Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 29: Trauma ------------------ In Nates Augen lagen all die Gefühle offen, die der für ihn empfand. Gefühle die vielleicht seit 15 Jahren da waren oder sich von neuem in unglaublich kurzer Zeit entwickelt hatten. Es überforderte Shinji in dieser Situation so sehr, dass er nicht wusste, ob er dieses Gespräch noch weiter führen konnte. Warum schaute Nate so? Er verstand es einfach nicht. Er hatte doch nichts besonderes getan! Im Gegenteil! Alles, was er bisher getan hatte, war, Nate vor den Kopf zu stoßen, ihn auf Abstand zu halten und ihm nichts als Kopfzerbrechen zu bereiten. Was nur wollte man mit jemandem wie ihm? „Du hast dich also für mich entschieden?“ Die Stimme von Nate war so sanft und glücklich, dass sich Shinji unwillkürlich fragte, ob er ihm gerade versehentlich einen Heiratsantrag gemacht hatte. Er hatte doch nur verlauten lassen, dass er versuchen wollte, etwas Richtiges mit ihm zu haben. Mehr nicht… das war kein Versprechen oder irgendwas in diese Richtung. Nates Worte schnürten ihm schier die Luft ab. Aber wenigstens lächelte Nate jetzt wieder, dann brachte dieses Gespräch ja wenigstens einem von ihnen was. Als er sich wieder ein wenig zur Ruhe gezwungen hatte, fiel ihm aber noch etwas anderes auf. Nate tat gerade wirklich so, als hätte es von Shinjis Seite aus gar keine Zugeständnisse gegeben. Ja, er hatte Nate auf Abstand gehalten, aber viel weniger als er irgendeine Ex von sich auf Abstand gehalten hatte. Aber das konnte Nate ja nicht wissen. Dennoch führte das dazu, dass Shinji leicht verächtlich schnaubte. „Keine meiner Exen hat es je auch nur geschafft, mehr als eine Zahnbürste bei mir unter zu bringen.“ Mehr Hinweise konnte er Nate nicht geben, aber so wie der jetzt grinste, verstand er den Wink durchaus. Das Grinsen bröckelte aber kurz darauf wieder: „Ich kann dich in der Zeit gar nicht unterstützen.“ Hä? Shinji brauchte einen Moment, bis er begriff, was Nate meinte, denn ihm war der Gedanke nicht gekommen, dass sein Freund notwendig für seine Genesung wäre. Zumindest dessen Anwesenheit. „Du tust ja so, als wäre das schlecht.“ Als Shinji die Verwirrung auf Nates Gesicht sah, fuhr er schnell fort, weil ihm erst hinterher auffiel, dass der Satz unglücklich formuliert gewesen war: „Ich muss das selbst hinbekommen, zumindest in der ersten Zeit. Danach brauche ich dich umso mehr, um weitere Schritte gehen zu können, aber das hat Zeit, bis du wieder da bist. Aber dann hast du genug zum Unterstützen, das kannst du mir glauben. Also keine falsche Hoffnung… du entkommst dem nicht, nur, weil du dich ins Ausland absetzt.“ Hoffentlich brachte der letzte Satz etwas Lockerheit in das Gespräch, denn langsam wurde ihm das wirklich zu viel. „Ich gebe dir meine andere Nummer, damit du mich erreichen kannst, falls du jemanden zum Reden brauchst oder mir einfach nur von der Therapie erzählen möchtest. Dass ich weg bin, heißt nicht, dass wir absolut keinen Kontakt haben. Okay? Ich bin für dich da.“ Doch statt sich über das Angebot zu freuen und vielleicht endlich die Möglichkeit zum Ausstieg aus diesem Gespräch zu nutzen - er hätte ja einfach nur ‚Danke‘ sagen müssen - schrillten bei Shinji wieder alle Alarmglocken: „Du hast da drüben für so was doch gar keine Zeit, oder? Ich ruf nicht gerne an, wenn ich mir nicht sicher bin, dass der andere gerade Zeit hat. Und… und… du wirst doch sicherlich sehr eng mit deinen Teamkameraden zusammen leben. Ich denke nicht, dass private Gespräche dann angebracht sind… schon zweimal nicht bei so einem Thema. Das… das gibt doch eine Katastrophe, wenn die anderen rausfinden, was ich für dich bin und worüber wir da reden. Man hört doch ständig wie furchtbar konservativ das Militär noch ist… oder hab ich da ein falsches Bild?