Von der Kunst, richtig zu sein von Lyndis ================================================================================ Kapitel 3: Nates Familie ------------------------ "Kennst du nen Platz, wo man guten Kaffee trinken kann?" Shinji hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass Nathan 'nein' sagte, aber er war dennoch erleichtert. Warum war er so erleichtert? Er sollte sich gar nicht nach Gesellschaft sehnen! Wo kam das nur plötzlich her? Er wischte den Gedanken schnell beiseite, denn es gab ein anderes Problem. Kannte er einen Platz? Nein, nicht wirklich. Die Kenntnisse seiner Stadt beschränkten sich auf seine Wohnung, diesen Supermarkt und seine Arbeitsstelle, die er nur selten besuchen musste. Mit Lieferservices hätte er Nathan zuschmeißen können, aber nicht guten Cafés. "Wenn nicht, können wir rauf zu mir. Ich wohne gleich gegenüber. Dann verstau ich gleich die Einkäufe... deine Entscheidung." Shinjis Blick schweifte zu dem Einkaufswagen und ihm wurde flau im Magen. Zu ihm nach Hause? In seine Wohnung? Ihm war wirklich unwohl dabei. Andererseits war er ein wirklicher Pragmatiker, weshalb er den Sinn darin nicht sah, die Einkäufe erst weg zu bringen, um dann noch einmal raus zu gehen. Ganz abgesehen davon, dass er nicht gewusst hätte, wohin. Und zu sich in seine heiligen vier Wände, würde er den anderen sowieso nicht lassen! Also blieb ihm nur zu sagen: "Ja, erscheint mir am sinnvollsten." Dass er damit nicht wirklich auf die 'entweder..., oder...' Frage antwortete, fiel ihm nicht einmal auf. Kurz fiel sein Blick auf seinen eigenen, leeren Wagen, der ihm vorhin noch so viel Halt gegeben hatte. Kurz sah er sich um und als er sicher war, dass niemand hinsah, ließ er den Wagen einfach stehen und ging hinüber zu Nathans Wagen. Diese Aktion brachte ihm ein amüsiertes Lachen ein, doch er ging nicht weiter darauf ein. Klar tat er nichts böses, wenn er den Wagen einfach stehen ließ, aber er kam sich dennoch unhöflich dabei vor. "Sieht so aus, als wäre ich nicht der Einzige, mit einem leeren Kühlschrank.", sagte er, nur um irgendwas zu sagen. Hoffentlich ging der andere auf den unbeholfenen Gesprächsversuch ein. "Einen Tag länger und der Kühlschrank hätte sich selbst zum Einkaufen geschickt", erwiderte Nathan mit einem schiefen Grinsen. "Ich kenn das Problem." Und damit war das Gespräch dann doch beendet. Glücklicherweise konnte sich Shinji aber damit ablenken, die Einkäufe auf das Laufband zu legen und sie auch wieder einzuräumen. Er wunderte sich sehr über den ganzen Süßkram, früher hatte Nathan einen großen Bogen darum gemacht. Aber sie hatten sich sicherlich beide verändert. Nathan hatte nicht gelogen, er wohnte tatsächlich direkt gegenüber. Mit zwei vollgepackten Tüten stand er dann vor der Tür. "Hältst du kurz?" Und schon hatte Shinji eine der Tüten in der Hand. Nicht, dass er nicht sowieso eine getragen hätte, aber Nathan hatte so bestimmt danach gegriffen, dass er ihm seinen Willen hatte lassen wollen. Oben angekommen stockte Shinji allerdings. Auf dem Boden lagen überall verstreut Buntstifte und er war sich ziemlich sicher, dass die nicht von Nate waren. "Du hast Kinder?", krächzte er erstickt. Er war sich nicht sicher, warum er dermaßen geschockt war, aber aus irgendeinem Grund, war er sicher gewesen, dass Nate Single war. Dass er das nicht war, zeigte die Tasse mit dem Lippenstiftabdruck