Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 24: Arztbesuch ---------------------- Shinji hatte Glück gehabt, mit seiner Arbeitsstelle. Er hatte lange Jahre suchen müssen, bis er einen Arbeitgeber gefunden hatte, der so familiär war, dass er ihn ohne groß zu murren von zu Hause aus arbeiten ließ. Das ging mit Gehaltseinbußen einher, natürlich. Er verdiente nicht so viel wie in einer großen Firma, die ihm Arbeitszeiten genauso wie Anwesenheitszeiten und Teamarbeit aufzwang. Er verdiente so aber auch mehr als genug. Er war sicherlich nicht arm. Eigentlich hatte er es auch nicht nötig, sich krank schreiben zu lassen, hätte stattdessen auch Urlaub nehmen können, aber sein Chef bestand auf solche Sachen. Wenn er mit ihm telefonierte um für heute abzusagen oder Urlaub zu beantragen, würde er ihn fragen, was los sei und dann hätte Shinji lügen müssen. Und er log nicht gerne. Also ging er eben den mühseligen Gang zum Arzt. Aber das war in Ordnung. Sein Arzt war pragmatisch und fragte nicht zu viel. Zumindest hatte er das bis gerade gedacht. "Sie bringen mich hier wirklich in eine schwierige Situation, Herr Yamato." Warum das denn? Kritisch zog Shinji die Augenbrauen zusammen. "Ich habe die gesamte Nacht nicht geschlafen, ich bin offensichtlich nicht in der Lage, zu arbeiten." Sein Arzt sah ihm geduldig entgegen. Fast schon väterlich faltete der ältere Mann die Hände zusammen und neigte sich etwas vor. "Ich sehe deutlich, dass Sie nicht arbeitsfähig sind, aber darum geht es mir gar nicht. Sehen Sie... wir kennen uns jetzt wie lange? 4 Jahre? Und ich erinnere mich an Sie, obwohl Sie in diesen Jahren vielleicht drei mal hier waren. Wissen Sie, warum ich mich so gut an Sie erinnern kann?" Was spielte dieser Idiot hier für Spielchen? Woher sollte Shinji denn wissen, warum sein Arzt wusste, wer er war? War das nicht irgendwie sein Job? Glücklicherweise fuhr der Mann einfach fort, statt Shinji noch länger zu nerven und rückte endlich mit dem raus, was ihm auf dem Herzen lag: "Sie kamen mit einer Grippe zu mir, mit Magen-Darm Beschwerden und einmal mit ziemlich hohem Fieber. Aber egal wie sehr ich auf Sie eingeredet habe, das Arbeiten sein zu lassen, Sie haben sich jedes Mal strikt geweigert. Und nun sitzen Sie hier vor mir und erzählen mir, dass Sie nicht arbeiten können, weil Sie eine Nacht lang nicht geschlafen haben. Verstehen Sie mein Dilemma? Ich mache mir Sorgen um Sie." Shinji war sich nicht ganz sicher, ob der Kerl vor ihm nicht seine Kompetenzen überschritt. Was ging ihn das denn an, warum er sich jetzt plötzlich krankschreiben ließ? Die letzten Male hatte er eben noch arbeiten können und diesmal nicht, na und? Kein Grund, so einen Aufstand zu machen. "Wenn Sie mich nicht arbeitsunfähig schreiben wollen, dann sagen Sie das gleich. Dann nehme ich mir Urlaub." Aber dann wäre dieser ganze Besuch vollkommen umsonst gewesen. Er hätte sich umsonst aus dem Haus gequält, hätte sich umsonst in das überfüllte Wartezimmer, mit viel zu vielen Menschen geschleppt und hätte umsonst viel zu lange gewartet. Wenn das stimmte, wäre er das letzte Mal hier gewesen. "Sie missverstehen mich. Ich gebe Ihnen das Attest natürlich." Und wie zur Bestätigung drückte er die Enter-Taste auf seiner Tastatur und der Drucker begann zu arbeiten. Doch als Shinji nach den Blättern greifen wollte, um endlich zu verschwinden, hielt sein Arzt ihn noch einmal zurück. Was zum Teufel? Er hatte echt keine Nerven für so was! "Ich habe Sie noch nie so angespannt erlebt und Sie erklärten mir einmal, dass sie verrückt werden, wenn Sie nicht arbeiten. Was macht Sie jetzt also so fertig, dass Sie nicht einmal etwas tun können, was Ihnen so klar gut tut?" Das ging den Kerl doch einen Scheißdreck an! Er griff sich endlich die Zettel und stand dann auf, doch die Stimme hielt ihn ein weiteres Mal zurück. "Sie haben äußerlich keine Blessuren, Sie können sich normal bewegen. Also ist es schon einmal nichts körperliches. Sie sind auch nicht