“ „Wenn es wirklich wichtig ist, nehme ich mir die Zeit und wenn ich die gar nicht habe, ist das Handy aus“, begann Nate erst einmal nach dem Redeschwall und schnippte Shinji dann wieder einmal leicht gegen die Stirn, was den automatisch dazu brachte, sich ein bisschen zu entspannen. War schon merkwürdig, wie schnell man auf so etwas konditioniert werden konnte. „Mach dir keine Gedanken. Lily hat die Nummer auch. Selbst wenn ich tausende Kilometer weg bin, will ich trotzdem an eurem Leben teilhaben. Verstehst du?“ Nate nahm sich daraufhin wieder ein Stück Pizza in den Mund und kaute fröhlich vor sich hin. Die Antwort löste nicht wirklich das Problem, das Shinji hatte. Er stellte sich immer noch vor, wie er Nate mitten in einem Bombenhagel anrief und der so abgelenkt war, dass ihn eine davon traf. Oder, wie dessen Handy auf einem Tisch lag und einer seiner Teamkameraden ran ging. Es war allerdings auch schon ein Problem für Shinji, wenn er nur daran dachte, dass Nate abnahm und ihm sagte, dass gerade schlecht war. Telefonieren war einfach komisch… er hatte immer das Gefühl zu stören oder aufdringlich zu sein. „Ich versuch‘s… aber das ist wirklich ein bisschen schwer für mich, also sei nicht enttäuscht, wenn der erste Anruf etwas dauert, ja? Aber… du kannst mich auch jederzeit anrufen. Durch das Home Office und meine merkwürdigen Schlafenszeiten, sollte selbst der Zeitunterschied kein großes Problem darstellen.“ Wenn Nate ihn anrief, war das alles viel angenehmer. Er konnte sich wirklich fast immer Zeit nehmen und es störte ihn nicht, wenn er angerufen wurde. In diese Richtung war das keine große Sache. Und wenn Nate ihn einmal angerufen hatte und er merkte, dass das wirklich irgendwie in Ordnung war, fiel es ihm selbst vielleicht auch leichter, einen Anruf zu starten. Als Nate fertig gekaut hatte, kehrte das Spitzbübische Grinsen wieder auf dessen Lippen zurück: „Jederzeit? Du weißt, dass ich das Angebot ernst nehmen werde? Du weißt das?“ „Ja, ich weiß. Ruf an, wann immer du Zeit und Lust hast.“ „Danke“, setzte Nate noch nach und klang wieder viel sanfter. „Aber zu der anderen Sache, die dich beschäftigt“, lenkte Shinjis Gesprächspartner dann um, „es kommt auf die Person an. Ich bin zwar keiner, der seine sexuelle Ausrichtung geheim hält, aber dort lauf ich auch nicht gerade herum und binde es jedem auf die Nase. Es gibt aber ein oder zwei Personen, mit denen ich mich gut genug verstehe und die es wissen. Genauso gibt es aber auch ein oder zwei Personen in meinem Team, die das gar nichts angeht und denen ich es nie sagen werde. Es kommt auf die Person an und nicht auf die Institution.“ Das beruhigte Shinji nicht wirklich, aber er nickte nur als Antwort. Er hatte angst, sonst etwas dummes zu sagen, indem er Nates Team unschöne Dinge unterstellte. Dafür war ihm das Thema doch zu heikel und er gerade zu aufgekratzt, um das vernünftig formulieren zu können. Stattdessen nahm er auch wieder ein Stück Pizza, das nur noch lau warm war, und kam zurück zum Anfang dieses Gesprächsabschnitts: „Jetzt wo das geklärt ist, kann ich ja noch einmal fragen: Was würdest du die Woche über gerne machen?“ Nate zögerte gar nicht lange mit einer Antwort: „Ehrlich gesagt würde ich gerne mal wieder ein paar Bälle schlagen. Vielleicht gibt es hier einen Park, in dem man in Ruhe spielen kann?