, warum ich zum Militär bin. Ich weiß noch nicht, wie das in einer Beziehung wird, aber ich bin noch nicht bereit einen Bürojob anzunehmen und täglich bis fünf zu arbeiten nur um nach Hause zu kommen und mich dort vor den Fernseher zu legen. Nein, danke. Das brauche ich wirklich nicht. Stattdessen will ich dich spontan irgendwo hin mitnehmen, wenn ich dich sehe. Ich weiß du bist ein Planer, aber ich brauche Abwechslung." Statt das Thema mit sich selbst auszumachen und es zu zerdenken, ließ Shinji sich ausnahmsweise von der Stimmung davon tragen und sprach einfach aus, was er dachte. Vielleicht lag es auch daran, dass er angst hatte, abzustürzen, wenn er zu viel nachdachte. "Generell ist das nicht unbedingt etwas schlechtes. Ich weiß schließlich, dass ich ein bisschen mehr raus muss. Spontanität macht flexibel. Ich kann nicht gut auf Dinge reagieren, die plötzlich auftreten. Und während du mir hilfst ein wenig spontaner zu werden, kann ich dir helfen, sesshafter zu werden. Stabilität hat auch Vorteile. So können wir uns beide positiv beeinflussen. Aber… das ist Arbeit und kommt erst einmal mit viel Frust, also kann ich dir jetzt nicht versprechen, dass das nicht zu einem Problem wird. Das müssen wir abwarten." "Hm…", war erst einmal das einzige, was Nate sagte. Shinji gab ihm Zeit. Wenn Nate wirklich dachte, dass die Punkte, die er ihm genannt hatte, so schwerwiegend waren, konnte er verstehen, dass er das erst einmal verarbeiten musste. "Du bist weitaus unkomplizierter und offener, als du denkst." Wie zum Teufel kam das denn jetzt? Wie kam Nate jetzt schon wieder von sich selbst auf Shinji? Das musste man nicht verstehen, oder? Und dann auch noch so eine Schlussfolgerung? "Findest du?", fragte er deshalb verwundert, doch das Lächeln, das Nate ihm zeigte, sagte ihm, dass er es wirklich ernst meinte. "Warte erst einmal ab, bis du von mir verlangst, spontan zu sein. Dann reden wir noch einmal darüber, ob du denkst, dass ich unkompliziert bin.", grinste Shinji und gab Nate einen sanften Kuss. "Gibt es sonst noch was, worüber du dir Gedanken machst?" "Im Moment? Nein, nicht wirklich." Und damit schloss Nate dann auch müde die Augen. Shinji ließ ihn und schwieg. Als es so still wurde und er nichts mehr als den ruhigen Herzschlag seines Freundes hören konnte, begannen sein Körper und sein Geist wieder in die Realität zu rücken. Überall dort, wo Nate ihn berührte oder berührt hatte, begann seine Haut sich merkwürdig anzufühlen. Als hätte man Farbe auf die Stellen gestrichen, die jetzt getrocknet war und sich deshalb unangenehm bemerkbar machte. Es juckte nicht oder so etwas, es fühlte sich einfach nur an, als wäre da etwas, was da nicht hin gehörte. Shinji versuchte dieses Gefühl zu unterdrücken, es zu ignorieren, aber irgendwann wurde es so unerträglich, dass er sich von Nate löste und ins Bad verschwand. Dort angekommen stellte er sich unter die Dusche, drehte das Wasser auf und sank letztendlich erschöpft auf den Boden der Dusche, weil dieses Gefühl einfach nicht weniger wurde. Er hatte wirklich gedacht, es diesmal geschafft zu haben. Aber es war noch ein weiter Weg bis da hin. Noch ein so unglaublich langer Weg. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)