wirklich krank, nur vollkommen verkrampft und übermüdet. Sie wissen, dass Sie mit mir sprechen können? Nichts, was sie mir sagen, wird diesen Raum verlassen." Shinji stürmte zur Tür. "Wenn Sie nicht darüber sprechen, wird es nicht besser." Shinji hielt inne. Reden... darüber reden. Als ob das irgendetwas besser machen würde! Dieser Kerl hatte doch keine Ahnung. "Herr Yamato, setzen Sie sich wieder." Und Shinji tat genau das. Er ging zurück und setzte sich wieder. "Versuchen Sie mir zu erzählen, was geschehen ist." "Nichts", antwortete Shinji sofort. "Und jetzt die Wahrheit?" "Das ist die Wahrheit! Ich bin angefasst worden, das war's. Keine große Sache, es ist kaum etwas passiert." "Vor ein paar Sekunden war es noch nichts, jetzt ist es schon 'kaum etwas'. Was ist es, wenn ich in einer Minute noch einmal nachfrage?" Shinji verdrehte genervt die Augen. War er ein Kleinkind oder was? "Jemand hat mir geholfen, bevor Schlimmeres passiert ist. Wirklich keine große Sache." "Und das war wann?" "Gestern." "Haben Sie Anzeige erstattet?" Was? "Nein!" "Warum nicht?" "Weil es nichts war! Außerdem... stünde Aussage gegen Aussage, das bringt nichts." Und er wollte diesen Aufstand darum nicht. Er wollte nicht mit irgendwem darüber reden. Vor allem nicht mit der Polizei. Wenn das öffentlich würde... nein. Nein, definitiv nicht. Es war nicht wirklich etwas passiert und solange er Chris nicht wiedersah, der glücklicherweise in einem ganz anderen Stadtteil arbeitete und sich dank Nate hoffentlich nicht mehr an ihn heran traute, war doch alles in Ordnung. "Sie sagten gerade, man hätte Ihnen geholfen. Damit hätten Sie einen Zeugen." Shinjis Augen weiteten sich in purer Panik. Nate da mit reinziehen? Und am Ende würde man noch fragen, wie sie beide zueinander standen und dann würde alles raus kommen? Und wenn Chris dann sagte, er wäre steif geworden, was dann? Dann glaubte ihm doch keiner mehr. Jeder würde ihn für eine notgeile Schwuchtel halten. Heftig schüttelte er mit dem Kopf. "Keine Polizei also. Das ist natürlich Ihre Entscheidung. Aber es steht fest, dass sie - verständlicherweise - Probleme deshalb haben. Ein Trauma. Das ist nichts Ungewöhnliches und wenn Sie Glück haben, kann sich das auch ganz von alleine legen. Jeder geht anders damit um. Gegen die Schlafstörungen kann ich Ihnen Schlaftabletten geben, aber das lindert nur die Symptome, nicht die Ursache. Haben Sie seitdem vermehrt Angstzustände oder Panikattacken?" Shinji schüttelte den Kopf. Nicht vermehrt... "Aber?", hakte sein Arzt nach, der wohl irgendwas in seinem Gesicht lesen konnte. Shinji biss sich auf die Unterlippe. "Es geht mir gut, ich brauche nur etwas Schlaf. Morgen bin ich wieder fit." "Es ist wichtig, dass Sie ihrer Psyche die Ruhe gönnen, das zu verarbeiten. Haben Sie jemanden, der ein Auge auf Sie haben kann?" Nate, sprang es ihm sofort in den Kopf, aber das war doch absurd. Er brauchte keinen Babysitter. Er musste einfach nur schlafen, mehr nicht. Er war so furchtbar müde. "Ich würde Sie gerne die gesamte Woche krankschreiben. Was halten Sie von dem Vorschlag?" "Nicht viel", blockte Shinji sofort ab. "So ziemlich gar nichts, um genau zu sein. Hören Sie, Ihre Sorge in allen Ehren, aber es ist alles in Ordnung. Wenn ich erst einmal geschlafen habe, bin ich wieder fit." Der Mann lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah ihn ruhig, aber auch etwas abschätzend an. "Wenn Sie selbst überzeugt davon wären, würden Sie nicht immer noch hier sitzen. Ich denke, dass da etwas ist, über das Sie reden wollen. Aber Sie trauen sich nicht. Was hält Sie davon ab? Denken Sie, ich urteile über Sie? Falls dem so ist, kann ich Sie beruhigen. Sie interessieren mich auf rein professioneller Ebene. Und ich praktiziere schon sehr lange als Arzt. Ich habe viel gehört und gesehen. Ich denke nicht, dass Sie mich überraschen können." Eigentlich wäre genau das der Moment gewesen, in dem Shinji aufstehen und gehen sollte. Aber der Moment zog vorbei und er