“ Bälle schlagen? Wollte Nate Baseball spielen? Ein bisschen schlecht wurde Shinji ja schon bei dem Gedanken. Essen gehen war eine Sache, aber in einem Park, bei gefühlt hunderten anderen Menschen, Baseball spielen? Da lägen doch alle Augen auf ihnen… und vielleicht würden andere mitspielen wollen? Wenn Nate wirklich Bälle schlagen wollte, brauchen sie einen abgesperrten Bereich dafür, den würde man sicherlich nicht nur zu zweit besetzen dürfen. Das war soziale Interaktion auf einem ganz neuen Level und er war sich wirklich nicht sicher, ob er dazu schon bereit war. Vor allem, weil er ewig keinen Sport mehr gemacht hatte und sich sicherlich vollkommen zu Affen machen würde. „Wir können‘s ja mal versuchen“, krächzte Shinji mehr, als das er es sagte. Er wollte nicht da nicht abweisen. Nicht nur wegen ihrem Gespräch darüber, dass sein Freund aufhören sollte, so viel Rücksicht auf ihn zu nehmen, sondern auch, weil er ihm den Wunsch wirklich gerne erfüllen wollte. Es war ja eigentlich etwas ganz simples und etwas, was normale Menschen ständig taten. Das sollte doch hinzubekommen sein, oder? „Ist echt ewig her, dass wir Baseball gespielt haben“, sinnierte Nate. „Du hast teilweise echt unmögliche Bälle geworfen.“ So gut war Shinji gar nicht gewesen. Aber auch er versuchte sich zurück zu erinnern. So unglaublich oft hatten sie nicht gespielt, aber wenn, dann waren sie immer allein gewesen. Das waren Tage, an denen sie genug von ihrer Clique und den Partys gehabt hatten. Es war nicht oft vorgekommen, eigentlich viel zu selten sogar, denn es war immer schön gewesen. Die meiste Zeit hatten sie eigentlich geredet, wenn er so darüber nachdachte. Sie hatten über alles mögliche geredet, was einen als Teenager eben so interessierte: Kinofilme, Lieder der Lieblingsbands und manchmal auch über Zukunftspläne. Eigentlich hatte Nate studieren wollen um dann irgendwas mit Sicherheit machen zu können. Dass er so extrem wäre und gleich zu den SEALs ging, hatte keiner ahnen können. Aber es hatte auch keiner geahnt, dass Shinji Informatiker werden würde. Er hatte zwar schon immer eine Affinität für Technik gehabt und war immer der gewesen, zu dem man wegen solcher Sachen gekommen war, aber damals hatte er eigentlich etwas mit Menschen machen wollen. Vielleicht Integrationshilfe für Japaner oder so etwas. Er war sich nicht sicher gewesen. Nate war mit seiner Hilfsbereitschaft ansteckend gewesen und er hätte das damals wirklich schön gefunden. Heute waren Computer seine besten Freunde und das einzige Medium, mit dem er einigermaßen Angstfrei mit anderen Menschen kommunizieren konnte. Manchmal ging das Leben sehr unerwartete Wege. „Und du? Was würdest du gerne machen?“ Nates Worte rissen ihn aus den Erinnerungen und er sah sie beide sofort in seiner Wohnung auf der Couch, eng aneinander geschmiegt und den laufenden Fernseher vor sich. Nate wäre die Art der Wochenplanung sicherlich zu langweilig, aber Shinji sehnte sich einfach nach Ruhe, um mit sich selbst und diesen ganzen Gefühlen klar zu kommen, die er überhaupt nicht kannte. „Ich hab nicht wirklich was im Sinn“, log er und versuchte sich einfach wieder auf die Pizza zu konzentrieren, die mittlerweile kalt war. Als er weiter an Aktivitäten dachte, musste er auch an das denken, was sie gestern Nacht gemacht hatten. Es drehte sich ihm wieder fast der Magen um, während sein Herz gleichzeitig klopfte, als wolle es damit einen Preis gewinnen. Es war schön gewesen, das konnte er nicht leugnen, aber es war auch etwas, was er nicht begehren