Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 14: Abgrund ------------------- Es krachte, als etwas gegen die Kabinentür stieß. Panisch riss Shinji die Augen auf. Was machte Nate da? Plötzlich war Chris weg. Vollkommen panisch rollte Shinji sich auf dem Toilettensitz zusammen. Er zog die Knie so nah wie möglich an seinen Körper und versteckte den Kopf in seinen Armen. Das war der schlimmste Tag seines Lebens und er würde noch so viel schlimmer werden. Gleich würde Nathan zurück kommen, wenn er mit Chris fertig war und dann ginge es mit ihm weiter. Er würde ihn beschimpfen, ihn krank nennen, ihn bespucken und schlagen und danach... danach würde er ihn verstoßen. Wie alle anderen vor ihm und er hatte Recht damit. Wie sollte auch irgendwer in der Lage sein, mit jemandem befreundet zu sein, der solche Neigungen hatte? Dem bei so einer Szene einer abging? Er sah nicht einmal auf, wollte nichts hören, wollte nur, dass es bald vorbei war. So lange war alles gut gewesen und jetzt würde wieder alles kaputt gehen. Er konnte das nicht. Er konnte nicht noch einmal von vorne anfangen. Er konnte seinen besten Freund nicht noch einmal verlieren. Er konnte nicht. Er wollte nicht mehr. Jetzt wo er über sich selbst Bescheid wusste sowieso nicht mehr. So was wie er sollte gar nicht existieren. Er hörte etwas... jemanden bei sich. Es war sicher Nate, doch er traute sich nicht, sich zu rühren. Und obwohl er gerade beinahe noch gedacht hatte, dass Nate ihn besser totschlagen sollte, griff doch die Angst und die Verzweiflung und der letzte Funke Hoffnung, dass er noch alles wenden konnte. "Es tut mir leid!", rief er aus. Ein Schluchzen schüttelte seinen gesamten Körper durch und machte es ihm schwer, genug Luft zu bekommen. "Ich kriege das wieder in den Griff! Ich versprechs! Das... das war nur ein Ausrutscher... ein dummer Rückfall... ich versprechs..." Er glaubte sich ja selbst nicht. Wie sollte Nate ihm da glauben? Er hatte sich ganz offensichtlich nicht einmal gewehrt. Er war selbst Schuld. Er hatte Chris falsche Signale gesendet und war selbst Schuld... Als er eine Hand auf seinem Kopf spürte, zuckte er so heftig zusammen, dass er fast von seinem Sitzplatz gefallen wäre. Er erwartete einen Schlag, erwartete Schmerzen und Geschrei... aber nichts davon kam. Da war nur die Hand, die ihm beruhigend über den Schopf strich und sonst nichts. "Wofür entschuldigst du dich, Shinji?" Das klang so gehässig. Warum fragte er das? War das nicht offensichtlich? Oder wollte Nate unbedingt, dass er es selbst aussprach? Als Legitimation? Wollte er auf Nummer sicher gehen? Ihm fehlte die Kraft zum Schweigen und der Mut zum Reden, doch die Nähe seines Freundes und die verräterische Hand, die ihn in trügerischer Sicherheit wiegte, machten es ihm noch schwerer zu Schweigen. Und das, obwohl er fest damit rechnete, dass sie sich gleich in seinen Haaren verkrallen würde, um ihn daran hoch zu reißen. Er sollte es hinter sich bringen... es hatte doch keinen Zweck... er sollte einsehen, dass es vorbei war... er sollte es endlich aussprechen, damit die ganze Welt es wusste... damit alle es sehen konnten... damit er sich nicht mehr in der Illusion verstecken konnte... er sollte das Weglaufen endlich beenden... Also holte er zittrig Atem, würgte und schluchzte aufgeregt und versuchte, diese Worte aus sich heraus zu pressen: "Dass ich so abnormal bin... dass ich mich nicht gewehrt hab... dass ich es zugelassen habe... dass... dass... dass es mir... gefallen hat..." Da waren plötzlich Arme um ihn. So vertraut und so sanft... sie waren kein Gefängnis, keine Schraubzwinge, die ihn zu erdrücken versuchte. Sie waren nur da und hielten ihn. Und genauso sanft drangen die leisen Worte seines Freundes durch das Rauschen in seinen Ohren: "Ich verstehe nicht, warum du glaubst, dass du abnormal bist. Chris hat sich an dir vergriffen. Die meisten wehren sich nicht, das ist ganz normal. Nur Chris ist abnormal. Aber der wird dir nie wieder zu nahe