darauf, die in der Spüle stand. Nathan hatte sie leicht schmunzelnd hochgehoben und den Kopf geschüttelt. Er hatte Frau und Kinder. "Ehm... hier", murmelte er etwas unbeholfen und stellte die Tüte auf die Anrichte. Erst jetzt sah er sich in der Wohnung etwas genauer um. Sie war hell und groß. Wohn- und Esszimmer lagen in einem gemeinsamen Raum direkt hinter der Eingangstür, während die Küche in einem kleineren Raum abgetrennt war, der durch einen Durchbruch betreten werden konnte. Es wirkte offen und freundlich und die Stille verriet, dass wohl niemand zu Hause war. Das änderte allerdings nichts daran, dass sich Shinji wie ein Eindringling hier vorkam. Das war nicht seine Welt. Nathan hatte eine Familie und verdiente offensichtlich genug. Und was hatte er selbst erreicht? Er wohnte in einer kleinen Zwei-Zimmer Wohnung, in einem Keller und versteckte sich vor der Welt. Er konnte nicht einmal eine Freundin vorweisen oder überhaupt Bekannte. Sein bester Freund war das Internet, in dem sich noch mehr Leute wie er tummelten und mit denen er sich gut verstand. "Es ist nicht meines", hörte er Nathan plötzlich lachen. "Aber ich hänge an dem Mädchen, als wäre es mein eigenes." Sein Gastgeber zog zwei Tassen aus einem Schrank und Shinji hörte die Filterkaffeemaschine vor sich hin glucksen. "Milch und Zucker?" "Ja", antwortete Shinji. "Drei Stück Zucker." Er hatte seinen Kaffee schon immer süß getrunken. Das hatte sich bis heute nicht geändert und würde sich auch nicht ändern. Er war eine furchtbare Naschkatze. "Also eine Patchworkfamilie?", fragte er weiter, weil wieder so eine unangenehme Stille eintrat. Eigentlich wollte er es gar nicht wissen. "Aus der ersten Ehe deiner Frau?" War ja heutzutage nicht ungewöhnlich. Nathan nahm wieder die Tasse in die Hand, grinste noch Mal so komisch und räumte sie dann in die Spülmaschine. Dann wandte er sich wieder an Shinji und schmunzelte belustigt. Hatte er was witziges gesagt? "Wenn ich mit ihr verheiratet wäre, würde ich mich erschießen. Sie ist eine Chaotin und außerdem meine Schwester." Oh... "Sorry." Da hatte er etwas ganz schön missverstanden. War das peinlich. Aber wie hatte er auch etwas anderes denken sollen? Die Situation war nahezu eindeutig gewesen. Aber eben nur nahezu. "Ich verbringe hier mehr oder weniger meinen Urlaub.", setzte Nathan noch hinten an. "Was ist mit dir? Hast du Kinder?", fragte sein Gastgeber jetzt. Wie sehr Shinji Smalltalk doch hasste, vor allem, wenn es um ihn ging. Betont lässig zuckte er mit den Schultern. "Ich hab es aufgegeben noch eine Partnerin zu finden. Ich bin zu sehr mit meiner Arbeit verheiratet." Das war er wirklich, allerdings war das nicht der Grund, warum seine Beziehungen alle zu Bruch gegangen waren. Aber das würde er Nathan sicher nicht unter die Nase reiben. "Das kenne ich.", erwiderte sein Gesprächspartner. Schon standen Tassen, Milch und die Kaffeekanne auf dem Esstisch, weshalb sich Shinji nun auch setzte. Nathan nahm ihm gegenüber Platz. "Was arbeitest du denn?" Shinji goss noch Milch nach und nahm einen Schluck Kaffee, um seine Unsicherheit etwas zu überspielen. Er wollte wirklich nicht über sich reden, aber das hatte er sich jetzt selbst eingebrockt. "Nichts Besonderes.", murmelte er und drehte leicht die Tasse in seinen Händen hin und her. Er hatte Schwierigkeiten damit, anderen Menschen in die Augen zu sehen, weshalb er Nathan eher