sollte. Es war schwer zu akzeptieren, dass er es dennoch tat. Die Zeit, in der er das hatte verleugnen können, war aber auch vorbei und nun stand er da und wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte nicht vor und nicht zurück, aber diese gemischten Gefühle waren so unangenehm, dass er auch nicht bleiben konnte, wo er war. Letztenendes wurde es ihm doch zu viel und er entschied, dass er wenigsten physikalisch den Ort für eine Weile wechseln konnte, wenn er es schon psychisch nicht schaffte. „Bin gleich wieder da“, murmelte er und verschwand dann Richtung der Toiletten. Vor der Tür blieb er allerdings stehen. Warum nur, hatte es ihn ausgerechnet hierher verschlagen? Er konnte da doch unmöglich rein. Dort wäre er wieder hilflos, wieder angreifbar und wieder viel zu weit von Nate weg. Sollte er wieder zurück zu seinem Platz? Aber dann bemerkte er eine Frau, die in der Nähe saß und ihn kritisch beäugte. Er fiel schon auf. Und er würde noch mehr auffallen, wenn er jetzt einfach umdrehte. Er wollte nicht seltsam erscheinen, deshalb trat er automatisch ein. Es war absurd wie viel mehr Angst er vor den Blicken der anderen hatte, als vor möglichen Flashbacks, aber er ertrug das Gefühl einfach nicht, aus der Reihe zu fallen. Da stellte er sich lieber alten Erinnerungen. Dass der ganze Vorfall mit Chris erst zwei Tage her war, fühlte sich unrealistisch an. Hätten es nicht eher Jahre sein müssen? Jahrzehnte? Der Sonntag fühlte sich unglaublich weit weg an. Er steuerte das Waschbecken an, das der Tür am nächsten war und lauschte angestrengt nach jedem Geräusch. Als er gerade den Wasserhahn aufdrehte und gleichzeitig die Tür auf ging, zuckte er so heftig, dass er sich selbst ein wenig nass spritzte, aber der Mann bemerkte das glücklicherweise nicht. Der ging Seelenruhig an ihm vorbei an eines der Pissoirs und schien ihn nicht einmal wahr zu nehmen. Shinji tat so als wüsche er sich die Hände, bis der Mann wieder weg war. Dann erst gönnte er sich einen Moment Ruhe und versuchte sich wieder zu sammeln. Er musste das alles wirklich in den Griff bekommen. Sobald Nate weg war, würde er sich um einen Therapieplatz kümmern. Hoffentlich musste er nicht zu lange auf einen warten. Als die Tür ein weiteres Mal auf ging, spannte er sich wieder an, doch niemand kam herein. Die Tür fiel nur einfach wieder zu. „Alles okay?“ Es war Nate und durch den Spiegel konnte er ihn im Türrahmen stehen sehen. So würde so schnell niemand an ihm vorbei kommen. Ob er sich auch Sorgen gemacht hatte? Shinji hatte nie darüber nachgedacht, was das mit Chris für Nate bedeutet hatte. Es musste furchtbar sein, zu bemerken, dass der Kumpel, mit dem man gerade essen war, einfach nicht wieder kam und dann im Nachhinein zu erfahren, dass der angegriffen worden war. Gerade bei dem Beschützerinstinkt von Nate, konnte das komplizierte Gefühle auslösen. Er erinnerte sich noch gut daran, wie Nate war, wenn er das Gefühl hatte, versagt zu haben. Vielleicht war der restliche Sonntag deshalb auch so komisch zwischen ihnen beiden verlaufen. Vielleicht war das auch für Nate nicht so einfach gewesen, wie es gewirkt hatte. „Ja… tut mir leid. Ich brauchte nur kurz eine Auszeit.“ Er nahm sich ein paar Papierhandtücher um sich seine Hände abzutrocknen. „Ich hab… ich weiß nicht… ist alles etwas viel.