Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 4: Zwickmühle --------------------- "Ja, ich helfe meiner Schwester ein wenig aus. In handwerklichen Dingen war sie schon immer eine Niete." Nathan verbrachte also seinen Urlaub damit, seiner Schwester die Wohnung zu reparieren? Das war schon etwas merkwürdig, oder? Shinji war sich da nicht so sicher. Menschen taten merkwürdige Sachen für Menschen, die sie mochten und hatten dabei auch noch Spaß. Vielleicht entspannte Nathan das Heimwerken ja tatsächlich, auch wenn Shinji sich nicht vorstellen konnte, warum. Menschen waren komisch. "Das ist nett von dir", murmelte er leise, weil er nicht genau wusste, was er sonst darauf sagen sollte. "Und was machst du, wenn du nicht gerade Urlaub machst?", fragte er dann einfach weiter, um zu überspielen, dass er keine Ahnung hatte, wie man auf so etwas anständig antwortete. Er umfasste die Tasse mit beiden Händen, um etwas zu haben, woran er sich festhalten konnte, denn er fühlte sich, als würde er den Halt verlieren. Diese Situation war so surreal, dass er nicht wusste, was er damit anfangen sollte und gleichzeitig wirkte alles so vertraut, als hätten sie sich vor einer Woche das letzte Mal gesehen. Nate hingegen grinste nur verschwörerisch über seinen Tassenrand hinweg: "Ich bin in der Sicherheitsbranche tätig." Zum ersten Mal musste Shinji kichern. "Sagt man das nicht immer, wenn man nicht sagen will, dass man Türsteher ist?" Hatte es Nate wirklich dort hin verschlagen? Klar, er hatte schon immer einen ausgeprägten Beschützerinstinkt gehabt, aber Türsteher? Bodyguard vielleicht, aber Türsteher erschien ihm doch ein wenig zu... normal. "Türsteher ist ein cooler Job.", antwortete sein Gegenüber und grinste so breit, dass sich Shinji sicher war, dass er glücklich mit dem war, was er tat und das war doch die Hauptsache. "Passt irgendwie zu dir." Und um wieder zu verhindern, dass ihnen die Themen ausgingen, fuhr er gleich fort: "Das sind übrigens ziemlich coole Tattoos. Ich weiß noch, dass du damals oft davon geredet hast, dass du dir welche stechen lassen willst." Nach einem kurzen Blick auf seinen Unterarm, krempelte Nate die Ärmel seines Hemdes noch etwas weiter hoch, als sowieso schon und grinste stolz. Die kompletten Oberarme waren voll mit Tinte und unter dem Hemd lugte auch auf der Brust etwas davon hervor. "Anfangs wollte ich nur eines stechen lassen. Aber wenn man mal anfängt, findet man immer noch einen anderen Platz." Im ersten Moment war es schwer die einzelnen Motive auseinander zu halten, aber man merkte schnell, dass es sehr asiatisch angehaucht war. Seit wann Nate sich wohl so sehr für die fernöstliche Kultur interessierte? Damals, als sie in der Schule waren, hatte er zumindest noch nichts davon verlauten lassen. Ein typischer, chinesischer Glücksdrache schlängelte sich um den einen Arm, während sich eine Hannya-Maske hinter geschwungenen Wolken auf dem anderen versteckte. Das waren die zwei hervorstechendsten Motive, aber es gab noch unzählige mehr. Shinji konnte sich kaum daran satt sehen, aber er wollte auch nicht starren, deshalb versuchte er sich wieder von dem Anblick zu lösen. "Die sehen echt krass aus und wirklich cool. Wie viele Motive sind das?" "Hmm... ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich war bei 37 Sitzungen und am Rücken geht es auch noch weiter, auch wenn der noch nicht so voll ist, wie die Arme." Shinji nickte beeindruckt, sofern das eben ging und hatte wahrlich Probleme, seinen Blick wieder davon abzuwenden. Hoffentlich merkte Nathan nicht, wie sehr er starrte. "Ich wusste gar nicht, dass du dich so sehr für die Kultur interessierst." "Nicht nur die Kultur", antwortete Nate grinsend und irgendein merkwürdiger Unterton schwang da mit. "Auch das Essen." Plötzlich kam eine alte Erinnerung in Shinji hoch. Er konnte sie nicht ganz fassen, aber das Gefühl der Vertrautheit überschwemmte ihn so sehr, dass er lachen musste. "Dann musst du unbedingt mal zu mir zum Essen kommen." ... ... ... Fuck! Was hatte er denn da gesagt? Scheiße, wie war das denn passiert? Um den Schock zu überspielen, nahm er schnell noch einen Schluck Kaffee. Nur die Einladung konnte er nicht überspielen. Wo hatte er sich da nur wieder rein geritten? "37 Sitzungen sind echt viel." Das klang so gezwungen künstlich, er wäre am liebsten im Erdboden versunken. Den Versuch, die Nervosität mit Kaffee zu ertränken, musste er abbrechen. Das eben war der letzte Schluck gewesen. "Ehm... ich würde dann noch einen nehmen." Nate stand auf und Shinji konnte das Grinsen schon aus seiner Stimme hören als er antwortete: "Zu der Einladung sage ich nicht nein. Auch wenn ich mich noch an deinen ersten versuch erinnern kann, als du Tempura machen wolltest. Hier unter den Tattoos ist irgendwo noch eine kleine Brandnarbe davon übrig geblieben." Ja, das war die Erinnerung gewesen, die ihn vorher gestreift hatte und ihm diese Miesere eingebrockt hatte. "Ich weiß noch, wie sauer mein Dad war, als er die Küche gesehen hat." Kurz schweiften seine Gedanken zu seinem Vater und er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn das berührte. Er zwang seine Gedanken wieder in eine andere Richtung, erinnerte sich viel lieber an den schiefgegangenen Kochversuch, bis er sogar ein halbwegs ehrliches Schmunzeln zustande brachte. "Mittlerweile ist man außer Lebensgefahr, wenn ich koche." Und wenn er ehrlich war, kochte er sogar echt gerne. Nur eben nicht oft, weil er meist zu müde war und sich die Arbeit für ihn alleine irgendwie nicht lohnte. Nate kam mit frischem Kaffee zurück und füllte Shinjis Tasse ganz selbstverständlich mit der korrekten Menge Zucker und Milch - aufmerksam wie er schon immer gewesen war... "Danke", murmelte Shinji und nahm gleich wieder einen Schluck. "Wohnst du eigentlich schon lange in der Stadt? Ich kann's noch immer nicht glauben, dass wir uns hier getroffen haben." Ja, das konnte Shinji auch nicht. Wie lange er wohl noch bleiben musste, damit es nicht unhöflich war zu gehen? Manchmal verfluchte er seine asiatische Erziehung. Aber vielleicht schaffte er es wenigstens, hier weg zu kommen, ohne, dass Nathan nach seinen Kontaktdaten fragte. Dann konnten sie auch kein weiteres Treffen ausmachen. "Sicherlich fünf oder sechs Jahre", gab er zu, während er noch darüber nachdachte, wie er Nathan am Besten aus dem Weg gehen konnte, wenn das hier vorbei war. "Hier ist gerade die Auftragslage gut. Ich hab im Prinzip einen festen Arbeitsplatz. Wo wohnst du eigentlich, wenn du gerade nicht Urlaub machst?" "Ich habe nicht wirklich einen festen Wohnsitz. Ich wohne dort, wo es Arbeit gibt." Das klang nicht wirklich typisch für einen Türsteher, oder? Aber er bekam gar nicht die Gelegenheit dazu, weiter darüber nach zu denken: "Aber wenn du schon so lange hier wohnst, weißt du bestimmt auch, wo man sich ordentlich besaufen kann." "Eh..." Er blinzelte kurz. Was sollte er denn jetzt sagen? Konnte Nathan seine Schwester da nicht fragen? Oder wohnte die auch noch nicht lange hier? Er kannte sich in dieser Stadt nicht aus. Er kam nicht viel raus und trinken tat er auch kaum noch. Ab und an mal ein Bier nach oder während der Arbeit, alles andere hatte er sich abgewöhnt. "Nicht so richtig. Weil ich nachts arbeite, komme ich nicht so viel raus." Das war keine Lüge, aber trotzdem sehr weit von der Wahrheit weg. Er wollte nicht raus, nicht unter Menschen. Was sollte er da auch? Er konnte mit alldem nichts mehr anfangen, das war schon lange vorbei. Als Nathan sich dann vor lehnte und ihm anscheinend beruhigend den Oberarm tätschelte, wäre Shinji beinahe