Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 21: Das Video --------------------- Sie hatten nicht miteinander geschlafen. Eigentlich hatte Shinji wirklich gewollt, aber als sie sich geküsst hatten und Nate versucht hatte mit seiner Hand unter sein Oberteil zu gleiten, da spürte er plötzlich wieder diesen Ekel, den er auch gespürt hatte, als Chris ihn berührte. Es hatte sich angefühlt, als wäre er wieder in dieser Toilettenkabine, als würde man seinen Kiefer aufzwängen, damit man die Zunge hinein quetschen konnte. Er hörte die Worte wieder, dass es ihm doch gefalle. Da war er zurückgewichen und Nate hatte sofort geschaltet. Hatte beruhigend auf ihn eingeredet, ihm versichert, dass sie nichts tun mussten, was sie nicht wollten und hatte ihn letztendlich, als sich Shinji wieder beruhigt hatte, in den Arm genommen. Sie waren dennoch zusammen zu Bett gegangen und Nate hatte ihn gehalte; hatte ihn beschützt vor der Außenwelt und hatte ihm so geholfen, zumindest kurz weg zu dösen. Doch Chris war auch in seinen Träumen. Und nicht nur Chris. Da war auch das hassverzerrte Gesicht seines Vaters gewesen, die Ablehnung seiner sogenannten Freunde. Und da war so viel Schwärze gewesen, die gedroht hatte, ihn zu ersticken, dass er kurz darauf schweißnass wieder aufgeschreckt war. Nate war sofort wieder da und hatte ihn gestreichelt, doch diesmal half es nicht. Irgendwann war Nate wieder eingeschlafen und hatte Shinji somit mit seinen Gedanken allein gelassen. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Hast du dir das Video angesehen? Du bist vor Lust zergangen als Nate dich genommen hat! Das war keine Phase! Diese Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. Das Video... dieses verdammte Video! Immer und immer wieder nur das. Warum? Was war denn verdammt noch mal darauf zu sehen, was so viel bewies? Da hatten zwei Kerle miteinander geschlafen, ja... und? Das verdammte Internet war voll mit dem Zeug! Warum verfolgte es ihn dann so sehr? Was nur faszinierte die Menschen daran? Ehe er es selbst richtig mit bekam, war er aufgestanden. Nate schlief den Schlaf der Gerechten und Shinji ließ ihn. Das, was er vor hatte, musste sein Freund nicht mitbekommen. Er setzte sich im Wohnzimmer wieder vor seinen Laptop, entsperrte ihn und wagte sich dann in die tiefsten Tiefen seiner Festplatte. Er hatte diese Datei schon seit langer Zeit, hatte sie aber nie geöffnet. Und er versteckte sie auch mit allen Sicherheitsvorkehrungen, die er kannte. Es dauerte einen Moment, bis er sie öffnen konnte. Der Mediaplayer sprang in den Vordergrund, doch noch bevor auch nur der erste Frame des Videos zu sehen war, pausierte er. Wollte er sich das wirklich antun? Wollte er das wirklich sehen? Und hören? War es nicht schlimm genug, dass er sich daran erinnerte? Musste er es jetzt auch noch von außen beobachten? - Ja. Das war eine ziemlich simple Antwort, aber ja. Er musste sich das antun. Er musste wissen, was all die anderen gesehen hatten. Es ging nicht anders. Es wurde Zeit. Seine Hand schwebte eine weile über der Space-Taste, mit der er das Video wieder starten konnte, doch nach einem Blick über den Tisch, auf dem tausend Tassen verteilt waren, stand er erst einmal auf, räumte alles weg und begann zu spülen. Der Rest der Nacht wurde pure Quälerei. Shinji konnte nicht sagen, wie oft er das verdammte Video gestartet und wieder angehalten hatte. Nachdem seine gesamte Wohnung - bis auf das Schlafzimmer natürlich - wieder einmal geputzt worden war, hatte er mit Panikattacken, Heulkrämpfen - ja... er hatte geflennt wie ein kleines Mädchen, so sehr schob er Panik vor dieser Ansammlung von Bildern - und Brechreiz zu kämpfen gehabt. Nun... nicht nur Brechreiz... Und irgendwann... irgendwann kurz vor Sonnenaufgang, da hatte er es geschafft. Nicht, ohne sich zwischendurch noch mehrmals fast zu übergeben. Irgendwann gab sein Magen einfach nichts mehr her. Und dann kamen anderen Empfindungen, die ihn fast noch mehr quälten. Da war ungewollte Erregung, gepaart mit dem Ekel darüber, dass