kommen. Das werde ich nicht zulassen." Warum verstand Nate es denn nicht? Warum verteidigte er ihn auch noch? Hatte er ihm nicht zugehört? "Sie hatten alle Recht!", stieß er wimmernd aus. Er löste die Kugel nicht, in die er sich gerollt hatte. "Ich bin krank und widerlich! Sie hatten alle Recht! Es ist kein Wunder, dass ich unfähig bin irgendeine Beziehung zu führen! Es ist alles wahr! Wenn ich... wenn ich auf... so was... stehe... Ich dachte ich hätte das im Griff! Aber ich hab's nicht... und jetzt ist wieder alles kaputt... ich will doch nur normal sein... ich kann's ihnen nicht übel nehmen... ich wollte mit jemandem wie mir auch nichts zu tun haben..." "Hör auf dich so fertig zu machen.", kam es so nachdrücklich von Nate, dass Shinji zusammenzuckte. "Wenn es dir tatsächlich gefallen hat, warum weinst du dann? Als ich gekommen bin, hat es wirklich nicht so ausgesehen, als hättest du Spaß daran gehabt. Oder wolltest du, dass er weiter macht?" Sofort schüttelte Shinji den Kopf: "Ich wollte nur, dass er aufhört. Nur weg von ihm... aber... aber mein Körper..." Sein Körper hatte ihn verraten, hatte ihn betrogen. "Okay, lass deinen Körper mal außen vor." Nate richtete sich wieder auf, Shinji konnte spüren, wie sich die Arme etwas lockerten und der Körper sich ein klein wenig entfernte. "Dirhat es nicht gefallen und basta. Ob da jetzt irgendwas steif wird oder nicht, ist vollkommen irrelevant und kann passieren." Wieder wurde ihm sanft über den Kopf gestrichen und als Shinji langsam begriff, dass Nate auf seiner Seite war und das unwiderruflich, begann er sich vorsichtig ein wenig zu entspannen. Er bewegte sich möglichst unauffällig, um endlich seinen Reißverschluss zu schließen und hoffte, dass Nate die Bewegung nicht auffiel. Ob sein Freund mit seiner Aussage recht hatte, konnte Shinji nicht sagen. Er glaubte es nicht wirklich, wenn er ehrlich war. Wie sollte das auch eine natürliche Reaktion sein? Er war fast verg... verg... - er konnte es nicht einmal denken - und sein Körper hatte nichts anderes zu tun gehabt, als zu zu stimmen! Aber... das war nicht so wichtig, solange Nate nur selbst glaubte, was er sagte. Solange er nur auf seiner Seite blieb. Solange er nur da blieb und ihn weiter so hielt. Letztendlich löste er die Kugel und lehnte sich gegen Nathan, suchte Schutz, den er auch fand. Das erste Mal in seit sehr langer Zeit war da jemand. Da war jemand, der ihn auffing und umfing und ihn beschützte. Der zu ihm stand. Dieses Gefühl war so überwältigend, dass er noch einmal schluchzte. "Ich hasse Menschen.", murmelte er nach einer kleinen Weile und gab damit zum ersten Mal laut zu, was er schon all die Jahre dachte. Es war die Grundlage seines ganzen Verhaltens. Er wollte mit Menschen nichts mehr zu tun haben. Sie waren dumm und widerten ihn an. Sie waren engstirnig und generell einfach überflüssig. Er hasste Menschen für das, was sie waren und schloss sich selbst nicht einmal aus. Nur Nate schloss er aus. Nate war nicht wie die anderen. War er nie gewesen. Zumindest zu ihm nicht und er war egoistisch genug um das zählen zu lassen. Er war anderen Menschen auch egal, dann konnte es ihm ebenso egal sein, ob Nate zu anderen Menschen auch so gut war, wie zu ihm. "Kann man niemandem verübeln", antwortete Nate da und wurde in Shinjis Augen damit nur noch toller. Er musste ihm ja nicht zustimmen, Shinji wusste genau, dass Nate das anders sah, aber er akzeptierte einfach, dass es Shinji da nicht so ging. Und gerade weil Nate ihm gerade so viel gutes Tat, traf ihn die Erkenntnis, ihn heute enttäuschen zu müssen, schwer. "Tut mir leid", murmelte er. "Jetzt ist der ganze Tag hin..." Denn er würde jetzt nichts anderes mehr tun, als noch irgendwie nach Hause zu kommen und sich dort dann zu verkriechen. Der geplante Stadttrip war nicht mehr machbar. Er würde wahrscheinlich auch die nächste Zeit keinen Fuß mehr vor die Tür setzen. Er hatte die Nase gestrichen voll von 'draußen'. Da warteten nur Menschen