zusammengezuckt. So lehnte er sich nur vorsichtig zurück - ganz so als wolle er sich gemütlicher hinsetzen - um solche Aktionen in Zukunft von vornherein zu verhindern. Dass Menschen aber auch immer so auf Kuschelkurs gingen. Dabei sollten Männer das doch sein lassen, war immerhin unglaublich unmännlich. "Macht ja nichts. Ich finde schon ein Plätzchen, an dem wir uns so richtig nett betrinken können." Shinji wurde etwas bleich. Er wollte mit ihm trinken gehen? Warum? Verdammt noch mal, er hätte ihn nicht zum Essen einladen dürfen! Das gab ein vollkommen falsches Bild. Er hätte gar nicht erst mit dem Kaffee anfangen dürfen! Was war da nur in ihn gefahren? Aber vor Nathan zugeben, dass er zu einem uninteressanten Nerd geworden war? Wäre es zu auffällig, wenn er absagte? Was würde sein Gegenüber dann von ihm halten, wenn er ihm gestand, dass er gar nicht mehr trank? Würde er ihn dann für schwach und weibisch halten? Schließlich war es normal, dass 'harte Kerle' am Wochenende trinken gingen und auch unter der Woche öfter ein Bier zischten. Niemand sollte denken, er wäre verweichlicht. Nicht Nathan und auch nicht irgendwer anderes. Hatte er dann eine andere Wahl als zuzusagen? Ihm fiel keine Ausrede ein. Nun, es wäre ja auch möglich, das Treffen so lange aufzuschieben, bis Nathan es aufgab, oder? "Ehm... ja... klar... sag einfach Bescheid, wenn du was gefunden hast." Vielleicht hatte er ja auch einfach Glück und Nathan vergaß tatsächlich ihn nach seinen Kontaktdaten zu fragen. Dann brauchte er nur einen neuen Supermarkt, in dem er einkaufen konnte. Erschreckt zuckte er zusammen, als die Tür plötzlich aufflog. Ein Wirbelwind in Form einer jungen Frau stürmte in die Wohnung, was das leise Klicken der zufallenden Tür surreal erscheinen ließ. "Meine Schwester", hörte Shinji Nathan unnötigerweise erklären. "Alles okay, Lily?" Lily... Lily... Lily... Er sollte sich diesen Namen wenigstens merken, bis er aus der Wohnung wieder raus war. Unangenehm genug, dass er sie überhaupt kennenlernte. Lily... Lily... Lily... "Die scheiß Idioten glauben wohl, ich könnte mit 5 Dollar Trinkgeld meinen Lebensunterhalt bezahlen." Fast wäre Shinji unter der lauten Stimme zusammengezuckt, riss sich aber zusammen. Viel zu laut... viel zu hektisch... Ob ... Lily Kellnerin war? Lily... Lily... Lily... Als sich die Besitzerin der Wohnung endlich zum Tisch umwandte, stockte sie überrascht. "Oh, hallo." Shinji musterte die Frau vor sich kurz und der erste Gedanke, der ihm kam, war, dass, wenn sie mehr Trinkgeld wollte, sie sich wohl etwas offenherziger kleiden sollte. Nicht, dass sie nicht gut aussah, aber als Kellnerin galt 'Sex sells' wie überall sonst auch. Aber den meisten Müttern war das wahrscheinlich unangenehm, wenn sie gleichzeitig versuchten, ein Vorbild für ihre Kinder zu sein. Wie alt ... Lily wohl war? Er konnte nicht genau sagen, ob sie jünger oder älter war als Nathan und er erinnerte sich auch nicht mehr an sie. Hatte er sie überhaupt jemals gesehen? Hatte Nathan je von ihr erzählt? Shinji unterbrach seine Gedanken sofort, als ihm auffiel, dass er starrte. Stattdessen stand er nun eilig auf, um sich vorzustellen: "Ehm... hi. Ich bin Shinji, ein alter Freund von Nathan. Es freut mich Sie kennen zu lernen und eh... ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich auch hier bin." Schließlich war das ihre Wohnung und er war ungefragt hier. Auch wenn Nathan ihr half, hatte er vielleicht nicht das Recht, hier einfach Leute her einzuladen. Gerade wenn ein Kind im Haus sein könnte, waren fremde Männer doch meistens eher unwillkommen, oder? Innerlich stellte er sich bereits auf eine Standpauke ein und eine viel zu laute Stimme in seinem Kopf hoffte ganz eindeutig, dass sie ihn hochkant raus warf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)