“ Nate blieb, wo er war und sagte nichts, als würde er warten, bis er ihm erklärte, was ihn letztendlich vertrieben hatte. Vielleicht wartete er aber auch nur darauf, dass sich Shinji endlich zusammen riss und die Pizza zu Ende aß. Er war sich nicht sicher. Und er war sich auch nicht sicher, ob es ihm nicht lieber gewesen wäre, wenn Nate näher gekommen wäre. Aber dann hätte er die Tür nicht mehr bewachen können und eigentlich war Shinji dieser Sicherheitsabstand gerade ganz recht. Er schaffte es ja nicht einmal, sich wirklich zu Nate umzudrehen. Er betrachtete ihn nur aus dem Spiegel heraus. „Ich… ich komme nicht so damit klar…“, gestand er leise, auch wenn es eigentlich kein Geständnis war. Sie beide wussten, dass er mit so ziemlich nichts klar kam. „Womit kommst du nicht klar, Shinji?“ „Mit diesen… diesen Gedanken…“ Wie sollte er das denn erklären? Wie sollte er Nate sagen, dass er den Gedanken an Sex mit ihm nicht ertrug? Das war doch echt abartig, wenn er ihm das einfach so sagte. Aber Nate wollte es wissen, das sah er in seinem Blick. So wie er Nate vorhin hatte aufmuntern wollen, wollte sein bester Freund jetzt auch für ihn da sein. Schon wieder. Shinji wischte sich genervt über die Augen und die Stirn und versuchte wirklich, sich zusammen zu reißen. Ihm war ja klar, dass solche tiefsitzenden Probleme nicht einfach über Nacht verschwanden, nur, weil man beschloss, sich ihrer anzunehmen, aber er war zu allem Überfluss auch noch Perfektionist. Es störte ihn, dass er sich selbst so im Weg stand und sich damit den Fortschritt verbaute. Das war so furchtbar ineffizient. Er hasste Ineffizienz, weil das hieß, dass er schlecht Arbeitete. Ineffizienter Code war schlechte Programmierung und normalerweise ließ sich das einfach fixen. Er kam nur leider nicht an seinen eigenen Code heran. Er wusste nicht, wie er sich selbst umprogrammieren konnte. Aber arbeiten mit einem nicht richtig funktionierenden Programm war mühsam und nervig und er wollte das so nicht haben. Er wollte funktionieren wie er sollte. Aber das konnte er im Privatleben nicht. Noch nicht. Also musste er mit dem arbeiten, was er hatte. Auch wenn es nervig war. „Ich hab gerade… ich musste… ach verdammt noch mal, ich hab an Sex gedacht, okay? Und… und das sind gruselige Gedanken und ich komme noch nicht damit klar. Ich weiß, ich sollte mich nicht so anstellen und im Prinzip weiß ich auch, dass das alles nichts Verbotenes oder Schmutziges ist, aber es fühlt sich für mich eben so an. Ich kann ja auch nichts dafür. Das ist alles so neu und unbekannt und… und es ist einfach schwer, okay? Es ist schwer… mir einzugestehen… dass ich das eigentlich will und… ich weiß nicht… es ist mir auch irgendwie peinlich, dass ich mitten beim Essen darüber nachdenke. Das… das sollte nicht so sein… nach allem was passiert ist, sollte ich gar nicht an so was denken. Das ist so unlogisch! Ich sollte mit einem Trauma in meinem Zimmer sitzen und Angst vor Berührungen haben. So läuft das doch normalerweise, oder? Vielleicht bin ich doch einfach abnormal… vielleicht stimmt was nicht mit mir. Vielleicht…“ Vielleicht hatte Chris ja recht, wollte er im ersten Moment sagen, brach aber ab. Wie war er denn zu diesen Gedanken gekommen? Er dachte, wenigstens damit abgeschlossen zu haben. Chris hatte nicht recht gehabt. Shinji hatte keinen Gefallen an dem gehabt, was er mit ihm gemacht hatte. Kein Stück. Aber mit Nate… mit Nate war das etwas anderes. Nate wartete immer, bis er den ersten Schritt machte und das allein war schon so entscheidend, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, ihn mit Chris zu vergleichen. „Du machst dir Gedanken, nur, weil du anzügliche Gedanken über deinen Partner hast?“, fragte Nate ein wenig verwundert, lächelte dann aber sanft. „Die Gedanken habe ich auch. Bin ich jetzt auch unnormal?