er das tatsächlich so anregend fand. Da war Bedauern darüber, was er verloren hatte, nur, weil andere für ihn bestimmt hatten, was richtig und was falsch war. Da war die Sehnsucht, dort weiter zu machen, wo sie damals aufgehört hatten. Nach dem vergangenen Tag, so furchtbar er auch gewesen sein mochte, war dieser Gedanke gar nicht mehr so abwegig. Da war noch mehr Ekel, denn er hatte das Gefühl, dass es ihm nicht erlaubt sein sollte, doch so einfach dem Trauma, das er nach gestern haben sollte, entkommen zu sein. Da war pure Müdigkeit, weil er seit gefühlt einer Woche nicht geschlafen hatte. Da war Gleichgültigkeit, weil er einfach nichts Schlimmes an dem Video finden konnte. Da waren tief vergrabene Gefühle, für den Mann, der nur ein paar Meter entfernt in seinem Bett lag. Letztendlich war da auch Faszination über das, was er sah. Hier, vergraben in seinen eigenen vier Wänden, wo niemand ihn sehen konnte, wo er sicher war vor der Außenwelt, da konnte er tatsächlich Faszination dafür empfinden. Denn was er vor sich hatte, war kein bloßer Porno. Es war keine rohe Lust, die er sah. Nein... es war so viel ästhetischer. Man bemerkte an den manchmal sehr fahrigen Bewegungen, dass sie beide ziemlich betrunken gewesen waren, aber man sah auch eindeutig die Gefühle füreinander. Da waren immer wieder Blicke voller Zuneigung, sanftes Streicheln und das sinnliche flüstern eines Namens. Jeweils eine ihrer Hände blieben miteinander verschränkt, während Nate ihm immer wieder sanft durchs Haare streichelte. Küsse wurden ausgetauscht, die so viel Gefühl ausstrahlten, dass es ein Kribbeln in seinem Bauch verursachte. Wie konnte das nur irgendwer verurteilen? Das war Shinji in diesem Moment unbegreiflich. Es war so schön... so rein... er konnte einfach nicht verstehen, wie man so etwas abstoßend finden konnte. Und langsam musste Shinji auch erkennen, dass die Wut, die er Nate gegenüber empfunden hatte, auch nur seine Art gewesen war, ihn in Erinnerung zu behalten. Er hatte ihm nicht nachtrauern dürfen, hatte ihn nicht vermissen dürfen. Aber er hatte ihn auch nicht vergessen können. Wut war das einzige Ventil gewesen, das ihm zur Verfügung gestanden hatte, denn alles andere hätte ja seine Gefühle für den anderen preis gegeben. Als Nate Stunden später ins Wohnzimmer kam, saß Shinji noch immer auf dem Sofa. Fest eingehüllt in eine Wolldecke, die Augen verquollen, das Gesicht leichenblass mit tiefen, schwarzen Ringen unter den Augen, saß er da und schaute sich das Video noch immer an. Sein Innerstes fühlte sich leer an und obwohl er Nate bemerkte, starrte er weiter wie hypnotisiert auf den Bildschirm. "Warum siehst du dir das an?" Die Couch neben ihm gab etwas nach, als der schwere Körper sich darauf sinken ließ. "Weiß nicht...", antwortete Shinji, weil er den Grund wirklich nicht mehr kannte. Doch sein müdes Hirn gab einfach weiter Signale und sein Mund bewegte sich ganz automatisch: "Chris hat mir das Video als Beweis vorgelegt, dass ich definitiv nicht hetero bin... und irgendwie war mir danach, es anzusehen." Nate nahm diese Aussage einfach so hin, alles andere wäre sowieso unsinnig gewesen, denn Shinji konnte es nicht besser erklären. "Wow... ich seh echt nackt aus, ohne Tattoos." "Ich find's ganz hübsch", sagte er, ohne den Kontext der Tattoos wahrzunehmen oder den Blick vom Monitor abzuwenden. "Es hat was... man sieht, dass wir beide uns damals sehr gemocht haben. Und dass du schon damals unglaublich vorsichtig warst..." Ja, das war ihm auch aufgefallen. Nate hatte ihn angefasst, als wäre er eine wertvolle, aber zerbrechliche Vase gewesen. Er war ganz vorsichtig und zärtlich gewesen. Nate hatte eben schon immer auf ihn aufgepasst. Ein Umstand, der ihn damals manchmal wirklich genervt hatte. Heute war es entspannend, sich auf den anderen derart verlassen zu können. "Hübsch? Echt?" Nate schwieg dazu, sah nur mit ihm zusammen auf den Bildschirm und schien die Worte abzuwägen. Da er ihm nicht widersprach, ging Shinji davon aus, dass er ihm zustimmte. "Wäre ich geblieben... hätte