auf ihn... Menschen wie Chris oder wie seine ehemaligen Mitschüler. Menschen wie dieser Lehrer oder wie sein Vater. Er wollte nicht mehr. Es reichte. So viel Pech konnte man wirklich nicht haben, oder? Es konnten doch nicht alle Menschen so scheiße sein! Aber er zog sie offensichtlich alle an... und die guten vergraulte er wahrscheinlich, aus zu viel Angst, dass sie auch böse waren, ihm böses wollten. Nate hatte sich nur einfach nicht vertreiben lassen, deshalb hatte er endlich jemand gutes an seiner Seite. Nate würde ihm nicht weh tun... das hatte er nie. "Die Stadt ist nächste Woche auch noch da. Das läuft uns nicht davon. Schnappen wir uns das Essen und fahren heim. Ich bring dich nach Hause." Shinji war erleichtert das zu hören. Nach allem hatte er nicht geglaubt, dass Nate ihn jetzt tatsächlich alleine ließ, aber man konnte nie wissen. Er hätte es ihm auch nicht übel genommen, wenn er jetzt einfach gefahren wäre. Aber so war Nate nicht. Zum Glück. "Danke.", stieß er erleichtert aus und es war nicht nur auf das nach Hause bringen bezogen. Sondern auch auf alles andere. Auf alles, was Nate für ihn tat und war. Ohne ihn... Shinji wollte gar nicht daran denken. Zögernd löste er sich aus der schützenden Umarmung. Es wurde Zeit, sich der Welt wieder zu stellen, zumindest so lange, bis sie im Auto saßen. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht, wäre geflüchtet aus einer Realität, die er schon lange zu verleugnen versuchte, vor der er sich hatte beschützen wollen. Aber er hatte immer wieder lernen müssen, dass er in dieser Realität nun einmal lebte und bevor er sie wieder verdrängen konnte, musste er sie zulassen. Nur einen kurzen Augenblick. Nur ein paar Minuten vielleicht - wenn überhaupt. Seine Beine zitterten, als er stand, aber sie gaben nicht nach. Er wischte sich die Tränenspuren weg. Es musste niemand sehen, dass etwas passiert war. Als er aus der Kabine trat, würgte er ein paar Mal trocken, zwang sich dann aber zum ruhigen Atmen. Alles fühlte sich etwas taub an, als wäre er in Watte gepackt, aber er begrüßte das Gefühl. Es würde alles früh genug wieder über ihm zusammenbrechen. Er musste nur durchhalten, bis er wieder alleine war. Es war unspektakulär. So wie immer. Während seine ganz persönliche Welt wieder Kopf stand, hatte sich die eigentliche Welt weiter gedreht und schenkte ihm kleinen Individuum keinerlei Beachtung. Es war frustrierend zu erfahren, wie unbedeutend er war. Niemand drehte sich zu ihm um, es gab keine merkwürdigen Blicke, kein Getuschel. Der ganze Vorfall war vollkommen an allen Anwesenden vorbei gegangen. Beinahe so, als wäre er nicht passiert oder als wäre er nicht wichtig. Warum sollte er auch wichtig sein? Es betraf niemanden hier. Niemandem tat er weh, niemanden belästigte er. Im Großen und Ganzen war er nur Teil einer Dunkelziffer. Ein mikroskopisch kleiner Teil in einer viel zu großen Zahl. Der Welt war Shinji egal, aber wahrscheinlich war das gut so. Eine Hand in seinem Kreuz, die ihn sanft in Richtung Kasse schob, erinnerte ihn daran, dass er diesmal wenigstens nicht alleine war. Es war nicht allen egal. Er war nicht allen egal. Seine Welt war nicht ganz leer. Im Auto drückte Nate ihm die verpackten Pancakes in die Hand, die tatsächlich immer noch so warm waren, dass man es spüren konnte. Der Vorfall konnte also nicht lange gedauert haben, was absurd war, denn Shinji hatte das Gefühl, eine ganze Ewigkeit in diesem Raum verbracht zu haben. Die Wärme tat gut und auch wenn der Geruch nach Essen Übelkeit in ihm verursachte, war er auch gleichzeitig beruhigend. Nate lenkte sie sicher durch den Stadtverkehr, sie schwiegen und nur leise Radiomusik war zu hören, die kaum zu Shinji durchdrang. Er genoss die Ruhe ausnahmsweise und nutzte sie, um sorgfältig zu verdrängen, was gerade passiert war. Letztendlich blieb nur der Nachhall des Gefühls, dass es eine dumme Idee gewesen war, nach Draußen zu gehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)