Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 9: Freundschaft ----------------------- Shinji fühlte sich müde und abgeschlagen, als er am nächsten Nachmittag aus dem Bett fiel. Er hatte nicht gut geschlafen und die letzten Worte von Nate hatten ihn bis in seine Alpträume verfolgt. Er wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass er Nathan gar nicht wieder getroffen hätte. Es war vorher alles in Ordnung gewesen und jetzt konnte er wieder nicht schlafen und war wieder nervös und angespannt. Warum nur wurde er Nathan nicht los? Und was sollte das heißen, dass er ihn nicht aufgeben würde? Warum nicht? Sie hatten sich 15 Jahre nicht gesehen und Nathan musste doch gemerkt haben, dass Shinji nicht mehr so war wie früher und dass er Probleme hatte. Wie konnte Nathan dann noch an ihrer Freundschaft festhalten? Dachte er, er könne ihn verändern? Könne ihn wieder zu dem Shinji von damals machen? Das war ein vergeblicher Versuch. Der Shinji von damals war tot. Sein eigener Vater und der Rest der Gesellschaft hatten ihn umgebracht. Nathan würde auch irgendwann begreifen, dass man mit jemandem wie ihm nichts anfangen konnte. Dann wäre er ihn endlich los. Als es am frühen Abend an seiner Tür klingelte, hatte er bereits ein schlechtes Gefühl. Das konnte nur einer sein, auch wenn er hoffte, dass es nicht so war. Er überlegte kurz, ob er die Tür einfach zuließ, aber dann würde sein Handy wahrscheinlich so lange klingeln, bis er aufmachte. Oder wahlweise seine Tür natürlich. Als er ihm öffnete, konnte er dennoch eine gewisse Verblüffung nicht verbergen: "Nathan... was... ehm... hi?" "Hi" Und plötzlich hatte er ein Stück Papier vor der Nase. "Samstag ist Spieltag. Ich komm dich abholen, wir schauen uns das Spiel an, du denkst mal nicht an Arbeit und dann fahr ich dich wieder Heim. Alles easy." Es war schwer den reinen Reflex, das Papier anzunehmen, zu unterdrücken, aber er wusste, dass er verloren hatte, sobald er es in der Hand halten würde. "Nathan...", begann er verzweifelt und müde, stoppte dann aber. Wollte er das wirklich hier besprechen? So zwischen Tür und Angel, während jeder hier vorbei kommen konnte? Aber die Alternative wäre gewesen, Nathan in seine Wohnung zu lassen, und da bekam er ihn im Zweifel nicht mehr raus. Nach kurzem Zögern beschloss Shinji, dass ihm das Risiko zu groß war, weshalb er ihn nicht herein bat, sondern einfach nur die Stimme senkte, damit man sie nicht mehr so gut hören konnte. "Es reizt mich wirklich nicht, mich in eine Halle voll mit grölenden Menschen zu zwängen. Behalt das Ticket." Aber natürlich bewegte sich Nathan keinen Millimeter. "Wovor hast du solche Angst? Sie tun dir nichts." Die Definition einer Phobie kannte Nathan auch nicht wirklich, oder? Dachte der wirklich, dass es ausreichte, ihm zu sagen, dass schon nichts passieren würde? Im Grunde wusste Shinji sehr genau, dass eine Traube von Menschen nicht Lebensgefährlich war, dennoch reagierte sein Körper, als wäre es so. Was dachte Nathan also, was er hier tat? Vielleicht wollte Shinji das gar nicht wissen, denn sein Gegenüber fing plötzlich an zu lachen. Schön, dass wenigstens einer das hier lustig fand. "Du warst schon immer ein Sturkopf. Dass du damals meine Jacke nicht einfach angenommen hast, versteh ich genauso wenig, wie diese Situation. Aber okay... zwingen kann ich dich schließlich nicht, nicht wahr?" Die Jacke? "Das mit der Jacke war was anderes.", wehrte er sofort ab und wich Nates Blick aus. Da war mal eine Situation gewesen, in der er selbst furchtbar gefroren hatte, aber partout die Jacke von Nate nicht hatte annehmen wollen. Aber