das etwas an deiner Situation geändert?" Shinji beugte sich jetzt doch vor und pausierte das Video. Das schien ihm kein Gespräch zu werden, bei dem man Stöhnen als Hintergrundgeräusch haben wollte. "Ich hab dich mit den ganzen Problemen allein gelassen.", fuhr Nate fort. "Ich wusste zwar nichts davon, aber trotzdem. Ich werde das Gefühl nicht los, dich im Stich gelassen zu haben." Die Stille, die sich kurz nach diesen Worten über sie legte, war so allgegenwärtig, dass Shinji kurz erschauerte, ehe er antwortete: "Vielleicht hätte unsere Clique nicht so extrem reagiert. Aber das nur vielleicht. Aber es wäre einfacher gewesen, weil da jemand gewesen wäre, der das mit durchgemacht hätte. Jemand, der auf meiner Seite gewesen wäre, der mir hätte sagen können, dass alle anderen Idioten sind. Wir hätten uns gehabt, egal, was die anderen gesagt hätten. Spurlos wäre das sicher nicht an mir vorbei gegangen... aber... es wäre nicht so extrem gewesen." Er seufzte dann aber und fuhr sich kurz durchs Haare: "Oder ich hätte mich von dir fern gehalten, hätte dich gemieden, weil es mir peinlich war und alles wäre exakt so gekommen, wie jetzt auch." Nun ja, das war ein unwahrscheinliches Szenario, weil Nate sicherlich nicht locker gelassen hätte, aber es war möglich. Wer wusste schon, was die ganze Ablehnung aus Nate gemacht hätte? Der war zwar wie ein Fels in der Brandung, aber sicher wäre das auch an ihm nicht einfach abgeprallt. "Aber du hast mich nicht im Stich gelassen.", setzte Shinji noch eindringlich nach. "Du konntest nichts dafür. In dem Alter zieht man mit seinen Eltern mit. Dafür kannst du nichts. Das war alles nur ein unglücklicher Zufall und genau das wusste ich all die Jahre eigentlich auch. Ich... hätte dir das nie vorwerfen dürfen." Aber das Thema hatten sie schon gestern gehabt. ... gestern. Es kam ihm vor, als lägen Tage dazwischen, nicht Stunden. Obwohl Nate ihn während seiner Worte nicht angesehen hatte, hatte er seine Hand ergriffen und hielt sie. Sie verschwand fast in der großen Pranke und Shinji erschauerte etwas, als er sich daran erinnerte, wie es sich angefühlt hatte, als sie warm und fordernd über seine Haut gestrichen hatte. "Ich hoffe du weißt, dass das kein zweites Mal passieren wird?", fragte Nate da und richtete seinen fernen Blick wieder ins hier und jetzt. "Wenn mein Urlaub einmal zu Ende ist und ich weg muss, komme ich später wieder hierher zurück und ich erwarte, dass du dann auch da bist." Das klang fast wie ein Befehl, der Shinji kurz in Angst versetzte. Es war ein dunkles Versprechen, als würde Nate ihn so lange jagen, bis er ihn wieder gefunden hatte, sollte er es wagen zu verschwinden. Zum Glück wusste Shinji wie es gemeint war. Denn wenn er wirklich ernsthaft 'Nein' sagen würde, würde Nate das akzeptieren. Wahrscheinlich nicht ganz kampflos, aber er würde sich niemals in sein Leben zwingen, wenn Shinji ihm deutlich machte, dass er nichts mit ihm zu tun haben wollte. Aber das wollte er ja gar nicht. Das hatte er nie gewollt. Er hatte immer seinen besten Freund zurück haben wollen, auch wenn es anfangs ganz und gar nicht so ausgesehen hatte. Shinji schluckte. Wann war es eigentlich so weit gekommen? Wann war es normal geworden, dass seine Hand in Nates lag? Wann war es klar geworden, dass das zwischen ihnen, was auch immer es war, eine neue Chance bekam? Er wusste es nicht. Aber es war auch nicht wichtig. Denn es fühlte sich gut an und alles andere als falsch. "Ich bin da", hauchte er leise, als hätte er Angst, diesen Moment kaputt zu machen. "Und falls nicht... falls ich doch wieder die Stadt wechseln muss, dann verspreche ich, wird deine Schwester Bescheid wissen." Und die nächsten Worte fühlten sich genauso natürlich und selbstverständlich an, wie die Hand, die seine umschloss: "Aber ich warte. Das weißt du hoffentlich. Jeden Tag... bis du wieder zurück kommst." "Shinji..." Nates Stimme hörte sich plötzlich ganz rau und zittrig an. "Was genau fühlst du jetzt für mich?" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)