auf die Nase sah oder knapp an ihm vorbei. Für seinen Gegenüber sah es nahezu so aus, als würde er ihn normal ansehen. Das war ein Trick, den er sich im Laufe der Jahre angewöhnt hatte. "Ich bin Freelancer in der Softwareentwicklung. Ist die einzige Möglichkeit, wie ich nachts arbeiten kann." Das hatte er eigentlich schon nicht preisgeben wollen. Aber Nathan hätte wahrscheinlich sowieso nachgefragt und das ersparte er sich jetzt vielleicht. Dann lief er auch nicht Gefahr, ihm die anderen Gründe noch zu nennen. Zum Beispiel, dass er nur so kaum Kontakt mit anderen Menschen haben musste. Das war ihm unangenehm. Wenn er ehrlich zu sich war, vermisste er die Zeit, in der er ständig auf Achse gewesen war, ständig neue Menschen kennengelernt hatte und er Freitags nicht gewusst hatte, wo er Sonntags aufwachte. Aber er war so nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Aber das sprach er natürlich nicht aus, schließlich musste er Nate nicht gleich auf die Nase binden, was für ein langweiliger, uncooler Loser er geworden war. "Und du? Ich nehme an, das hier ist dann auch nicht deine Wohnung?", fragte er stattdessen mit echter Neugierde in der Stimme. Doch Nathan schien noch nicht über sich reden zu wollen: "Du bist wohl noch immer eine Nachteule, was?" Sie Frage ließ Shinji schief grinsen, und die Schultern zucken: "Schuldig im Sinne der Anklage. Ist sogar eher noch schlimmer geworden. Ich fang meistens um 21 oder 22 Uhr an zu arbeiten und stehe dafür zwischen 13 und 16 Uhr auf." Wieder konnte Shinji nicht sagen, warum er das erzählte. Das klang viel zu unnormal, aber Nate strahlte immer noch diese Sicherheit aus, die er schon damals an ihm gemocht hatte. Nate war loyal, das wusste er und allein, dass er gerade mit ihm hier saß, zeigte ihm, wie loyal. Shinji hatte seinem ehemaligen Freund so viel an den Kopf geworfen und dennoch saßen sie nun hier und wollten sich neu kennenlernen. Er konnte dem Zauber dieses Moments offensichtlich nicht widerstehen. Es fiel ihm dennoch schwer, Nathan direkt anzusehen und das schien seinem Gesprächspartner auch aufzufallen, der sich plötzlich vor lehnte und den Kopf schief legte, um wohl einen Blick in Shinjis Augen zu werfen, aber der lehnte sich nur scheu zurück, während die dunklen Augen nur kurz über die seines Gegenübers flackerten. Glücklicherweise gab Nathan den Versuch dann auch gleich wieder auf und lehnte sich wieder zurück. "Dann bist du heute ja einigermaßen früh aufgestanden." "Ja... musste eben einkaufen. Aber ich bin noch nicht richtig wach, die Nacht war lang. Es hat schon gedämmert, als ich ins Bett bin." "Ich schenk' dir gerne noch was nach, wenn du noch Kaffee möchtest. Schließlich kann ich es nicht verantworten, wenn du hier noch einpennst." Als Nathan den Kaffee ansprach, nahm Shinji gleich noch einen Schluck, als hätte er vergessen, dass er da war. Schlechtes Zeichen. Kaffee war sein Lebensinhalt. "Ich meld' mich schon, wenn ich noch was brauche." Die Antwort war etwas abwehrend, aber er konnte gerade nicht anders. Das hier lief gefährlich aus dem Ruder. War er so gebannt von Nathan, dass er sogar den Kaffee vergaß? Eigentlich sollte er spätestens jetzt aufstehen und verschwinden, aber das brachte er nicht über sich, warum auch immer... "Jetzt aber zu dir. Das hier ist also die Wohnung deiner Schwester?" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)