das hatte ganz simpel daran gelegen, dass er seinen Geruch nicht ertragen hätte. Damals waren die Träume schon da gewesen. Er hatte einfach angst gehabt, komisch zu reagieren. "Warum denkst du, arbeite ich als Freelancer im Home Office? Ich mache das nicht, weil es mir Spaß macht. Ich bin nur nicht gerne unter Menschen..." Doch Nathan schnaubte daraufhin nur: "Auch wenn du oft genug von Menschen enttäuscht wurdest, ich werde dich nicht enttäuschen. Da kannst du mich noch so oft von dir schieben." Und damit griff Nathan einfach seine Hand und drückte das Ticket hinein, ehe er sich umdrehte. Vollkommen verstört betrachtete Shinji das Stück Papier in seiner Hand, dass mindestens einen Zentner wog. "Aber... warum?", fragte er mit einer Mischung aus Verwirrung, Verzweiflung und vielleicht auch ein wenig Misstrauen. "Ich verstehe es nicht. Hoffst du einfach, den alten Shinji wieder zu treffen? Ich denke nämlich nicht, dass es den noch gibt..." "Ein Teil von ihm schlummert noch immer in dir und es würde dir gut tun, ihn zu wecken. Und das werde ich dir auch zeigen. Wir sehen uns Samstag." Und damit ging Nathan dann auch. Zitternd und mit den Nerven am Ende, schloss Shinji die Tür und obwohl er das nicht wollte, fühlte er so etwas wie Vorfreude in seiner Brust. Aber wollte er das? Wollte er Zeit mit Nathan verbringen und riskieren, dass diese Gedanken wieder kamen? Wollte er, dass Nathan das, was von dem alten Shinji übrig war, weckte und wollte er damit auch zulassen wieder verletzbar zu werden? Denn der alte Shinji war unbedarft gewesen. Naiv. Er hatte darauf vertraut, dass seine Freunde zu ihm standen und dass sein Vater immer da sein würde, um ihm zu sagen, dass er sich mehr anstrengen musste. Der alte Shinji war dumm und schwach gewesen und hatte erst noch lernen müssen, wie scheiße Menschen wirklich waren. Würde er jetzt nicht alles gelernte wegwerfen, wenn er Nate an sich heran ließ? Das... das war viel zu gefährlich. Viel zu gefährlich. Und trotzdem... trotzdem brachte er es nicht über sich, das Ticket zu zerreißen. Der Rest der Woche war gefüllt mit Putzen und Arbeiten. Die Zeit, in der er Nathan weder sah noch hörte, gab ihm die Möglichkeit sich wieder etwas zu beruhigen. Er wusste noch immer nicht, ob das alles eine gute Idee war, aber er wollte es versuchen. Hatte er sich nicht gewünscht, wieder etwas lockerer sein zu können? Er musste eben sämtliche merkwürdigen Gedanken dabei verbannen. Konnte doch eigentlich nicht so schwer sein, oder? Er hatte mit Nathan nicht genau abgesprochen, wann sie gemeinsam los gehen würden, was darin resultierte, dass er schon sehr früh fertig war. Er wusste nicht, wie früh man vor so einem Spiel da sein musste, deshalb ging er lieber auf Nummer sicher. Diesmal trug er etwas, in dem er sich unter anderen Menschen wohler fühlen konnte. Er trug ein helles Hemd und eine normale Jeans. Schlicht, einfach, effektiv. Persönlich bevorzugte er dunklere Farben, aber damit fiel man in der Öffentlichkeit definitiv zu sehr auf. Das wollte er heute mehr als sonst vermeiden. Da er sich auf nichts konzentrieren konnte, begnügte er sich damit, in seiner kleinen Wohnung auf und ab zu tigern. Viel Platz hatte er dafür nicht. Zwei Zimmer und ein Bad reichten nicht gerade für einen Marathon. Aber er brauchte nicht mehr, vor allem, weil er hier nur in der Wohnküche ein Fenster hatte, das die kleine Couchecke erhellte. So konnte niemand in seine Wohnung schauen und er brauchte nicht ständig Panik haben, dass irgendwelche Gardinen nicht vor fremden Blicken schützten. Als er bemerkte, dass er definitiv viel zu früh dran