saß immer noch auf diesem Stuhl. Seine Hände krampften sich um die Armlehne und er wusste nicht, ob er damit Halt suchte, oder sich selbst zum Sitzenbleiben zwang. "Sie müssen nicht alleine damit fertig werden. Egal was es ist. Was haben Sie zu verlieren? Ich kann niemandem etwas sagen. Ich würde mein eigenes Leben ruinieren, wenn ich es doch täte. Sie haben mich komplett in der Hand." Und das war tatsächlich ein Argument. Ein gutes Argument. Dieser Arzt hatte recht. Nichts was er sagte, würde jemals diesen Raum verlassen. Falls doch, könnte er diesen Menschen in Grund und Boden klagen. Nicht, dass es ihm etwas bringen würde, wenn Shinjis eigenes Leben dann schon zerstört war, aber das hielt den Arzt definitiv stumm. "Es ist... alles so durcheinander...", begann er zögernd und spürte förmlich, wie seine Mauer brach. "Dann lassen Sie mich Ihnen helfen, alles zu ordnen." Und Shinji begann zu erzählen. Er wusste nicht warum, aber es brach alles aus ihm heraus. Alles. Nate, die Schule, das Mobbing, sein Vater, sein Lehrer, wieder Nate, dann Chris und letztendlich das, was er Nate heute morgen gesagt hatte. Er erzählte von seiner eigenen Homophobie, von den Angstschüben, dem Putzen, dem Kratzen, dem Waschen, dem Ekel. Alles. Er erzählte alles. Natürlich hatte der Arzt ihm nicht helfen können. Das hatte Shinji aber auch nicht erwartet. Der Mann war ja kein Zauberer, aber er hatte ihm geduldig zugehört, hatte hier und da nachgefragt, hatte ihn beruhigt, wenn es zu viel wurde und hatte nicht ein Mal bewertet. Nicht ein einziges Mal. Shinji verstand gar nicht, wie das ging. Wie konnte man zuhören ohne eine eigene Meinung mit einzubringen? Wie konnte man einfach hinnehmen, dass es ihn fertig machte und er Probleme deshalb hatte? Einfach so. Ohne Kritik, ohne ihm zu sagen, dass er übertrieb oder sogar, dass er Recht mit seinem Ekel hatte. Nichts. Er hatte einfach nur da gesessen und zugehört. Und es hatte gut getan darüber zu reden. Es hatte wirklich gut getan. Es war anders gewesen, als mit Nate zu reden. Er hatte anfangs gedacht, es würde keinen Unterschied machen, aber das war ein Irrtum gewesen. Ein großer. Wenn er mit Nate darüber redete, waren es Eingeständnisse. Er versuchte ihm damit Verhaltensweisen zu erklären, damit er verstand wo es her kam, damit er wusste, dass es nicht an ihm lag. Wenn er es Nate erzählte, war da Druck und Angst. Druck, weil sein Freund ein gewisses Recht hatte all das zu wissen. Weil er ein Recht darauf hatte zu erfahren, warum er so ekelhaft zu ihm gewesen war. Weil er ein Recht hatte zu wissen, dass es eben nicht an ihm lag, sondern an allem anderen. Und Angst, weil er mit diesen Selbstoffenbarungen seinen besten Freund auch verlieren könnte. Weil er sich damit verletzlich machte, angreifbar. Nate könnte ihn, mit allem was er jetzt wusste, restlos zerstören. Er wusste jetzt, welche Knöpfe er drücken müsste, damit er implodierte und sich nie wieder davon erholen würde. Aber seinem Arzt war das alles egal. Egal wie scheiße er sich dem gegenüber verhielt, der wurde dafür bezahlt das zu ertragen. Er wurde auch dafür bezahlt, ihm zuzuhören. Er hatte gutes Geld für die Stunde hingelegt, die er da gewesen war. Es war vollkommen egal was er ihm erzählte, im Grunde interessierte es den Arzt gar nicht. Wie er ihm anfangs gesagt hatte: Er hatte nur professionelles Interesse. Shinji war für ihn nur ein Patient, nichts weiter. Er hatte ihn wahrscheinlich vergessen, sobald er die Tür verlassen hatte. Und auch wenn manche das wohl stören würde, für ihn war das befreiend. Dieser Mann hatte nichts davon ihn zu zerstören. Im Gegenteil, er würde sich eine Geldquelle damit kappen. Gut... Nate hatte auch nichts davon, ihn kaputt zu machen. Aber Nate war eine Privatperson und hatte damit ganz andere Motive. Ein anderer Mensch hätte sich längst für die Frechheiten, die Shinji sich geleistet hatte, gerächt. Es gäbe sicherlich auch den ein oder anderen, der sich absichtlich mit ihm angefreundet