“ Das war doch nicht zu vergleichen. Nate war nie Belästigt worden. Zumindest hoffte Shinji das. „Jeder reagiert anders auf so etwas und die Vergangenheit hat deutlich gezeigt, dass du stark bist. Du bist ein Kämpfer. Wie viele in deiner Situation hätten es durch ein Studium geschafft? Du hattest nichts und niemanden. Kein Geld, keine Freunde, keine Familie. Und trotzdem stehst du jetzt hier und lässt sogar Stück für Stück wieder jemanden in dein Herz. Wer weiß ob es mit anderen Menschen als mir auch so gut ginge? Niemand verlangt von dir ein Trauma zu haben und niemand verlangt von dir, eines zu haben, das sich ganz unkompliziert äußert. Freu dich, dass es so gut klappt. Freu dich, dass du noch so normal bist, dass du an Sex mit jemandem denkst, den du gern hast. Das gehört dazu. Und wenn du tatsächlich glaubst, ein Trauma zu brauchen, dann sei beruhigt. Denn ich denke nicht, dass das spurlos an dir vorbei gezogen ist. Du hattest vorher schon ein Problem mit Nähe und ich war die Ausnahme, warum sollte sich das ändern? Ich denke, das was sich verschärft hat, ist eher die Art, wie du über dich selbst denkst. Weil das was Chris dir gesagt hat und was du dir in dem Moment eingeredet hast, noch schwerer wiegt, als die Berührungen, die du ja wenigstens nach einem bestimmten Schema aussortieren kannst. Ungute Berührungen sind viel leichter zu kategorisieren als Gefühle, die falsch sind. Hauptsächlich, weil es keine falschen Gefühle gibt. Was du fühlst ist echt und richtig, aber Chris hat da einen sehr Wunden Punkt getroffen, als er dir vorgeworfen hat, es würde die gefallen. Das… ich denke das steht für dich einfach viel mehr im Vordergrund. Und das ist nichts Schlimmes. Jeder reagiert anders. Es gibt kein Skript das vorschreibt, wie du dich nach so etwas zu fühlen hast. Mach dir nicht solche Gedanken.“ Nach dieser Ansprache lächelte Nate unsicher: „Kannst du was damit anfangen?“ Shinji nickte, obwohl er sich nicht sicher war, ob er das wirklich konnte. Nates Worte klangen schön und wie die Ausflucht, die er brauchte, aber es fühlte sich eben genau wie das an: Eine Ausflucht. „Tut mir leid“, sagte er leise. „Dass ich so kompliziert bin.“ Doch Nate schüttelte nur den Kopf und kam auf ihn zu: „Du brauchst dich nicht entschuldigen.“ Shinji lächelte ein wenig gequält und beobachtete, wie Nate neben ihn kam und auch in den Spiegel sah. „Ich-“, setzte Nate an, doch er brach ab, als jetzt doch die Tür auf ging und ein älterer Herr hinein kam. Während Shinji so tat, als würde er sich die Hände abtrocknen, drehte sein Begleiter das Wasser auf und wusch sich die Hände. Shinji warf Nate noch einen Blick zu, ehe er sich abwandte und die Toilette wieder verließ. Vielleicht war es besser, das alles so stehen zu lassen. „Ich werd dich echt vermissen“, sagte Nate, als er sich wieder zu ihm setzte. Vielleicht war es die Fortsetzung des Gesprächs, vielleicht hatte es aber auch gar nichts damit zu tun. Da Shinji endlich etwas entspannen wollte, versuchte er es mit einem etwas verspielteren Unterton: „Das will ich auch hoffen. Du kannst nicht einfach hier auftauchen, mein ganzes Leben umkrempeln und dann erwarten, dass das spurlos an die vorbei geht. So leicht kommst du da nicht mehr raus.“ „Dein ganzes Leben umgekrempelt, ja? Dabei bin ich doch gerade mal ein paar Wochen hier. Warte erst einmal ab, was wird, wenn das hier ein paar Jahre geht.“ Wenn Shinji ganz ehrlich zu sich war, konnte er kaum erwarten, es herauszufinden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)