war, verschwand er noch einmal im Bad und begann tatsächlich sich die Haare zu machen. Er wusste ehrlich nicht warum, aber es war ihm ein Bedürfnis. Er wollte vor sich selbst nicht zugeben, dass er sich irgendwie - ein ganz, ganz klein wenig - auf das Spiel freute. Viel zu viel Zeit später, hatte er dann diesen 'frisch aufgestanden Look', für den seine etwas längeren Haare gut geeignet waren. Als es an der Tür klingelte, war er viel zu schnell da. Nate würde wissen, dass er gewartet hatte, aber das konnte er nicht ändern. "Hi...", grüßte er Nate kurz und schloss dann die Tür hinter sich, dass er selbst draußen stand. "Ich bin fertig, wir können also sofort los." Nathan nickte, schmunzelte leicht und nickte dann mit dem Kopf die Straße runter: "Ich bin mit dem Auto hier." Doch nachdem Nate zwei Schritte gegangen war, drehte er sich noch einmal zu Shinji um, als wolle er überprüfen, ob er ihm wirklich folgte. Shinji schnaubte, sagte aber nichts. Er konnte es seinem ehemaligen Freund ja nicht verübeln. Shinji war froh, dass sie mit dem Auto fahren konnten. Er selbst besaß keines und er hasste die überfüllten U-Bahnen der Stadt. Sie schwiegen während der kompletten Fahrt, aber die leise Musik aus dem Radio machte es nicht unangenehm. Es war in Ordnung. Ein wenig war Shinji sogar erstaunt, dass Nate ihm keine Sekunde sein trotziges Verhalten vorwarf. Er schien es einfach zu akzeptieren. Es war... angenehm, dass nicht von ihm erwartet wurde, sich nach irgendwelchen Vorgaben zu verhalten und obwohl er wusste, dass er Nates Geduld nicht weiter so sehr strapazieren sollte, war all die Gewissheit, dass er es dürfte, ohne, dass der andere ihm gleich den Rücken zu wandte und ging, eine enorme Erleichterung. Es war, als hätte Nathan einen riesigen Schritt über den Graben gemacht, den Shinji um sich gezogen hatte. Kurz bevor sie an der Halle ankamen, meldete sich Shinji aber dennoch noch einmal zu Wort: "Erwarte aber nicht zu viel, okay? Ich kann wirklich nicht so gut mit solchen Menschenmassen..." Dass er nervös war, sah wohl jeder Blinde. Er saß total verkrampft in dem Autositz und spielte ständig an dem unteren Zipfel seines Hemds herum. Wahrscheinlich war er auch ziemlich grün im Gesicht und je näher sie der Halle kamen, desto übler wurde ihm. "Ich erwarte nur, dass die Mannschaft gewinnt, auf die ich heute gesetzt hab, Kleiner." Kleiner... hallte es in Shinjis Kopf wider und er musste den Kloß, der sich in seinem Hals bildete, gewaltsam hinunter schlucken. Als Asiate war er in ihrer Clique damals immer schon der Kleinste gewesen und verglichen zu Nate, der mit seinen zwei Metern ein Riese war, fiel das noch mehr auf. Daher hatte er den Spitznamen schon immer getragen. Erwartungsgemäß hätte die Bezeichnung Herzrasen auslösen sollen, doch stattdessen hüllte sie ihn in die Wärme einer alten Freundschaft. "Nenn mich nicht so", antwortete er ganz automatisch. Als sie den Parkplatz anfuhren, erbleichte Shinji. Die Warteschlange war schon ewig lang, wie viele Menschen würden dann erst in der Halle sein? Zum Glück erwartete Nate wirklich nicht, dass er mit irgendwas klar kam. So wie es aussah, musste er froh sein, wenn er ohne Panikattacke durch den Abend kam. Als sie endlich einen Parkplatz hatten, war Nate sofort an seiner Seite: "Bleib dicht hinter mir." Und Shinji hielt sich an den Rat, denn ohne Nate, wäre er nicht ohne Blessuren durch die Massen gekommen. Aber sein Kumpel gab auf ihn acht, wie ein Schäferhund auf seine Schafe und Shinji war ihm unglaublich dankbar dafür. Nun... auf in den Kampf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)