hätte, nur um ihn dann doch fertig zu machen. Einfach nur, weil es ihm Spaß machte. Shinji hatte in seinem Leben genug Menschen kennengelernt, die genau so drauf waren. Aber das brachte diesem Arzt einfach nichts. Der hatte kein Motiv. Und hinzu kam auch noch, dass er nicht bewertete. Shinji wusste nicht wie er es machte, aber er hatte das geschafft. Er bewunderte ihn etwas dafür, denn es war eine Fähigkeit, die er nicht besaß und wahrscheinlich nie besitzen würde. Er bewertete alles und zwar hart und was durchfiel, dem gab er nicht einmal eine zweite Chance. Er bewertete ja selbst Nate. Seine Arbeit zum Beispiel. Er versuchte es nicht zu tun, weil er so wenig Ahnung von dem Thema hatte, aber tief in sich drin, tat er es doch. Und er fand es nicht gut. Er fand Krieg nicht gut und töten schon zweimal nicht und wenn er daran dachte, dass Nate Menschen tatsächlich schon getötet hatte, wurde ihm schlecht. Deshalb verdrängte er das Thema und zwar möglichst vollständig. Er vergrub es im hintersten Teil seines Bewusstseins und hielt es dort gefangen. Für ihn gab es einen Unterschied zwischen dem Nate, den er kannte, und dem SEAL. Es waren für ihn zwei verschiedene Personen und das würde auch immer so bleiben. Aber das war hier nicht Thema. Shinji sah auf den Zettel in seiner Hand. Es war eine lange Liste mit Namen und Telefonnummern. Eine sehr lange Liste mit noch mehr Doktortiteln. Sein Arzt hatte nur eine einzige Bewertung vorgenommen und ihm gesagt, dass er darüber nachdenken sollte, einen Psychologen aufzusuchen. Es würde auch welche geben, die gut und nicht allzu teuer waren. Niemand müsse davon erfahren, auch nicht sein Chef. Es gäbe keine Verpflichtung eine Behandlung irgendwo anzugeben. Nur Nate sollte er davon erzählen. Damit da jemand war, der ihn unterstützen konnte. Shinji lächelte bitter. Nate würde ihn nicht unterstützen können und er wollte auch gar nicht, dass er das tat. Er wollte mit ihm gar nicht darüber reden. Shinji wusste nicht, wann er den Entschluss gefasst hatte, tatsächlich mit einem Therapeuten zu sprechen. Sein Arzt hatte ihm versucht klar zu machen, dass eine Therapie ganz normal war und viele eine machten. Aber das hatte er gar nicht hören brauchen. Ihm war das nicht peinlich. Warum auch? Er sah das pragmatisch. Wenn er sich einen Arm brach, hoffte er ja auch nicht, dass der von alleine wieder ordentlich zusammenwuchs. Dann ging er auch zu einem Arzt und ließ sich behandeln. Jetzt war eben etwas in seiner Psyche gebrochen und er ging zu einem Therapeuten und würde sich das richten lassen. Objektiv gesehen gab es da keinen Unterschied. Dennoch war er noch nicht bereit dazu, irgendwen anzurufen. In seiner Küche faltete er den Zettel zweimal und pinnte ihn dann an eine Korkwand. Dort gesellte er sich zu Zetteln, die er die meiste Zeit geflissentlich ignorierte. 'Gönn dir Pausen' stand auf einem. 'Geh an die frische Luft' auf einem anderen. Es waren Hinweise von sich selbst an sich selbst, damit er daran dachte, dass ein Mensch mehr brauchte als einen PC und die Nummer eines Lieferservices. Jetzt hing dort auch die Liste mit den Therapeuten, damit er auch die ignorieren konnte, bis er bereit dazu war, sich dem anzunehmen. Der Zettel war so gefaltet, dass man nichts von seinem Inhalt sah. Nate musste nicht wissen, was er mit seinem Arzt heute besprochen hatte. Die Therapie würde so oder so erst beginnen, wenn sein Freund wieder außer Landes war, denn Shinji wusste, dass die Wartezeiten lang waren. Nate würde wohl kaum das Glück haben, noch mehr als zwei Monate zu bleiben. Also alles safe. Er würde ihn dann mit den Fortschritten überraschen. Wenn Nate wieder kam, würde er offener sein können und sie würden miteinander schlafen können, ohne, dass er sich danach wund schrubbte. Das würde eine schöne Überraschung werden. Jetzt aber würde er endlich schlafen. Er hatte noch ein paar Stunden, bis sein Freund mit dem Abendessen kam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)